… mir war doch so, als wäre da was gewesen - richtig! Goethe also doch eine kleiner, jambischer Stephen King. Habe ich nie in der Hand gehabt, eine richtige Bildungslücke. Wird asap nachgeholt
Da gibt es ein paar Highlights. Einen Totentanz z. B. Hab den Titel gerade nicht da… (Arbeit).
Ok. Gut. Aber was ist eure Meinung zu der Nennung bzw Unterschlagung von Ortsnamen?
Meinen Romanabschnitt habe ich auf eure Ratschläge hin, gefeilt. Folgt…
Hier ist die auf euer Geheiß gefeilte Versioon, plus ein Stück, wie es danach weitergeht.
August 1993, Alanya Kleopatra-Strand
Ich bereute es, dass ich zwar daran gedacht hatte, ein dickes Rätselheft einzupacken, aber Schreibpapier zuhause vergessen hatte. Ich schrieb wahnsinnig gerne und hatte Ideen für gefühlt sechshundert Seiten. Während ich im Meer schwamm, im Hotelpool meine Runden drehte oder mit meinen Eltern beim Essen saß, schwirrten mir die Ideen nur so durch den Kopf. Aber ich schrieb sowieso lieber am Computer. Das war ein Grund, warum ich mich wieder auf zuhause freute. Weniger freute ich mich allerdings auf die Schule, denn mir war klar, dass sich ab der siebten Klasse viel ändern würde.
Schon ab der zweiten Urlaubswoche wurde mir der reine Strandurlaub allmählich zu langweilig. Das Mittagessen an der Strandbar bot eine willkommene Abwechslung. Ein junger Mann mit schwarzen Locken und dunklem Teint stand neben Amir, dem Chef der Strandbar. Als ich ihn anstarrte, hob er den Blick und zwinkerte mir zu. Auf einmal war mein Magen wie zugeknotet, ich bekam meine Spaghetti nicht herunter und aus meinen Kniekehlen rannte Schweiß, sodass meine Oberschenkel am Plastik des Stuhls klebten. Ich stand ich völlig neben mir und konnte es nicht lassen, immer zur Strandbar zu starren. Die Magenschmerzen und die schwachen Knie ließen mich vermuten, dass ich krank sei.
Allmählich wunderte es Mama und Papa, warum ich so oft Durst hatte und mir etwas zu trinken holen wollte, warum ich lieber dort an einem der Plastiktische saß, um meine Kreuzworträtsel zu lösen, anstatt auf dem Liegestuhl am Meer. Ich konnte es ihnen nicht sagen, zu sehr genierte ich mich. Ihn anzusprechen, brachte ich nicht über mich, bis er sich eines Tages zu mir an den Tisch setzte und in gebrochenem Deutsch fragte: „Hallo, ich bin Mustafa. Und wie heißt du?“
„Ela“, stammelte ich und blickte mich vorsichtig um, ob meine Eltern in der Nähe waren. Mein Kopf wurde heiß, meine Handflächen feucht, ich schaffte es nicht, ihm in die Augen zu sehen.
„Hier ist heiß, oder?“, fragte er. „In Deutschland kalt. Wie ist Deutschland, Leben in Deutschland?“
Ich stammelte mir irgendwas zusammen. Er verriet mir, dass er sechzehn Jahre alt sei und hier einen Ferienjob machte.
„Warte“, sagte er irgendwann, stand auf, um kurz darauf mit einem großen Eisbecher und einem Gebäckstück zurückzukommen. „Geht aufs Haus.“, strahlte er. „D…Danke!“, stotterte ich. In dem Moment kamen meine Eltern vorbei und staunten. „Wer hat dir das große Eis gegeben?“ Diskret stand Mustafa auf, um weiter Teller abzuwaschen.
Ich verbrachte ab da interessante Tage am Kleopatra-Strand, genoss es, in Mustafas Nähe zu sein. Jeden Morgen war ich sterbensaufgeregt. Nachts träumte ich davon, wie Mustafa mich in die Arme nimmt. Ich hatte ihm unterdessen verraten, dass ich zwölf Jahre alt sei. Durften wir das denn? Zuhause, die Schule, alles war so weit weg und ich wollte nicht an den grauen Schulalltag denken. Es ließ sich nicht vermeiden, dass meine Eltern gerade dann vorbeikamen, als ich mich mit Mustafa unterhielt. Mama meinte: „Halt den jungen Mann nicht von seiner Arbeit ab. Irgendwann wird es ihm lästig.“ Ertappt wich ich einen Schritt zurück und passte noch mehr auf, dass Mama und Papa nicht in der Nähe waren, wenn er mit mir sprach.
