Die 11. Weihnachtswoche von Seitenwind

Vom Regen in die Traufe

Ich war verwirrt, als ich in den Kleiderschrankspiegel blickte und statt einer jungen Frau in einem karierten Flanellschlafanzug nur ein goldenes Leuchten und einen Mann in einem violetten Samtwams erkennen konnte.
Ich erschrak furchtbar, als mir schon im nächsten Moment ebendieser Mann in die Arme stürzte.
Ich schrie aus Leibeskräften, als er ein juwelenbesetztes Schwert zog und damit meinen Spiegel zertrümmerte.
„Jetzt kann sie mir nicht folgen“, erklärte er und atmete auf.

Das war vor etwa einer halben Stunde.
Nun sitzen wir auf der Couch im Wohnzimmer. Ich habe die Sektflasche geöffnet, die ich an diesem Heiligabend eigentlich allein trinken wollte, jetzt aber ehrlich zwischen mir und dem Prinzen aus dem Märchenland aufteile.
„Dieses vermaledeite Weibsbild“, sagt er mit einem Seufzen. „Ich beugte mich nur über sie, um festzustellen, ob sie noch atmet. Da schnellte sie hoch, küsste mich und spuckte mir ein Stück Apfel ins Auge. Da. Schau!“ Er beugt sich vor und zeigt auf sein blutunterlaufenes rechtes Auge. „Wenn ich jetzt zurückgehe, muss ich sie heiraten.“
Er ist nicht verrückt. Er ist ein Märchenprinz. Wenn er es nicht ist, dann bin ich selbst verrückt. Denn ich sah ihn aus meinem Spiegel kommen. Ich muss ihm glauben, ich habe keine Wahl. Ich schenke mir den Rest Sekt ins Glas. Habe ich nicht irgendwo noch eine angebrochene Flasche Portwein?
„Warum musst du sie heiraten?“, frage ich.
„Verstehst du denn nicht? Es gibt Bilder, wie wir uns küssen. Der Paparazwerg saß im Gebüsch und hat alles gemalt. Es war ein abgekartetes Spiel.“ Betrübt schüttelt er den Kopf, dann sieht er mich scharf an. „Und was willst du von mir?“
„Ich? Nichts! Wieso?“
„Weil ich zu der guten Stiefmutter floh. Sie wohnt in einer kleinen Hütte hinter den sieben Bergen. Ich bat sie um Hilfe und sie sagte, nur ihr Zauberspiegel könne mich retten. Und das auch nur, wenn mich jemand herbeiwünscht.“
„Ich habe dich nicht…“ Meine Güte, ich erinnere mich. Ich wünschte mir, an diesem Abend nicht allein zu sein. Wünschte mir, endlich einmal jemanden zu haben, mit dem ich Weihnachten feiern kann. Nachdenklich beobachte ich den Prinzen. So hatte ich es mir eigentlich nicht vorgestellt. Aber einem geschenkten Gaul …. Der Portwein ist oben links im Wohnzimmerschrank, jetzt weiß ich es wieder. Eigentlich wollte ich heute Abend Tiefkühlpizza essen. Aber jetzt habe ich Lust auf etwas Festlicheres bekommen. Ja! Ich werde die Hähnchenschnitzel auftauen! Mutter hat mir welche in die Gefriertruhe gelegt, da bin ich mir sicher.
„Warum sind wir hier so hoch?“, fragt der Prinz, der jetzt am Fenster steht.
„Wir sind im obersten Stock eines Wolkenkratzers.“
„Was ist dort unten?“
„Ich weiß es nicht, ich war nie dort. Wie heißt du eigentlich?“
„Man nennt mich immer nur `der Prinz´. Wie heißt du?“ Er lächelt mich an. Er hat schöne Zähne.
„Rapunzel“, antworte ich und lächle zurück. „Hast du Hunger?“

Die Grouch
(Ein Selfie)

Jedes Kind kennt die Geschichte vom Grinch, doch wer kennt Grouch, seine Schwester?
Sie kehrte dem Bruder den Rücken und Whoville samt seinem Geläster
und zog auf die Erde, einen wärmeren Stern.
Die Menschen hatten kein Schnütchen, aber die Grouch hatte sie trotzdem gern.

Elf von zwölf Monaten schlug Grouchs Herz am richtigen Fleck und war nicht wie des Bruders zwei Nummern zu klein.
Im Dezember jedoch klopfte alljährlich Weihnachten an ihr Häuschen weit nördlich vom Rhein.
Dann begann ihre Brust zu schwellen und wurde vom Grummeln fast doppelt so groß.
Die Grouch stöhnte und nörgelte: „Wie übersteh’ ich das bloß?“

Das weiche Herz in ihrer Brust stach plötzlich seltsam eckig und kantig.
Mit eisiger Miene riss sie die Tür auf, ihr Tonfall war mürrisch und grantig.
Sie fuhr das Fest an: „Geh vorüber, zieh Leine, mach schnell.
Troll dich mit den lärmenden Glöckchen, dem süßen Gebäck, dem Punsch und deinen Lichtern zu hell.
Und wenn du gehst, mach die Kerzen aus, denn ihre Wärme vertrage ich nicht.“
(Was sie sonst noch sagte, gehört nicht in dieses Gedicht.)

Die Grouch hasste das Fest nicht, auch nicht die Menschen, versteht das richtig.
Aber was sie draus machten, das war ihr nicht wichtig.
Das Raufen und Kaufen in den Geschäften, der Rausch um das Schenken,
Das Schlemmen und Schmatzen, der Überfluss und das Prahlen, ohne an Arme zu denken.

Von Gefühlen beduselt, ersehnen die Menschen ein Weihnachtsklischee, sind wir mal ehrlich.
Sind die Tage des Festes vorüber, am Tauschtag im Laden, sind fast alle Geschenke entbehrlich.
Die wertvollsten Dinge, das weiß sicher jeder, kann man nirgendwo kaufen.
Wo es sie gibt? Sie sind schon in jedem von uns, und niemand muss sich die Hacken wund laufen!

Das könnte mein Nörgeln beenden, dachte die Grouch, weniger Ich und mehr Du.
Also schlug sie dieses Mal Weihnachten nicht die Tür vor der Nase zu.
Stattdessen bat sie das Fest höflich herein, denn die Grouch hatte Familie, lebte nicht etwa allein.
Schon das ist ein Grund, so schien es ihr plötzlich, zufrieden, ja, glücklich zu sein!

                                    ***

Gestattet mir noch ein wichtiges Wort zum Schluss:
Für meinen Diebstahl bitt’ ich um Verzeihung, Dr. Seuss!
Ihr Grinch war inspirierend, die Versuchung einfach zu groß.
Meine Bildvorlage, das Versmaß, alles geklaut, ich gestehe es offen, was mach’ ich jetzt bloß?

Premiere mal anders

Eine Überraschung sollte es werden. Eine von den romantischen.

Nun stehe ich hier. Auf dem Tisch liegt ein Karpfen. In tot, versteht sich. Da liegt er also und starrt mich an. Wir starren beide. Der Karpfen, weil er es sich nicht aussuchen kann und ich, weil ich nicht weiß, warum ich das gesagt habe. Gesagt, dass ich meinen liebsten Lieblingsfreund mit einem traditionellen Weihnachtsessen aus meiner Familie überraschen möchte. Nicht etwa Kartoffelsalat mit Würstchen. Neeeeiiin, ich hab angegeben. Karpfen in Biersoße muss es sein. Nun ist das so. Deshalb liegt da ein toter Fisch und starrt mich an.

Noch vier Stunden Zeit.

Ohne Hilfe bekomme ich das nicht hin. Ich entscheide mich für den Telefonjoker.
»Oma?«
»Kind! Schön, dass du anrufst. Ihr kommt doch morgen?«
»Ja, na klar. Markus muss nur heute arbeiten.«
»Ja, ja, ihr Kinder. Was kochst du euch denn?«
Ich schlucke kurz.
»Karpfen in Biersoße.«
»Oh, toll! Das war immer lecker. Und geht ganz einfach.«
»Ja, Oma, deshalb rufe ich an. Sag mal – kann der Kopf ganz weg? Den isst doch keiner.«
»Ach, um Himmels Willen! Den brauchst du, sonst schmeckt die Soße nicht.«
»Ah.«
»Aber mach vorher die Augen raus. Die klappern sonst so. Geht ganz einfach mit einem Teelöffel.«

Etwas kriecht meinen Nacken hinauf. Spontan schüttelt sich mein Körper. Nicht ich – ich höre aufmerksam zu. Bedächtig das Starrduell mit dem Karpfen aushaltend bedanke ich mich bei Oma und lege auf. Die Nummer mit dem Löffel tut´s nicht.

Noch drei Stunden Zeit.

Telefon nehmen – Mama anrufen.
»Na Kind? Wie geht´s mit dem Fisch?«
Mama weiß, was läuft.
»Mama, was ist das mit den Augen? Das geht gar nicht.«
»Doch, das geht. Hast du alles eingekauft, was ich dir gesagt habe?«
»Ja, klar.«
»Prima. Dann fängst du mit dem Schnaps an.«
»Und mit dem mache ich was?«
»Den trinkst du. Aber kräftig. Und dann nimmst du einen Teelöffel…«

Irgendwann steht Markus im Zimmer. Entgeistert beobachtet er ein ernsthaftes Gespräch zwischen Karl dem Karpfen und mir.

Als ich ihn bemerke, säusle ich beseelt an der Tischkante hängend:
»Guck, unser neuer Mitbewohner. Lieber Markus, das ist der Karl. Der Karl schielt bissel. Weil ich die Löffelnummer nich kann. Aber Karl fetzt. Hat mir verraten, dass Bratkartoffel am Weihnachtsabend der Kracher sein soll.«

Markus nimmt das Messer und haut Karl den Kopf ab. Ich heule und trinke Schnaps.

Die Zeit ist um. Markus kriegt Kartoffeln, ich Kaffee. Morgen bei Oma gibt´s richtiges Essen.

Happy Weihnachten!

