Vom Regen in die Traufe
Ich war verwirrt, als ich in den Kleiderschrankspiegel blickte und statt einer jungen Frau in einem karierten Flanellschlafanzug nur ein goldenes Leuchten und einen Mann in einem violetten Samtwams erkennen konnte.
Ich erschrak furchtbar, als mir schon im nächsten Moment ebendieser Mann in die Arme stürzte.
Ich schrie aus Leibeskräften, als er ein juwelenbesetztes Schwert zog und damit meinen Spiegel zertrümmerte.
„Jetzt kann sie mir nicht folgen“, erklärte er und atmete auf.
Das war vor etwa einer halben Stunde.
Nun sitzen wir auf der Couch im Wohnzimmer. Ich habe die Sektflasche geöffnet, die ich an diesem Heiligabend eigentlich allein trinken wollte, jetzt aber ehrlich zwischen mir und dem Prinzen aus dem Märchenland aufteile.
„Dieses vermaledeite Weibsbild“, sagt er mit einem Seufzen. „Ich beugte mich nur über sie, um festzustellen, ob sie noch atmet. Da schnellte sie hoch, küsste mich und spuckte mir ein Stück Apfel ins Auge. Da. Schau!“ Er beugt sich vor und zeigt auf sein blutunterlaufenes rechtes Auge. „Wenn ich jetzt zurückgehe, muss ich sie heiraten.“
Er ist nicht verrückt. Er ist ein Märchenprinz. Wenn er es nicht ist, dann bin ich selbst verrückt. Denn ich sah ihn aus meinem Spiegel kommen. Ich muss ihm glauben, ich habe keine Wahl. Ich schenke mir den Rest Sekt ins Glas. Habe ich nicht irgendwo noch eine angebrochene Flasche Portwein?
„Warum musst du sie heiraten?“, frage ich.
„Verstehst du denn nicht? Es gibt Bilder, wie wir uns küssen. Der Paparazwerg saß im Gebüsch und hat alles gemalt. Es war ein abgekartetes Spiel.“ Betrübt schüttelt er den Kopf, dann sieht er mich scharf an. „Und was willst du von mir?“
„Ich? Nichts! Wieso?“
„Weil ich zu der guten Stiefmutter floh. Sie wohnt in einer kleinen Hütte hinter den sieben Bergen. Ich bat sie um Hilfe und sie sagte, nur ihr Zauberspiegel könne mich retten. Und das auch nur, wenn mich jemand herbeiwünscht.“
„Ich habe dich nicht…“ Meine Güte, ich erinnere mich. Ich wünschte mir, an diesem Abend nicht allein zu sein. Wünschte mir, endlich einmal jemanden zu haben, mit dem ich Weihnachten feiern kann. Nachdenklich beobachte ich den Prinzen. So hatte ich es mir eigentlich nicht vorgestellt. Aber einem geschenkten Gaul …. Der Portwein ist oben links im Wohnzimmerschrank, jetzt weiß ich es wieder. Eigentlich wollte ich heute Abend Tiefkühlpizza essen. Aber jetzt habe ich Lust auf etwas Festlicheres bekommen. Ja! Ich werde die Hähnchenschnitzel auftauen! Mutter hat mir welche in die Gefriertruhe gelegt, da bin ich mir sicher.
„Warum sind wir hier so hoch?“, fragt der Prinz, der jetzt am Fenster steht.
„Wir sind im obersten Stock eines Wolkenkratzers.“
„Was ist dort unten?“
„Ich weiß es nicht, ich war nie dort. Wie heißt du eigentlich?“
„Man nennt mich immer nur `der Prinz´. Wie heißt du?“ Er lächelt mich an. Er hat schöne Zähne.
„Rapunzel“, antworte ich und lächle zurück. „Hast du Hunger?“