Der Tag der Abreise kam unweigerlich. Der letzte Urlaubstag. Die heiße Mittagssonne brannte mir auf Gesicht und Arme, sie strahlte die Festung an, die sich links von mir befand. Meerwasser umspülte meine Knöchel, der Himmel so unglaublich blau. Nicht nach ihm Ausschau halten, nicht suchen, nicht zu sehr verlieben. Ich ging ihm am letzten Tag aus dem Weg, und suchte für den restlichen Tag den Hotelpool auf.
„Ela, willst du nicht langsam mit Packen anfangen?“, rief mir Mama zu, als ich am späten Nachmittag im Badeanzug in unser Hotelzimmer kam.
„Später.“, rief ich ihr zu, plötzlich drängte es mich doch, ein letztes Mal zum Strand zu gehen.
Die Schatten wurden bereits länger, rasch wurde es ein kühler; nach dem letzten Mal schwimmen im Meer trocknete mein Badeanzug nicht mehr. Ich wickelte mir mein Badetuch fest um den Körper und schlenderte ein letztes Mal den Strand entlang. Letzte Strandgäste packten ihre Sachen zusammen. Aus den verschiedenen Hotelküchen der Atatürk-Boulevard mischten sich die würzigen Gerüche nach Abendessen. Die Sonne versank als orangener Ball ins Meer, fasziniert beobachtete ich das Naturschauspiel, wobei ich ein letztes Mal das Rauschen der Wellen in mich aufnahm. Wer weiß, wann wir wieder herkommen würden.
Jemand stapelte Sonnenliegen aufeinander, klappte die Schirme ein. Es wurde rasch dunkel und meinen Koffer hatte ich auch noch nicht gepackt. Seufzend kehrte ich um, die Strandbar lag verlassen, die Rollos waren heruntergelassen. Gerade wollte ich die schmale Gasse zu unserem Hotel passieren, da hörte ich ein „Hi Ela“. Wie aus dem Nichts stand Mustafa vor mir, lächelte. Im Zwielicht des Abends leuchteten seine Zähne hell. Er hielt etwas in der Hand. „Hier, Apfelsine für dich, und Gebäck. Und du gehst morgen Deutschland?“
„Danke.“ Ich nahm die Geschenke an. „Ja, leider. Ich fliege morgen nachhause.“
„Willst du schreiben? Telefonieren mit mir? Warte, habe Adresse.“ Hastig griff Mustafa in seine Hemdtasche und zog einen Kugelschreiber sowie einen Papierschnipsel heraus. Notierte seine Adresse. „Ich wohne in Ankara, nur für die Ferien hier.“ Er tippte auf den Zettel.
„Warte.“, sagte ich, und kritzelte unsere Telefonnummer auf seinen Handrücken. Darunter unsere Adresse.
Dann umarmte er mich plötzlich. Küss mich! Doch er drückte mich nur fest an sich. „Alles Gute, Ela.“, schlenderte davon. Ich blieb noch einen Moment stehen, mittlerweile war es fast dunkel, die Sonne als glutroter Feuerball fast im Meer verschwunden. Am Horizont sah ich die Lichter eines Schiffes.
Im Gartenrestaurant des Yunus-Hotels, deckten Kellner die Tische ein, erste Gäste warteten ungeduldig.
„Ach Ela, auch schon da? Wir wollten dich gerade suchen.“, klagten Mama und Papa, als ich unser Zimmer kam und in meinem feuchten Badeanzug schrecklich fror. Die Klimaanlage war wieder viel zu kalt eingestellt.
„Nun aber ab unter die Dusche“, meinte Papa. „Wir haben uns in der Zeit erlaubt, deinen Koffer zu packen. Ach, woher hast du denn die Sachen?“, deutete er auf die Apfelsine und Laugenstange in meiner Hand. „Etwa wieder von dem jungen Mann am Strand?“ Mein Gesicht wurde heiß. „Ja ja“, murmelte ich und flüchtete hastig ins Badezimmer.