Weihnachten ist wenn …

Weihnachten ist, wenn man an Heiligabend die Tochter im Krankenhaus besucht.
Weihnachten ist, wenn der behandelnde Arzt der Tochter sagt, dass die Tochter sterben kann.
Weihnachten ist, wenn die Tochter in diesem Augenblick neunzehn Jahre alt ist.
Weihnachten ist, wenn ich trotzdem der Bitte einer Ärztin nachkomme und im Flur der Intensivstation einige Weihnachtslieder spiele.
Meine Tochter liegt im Koma und während ich spiele, weiß ich, dass sie mich nicht hören kann.
Weihnachten ist, wenn die Tochter hohes Fieber bekommt. Wenn einem gesagt wird, dass der Hirnschaden größer ist als angenommen.
Weihnachten ist, wenn das System eines Menschen durcheinandergerät und vor dem Fenster des Krankenzimmers der Weihnachtsbaum leuchtet. Blinkt und leuchtet und blinkt und leuchtet und nervig ist.
Weihnachten ist das Zischen der Beatmung im Beatmungsbett. Das aufgedunsene Gesicht der Tochter und der mit Wasser gefüllte Bauch.
Die sich bewegende Matratze. Kein Dekubitus. Nein nicht.
Weihnachten ist, wenn aufgrund des permanent hohen Fiebers die Haut zu dünn wird. Dann doch Dekubitus.
Eine Stunde Besuchszeit.
Weihnachten ist, wenn die Tochter schwitzt und die Waschlappen im Badezimmer durch Frische und Trockene ersetzt werden.
In der Ecke des Zimmers steht der Notenständer. ’Leise rieselt der Schnee!‘
Weihnachten ist, wenn die kleine Ärztin nervös wird, weil das Fieber hoch bleibt und das Kind kämpft.
Sepsis. Welche Antibiotika bleiben noch?
Vor sechs Monaten Abitur. Normales Leben.
Studienplatz suchen. Vielleicht Kiel?
Weihnachten kommt die Angst, ob Mensch oder Gemüse!
Weihnachten ist, wenn man betet, obwohl man es nie wieder wollte.
Weihnachten ist, am Bett der Tochter zu sitzen, Musik zu hören und Geschichten zu erzählen. Über dem Bett die Hand zu halten. Das Gesicht der Tochter zu trocknen. In die Kurve zu schauen. Die Werte vergleichen.
Weihnachten kommt später. Dann, wenn es der Tochter besser geht und die Kurve in eine andere Richtung zeigt.
Wenn die kleine Ärztin nicht mehr nervös ist, weil das Fieber sinkt.
Weihnachten ist, wenn man das Gefühl hat, nicht alleine zu sein. Wenn man einfach nur Danke sagen möchte. Wenn die Tochter sich müht, ihre Augen zu öffnen.
Wenn der Wille keimt und die ersten Knospen sichtbar werden. Sei es ein Weihnachtsstern.
Auch wenn Weihnachten nicht mehr ist!

Anregung Nr. 5 –

Durch einen magischen Spiegel gerät eine Märchenfigur in unsere Gegenwart. Deine Hauptfigur wird damit betraut, auf sie aufzupassen. Und dabei wollte sie bloß ein paar ruhige Feiertage verbringen!
Mädchen
Alles ist eingekauft. Allen ist abgesagt. Die DVD-Box mit der 80-Stunden-Serie ist pünktlich angekommen. Der Müll ist weggebracht, die Tapas sind fertig und im Kühlschrank, die Kekse warten in der Schale und der Rotwein ist in die schöne Karaffe dekantiert. Mein ganz persönlicher Heiligabend kann kommen.
Aaaaaah, wie mir das gefällt. Kein Vergleich zu diesen hektischen Weihnachtstagen von sonst. Endlich einmal ein Weihnachten wie es MIR gefällt. Kein Stress, keine bucklige Verwandtschaft, keine fette Gans und keine furchtbaren Geschenke, die ein begeistertes „Danke“ erwarten. Und überhaupt. Ich habe noch nie verstanden, was dieses gnadenvolle Getue einmal im Jahr bedeuten soll. Egal, abhaken und genießen, dass ich diesmal davon verschont bleibe.

Ich lege mir meinen kuschligsten Homie parat und lasse mir ein Bad ein. Hmmmm, das Badeöl riecht wunderbar, ich kann es kaum erwarten. Ein Gläschen Wein auf den Beckenrand, ein wenig Schoki dazu, mein angefangenes Buch und ein paar Kerzen. Apropo Kerzen. Mist! Seit ich nicht mehr rauche habe ich keine Feuerzeuge mehr im Haus. Hab ich irgendwo Streichhölzer? In der Küchenschublade? Negativ. Im Wohnzimmerschrank? Auch nicht. Nee, oder? Kerzen sind so ziemlich das Einzige, das ich wirklich mit Weihnachten verbinde.
Vielleicht im Medizinschränkchen?
Als ich vor dem Badezimmerspiegel stehe, sehe ich plötzlich ein seltsames Leuchten. Der Spiegel ist beschlagen und es wirkt, wie wenn hinter einer Nebelwand die Sonne aufgeht.
Huch? Im Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr und fahre herum. Was zum Teufel - aber die Worte bleiben mir tatsächlich im Hals stecken.

Auf den Fliesen kauert ein Bündel…irgendwas. Offenbar ist es noch erschrockener als ich und schaut mich aus riesengroßen Augen an. Mal abgesehen davon, dass ich keinen Plan habe, wie sie in mein Badezimmer gekommen ist, scheint sie real zu sein. Ich gehe in die Hocke und wir betrachten uns. Sie muss sehr jung sein, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Die Kleidung wirkt ärmlich und viel zu groß, die Haare unter dem Wollschal schimmern fast lila und eine abgewetzte Schleife lugt hervor. An ihrem Arm hängt ein kleines Körbchen mit - ich fasse es nicht! Schwefelhölzern!
Schlagartig fällt mir dieses Märchen ein, das mich früher so unsagbar traurig und wütend machte. Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Wie all diese herzlosen Menschen an der Kleinen vorübergehen und sie schließlich mitten in der Stadt erfriert.
Egal wie irre mir das hier vorkommt. Wenn das irgendeine verrückte Chance ist, der Kleinen ihr Schicksal zu ersparen, dann werde ich das tun! Vorsichtig nehme ich ihr das Körbchen ab und deute ihr, dass ich sie in das warme Wasser setzen will. Sie nickt kraftlos und lässt es sich gefallen, dass ich sie aus ihren Kleidern puhle. Ohmann, was ist die mager. Ich wage sie kaum anzufassen. Als sie im Wasser sitzt hole ich ein Glas Wasser und die Tapas. Zum Glück kann sie etwas zu sich nehmen und taut langsam auf. Eine halbe Stunde später liegt sie schlafend auf meinem Sofa, in meinen viel zu großen Homie gekuschelt, zusammengerollt wie eine Katze.
Ich sitze neben ihr, ein Glas Rotwein in der Hand, die restlichen Tapas vor mir und die Wohnung im hellen Kerzenschein erleuchtet. Streichhölzer habe ich ja jetzt genug.
Ich kann es immer noch nicht fassen, was hier gerade passiert. Aber hey, wenn die Gelegenheit grade da ist, dann holen wir morgen auch die kleine Meerjungfrau dazu, bevor sie wegen diesem dusseligen Prinzen zu Meerschaum wird.

Danke an Cruz Robin für das Bild und an Hans Christian Andersen für die beiden Märchen

Es kann ja wohl nicht so schwer sein, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben!

Genervt gehe ich auf und ab, weil mir nichts Originelles einfallen will. Irgendwas mit Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen? Nee, Science-Fiction ist nicht so meins. Der Wolf und die sieben Zwerge, die im Knusperhäuschen bei der Hexe eine wilde Weihnachtsfete feiern? Auch nicht so das Wahre.
Ich schaue aus dem Fenster hinunter auf die Straße und über die Stadt. War nicht Schnee angekündigt worden? Davon ist aber nichts zu sehen. Wie soll man denn da in Weihnachtsstimmung kommen?
Das ist es! Weihnachtsstimmung! Dann kommt die Inspiration!
In der Küche schnell einen Topf auf den Herd gestellt, den Glühwein eingießen und langsam heiß werden lassen. Um ihn geschmacklich und wirkungstechnisch von Kreisklasse auf Liganiveau aufzumöbeln, kommt ein Schüsschen Stroh-Rum hinein.
Vor mich hinsummend schalte ich die LED-Kerzen an meinem Christbaum an und dämpfe das Licht. Na also, gleich viel heimeliger. Nun noch die Kaminfeuer-DVD einlegen für das endgültige Blockhüttenfeeling. Obwohl, bei einem 65 Zoll-Fernseher wirkt jedes poplige Lagerfeuerchen wie eine Liveübertragung aus dem Fegefeuer. Was fehlt noch? Genau! Weihnachtsduft! Ich hatte doch letztens bei »dm« was vom Grabbeltisch gekauft? In der Küche werde ich fündig. Ein kleiner Probierschluck zeigt mir, dass der Glühwein bald die perfekte Temperatur hat. Ich kann schon spüren, wie sich meine Stimmung beflügelt. Energisch neble ich den Christbaum mit »Raumduft Waldspaziergang – extra stark« ein. Mit tränenden Augen und leichtem Husten flüchte ich wieder in die Küche. Donnerwetter, das Zeug hält, was es verspricht. Wahrscheinlich kommt jeden Moment Bambi um die Ecke.
Ein erneuter Test ergibt, dass der Glühwein à point ist, und ich fülle mir meinen Kaffeebecher. Ich merke schon, wie mir warm ums Herz wird.

So, nun zur Weihnachtsgeschichte. Laptop aufgeklappt, auf dem Zweitbildschirm noch schnell den Bildschirmschoner »Winterimpressionen« gestartet und dann Papyrus öffnen. Das Setting ist perfekt, jetzt fliegen mir die Ideen bestimmt so zu.
Ein Tässchen Glühwein später verhöhnt mich immer noch das weiße Blatt und der blinkende Cursor. Bevor mir unweihnachtlich zumute wird, gönne ich mir einen neuen Becher Glühwein. Der Fernseher knistert, der Zweitbildschirm schneit, der kleine Christbaum riecht wie eine ganze Tannenschonung, aber … nichts. Frustriert lasse ich mich in meinen Chefsessel zurücksinken. Mir ist schon schwummrig von dem Waldduft.
Plötzlich klingelt es. Wer kann denn das jetzt sein? Hoffentlich nicht Frau Kalkowski von unten, die mir wieder einen Vortrag über Mülltrennung hält, weil mal versehentlich eine Pappschachtel in die Gelbe Tonne gefallen ist.
Doch vor mir steht ein älterer Herr mit Bart in einem roten Mantel. Er kommt mir vage bekannt vor, aber ich kann ihn nicht einsortieren.
»Ja, bitte?«
»Hallo.«
Ohne ein Herein abzuwarten, drängt er in die Wohnung. Und er ist nicht alleine. Nach ihm folgen noch ein paar Leute.
»Du wolltest eine Weihnachtsgeschichte schreiben?«
»Woher … wer sind Sie überhaupt?«, frage ich verblüfft.
»Ich bin Papa Pyrus. Du kannst Ulli zu mir sagen.«
»Was?«
»Ja, es gibt da eine neue Weihnachtsedition von Papyrus, die ist genau das Richtige für deinen Zweck. Darf ich?«
»Aber …«
Bevor ich eingreifen kann, hat er schon einen USB-Stick in meinen Laptop gerammt und installiert etwas. Die Frau mittleren Alters, die mit ihm gekommen war, betrachtet sich mit zweifelnder Miene meine Innenausstattung. Außer einer hochgezogenen Augenbraue zeigt ihr Gesicht keine Reaktion. Ein leichtes Quietschen lässt mich umdrehen. Ein kleiner Steppke malt mit einem roten Edding Wellenlinien unter das Schild »Thüre zum Himmelreich«, das auf meiner Klotür prangt.
»Hey, was machst du denn?«
»Veralteter Ausdruck«, gibt er nur zurück und schaut sich weiter um.
»Der Kleine korrigiert so gerne«, sagt dieser Ulli mit einem väterlichen Lächeln und wuschelt ihm durchs Haar.
Die Frau hat inzwischen meinen Spongebob-Kaffeebecher mit dem Glühwein entdeckt und schnuppert mit einem angewiderten Gesicht daran.
»Für diesen Wein musst du doch ein Bordeaux-Glas nehmen! Durch den voluminösen Rauminhalt hat der Wein erst die nötige Freiheit, sich zu entfalten. Die Form unterstützt die typischen Merkmale eines großen Weines und bringt sie zur Geltung. Die Duftmoleküle verdichten sich im verengenden Glaskamin und entfalten sich damit expressiv über den Rand des Kelches.«
»Wie meinen?«, frage ich verwirrt.
Ulli nimmt mich beiseite.
»Das ist unsere Stilanneliese. Die ist manchmal etwas etepetete. Aber jetzt schau mal, die Papyrus-Weihnachtsedition ist fertig installiert. Da schreiben sich Weihnachtsgeschichten fast von allein! Probier’s aus.«
Zweifelnd setze ich mich in meinen Chefsessel und klicke doppelt auf das Papyrus-Autor-Symbol mit der Weihnachtsmütze. Mit einem ohrenbetäubenden »Oh, du Fröhliche …« startet das Programm. Hups, ich hab wohl vergessen gestern die Lautstärke wieder runterzudrehen. Tja, meine Nachbarn hören gute Musik – ob sie wollen oder nicht. Auf den ersten Blick sieht Papyrus aus wie immer, bis auf den Cursor in Tannenbaumform und den ganzen Christbaumkugeln als Hintergrundbild.
»Na? Was sagst du? Naaa?«, fragt Ulli ungeduldig und wirkt hibbelig wie ein kleines Kind.
»Ja, ähm, nett.«
»Nett?«, kommt die entrüstete Antwort. »Schreib mal was!«
»Na gut.«

Missmutig zog er die Nase hoch und stapfte durch den schmutzigbraunen Schneematsch. Er spürte, wie seine Zehen kalt und feucht wurden. Dreckswetter! Er bog um die Ecke und stieß mit jemandem zusammen.
»Können Sie nicht aufpassen? Penner!«
»Pass selber auf, du Idiot, mit deinem blöden Tannenstrunk.«

»Danke, das reicht«, meint Ulli. »Und jetzt alles Markieren und den neuen Button unten neben der Lesbarkeitseinschätzung drücken.«
Tatsächlich, ein neuer Button. Ein Comic-Weihnachtsmann mit Bart und Mütze, war mir bisher gar nicht aufgefallen. Also, markieren und klicken. Begleitet von einer Experimentalversion von »Last Christmas« verändert sich der Text:

Sachte rieselten die Schneeflocken auf die Erde nieder, dämpften den Lärm und die Hektik der Stadt. Ein Hauch von Frieden schien sich über das Land und die Menschen zu legen. Mit roten Wangen und sichtbarem Atem schritt er leichtfüßig durch die weiße Pracht, jeder Schritt begleitet von einem zarten Knirschen.
Abgelenkt von diesem Wunder der Natur bog er um eine Straßenecke und stieß mit jemandem zusammen.
»Entschuldigen Sie, ich war unachtsam.«
»Nein, nein, ich muss mich entschuldigen. Da haben Sie aber ein Prachtexemplar von einer Weihnachtsgurke erwischt!«

»Na, was sagst du?«, fragt Ulli.
»Ähm, ›Weihnachtsgurke‹?«
Mit gerunzelter Stirn beugt er sich vor und liest den Text. Die Stilanneliese hat zwischenzeitlich meinen Glühwein einer Qualitätskontrolle unterzogen und stellt albern kichernd die leere Tasse wieder ab.
»Das sollte nicht passieren, das muss ein Bug sein.«, brummelt Ulli vor sich hin. »Aber das haben wir gleich, das machen meine Supportwichtel. Hendrik! Leon! Schaut euch das mal an!«
Wie aus dem Nichts ploppen zwei bärtige Wichtel mit Armani-Anzug und roter Zipfelmütze hervor und machen sich an meinem Rechner zu schaffen.
»Alles klar. Das Problem sitzt vor dem Bildschirm. Da müssen wir ein kleines Update machen«, sagt der eine und nickt dem anderen zu. Ein kräftiger Schlag auf den Hinterkopf sorgt für eine Beschleunigung meines Kopfes Richtung Tastatur.

Erschreckt zucke ich hoch. Draußen dämmert es bereits. Ich bin alleine im Zimmer, keine Stilanneliese, keine Supportwichtel. So langsam wird mir klar, dass ich während der Suche nach Inspirationen – und glühweintechnisch begünstigt – wohl eingeschlafen sein muss und irgendwann mit dem Kopf auf der Tastatur aufgeschlagen bin. Und endlich, endlich steht etwas auf dem leeren Papyrusblatt. Meine Weihnachtsgeschichte:

cfghdjmhvc dxzystrgouzhtk mrzethrgbef grwthtnrg dvegtanjhmtbtmb bhsvASWv drgnjdtztm dbaethhsn fnsrhrshmstuketu,z,m.

Die Wunschliste für 2022

Lieber Weihnachtsmann,

  1. Ich wünsche mir eine Schneegarantie für die nächsten 1000 Jahre. Sprich mit Frau Holle.

  2. Ich will das am Nordpol und in Sibirien das Eis wieder zuwächst. Sprich mit Väterchen Frost.

  3. Ich wünsche mir all die Plastik in den Meeren weg. Sprich mit Merlin.

  4. Ich wünsche mir, dass mir nie die Zähne ausfallen, egal wie alt ich werde. Sprich mit der Zahnfee.

  5. Ich wünsche mir all die Tiere und Pflanzen zurück, die in den letzten 150 Jahren ausgestorben sind. Sprich mit Mutter Natur.

  6. Ich wünsche mir ewigen Frieden zwischen den Völkern. Sprich mit Gott.

Ach nein, der hat die Menschen geschaffen und den ganzen Schlamassel erst angerichtet…
Dem verrate bitte kein Sterbenswörtchen! Bitte! Bitte! Bitte!
Sonst schickt er mich vorzeitig ins Paradies und behauptet, er hat es nur gut mit mir gemeint.
Dafür bin ich noch überhaupt nicht bereit! Ich lass mich lieber irgendwann von Mutter Natur einsammeln. Ich hoffe, du kannst mich verstehen…wenigstens diesen Wunsch respektieren.

Also weiter:

  1. Gib dem Osterhasen, dem Christkind, den heiligen drei Königen und dir selbst frei. Sonderurlaub. So…keine Ahnung wie lange. Sagen wir, solange wie nötig.

Frieden wächst aus Liebe, Güte, Zusammenhalt und Verständnis. Aber trotz eurer Bemühungen wird das auf Erden offensichtlich nicht mehr, eher weniger, weil sich zu viele auf andere verlassen, statt selbst anzupacken. Da könnt ihr es euch auch gut gehen lassen, wie Biden, Scholz, Selenskyj, Putin und wie sie alle heißen. Die interessiert auch nicht, wie Sachen in Ordnung gebracht werden können. Nach 70 Jahren Frieden in Europa schreien sie nach Waffen, als gäbe es nicht genug Beweise in der Geschichte der Menschheit, dass das nur neue Armut, Vernichtung und Unterdrückung bringt. Und ihr sollt es dann wieder in Ordnung bringen und den Menschen den Glauben an das Gute zurückgeben.
Warum sollt ihr euch für uns noch ein Bein ausreißen, wenn wir selbst es nicht tun?

Ach, in diesem Zusammenhang fallen mir noch zwei Wünsche ein:

  1. Lass doch bitte den Lügnern lange Nasen und Eselsohren wachsen. Dann wird das Fernsehprogramm gleich viel interessanter und es fehlt nicht mehr an der Transparenz. Pinocchio weiß sicher noch, wie du die Fee, die den passenden Zauberspruch kennt, erreichen kannst.

  2. Lass den Humor nicht aussterben.

Lieben und herzlichsten Dank, und bleib bitte unsterblich, rüstig und gesund.
Frohe Weihnachten und genieße deinen Urlaub, solange er eben dauert,
deine (un-) gläubige Optimistin.

Weihnachtswehen

Wir haben heute den 24. Dezember, es ist 17.30 Uhr, und mein Mann, der Jupp, hat gekocht. Das mag zunächst nicht ungewöhnlich klingen. Das Dumme an der Sache ist: Ich bin im 9. Monat schwanger und das Abendessen besteht aus Tütensuppe, Discounter-Kartoffelsalat, Gummiwürstchen mit in 2012 abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum und klumpigem Schokoladenpudding. Jupp ist eben sparsam und hat es gerne schnell. Wie beim Sex auch. Im Übrigen ist sein Geburtstag am 1. April. So hatten wir am 1. April dieses Jahres schnellen Aprilscherz-Sex und dummerweise war auch das Mindesthaltbarkeitsdatum des Kondoms in 2012 abgelaufen. So kann’s gehen. Aber ich schweife ab.

„Lass es dir schmecken, Mary“, strahlt Jupp mich mit dem Stolz eines 5-Sterne-Koches an. Ich wuchte mich vom Sofa, schleppe mich zum Esstisch und sehe durch das Wohnzimmerfenster dem wüsten Schneetreiben zu, um mich von dem abzulenken, was mir – kulinarisch gesehen – bevorsteht. „Manche Leute haben noch nicht mal das“, meditiere ich stumm vor mich hin, löffele ungare Nudeln, würge eiskalte Mayopampe herunter, lasse ein Würstchen auf der Gabel hin und her wackeln und sage schließlich sehr gelassen: „Ich glaub‘, es geht los.“

„Mary, ich habe mir solche Mühe gegeben, manche Leute haben noch nicht mal das!“, motzt Jupp. Offensichtlich hat er meinen Satz missverstanden.

„Die Wehen gehen los, HERRGOTTSAKRA!“, motze ich glubschäugig zurück.

„Aber es gibt doch noch Nachtisch“, scherzt der Aprilscherzmann und wird blass.

„Hol gefälligst das Auto aus der Garage, aber flott!“, presse ich hervor und hoffe, dass ich dabei nicht noch etwas anderes herauspresse.

Jupp wankt zur Wohnungstür und steht 2 Minuten später wieder im Wohnzimmer. „Alles zugeschneit. Sieht schlecht aus mit Autofahren.“

Ich atme. Wie man das mit Wehen eben so macht. Immer schön durch die Nase ein und mit Ooooooh und Aaaaaah aus dem Mund wieder aus.

„Soll ich den Krankenwagen rufen?“, fragt Jupp und hampelt herum, als müsse er mal dringend. Ich antworte nicht und atme weiter. Das Krankenhaus ist, nebenbei bemerkt, nur ungefähr einen Kilometer entfernt.

„Ich hab’s! Bleib hier, Schatz, nicht weglaufen, bin gleich wieder da!“ Atmend starre ich meinem Mann auf seinem Weg zur Kellertreppe hinterher. Es rumpelt irgendwo unter mir, dann scheppert es, dann rumpelt es wieder, dann steht Jupp schwitzend vor mir. Mit Spinnweben in den Haaren, einer verstaubten Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf und einem Schlitten neben sich. Ja, Sie haben ganz richtig gehört. Mit einem Holzschlitten, den er irgendwann während seiner Tischlerjahre zusammengezimmert hat. „Leg dich da drauf, mein Engel, wir schaffen das! Beeil dich!“

Schwupps, weg ist er schon und mit dem Schlitten vor der Haustür. Mein Gatte meint es ernst. Wenn er „mein Engel“ sagt, meint er es immer ernst. Zu einem Widerspruch bin ich gerade leider nicht in der Lage. Ich muss mich aufs Atmen konzentrieren, egal wo. Draußen sind wenigstens andere Menschen. Vielleicht sogar ein Arzt. Oder eine Hebamme. Wenigstens ein Medizinstudent, ein Heilpraktiker oder ein Veterinär, irgendwas. Egal, alles ist jetzt besser als mitten im Wohnzimmer in Gegenwart von Jupp und vor den Augen unseres Katers zu gebären. Ich torkele samt Wolldecke zur Tür hinaus und warte auf Hilfe. Von Jupp.