Beim letzten Abendessen im Gartenrestaurant des Yunus-Hotels wirkten meine Eltern zufrieden nach diesem letzten Urlaubstag, an dem wir uns noch einmal als Familie füreinander Zeit genommen haben, ehe der Alltagsstress wieder begann. Vom Strand klang das Lied “All That She Wants” von Ace of Base herüber. Unentschlossen rollte ich die Apfelsine auf dem weißen Tischtuch hin und her. Soll ich sie jetzt essen oder morgen Oma schenken? Die Laugenstange hatte ich sofort verputzt, die würde morgen hart sein.
Den Abend verbrachten wir auf dem Basar in Alanya, um noch schnell ein paar Mitbringsel für die Daheimgebliebenen zu besorgen.
Die Busfahrt zum Flughafen Antalya, am nächsten Morgen, zog sich endlos. Der Busfahrer stellte das Radio an. Türkische Musik. Er angelte aus einer Zigarettenschachtel, die vorn auf dem Armaturenbrett lag, eine Zigarette und zündete sie an. Die vom aufgewirbeltem Staub gelbe Windschutzscheibe war mit einer Fransengardine dekoriert. Im Fahrtwind, der durch das offene Seitenfenster blies, klimperten Perlen am Ende der Fransen. Unter dem Talisman, der am Rückspiegel baumelte, erkannte ich die Hand der Fatima. Die Hand der Fatima soll die Menschen beschützen. Gut, dachte ich, gut.
Draußen zogen einzelne, weiß gestrichene Hütten mit eigener Werkstatt vorbei, kleine Dörfer. Die Luft flimmerte. Einmal, als wir einen Hügel hinauffuhren, glitzerte das Meer in der Ferne. Erstaunlich wie anders die Landschaft abseits der Ferienregionen war. Ich beobachtete, wie der Fahrersitz auf und ab federte, bei jedem Schlagloch krachte und ächzte es unter unseren Füßen.
Der Flughafen Antalya war das reinste Labyrinth. Ich dachte, niemals würde ich mich hier allein zurechtfinden. Meine Eltern trieben mich regelrecht durch die Sicherheitsschleuse, erlaubten nicht, dass ich einen schnellen Blick auf das Röntgengerät warf, das unser Handgepäck durchleuchtete. Ich fand das so faszinierend, dass man damit genau in die Gepäckstücke schauen konnte. Mama gab mir einen ungeduldigen Stoß in den Rücken.
Da noch ein wenig Zeit war, besuchten wir die Aussichtsterrasse. Ich erinnerte mich, dass es Blumenkübel voller Kleeblätter gab, in denen ich vergeblich nach einem Vierblättrigen suchte. „Ich suche mein Glück“, murmelte ich.
Ein Bus brachte uns vom Terminal zum Flugzeug. Dicht an dicht gedrängt mit anderen Passagieren, war es das reinste Treibhaus. Meine Jeans klebten mir an den Oberschenkeln. Viel besser war es beim Verlassen des Busses auch nicht. Mir war nicht gut, es war heiß, weit über dreißig Grad. Auf der Treppe zum Hintereingang des Flugzeuges ging es nur langsam voran, es stank nach Kerosin, die Triebwerke dröhnten laut. Vor der Tür angekommen, blickte ich mich noch einmal um: Noch war ich hier. Ein letztes Mal streifte mein Blick das Flughafenterminal, den Tower, andere davor parkende Flugzeuge. Vage erkannte ich die Treibhäuser unweit der Startbahn.
Die Stewardess schaute auf unsere Bordkarte und deutete auf den richtigen Gang zu unseren Plätzen. Nach der Hitze war der klimatisierte Innenraum eine Wohltat. Das Dröhnen der Triebwerke nur noch als leises Summen zu hören, als meine Sandalen sich über den Teppichboden zu unserer Sitzreihe vortasteten. Mich fröstelte in meinem schweißnassen Shirt, als ich meinen Rucksack in der Gepäckklappe über unseren Sitzen verstaute. In unserer Reihe saß am Fensterplatz ein Mann in T-Shirts und Shorts, seine nackten Füße steckten in Latschen, so als sei er direkt vom Strand ins Flugzeug gestiegen. Sorglos und unbeeindruckt von der Kälte, die uns in Düsseldorf erwarten würden. Von unserem Platz aus, konnte ich aus dem Bullauge nicht viel erkennen; in knapp drei Stunden nach der Landung würden die großen Letter D Ü S S E L D O R F vor diesem auftauchen.