„Ihr Taxi, Madame, bitte steigen Sie ein!“

Ich kann nicht mehr und gucke auch so. Es scheint zu wirken. Mein Ehemann greift mir unter die Arme. Buchstäblich. Es ist eine sehr, sehr absurde Situation, und ich bin sehr, sehr froh, dass uns niemand beobachtet, bis ich auf dem Schlitten liege. Wie ein dicker, gestrandeter Delfin auf dem Transportweg ins nächste Meeresaquarium liege ich da. Ein- und ausatmend, nur ohne Blasloch.

Nach 300 Metern sind wir an der Kirche, die auf dem Weg zum Krankenhaus liegt. Just in dem Moment, als ich von meinem bekloppten Mann daran vorbeigezogen werde und ein bisschen über Scheidung nachdenke, öffnet sich die Kirchentür. Die frühe Abendmesse ist zu Ende. Die mit dem Krippenspiel. Eltern mit Kindern drängen heraus, mittendrin Josef, Maria, Caspar, Melchior, Balthasar und ein paar Hirten.

„Ho ho ho, sehet her, heute wird euch ein Christkind geboren! Ho ho ho!“

Jupp ist in Bestform. Das meint er zumindest. Andere sehen das anders. Ich winsele und schnaufe inzwischen wie ein adipöser Bernhardiner, Jupps Nase leuchtet röter als die von Rudolf Rentier und weiter als der Stern von Bethlehem. Kinder und Mütter zeigen unterschiedliche Reaktionen. Die einen jubeln und klatschen, die anderen heulen hysterisch, andere bekreuzigen sich.

Doch da, da, ein heller Hoffnungsstreifen am verschneiten Horizont! Das Meer, äh, Menschenmeer teilt sich. Strammen Schrittes steuert der Pastor direkt auf uns zu. Und erkennt den Sinn und Ernst unserer unvorteilhaften Lage sofort.

„Machen Sie mal Platz, junger Mann, zu zweit geht das viel besser. Junge Frau, alles wird gut.“

Ja, zu zweit geht es in der Tat viel besser, das hat der Pastor sehr schön gesagt. Ich frage mich, warum Jupp nicht einfach beim Nachbarn geklingelt hat. Zehn Minuten später erreiche ich mit Doppelgespann vor und den heiligen drei Königen hinter mir das Krankenhaus. Der Pastor verabschiedet sich und verschwindet mit den drei Jungs in den dunklen Heiligabend, als sei nichts Besonderes gewesen.

Kurz vor Mitternacht sind wir, Mary und Jupp, mit bürgerlichem Namen Maria und Josef, jauchzende Eltern eines knackigen Jungen. Als uns die Hebamme fragt, wie er heißen soll, antworte ich ohne zu zögern: „Casper, aber nicht wie der König, sondern wie der Sänger. Wir mögen seine Songs.“

Das mit den Songs stimmt nicht so ganz, aber das muss sie nicht wissen. Caspar mit „a“, Melchior oder Balthasar wollten wir unserem Kind nicht zumuten. Jesus wäre gar nicht gegangen.

Und der Pastor heißt Kevin. Also echt.

Fröhliche Weihnachten!
Die Türglocke klang mit jedem Ding und jedem Dong bedrohlicher. Martha brach der Schweiß aus. Sie stand in ihrer Schürze („Auftragsgriller!“) in der Küche und versuchte, mit den Augen den Qualm zu durchdringen, der in dicken Schwaden aus dem Herd hervorquoll. Sie musste sich entscheiden, und zwar jetzt gleich: entweder den Truthahn aus dem Rohr zu retten – vielleicht war unter der extra knusprigen Haut in nachtschwarz noch etwas von dem Vogel zu gebrauchen – oder die Tür zu öffnen, um die Familie einzulassen. Vor der Tür erhoben sich aufgebrachte Stimmen, la Familia war anscheinend leicht angesäuert, weil ihr nicht auf der Stelle geöffnet worden war. Martha begann sich ernsthaft zu fragen, was sie geritten hatte, in diesem Jahr Weihnachten in ihrer Wohnung zu feiern. Mit ihrer Familie. Sie erinnerte sich nicht mehr. Vermutlich war sie betrunken gewesen.
Dennoch hatte sie sich Mühe gegeben, eine gute Gastgeberin zu sein.
Hatte einen Tannenbaum besorgt, ihn liebevoll geschmückt und den Esstisch festlich eingedeckt. Sogar Weihnachtsmusik hatte sie eingeschaltet. Sie dudelte in einer unbarmherzigen Endlosschleife eine Mixtur aus Glockengeläut und Engelsgesang.
“Ommm!“ machte sie und atmete tief durch.
Sie entschied sich dafür, zuerst die Tür zu öffnen. Der Braten war vermutlich ohnehin ungenießbar. Zögernd ergriff sie die Türklinke.
„Süße?“ hörte sie die Stimme ihrer Mutter hinter der Tür, ihr hoher Diskant hallte unangenehm im Treppenhaus nach. „Mach‘ auf, wir können riechen, dass du da bist.“
Martha verdrehte die Augen, bevor sie endlich öffnete. Ohne Begrüßung schubste ihre Mutter sie zur Seite. „Endlich, ich muss dringend auf die Toilette, meine Entwässerungspillen und die lange Autofahrt!“ Auf ihrem Weg dorthin warf sie einen Blick in die verqualmte Küche. „Hast du wieder versucht, zu kochen? Ich hoffe, es gibt einen guten Essenslieferanten in der Nähe.“
Konsterniert blickte Martha ihr nach.
„Hallo, Mutti. Ich freue mich auch, dich zu sehen.“
Ihr Vater zuckte entschuldigend mit den Schultern und nahm seine Tochter für den Bruchteil einer Sekunde in den Arm. „Du weißt ja, wie deine Mutter ist.“ sagte er. „Hallo, Liebes.“
Gleich darauf schob er sich an ihr vorbei, um in Hut und Mantel in der Küche zu verschwinden. Martha konnte hören, wie er den Herd ausschaltete und das Fenster aufriss.
Ihr Bruder Sven erschien mit seinen drei missratenen Söhnen, deren Namen sie sich partout nicht merken konnte (insgeheim nannte sie ihre Neffen Tick, Trick und Track) sowie seiner angeheirateten besseren Hälfte Pia im Türrahmen.
Armee der Untoten, kam es Martha in den Sinn.
„Hi, Martha, frohe Weihnachten!“ begrüßte er sie grinsend. „Danke, dass du uns eingeladen hast.“
An der Hand hielt er einen auffallend bleichen Trick.
„Mir ist schlecht.“ kündigte Trick unheilschwanger an, stürmte an ihr vorbei in den Flur, um sich gleich darauf geräuschvoll in den Rattanübertopf von Marthas mühevoll gehegter Yuccapalme zu übergeben. Seine Mutter blickte Martha entschuldigend an. „Er kann das Autofahren nicht ab“. meinte sie, erklären zu müssen.
Trick würgte unverdrossen weiter. „Komm, mein Schatz, Mami bringt dich auf das Martha-Klo.“
„Da sitzt doch schon Oma.“ verkündete Track, während er seinen kleinsten Bruder Tick dabei beobachtete, wie er seine Stiefel von den Füßen schleuderte und in Marthas Wohnzimmer rannte.
Ihren würgenden Sohn hinter sich herzerrend, bewegte Pia sich zum Klo hinüber, hämmerte an die Tür. „Herta, könntest du dich ein wenig beeilen? Pitti ist übel.“
Die Klospülung war zu hören und das Laufen von Wasser. Gleich darauf öffnete sich die Klotür.
Aus dem Wohnzimmer war ein lautes Scheppern zu vernehmen. Dann ein schrilles Geheule.
Sven rannte sofort hin. „Klausi, ist dir was passiert?“
Klausi heulte und kreischte, als würde er abgestochen.
„Komm, der Papi zieht dich unter dem blöden Baum heraus. War sowieso ein hässliches Ding.“
„Ich rufe jetzt einen Essenbringdienst an.“ war die Stimme von Marthas Mutter zu vernehmen. „Sonst wird das heute nichts mehr mit dem Weihnachtsessen. Martha, google das mal eben…“
Ihre Tochter antwortete nicht.
„Martha?“
Marthas Mutter schritt in den Flur. Die Haustür stand offen.
Auf der Schwelle lag eine Schürze.

Alte Zöpfe

Langsam strich sich Rapunzel durch das lange goldene Haar, das seidig über ihre Schultern floss. Was für ein Aufwand, dachte sie bei sich. Dreimal die Woche eine zweistündige Tortur – waschen, spülen, Pflegekur, ewiges kämmen und trocknen und föhnen und bürsten. Wollte sie das eigentlich noch? So viele Gedanken kamen und gingen. Die vier Kinder, die ja inzwischen erwachsen und aus dem Haus waren. Der Prinz, der schon lange kein liebevolles Wort mehr an sie gerichtet hatte und der allabendlich auf dem Sofa einschlief, bei laufendem Fernseher. Ihr Job, der ja eigentlich gar keiner war: Diener beaufsichtigen und darauf achten, dass alles im Schloss sauber und ordentlich war. Und daneben noch ein wenig Wohltätigkeitsarbeit. Wenn sie mit ihren Freundinnen über ihre wachsende Unzufriedenheit – ja ihr Unglücklich sein – sprach, dann bekam sie etwas von Hormonen, Wechseljahren und Vibratoren zu hören. Aber das war es nicht. Sie wollte ernst genommen werden. Sie wollte Liebe. Respekt. Und auch Abenteuer. Marie schlich sich in ihre Gedanken. Marie, die bei dem Frisör arbeitete, bei dem sie sich alle vier Wochen die Spitzen schneiden ließ. Die Spitzen von ihrem Haar, das genauso langweilig wie ihr Leben war. Marie, mit der sie sich öfter zum Kaffee trinken verabredete hatte. Marie, die ihr Herz schneller schlagen und ihre Hände zittern ließ. Rapunzel blickte in den Spiegel vor ihr. Es war Zeit. Sie nahm die Schere und schnitt drauflos. Nicht schulterlang, nicht bis zum Kinn. Kürzer und kürzer, bis die seidigen Strähnen den Boden bedeckten und auf ihrem Kopf zentimeterkurze Stoppeln kreuz und quer standen. Nicht hübsch, aber wild und anders. Sie ließ die Hand sinken. Ihre Augen strahlten. Dann griff sie zu ihrem Koffer, rückte den Brief an den Prinzen zurecht und verließ nicht nur das Schloss, sondern auch ihr altes Leben und begab sich auf zu neuen Abenteuern.

Lichtmaschine und Feenstaub

Weihnachten ist eine besinnliche Zeit. Jeder freut sich auf die Ruhe.
Bei Igor ist das anders, denn er liefert Pakete aus. Er ist das letzte Glied in der Kette, die mit einem Mausklick bei einem Online-Versanddienst beginnt und mit einem hastig übergebenen Karton an der Haustür endet.
Die Leute freuen sich, wenn die vor zwei Tagen noch eilig bestellte Ware es tatsächlich bis Heiligabend an ihre Türschwelle schafft. Sie lächeln, bedanken sich knapp und tratschen hinterher untereinander über das schlechte Deutsch, das diese Zusteller sprechen.
Dann sitzt Igor schon wieder in seinem Transporter und hetzt zum nächsten Ziel. Erst spät, nachdem er die letzte Lieferung in den entlegensten Zipfel gebracht hat, wird er nach Hause gehen. Seine Tochter wird ihn wie in den Jahren zuvor mit diesem Gesichtsausdruck ansehen: Wieder so ein Weihnachtsabend, an dem er so gut wie nicht da war.
Das mit dem entlegensten Zipfel ist keine Übertreibung. Hier draußen gibt es die Straße und sonst nur Wald und ein bisschen Wiese. Na wenigstens liegt Schnee. Fahl wirft er das Licht der Scheinwerfer zurück.
Doch Igor kann sich nicht damit beschäftigen. Er hat es eilig und der Laderaum ist noch voller Aufträge.
Dann fängt doch ein Licht seine Aufmerksamkeit – eines im Armaturenbrett. Doch es ist nicht angenehm, sondern es verheißt Unheil: die Ladekontrollleuchte. „Die Lichtmaschine!“, durchfährt es Igors Gemüt wie ein Blitzschlag.
Die dunkle Ahnung verwandelt sich bald in Gewissheit: Das Auto „verreckt“ und er fährt es an den Straßenrand.
Da müssen die „Gelben Engel“ ran – noch so eine Spezies, die Weihnachten nicht mit Besinnlichkeit verbindet, sondern mit verzweifelten Fahrern, denen sie aus der Patsche helfen.
Er zückt sein Telefon, wählt die Nummer: kein Netz.
Er steigt aus, stellt das Warndreieck auf. Zwanzig Minuten später erstirbt seine Hoffnung, dass hier jemand vorbeikommt, hier im letzten Zipfel. Nur warum bestellen die Leute gerade hier so viel? Konnte er nicht an einer Hauptverkehrsstraße stranden?
Seine Faust schlägt hart auf das Lenkrad, das nichts dafür kann.
Erneut steigt er aus: Vielleicht geht ihm hinter der nächsten Straßenbiegung „ein Licht auf?“ Vielleicht gibt es hier doch eine Zivilisation?
Doch es gibt weit und breit kein Licht, nur ein schwaches Glimmen der Scheinwerfer seines Wagens.
Was wird die Tochter sagen? Dass es originell ist, dass er in diesem Jahr gar nicht zu Weihnachten da war?
Nun steht er hier, allein, umgeben von einem dunklen Nichts. Nur der Wind heult leise um seine Ohren. Andere Leute erzählen sich in diesem Moment Weihnachtsmärchen. Und er sitzt hier: allein.
Jetzt dreht er sich um. Was war das? Klang das nicht wie Schellengeläut? Sicher nicht, wo soll das herkommen? Seine Sinne spielen ihm einen Streich, bestimmt.
Doch, da ist es wieder! Wo kommt es her? Neben der Straße zieht sich eine Wiese eine Anhöhe hinauf. Ist dort oben nicht ein Lichtschein?
Ein Blick auf seine Schuhe belehrt Igor, dass er nicht durch den Schnee stapfen kann – auf der Suche nach einer Siedlung mit beleuchteten Häusern, die sanft über den Hügel strahlen.
Doch das Licht wird stärker. Oh, es kommt auf ihn zu!
Er reibt sich die Augen: Vor ihm steht ein Gespann mit Rentieren vor einem Schlitten. Ein weißbärtiger Mann in einem abgefahrenen roten Kostüm steigt ab und gibt den Blick auf ein paar bunte Kartons als Nutzlast frei. Das kann eigentlich nur die Konkurrenz sein! Aber seit wann fahren die Schlitten? Haben die auch Probleme mit Lichtmaschinen gehabt?
„Panne?“, fragt der Alte und zeigt zum Transporter, dessen Lichter inzwischen erloschen sind.
„Lichtmaschine“, antwortet Igor.
Der Rote nickt wissend. Sie gehen zum Wagen, schauen unter die Motorhaube.
„Nichts, das ein bisschen Feenstaub nicht kurieren kann“, meint der Bärtige in dem drolligen Kostüm. Er kramt in der Tasche seines Mantels, findet eine Dose. „Ach, das sind meine Hustenbonbons.“ Er steckt sie zurück, kramt ein anderes Schächtelchen hervor.
Noch ehe ihm Igor in den Arm fallen kann, hat der Alte ein paar Krümel von irgendwas über die Technik gestreut.
Er wird schon keinen Schaden anrichten, hofft der Gestrandete inbrünstig.
„Na los, steig ein, lass an!“, sagt der Alte, während er die Schachtel zurück in seinen Mantel steckt.
Igor fügt sich. Diese Szene ist so bizarr, da kann er gerne auch so tun, als ob Märchen wahr werden.
Das tun sie.
Der Wagen springt auf Anhieb an. Die Leuchte des Grauens im Cockpit ist erloschen.
Wie um alles in der Welt … ?
Der Alte winkt ab. „Schon gut! Ich muss weiter." Er wendet sich zum Gehen.
Igor schaut auf die Uhr. Es ist schon spät. Wie soll er all die Kartons rechtzeitig an den Mann, die Frau, das Kind bringen?
Jemand klopft von außen an die Scheibe des Fahrerhauses.
Es ist der Rote. „Soll ich ein paar von deinen Lieferungen übernehmen?“
„Äh, du weißt doch gar nicht, wo die hinmüssen“, stammelt Igor.
Der Alte zückt einen Barcode-Scanner. „Meine neueste Anschaffung!“ Schon macht er sich am online-georderten Stapel zu schaffen, liest Adressen ein und wirft die Kartons auf den bunten Haufen in seinem Schlitten.
„Und wie willst du all die Adressen finden?“
„Der Schlitten hat GPS. Du denkst wohl, dass der Weihnachtsmann hinter dem Mond wohnt, was?“ Dabei lacht er glucksend, sodass er ein Hustenbonbon einwerfen muss.
„Aber Moment mal, das sind MEINE Pakete!“, protestiert Igor und sieht vor seinem geistigen Auge eine gigantische Liste von Beschwerden über verlorene Ware.
Der Alte schaut gar nicht auf, sondern scannt und lagert um: „Schau in deinen Mini-Computer. Ich buche alles bei deinem Herrn und Meister aus.“
„Aber hier gibt es kein Netz!“
„Der Schlitten hat ein offenes W-LAN“, antwortet der Alte nüchtern.
Igor inspiziert den Computer. Tatsächlich: Bei allen Paketen steht „ausgeliefert“.
„Aber Moment mal …“
„Beruhige dich, die kommen alle an!“ Der Alte legt dem Jungen die Hand auf die Schulter und macht Anstalten, auf seinen Schlitten zu steigen. Die Rentiere schnauben schon.
„Wie kann ich dir vertrauen?“ Igor zittert.
„Weil heute Weihnachten ist, Mann!“ Schnee wird aufgewirbelt. Weg ist der Alte. Das Schellengeläut wird leiser.
Igors Wagen ist leer. Der Motor läuft. Er fährt nach Hause. Vor der Wohnungstür checkt er den Status seiner Lieferungen. Der ist unverändert positiv.
Sein Telefon klingelt. Der Chef ist dran. Kommt jetzt das dicke Ende?
„Igor, ich gratuliere Ihnen, Sie sind der Mitarbeiter der Woche!“, schreit der Boss. Hat der sich zu viel Glühwein gegönnt?
„Ja, ich …“ Er will sich erklären. Doch wo fängt er an? Die Geschichte von vorhin glaubt ihm kein Mensch!
„Ja, Sie! Alle Pakete ausgeliefert. Kunden riefen bei uns an. Dass Sie im Weihnachtsmannkostüm aufgekreuzt sind. Die Kinder heutzutage denken, dass wir die Weihnachtsmänner sind. Die kennen sowas gar nicht. Sie haben ihnen Weihnachten erklärt! Wunderbar! Ich überweise Ihnen eine Prämie!“
Der Anruf ist vorbei. Mit zitternden Händen schließt Igor die Tür auf.
„Papa!“ Die Tochter kommt gerannt. Heftig zerrt sie an seinem Arm, führt ihn zum Wohnzimmer. „Da war so ein Mann da, mit rotem Mantel! Er hat Geschenke gebracht, damit ich Unterhaltung habe, bis du kommst!“
Igor sieht einen Konfettiregen von Geschenkpapier unter dem Weihnachtsbaum, ausgepackte Kartons, Spielsachen. Die sehen nicht aus wie vom Online-Händler. Sie wirken anders, er kann es nicht beschreiben – irgendwie zauberhaft.
„Das ist mein schönstes Weihnachten!“ Die Kleine drückt ihn fest.
Er nimmt sie in den Arm.
Was für eine Bescherung!

Unerwarteter Besuch

Endlich Urlaub! Weg von all der Vorweihnachtshektik im Büro. Weg von den Weihnachtsfanatikern, die jedem so lange ein „Fröhliche Weihnachten!“ an den Kopf knallen, bis man schließlich geschlagen einknickt, wimmernd ebenfalls „Fröhliche Weihnachten!“ herauspresst und das Magengeschwür weiter mit dem verhassten Stollen füttert.

Einfach nur Ruhe!

Völlig entnervt schließe ich die Wohnungstür auf und lasse die Einkäufe auf den Boden fallen. Sind denn alle wahnsinnig geworden? Die Leute kaufen ein, als gäb’s kein Morgen mehr! Und von wegen „Fest der Liebe“, was da an Flüchen, Beleidigungen und Kränkungen zwischen den Einkaufswagen hin und herfliegt entbehrt jeglicher Menschlichkeit.

Da werde ich mit einem lautstarken „MIAU!!“ in die Realität zurückgeholt. Van Helsing, mein Herzenskater steht vor mir und blickt mich entrüstet an. Wie kann ich es wagen, ihn nicht sofort gebührend zu begrüßen? „Tut mir leid, mein Schatz.“ murmle ich, hebe das Fellbündel hoch und vergrabe meine Nase in seinem Fell. Ich atme tief durch, merke, wie der kleine Kerl seine Magie wirkt und sich mein Herzschlag beruhigt. Ich setze ihn schließlich wieder auf den Boden und will weiter in die Küche gehen, als ich fast über das zweite Fellbündel im Haus falle. Abigail sitzt, ganz die Dame des Hauses, im Türrahmen und fordert ebenfalls lautstark meine Aufmerksamkeit ein. Langsam breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Eine halbe Stunde später sind alle Einkäufe verräumt, die Raubtiere gefüttert und ich endlich auf der Couch angekommen.

Versonnen nippe ich an einem Glas Rotwein und blicke auf meinen Weihnachtsbaum. Schön ist er dieses Jahr geworden, mit den roten und goldenen Kugeln. Ich träume vor mich hin, bis sich langsam ein leises Klingeln in meine Gedanken schleicht. Das Telefon ist es, zum Glück, nicht. Das ist irgendwas anderes.Ich nippe weiter am Wein und versuche, das Geräusch zu ignorieren. Es klingelt jedoch wieder und dann sehe ich es. Mein Weihnachtsbaum wackelt! Ein Ast hüpft munter auf und ab und das Glöckchen daran bimmelt vergnügt vor sich hin.