Während des Fluges konnte ich von meinem Platz aus zum Notausgang schauen. Ich wusste, dass die Türen eines Flugzeuges so dick sind, weil darin die Notrutsche verstaut ist; dass zwei Haken auf der Tragfläche vorgesehen waren, die Notrutsche einzuhaken. Im LTU-Magazin schaute ich mir fernere Reiseziele an. Die Streckenübersicht der Fluglinie.
Im Bordkino lief ein Zeichentrickfilm. In der letzten Stunde vor der Landung setzten starke Turbulenzen ein. Mir machten diese Erschütterungen keine Angst, aber ich deutete sie als Omen für das, was mich in der folgenden Zeit erwarten würde.
Ich beobachtete, wie die Klokabine und das Flugzeugdach versetzt zueinander wackelten. Die Frau hinter mir stöhnte. „Mist, das ist schrecklich.“ Im ersten Moment war ich nah dran, mich zu ihr umzudrehen und ihr vom dem Aloha-Flug 1988 zu erzählen, bei dem das Dach des Flugzeuges weggerissen wurde. Das war wie Cabrio-Fliegen. Nein, nein, der Pilot konnte die Maschine landen, aber die Passagiere, die nicht angeschnallt waren, sind hinausgeschleudert worden. Ach, das wäre zu gemein gewesen.
Das Flugzeug sackte etwas ab. Der Pilot kündigte den Sinkflug an. Während das Flugzeug schwankend zu Boden sank, erkannte ich von meinem Mittelgang-Platz nur noch milchiges Weiß vor den Fenstern, das Blau hatte sich zunächst hinter ein paar dünnen Schleierwolken verborgen, verschwand bald ganz und machte einem Dunkelgrau Platz. Regentropfen bildeten Schlieren. Wir flogen über Essen herein, wie auf dem Bildschirm angezeigt wurde.
„Schau mal“, sagte der Mann am Fenster zu seiner Frau, „auf den letzten Metern fliegen wir so dicht über den Bäumen, dass es manchmal so aussieht, als würde die Tragfläche des Flugzeugs gleich einen Baum streifen.“
„Das habe ich beim Landeanflug auf Antalya auch gedacht“, sage ich zu Papa. „Ich dachte schon, die Tragfläche reißt gleich eines der unzähligen Gewächshäuser neben der Landebahn mit.“
Papa seufzte. „Noch sind wir alle zusammen in der Luft. Noch hat die Erde uns nicht wieder, nicht der Alltag mit seinen Verpflichtungen…“
„Ihr müsst beide morgen wieder arbeiten, nicht wahr? Naja, und ich übermorgen in die Schule.“
Doch dann setzte das Flugzeug auf der Landebahn auf, man spürte ein Ruckeln. Die Passagiere applaudieren, einige atmen hörbar auf.
„Ich habe noch nie so einen schrecklichen Flug erlebt.“, sagte jemand.
„Düsseldorf. Wir sind also wieder da“, murmelte ich.
Einige Reisende lösten gegen die Anweisungen des Piloten ihren Anschnallgurt; Zeitungen wurden zusammengefaltet, Stimmengewirr durchdrang die Kabine. Als die Maschine parkte und das Leuchtsignal zum Abschnallen erschien, ging alles ganz schnell. Alle sprangen auf und öffneten die Gepäckklappen. Dicht an dicht, begleitet von einem monotonen Gedudel aus den Lautsprechern, schoben sich die Menschen durch den Gang, und es wurde schnell stickig. Am Ausgang wünschten uns die Stewardessen einen angenehmen Aufenthalt in Düsseldorf.
Wir durchschritten lange, schmucklose Gänge mit braunem Teppichboden. Durch die großen Fenster sah ich auf das Vorfeld: ein grüngelber Tanklastwagen mit der Aufschrift BP-Air fuhr vorbei, ein gelbschwarz karierter Follow-me-Wagen sauste umher. Im Hintergrund drehte sich ein Radar auf einem rotweiß karierten Sockel. Das Geräusch eines Funkgerätes ertönte mehrmals, und in der Ferne hob eine Lufthansa-Maschine ab.