„Helsie! Abby! Raus aus dem Baum!“ rufe ich laut und will aufspringen, als es neben mir verschlafen maunzt. Da liegen sie. Alle beide. Irgendwas passt an dem Bild gerade nicht. Langsam nehmen die Zahnräder in meinem Kopf wieder Fahrt auf. Wenn die Zwei neben mir auf der Couch liegen, wer, zum Teufel, ist dann in meinem Baum?!?

Ich stehe nun doch auf, nähere mich vorsichtig dem Baum und dem verdächtigen Zweig. Zunächst kann ich nichts sehen. Ich hebe den darüberliegenden Ast langsam an und stutze. Was – nein – wer ist das? Irgendwas Kleines sitzt in meinem Baum und zerrt daran herum. Nachdem ich mir das Ganze eine Zeitlang verwundert angesehen habe, frage ich trocken „Kann ich Dir irgendwie behilflich sein?“

Das Zerren stoppt. Das Wesen erstarrt und dreht sich ganz langsam zu mir um. Ich blicke in ein verhutzeltes Gesicht, das in einem unnatürlichen Winkel zu mir aufblickt. „Verzieh Dich!“ ranzt es mich an und jetzt erkenne ich auch, wo das Problem liegt. Der Bart diese kleinen, äußerst charmanten Kerlchens hat sich im Harz verfangen.
„So wird das nie was!“ murmle ich und gehe eine Schere suchen. Auf dem Weg in die Küche stelle ich erstaunt fest, dass ich offensichtlich erschöpfter bin, als ich dachte, da mich ein kaum handgroßes Männlein in meinem Weihnachtsbaum nicht weiter aus der Ruhe bringt.

Mit der Schere in der Hand komme ich zurück ins Wohnzimmer und höre einen Schrei „Weg, ihr Bestien! Lasst mich in Ruhe!“
Irritiert blicke ich auf den Baum, aus dem mittlerweile auf halber Höhe zwei Katzenhintern herausragen, und damit das ganze Gewächs in eine bedenkliche Schräglage bringen. Mit zwei Schritten bin ich dort, pflücke meine Katzen aus dem Geäst und schneide dann dem kleinen Mann beherzt den Bart ab.

Dieser flüchtet, endlich befreit, mit einem gellenden Schrei aus dem Baum, heißt mich Dinge, von deren Existenz ich noch nicht einmal etwas wusste, und springt schließlich wütend auf dem Couchtisch auf und ab. Selbst meinen Katzen verlangt diese personifizierte schlechte Laune ihren Respekt ab und sie ziehen sich beleidigt auf die Heizung zurück.

„Was ist das nur mit euch Menschen??? Warum müsst ihr alles immer zerhacken und zerschneiden???“ Damit springt er auf das Fensterbrett und versucht energisch, das Fenster zu öffnen.
Ich gehe hinüber, um diesen rüden Besucher hinauszulassen, und frage „Wie heißt Du eigentlich?“

Beim Hinausspringen ruft er noch über die Schulter „Rumpelstilzchen“

Können Bäume fliegen?

Gemütliches Frühstück am ersten Advent.
„Schatz – dieses Jahr machen wir es aber anders“, kam es unvermittelt von meinem Mann.
Die Komponenten „Schatz“ und „machen wir es anders“ ließen mich aufhorchen.
„Ja…? Was machen wir denn dieses Jahr anders?“
„Na das mit dem Baum, du weißt noch, was es letztes Mal für ein Heckmeck war einen zu finden.“
Ja, doch, DAS hatte ich nicht vergessen.
Im vorigen Jahr war der Last – Last – Minute Weihnachtsbaumkauf kein Zuckerschlecken gewesen.
Die armseligen Restbestände, die wir zwei Tage vor Heiligabend noch bei fünf verschiedenen Händlern gezeigt bekommen hatten, verdienten die Bezeichnung Baum – kaum.
Sofort hatten uns die Verkäufer mit geübtem Blick als zu allem breit und verzweifelt identifiziert. Was dann nach kurzem, aber fruchtlosem Widerstand unsererseits in einem fetten Geschäft für einen von ihnen gipfelte. 40 Euro für eine – Hecke. So nannten wir den Notkauf. Ein wirklich hässliches Ding mit zwei Spitzen, die abstanden wie Hasenohren, verdrehten Ästen und doppelt geknicktem Stamm. Ich war mir sicher, dass wir dieses Teil nicht mal in den Christbaumständer schrauben könnten, und eigentlich wollte ich das auch gar nicht. Am liebsten hätte ich ein kleines Feuerchen drunter entfachen wollen – ohne Zweifel wäre das erfolgreich gewesen, denn das Gestrüpp im unteren Drittel des gerade mal 1,60 Meter großen Bäumchens war gänzlich kahl und schien gut abgehangen.
„Dann nadelt er schon nicht so viel“, kommentierte meine Tochter trocken. Humor musste man haben, um diesen Anblick zu ertragen. Nachdem wir den Baum mit vereinten Kräften im Ständer und über zwei Ecken mit Bindfaden an der Wand fixiert hatten, neigte er sich kaum mehr als 20 Grad.
Ich besitze eine sehr umfangreiche Christbaumschmuckkollektion. Und wir hängten hin, was zu hängen ging. Also praktisch alles. Keine Zurückhaltung mehr – was sollte der Geiz. Am Ende glitzerte und funkelte es erstaunlich prächtig. Ach ja, das war auch das erste Jahr, in dem bei unserer Familie wieder Lametta in Mode kam. Die nadellosen unteren Äste wurden damit „vergoldet“. Beurteilung meiner Freundin: „Da habt ihr echt was draus gemacht – man stelle sich vor, der Baum wäre auch noch schön…“, (ja, danke dafür).

Mein Mann hatte vollkommen Recht. Dieses Jahr wollten wir es ganz anders angehen und keine Sprüche mehr hören. Gleich in der folgenden Woche machten wir uns auf den Weg. Und siehe da – die Auswahl war unglaublich. Wir schlenderten mit heißem Punsch in der Hand und guter Laune im Gepäck durch einen halben Wald von Schönheiten. Hinter jeder tollen Tanne kam gleich eine noch tollere. Schließlich entschieden wir uns für eine wunderbare Blaufichte. Farbe; Wuchs; und dieser Duft – sie würde prächtig wirken in unserer Wohnung mit dezenter Deko – diesmal.
O.k., die Nadeln pikten wie verrückt. Aber nachdem das Verpackungsnetz drüber-gewuppt war, ging es sehr gut. Zuhause angekommen parkten wir unseren Schatz auf dem luftigen Balkon, um kein vorzeitiges Ab-Bröseln zu riskieren. Es war so beruhigend dieses Tännchen da draußen zu wissen.
In der Woche vor Weihnachten änderte sich das Wetter. Aus dem eisigen Regen wurde kräftiger Schneefall. Perfektes Timing.
Frage von mir: „Schatz, sollten wir den Baum nicht lieber schon mal reinholen, damit der in der Badewanne abtauen kann?“
Antwort meines Mannes: „Ach was, dem geht es doch besser da draußen, das reicht noch einen Tag vorher“.
Am 24.12. dann…
„Schaaatz, kannst du mir hier mal helfen?“
Dank versäumtem Abtau-Termin für unser Bäumchen stand mein Mann auf dem Balkon und versuchte vergeblich, das Netz von den völlig starr gefrorenen Zweigen zu zerren. Auch zu zweit kamen wir kaum voran, es hing in Fetzen herunter und unsere Finger waren völlig zerstochen.
„Da haben wir jetzt den Salat“, schnaubte ich ungeduldig.
„Hm? Wieso Salat?“
Kennen sie das auch? Beide Partner wissen genau, warum der eine total genervt ist, aber der andere tut so, als sei er gerade aus einem Aschram in Indien gekommen und wäre nicht Teil der sich anbahnenden Heilig-Abend-Katastrophe.
„Na, schau dir das doch an. Alles total vereist.“
„Ja, sieht so aus.“
„Das sieht nicht nur so aus – es IST SO.“
Mein Mann spürte nun wohl doch die negativen Schwingungen und trat zwei Schritte zurück vom Baum … und von mir. Er wirkte sehr konzentriert.
„Wir müssen ihn abtauen“, beschied er, als wäre ihm die Idee gerade erst gekommen.
„Ach was? Und wie soll das gehen? Das ist kein Baum mehr, nur noch ein einziger … Eisklumpen. Den kriegen wir doch nie in der kurzen Zeit abgetaut.“
Sein Kommentar: „Hmpf“
„Was hmpf?“
„Ja…, was soll ich sagen?“ Er starrte auf die Blaufichte, als könnte er mit bloßem Willen den Eispanzer knacken.
„Ich weiß, was du sagen könntest – vielleicht sowas wie – tut mir leid, dass ich es verpennt habe den Baum rechtzeitig reinzuholen, obwohl du es mir noch gesagt…“
„Du hättest mich eben nochmal erinnern müssen, hab schließlich viel zu tun.“
„Soooo, und ich wohl nicht, so kurz vor den Feiertagen? Du kannst doch auch EINMAL selber was machen, ohne dass ich dich…“
„Ach – jetzt ist es also meine Schuld – wie immer!“
Na endlich – wir hatten uns zum Kern des Pudels vor - debattiert. Und ich war richtig auf hundert achtzig.
„Was soll das heißen – wie immer? Fakt ist doch, du warst für diese Aufgabe zuständig…“
„Wieso ich?“
„Wer denn sonst?“
Versuch eines Taktikwechsels auf der anderen Seite. „Jetzt reg dich doch nicht so auf, du wirst laut. Ist schließlich Weihnachten.“
„Ich reg mich auf wann ich will, und ich werde laut so viel ich will!“
Versuch eindeutig gescheitert.
„Weihnachten hin oder her, mach was, das kann so nicht bleiben.“ Die Hände in die Hüfte gestemmt wartete ich auf – irgendwas.
„Ja was denn? Kann schließlich nicht hexen – oder?“
Eine tolle Aussage – so wahr – so…
„Dann nimm doch den Mist-Baum und schmeiß ihn über ‘n Balkon, ich will das Ding nicht mehr sehen.“
An dieser Stelle möchte ich etwas einfügen. Manchmal es gibt Situationen, in denen Männer – wider Erwarten ihrer Frauen genau das tun, was man (also Frau) zu ihnen sagt. Es kann dann aber gut sein, dass Frau, wegen dem, was Mann macht, völlig von den Socken ist, obwohl sie es ihm ja aufgetragen hat. Dass dieser Widerspruch in einer langjährigen Beziehung eben doch keiner ist, bleibt ein Rätsel für Kommunikationswissenschaftler aus aller Welt.

Da standen wir; Seite an Seite am Balkongeländer und schauten ungläubig nach unten.
Dort steckte unsere Blaufichte. Kopfüber in den Schneemassen, die sich im Vorgarten auftürmten.
„Du … hast es wirklich gemacht.“
„Hmpf … hast du doch gewollt.“
„Ja … hoffentlich hat das keiner gesehen.“
„Bestimmt nicht … die sind alle drinnen, beim Baum schmücken.“
Plötzlich prustete ich los und mein Mann gleich mit. Wir lachten so laut, dass unsere Tochter angerannt kam, um zu schauen, was los war.
„Ist das unser Christbaum da unten?“
Keine Antwort möglich da alleine die Frage einen erneuten Lachanfall auslöste.
„Ihr seid echt so peinlich - ich glaub‘ s einfach nicht.“
Sprach‘ s und rauschte wieder ab in ihr Zimmer.
Am Ende hatten wir zwei Christbäume.
Eine wunderschöne, offenkundig flugtaugliche Blaufichte vor dem Haus – ganz unkonventionell mit dem Stamm nach oben.
Und einen „Baum“ im Wohnzimmer.
Mein Mann hatte noch eine wirklich üble Hecke am Heiligabend von einem mitleidig lächelnden Verkäufer erstanden. Natürlich völlig überteuert.
Sie wurde noch prächtiger als die im vorigen Jahr.
Kommentar meiner Freundin bei diesem Anblick:
„Na wenigstens bleibt ihr euch treu.“

Freitag, 23.12.22 8.41 Uhr:

Ho-ho-ho an alle in der Papyrus Community!
Morgen ist Weihnachten!
Ich wünsche euch allen ein schönes, nicht zu stressiges und vor allem fröhliches Fest!

Erwachsen werden.

„Lieber Weihnachtsmann,
dieses Jahr wünsche ich mir das rosa Puppenhaus was so oft im Fernseher kommt! Mama und Papa haben gesagt, sie kaufen es mir nicht, deshalb will ich es von dir. Es ist fast so groß wie ich und hat sogar richtige echte Fenster, nicht nur aufgemalte. Es ist sooo schön! Oh und natürlich wünsche ich mir Schokolade und Nüsse, ich liebe Nüsse! Und falls meine Schwester eine neue Puppe kriegt, will ich auch eine, dann können wir zusammen spielen. Du musst Mama und Papa ja nicht erzählen, dass ich eine bekomme, die sagen immer ich hab schon so viele. Das stimmt aber gar nicht! Ich freue mich sehr auf Weihnachten, bis bald lieber Weihnachtsmann.
Deine Emmi!“

„Ich wünsche mir zu diesem Weihnachten wirklich nichts, außer dass meine Mutter wieder gesund wird. Bitte, welche Macht auch immer dort oben das Sagen hat, lass mich nicht ohne sie feiern. Ich bitte nur um diese eine Sache, ich bin noch nicht bereit, sie gehen zu lassen. Dieses Jahr war so hart, ich konnte das alles irgendwie verkraften, aber von diesem Schlag würde ich mich nicht erholen. Auch Elias und Cleo wollen nicht jetzt schon ohne ihre Oma feiern, ich möchte ihnen wirklich nicht in der Adventszeit erklären, wie der Tod funktioniert. Sie sind noch so jung.
Bitte. Ich hab‘ doch bloß diesen einen Wunsch.
Emily.“

Weihnachtszeit

Siehst du am Himmel die Schneeflocke, mein Kind, wie sie zur Erde sinkt?

Berg und Tal mit ihrem weißen Kleid umhüllt und der Wald sich in Schweigen hüllt.
Wie die Seen in ihrer Herrlichkeit erfrieren und überall die Eiskristalle weit und breit.
Nun kehrt der Winter ein, die Kälte bricht herein.
Der Frost streckt seine Hände aus.
Weit über das Land hinaus.

Siehst du am Himmel die Sterne, mein Kind, wie der eine besonders hell blinkt?
Sie weisen uns den Weg ein Leben lang.
Hörst du die Engel mit ihrem Gesang, hörst du den lieblichen Klang?

Die Weihnachtszeit bricht herein für Groß und Klein.
In den Häusern brennen die Kerzen.
Wärme schleicht sich in die Herzen.
Das Christkind kommt hinab auf Erden.
Es wird besinnlich werden.
Mancher Wunsch wird wahr, man ist sich wieder ganz nah.

Siehst du des Mondes Schein?
Überall kehrt Frieden ein.

Das alte Jahr entweicht.
Das neue Jahr ist bald erreicht.

Ob er morgen wohl zu uns kommt?
Lieb sollte ich sein. Brav. So wurds mir immer wieder gesagt. Ich hab es auch wirklich versucht. Ehrenwort. Denn ich wollte es so unbedingt. Diesen einen Wunsch, den ich nachts in den Himmel geflüstert habe, in der Hoffnung, dass die Sterne ihn zum Nordpol tragen.
Aber Mama und Papa haben trotzdem viel mit mir geschimpft, mir ganz schön oft sagen müssen, dass ich artig sein soll. Beim Essen, wenn ich das Gemüse nicht mochte und darüber gemäkelt habe. Bei Oma, wenn mir so langweilig war, dass ich alle paar Minuten gefragt habe, wann wir nach Hause fahren. Bei Ausflügen, wenn ich vor Aufregung abends erst nicht einschlafen konnte, und unterwegs dann mit meiner Schwester gestritten habe. In diesen Momenten ist mir mein Wunsch kurz entglitten. Nicht lange. Die Erinnerung meiner Eltern zog ihn stets nach vorn: Sei lieb, sonst bringt der Weihnachtsmann keine Geschenke.
Als ich den Sternen meinen Wunsch offenbarte, verriet ich ihnen zugleich, dass ich den Weihnachtsmann danach nie wieder belästigen würde, ich nur dieses eine Geschenk sehnlichst haben möchte. Auch wenn ich mich fragte, ob der Weihnachtsmann auch Sachen brachte, die man gar nicht anfassen kann.

Der Weihnachtsabend kam. Den Weihnachtsmann verpassten wir wie jedes Jahr. Bunte Päckchen und Süßigkeiten lagen unter dem Baum, als wir vom Spaziergang zurückkehrten. Meine Augen jedoch waren erwartungsvoll auf meine Eltern gerichtet.
„Ach schaut, der Weihnachtsmann hat euch ja doch was gebracht, und das obwohl ihr gar nicht so lieb ward.“
Mein Herz flackerte. Fast stolpernd setzte ich mich unter den Baum. Mit zittrigen Fingern riss ich das mit Rentieren verzierte Papier von den Spielsachen, bis keines mehr übrig war. Ich schaute zu den strahlenden Gesichtern meiner Familie. Noch immer voller Hoffnung. Es wärmte mich, sie so zu sehen. Darum wollte ich nicht so sein und mich mit ihnen freuen. Ich bewegte meine Mundwinkel nach oben und begann mit meiner Puppe zu spielen. Glücklich könnte ich vielleicht später noch sein.

Die Welt ist laut

Kennt ihr das, wenn ihr fröhlich sein solltet und euch die Trauer ereilt? Eigentlich ist doch alles perfekt. Noch drei Tage bis Heiligabend. Die Geschenke sind gekauft und der Baum wartet darauf, geschmückt zu werden. Die frisch gebackenen Plätzchen erfüllen das Haus mit dem Duft von Zimt, Nelken und Vanille. Jubelnde Kinderstimmen schallen durch die Räume während „Last Christmas“ aus dem Radio trällert. Alle sind glücklich. Alle, außer mir. Für einen Moment fühle ich mich unbeobachtet, schleiche in mein Büro und schließe die Türe. Die Geräusche aus dem Erdgeschoss sind nur noch gedämpft zu hören, werden aber durch ein monotones Pfeifen in meinem Ohr ersetzt. Kraftlos sinke ich in meinen Drehstuhl, als die Tür mit brachialer Gewalt aufgestoßen wird: „Mensch Papa, hier bist du also! Mama ruft nach dir. Du musst noch mal in die Stadt.“ Bevor ich antworten kann, ist mein Ältester wieder verschwunden. Ich stütze mich auf die Stuhllehnen und stemme meinen Körper nach oben. Widerwillig schleppe ich mich in die Küche. Meine Frau wirbelt gefühlt gleichzeitig mit Mixer, Staubsauger und einer Stichsäge, die den Baum auf Zimmerhöhe kürzen soll. Mein Gewissen zwingt mich dazu, meine Hilfe anzubieten. Sie antwortet, ohne von ihrer Tätigkeit aufzusehen: „Ja, aber beeil dich. Du musst noch mal los. Ich hab vorhin mit Onkel Thorsten telefoniert und ihn für Heiligabend eingeladen. Wir sollten ihm eine Kleinigkeit schenken. Den Schinken vom Weihnachtsmarkt mag er gerne.“ „Och nö…“, schimpfe ich in mich hinein, während ich die Stichsäge greife und statt des Baumstamms das Stromkabel der Säge durchtrenne. „Das mit dem Baum mache ich später.“, rufe ich meiner Frau zu und verschwinde. Die Straßen sind verstopft. Im Autoradio ist „Last Christmas“ zu hören. Ich murmle: „Schon wieder…“, und spiele an den Knöpfen, um einen anderen Sender einzustellen. Zuerst werde ich vom penetranten Hupen, dann von einem strafenden blitzen darauf aufmerksam gemacht, dass die Ampel eben wohl rot gewesen sein musste. „Ups…“ Gekonnt fahre ich Slalom um die kreuzenden Fahrzeuge und erreiche unversehrt mein Ziel. Der Weihnachtsmarkt ist mindestens genauso überfüllt, wie die Straßen. Glühwein ist noch begehrter als Klopapier beim Lockdown. Der Alkoholgeruch mischt sich mit dem Gestank von Urin und aus den Lautsprechern plärrt „Last Christmas“. Es sind ungefähr 50 Meter Menschenmasse bis zum Schinkenstand. Ich gelange zur Überzeugung, dass dieser alte Klugscheißer Thorsten die Mühe nicht wert ist, fechte in Gedanken eine schnelle Diskussion mit meiner Frau aus und kapituliere. „Kann ja nicht so schwer sein.“, denke ich mir und stürze mich ins Unglück. Auf der Zielgerade rempeln mich zwei sturzbetrunkene Jugendliche an und stoßen mich gegen ein Pärchen. Sein Glühwein verteilt sich auf ihrer weißen Steppjacke. „Verdammt!“ Er starrt auf mich herab. Ich starre zurück. Bevor er mich packen kann, drängle ich mich in Rekordgeschwindigkeit durch angeheiterte Passanten. Immer noch mit Kurs auf den Schinkenstand versuche ich, meinen Verfolger abzuhängen. Kurz entschlossen drehe ich eine Extrarunde um den Marktbrunnen. Meine Schuhspitze verhakt sich im unebenen Kopfsteinpflaster. Ich strauchle, schaffe es, mich für drei Schritte auf den Beinen zu halten und klatsche dann vollflächig auf den kalten steinernen Platz. Stöhnend setze ich mich in den Schneidersitz. Schnell halte ich Ausschau nach meinem Verfolger. Wie es scheint, habe ich ihn erfolgreich abgehängt. Mein Knie schmerzt. Durch das aufgeschlagene Hosenbein dringt Blut. Meine Glieder verkrampfen und ich presse meine Lippen aufeinander. Ich habe Lust zu schreien, kann es aber nicht. Erst jetzt bemerke ich einen älteren Mann, der mir beinahe gegenüber sitzt und an den Marktbrunnen lehnt. Unsere Blicke treffen sich und ich zucke zusammen. Er trägt mehrere Schichten alter, löchriger Kleidung. Seine aufgeplatzten Lippen sind von einem langen, verfilzten Bart umschlossen. Vor ihm steht eine kleine Schale, darin liegen einige Münzen. Seine dunkelbraunen Augen blicken mich sanft an. Er lächelt: „Wie geht es dir?“ Mein Versuch zu antworten misslingt. Mir stockt der Atem. Unkontrollierbar kullern Tränen aus meinen Augen. Geduldig wartet er, bis ich mich gefasst habe. Um mich herum wird es leiser. Er lächelt noch immer: Ich finde die ersten Worte: „Zu laut. Ich will nicht klagen. Aber es ist zu laut.“ Er nickt verständnisvoll und sagt: „So laut, dass keiner den anderen versteht.“ Wir unterhalten uns lange und ich lade ihn zum Abendessen ein. Bevor wir zum Auto gehen, kaufen wir einen Schinken, den wir auf der Heimfahrt verzehren. Beim Abendbrot ist die Stimmung gedrückt. Der muffige Gestank von den Käsefüßen unseres Gastes vermischt sich mit dem Duft von Zimt und Nelken. Keiner sagt ein Wort. Das Radio ist aus. Meine Frau blickt missmutig auf das restliche Stück Schinken, dass wir übrig gelassen haben. Kennt ihr das, wenn man schlecht gelaunt sein sollte und trotzdem fröhlich ist?

In der Weih-nachts-bäck-e-rei …

„Watt wollnse?“

„Einen Christstollen, bitte.“

„Hamwanich.“

„Aber … heute ist doch Weihnachten?“

„Hamwatrotzdemnich.“

„Sie sind doch eine Bäckerei?“

„Ja und? Glaub’n se denn, die Christstoll’n waaten hier brav, bisse Kundschaft geruht, am letz’n Tach einen abzugreif’n inner Hoffnung, se kricht ihn führde Hälfte?“

‚Jetz kuck‘ dir den an, Luise, läuft rot an. Jaja, erwischt.’

„Jungamann, ich geb’ Ihn’n gutgemeint’n Rat: Wennse unbedingt spa’n woll’n, kommse nächstes Jahr ach Tage früher, manchmal hammwa da noch ein’n, zweie, so am dritt’n Advent rum, solche, bei den’n der Puderzucka ablättert. Dett sin imma die Lad’nhühta.
Fü’n Richtigen, so mit Rosin’ un’ Zittronat alles an der richtigen Stelle, da müssen’se viiiieel früa aufsteh’n - spähdestens am zwoten.“

„… Advent.“

„Nö, Dezemba.“

„Aber vielleicht …“

„Nachmach’n??? Wie stell’n se sich das vor? Christstoll’n wer’n doch nich’ gedruckt!! Datt brauch’ Zeit. Un’ wir sin’ schon in der Nachweihnachtsproduktion: Neujahrsbrezeln un’ so, die Maschin’n sin’ alle umgestellt. Gips ab Silvester, sogar mit Rosin’n drin.
Ich bin ja mehr auf Laugenbrezel, so mit Butta un’ Kaffee, unne Bockwurs’ dazu. Der ganze Süßkram geht mir ja sowatt von ab, mittlaweile. Ich muss ja, von Berufs wegen, Kunde is’ Könich un’ so, aba verkauf’n Se mal sechs Woch’n lang Christstoll’n, da wird ihn’n auch anners … Watt?“

„Dasssin’ Nusseck’n. Ja, könn’se hab’n. Zwei sinnoch da, ham’ se Glück, die wollt’ keina, ham’ alle zuerst die Christstoll’n abgegriffen. War fast 'ne Weihnachtsmejnija, wie die Amis sagen.“

„Watt?“

„Ja, nichwahr? Sin’ ja irgendwie auch fast sowas wie Plätzchen. Riesenplätzchen, sogar mit Haselnuss drin.“

„Un’n Taigabrot? Jawohl der Herr. Bodenständich, Roggenschnitte, Butter drauf un’ haps. Muss ja nich’ jed’n Furz mitmach’n, sach’ ich imma, nichma’ die süßen, auch Feiertage geh’n rum, wennma nur lang genuch waartet.“

„In so’ne Jute Tasche? Jawohl, der Herr, bitte, hier, mit Christbäumchen drauf, ist unserm Scheff eingefall’n, da ham’ se doch noch’n bisschen Weihnachten, wehnichstens auß’n drauf. Denn bis nahche Feiertage, vielleicht auf 'ne Brezel zu Neujahr.“
„Watt?“

„Ja, haha. Ihn’n auch gut’n Rutsch.
Achtung!!! Vorsicht mitt’m Putzlappen anner Tür. Auf Wiedaseh’n.“

„Luiiiiiise? Ich’ mach’ schon ma’ die Kaffemaschiene aus, dasse abkühlt. Kannste dann putz’n. Gib’ aba vorher mal die drei Christstoll’n, die ich da inne Jutetüte unners Regal gestellt hab’. Meine zwei futtern die erst’n imma weg wie nix, da musst’ ich was zurückleg’n. Ich’ mach jetz’ auch Feierabend, inner letzten halben Stunde kommt eh’ keina mehr. Unn selbs’ wenn, ich mein’, sin’ ja eh’ nur noch die Nachzügler unnerwegs, die ohne Christstollen. Dehn’ könn’wa jetz’ eh’ nich mehr helf’n.“

Weihnachten im Kaufhaus

In der Abteilung Comics geht es rund,

da ist es lustig, frech und bunt

da werden die Figuren schnell aktiv!

Kaum zu glauben was geschieht:

Alles klappt und nichts geht schief,

wer noch sehr genau hinsieht,

der staunt was alles doch passiert -

ein Traum wird wahr, ganz ungeniert:

Weihnachten mit Micky Maus!

Klarabella holt die Kerzen raus.

Donald kommt und auch die Neffen,

Goofy klimpert am Klavier

ohne einen Ton zu treffen…

dazu ist er schließlich hier!

Dann wird’s heimelig auf Erden,

schließlich will man selig werden!

Minnie tanz auf auf allen Tischen,

Ede Wolf will Karten mischen -

Gevatter Bär ist strikt dagegen,

Oma Duck will Brauchtum pflegen,

Bambi grüßt vom Märchenwald

(ihm ist überhaupt nicht kalt),

Dagobert zählt froh sein Geld -

und in Ordnung ist die Welt!

Düsentrieb fährt mit dem Schlitten,

den zwei Kolibris nur ziehen -

und wer lässt nicht lange bitten?

Draußen steht, im Sternchenglühen,

komplett die Panzerknacker-Bande.

Aber das ist keine Schande -

Kommissar Hunter ist dabei!

„Hei, du Didel, hei du Dei…“

So singen die drei Schweinchen froh,

Ahorn und das Behorn stimmen

fröhlich in den Chor mit ein,

wenn die vielen Kerzlein glimmen!

Dann kommt Daisy mit dem Stollen,

den sie alle schmausen wollen…

Dazu gibt’s, auch für Franz Ganz,

den berühmten Ringeltanz…

Alle sind vergnügt und froh!

Gustav der Glückspilz sowieso -

der ist es das ganze Jahr!

Er kennt nicht Unbill und Gefahr -

im Hintergrund erzählt, hübsch leise,

der Weihnachtsmann die alte Weise,

aus dem Kamin – und hoppsassa

ist die gute Stimmung da: Trallalla!

Man trifft sich immer zweimal …

Es kommt mal wieder völlig überraschend, das Fest der Feste. In zwei Tagen ist Heiligabend und mir fehlen, wie fast jedes Jahr, immer noch einige Geschenke für die Lieben.
Es ist zwar seit Jahren beschlossene Sache, dass nur noch die Kinder der Familie beschenkt werden, aber das ist natürlich Auslegungssache. Auch wenn alle ihre Kinder mittlerweile jenseits der 50 sind und bei allen Events den vollen Preis zahlen müssen, behauptet unsere Mutter unbeirrt, wir sind nun mal ihre Kinder und brauchen deshalb auch Geschenke. Basta!!!
Das hat natürlich zur Folge, dass auch wir “Kinder“ unserer Mutter etwas schenken und unseren Kindern, die aus Kindersicht auch mittlerweile schon fast steinalt sind. Der Ordnung halber kriegen selbstverständlich auch die Hunde und Katzen etwas Besonderes, denn im weitesten Sinn sind sie ja auch irgendwie fast so etwas wie Kinder.
Da mir keine andere Wahl bleibt und die Zeit langsam drängt, stürze ich mich zwei Tage vor Heiligabend kurz entschlossen mit Todesverachtung ins Getümmel. Wie ich bereits befürchtet habe, ist es schon eine Herausforderung überhaupt auf den Parkplatz des Einkaufsmarktes zu gelangen, denn ganz offensichtlich wurden außer mir noch zahlreiche andere Leute von dem drohenden Fest überrascht.
Da die meisten Mitmenschen am liebsten direkt bis in den Laden fahren würden, finde ich nur noch in der äußersten Ecke des Parkplatzes eine Lücke, die nur auf mich wartet. Ich blinke ordnungsgemäß, um den anderen Parkplatzsuchenden zu zeigen: Diese Lücke gehört mir!!! Wegen der herrschenden Enge will ich lieber rückwärts einparken. Gerade als ich den Rückwärtsgang einlege, kommt von hinten so ein obercooler, geschniegelter Schnösel mit seinem allradangetriebenen Geländewagen angerauscht und nimmt mir blöd grinsend meine Parklücke weg. Unter wüsten Beschimpfungen, die der feine Herr leider nicht hört (was vielleicht auch ganz gut ist, denn sie passen so gar nicht zum Fest der Liebe, sondern eher zum Fest der Hiebe) suche ich mir genervt eine andere Parkmöglichkeit.
Die erste Hürde ist genommen und ich kämpfe mich tapfer ins Innere des Marktes vor, um meine Besorgungen zu machen. Überall in den Gängen herrscht dichtes Gedränge. Zum Glück brauche ich nur noch ein paar Kleinigkeiten und kann mich schnell wieder aus dem Staub machen. Als ich alle Objekte meiner Begierde sicher in meinem Einkaufswagen verstaut habe, fällt mein Blick auf meinen Parkplatzdieb, der leicht genervt einen vollen Einkaufswagen vor sich herschiebt, während er gleichzeitig in sein Smartphone brüllt und so alle Leute in der näheren und weiteren Umgebung zwingt, an seiner Unterhaltung teilzuhaben.
Der Typ geht mir wirklich auf den Senkel und als er seinen Wagen mitten im Gang stehen lässt, um drei Gänge weiter irgendwelche Regale umzukrempeln – natürlich ohne Rücksicht auf Verluste – kommt mir eine geniale Idee. Der Einkaufswagen steht aber auch wirklich im Weg. Deshalb beschließe ich kurzerhand ihn ein wenig zur Seite zu schieben, gut vielleicht auch etwas mehr. Genaugenommen schiebe ich den Wagen einmal quer durch den Laden und stelle ihn unauffällig zwischen zwei Wühltischen ab. Da stört er wenigstens niemanden.
Mit mir und der Welt zufrieden schlendere ich zurück zu meinen gesammelten Werken und entdecke zu meiner Freude einen gar nicht mehr so coolen Schnösel, mit hochrotem Kopf und Schweißperlen auf der Stirn, der gerade einer alten Dame ihre Einkäufe samt Wagen entreißen will. Man weiß ja, dass sich alte Leute schon mal gerne an fremden Einkaufswagen vergreifen. Erst als die renitente Rentnerin ihm mit ihrem Gehstock droht, gibt er klein bei und trollt sich.
Für mich wird es Zeit, meine Beute nach Hause zu bringen. Was für ein schöner Tag. So kurz vor dem Fest einzukaufen hat wirklich seinen besonderen Reiz. Das mache ich nächstes Jahr wieder.