An der Gepäckausgabe herrschte reges Gedränge um das Förderband. Mama und Papa stellten sich neben die schwarze Öffnung, die gleich beginnen würde, Koffer auszuspucken. Ich wartete abseits mit dem leeren Kofferkuli und streifte mir die Fleecejacke über. Ich fühlte die Turbulenzen nach, aber es mischte sich ein unbekanntes Gefühl des Unbehagens ein. Als spürte ich, was auf mich zukommen würde: Als würde ich bald selbst wie ein Flugzeug zunächst steil aufsteigen, um immer wieder absacken, mir immer wieder erneut den Weg auf die Reiseflughöre zu kämpfen. Doch zunächst wusste ich, dass wieder Schule anstehen würde.
Ich hielt mir den Kragen der Jacke zusammen, als wir aus dem Terminal traten und den Weg Richtung Langzeit-Parkhaus einschlugen. Der Nieselregen benetzte mein Gesicht. Das Geräusch, wie nach Beladen unseres Kofferraums der leere Kofferkuli in die Reihe der anderen Gepäckwagen einrastete, markierte die Rückkehr in den Alltag und mahnte mich, dass ab der siebten Klasse neue Anforderungen auf mich zukamen und die leichte Zeit der fünften und sechsten Klasse vorüber war.
Vom Flughafen lenkte Papa unser Cabrio auf die Bundesstraße; die Theodor-Heuß-Brücke, Oberkassel, Meerbusch, Osterrath ließen wir auf der A 52 hinter uns. Nächster Halt Oma und Opa. Im Radio lief der neueste Hit von 2 Unlimited. Anschließend kam Neverending Dream von Limahl, welcher mich immer an den Sonnenuntergang in Alanya erinnern würde.
Im Begrüßungstrubel war ans Schreiben nicht zu denken. Was halt so ansteht, wenn man von einer Reise zurückkehrt: Koffer auspacken, die Mitbringsel vom Basar verteilen – türkischer Früchtetee, Nüsse, Tee, sogar einen kleinen Teppich. Gemeinsames Abendessen mit Oma und Opa, ehe sich Mama und Papa verabschiedeten. „Die Pflicht ruft, wir müssen morgen wieder zur Arbeit.“
Auch bei Oma und Opa hatte ich ein eigenes Zimmer, Mamas ehemaliges Kinderzimmer. Daneben befand sich das ehemalige Kinderzimmer meines Onkels, umgestaltet in ein gemütliches Fernsehzimmer.
Am nächsten Tag hing der Nieselregen den ganzen Tag über den Straßen und passte perfekt zu meiner Stimmung. Ich versuchte mich, mit dem Einkaufsbummel mit Oma abzulenken, was nicht funktionierte. Alle Geschäfte im Industriegebiet der Kreisstadt lagen in einem tristen Grau. Seit dem Morgen fühlte ich mich niedergeschlagen. Ich vermisste den sonnigen Kleopatra-Strand. Mein Herz verzehrte sich nach Mustafa. Irgendwann rollte ich mit den Augen, als Oma mich in das fünfte Geschäft zog, ich die zehnte Jeanshose anprobierte. Lustlos betrachtete ich die Sweatshirts und Pullover auf den Drehbügeln.
„Gefällt dir denn gar nichts?“, fragte Oma besorgt.
Ich befühlte ein grünes Kangaroo-Shirt zwischen Daumen und Zeigefinger. „Vielleicht das hier.“
Oma hielt eine Bluse hoch. „Möchtest du nicht etwas chickes?“
Ich rümpfte die Nase. „Um für die Schule schön zu sein? Pahhh.“ Oma drehte ab, verstand meinen Hinweis durch die Blume nicht, oder wollte nicht verstehen: Schule war das Letzte, auf das ich Lust hatte.
Mir hätten mindestens drei freie Tage zur Akklimatisierung gutgetan. Im Vorjahr war unser Alanya-Urlaub in die mittleren beiden Ferienwochen gefallen, danach hatte ich zwei Ferienwochen übrig, in denen ich es mir zuhause richtig gutgehen ließ.
Beim Abendessen mit Oma und Opa und später beim gemeinsamen Fernsehen, versuchte ich zarte Andeutungen in diese Richtung, doch Oma stellte sich taub. Opa meinte gutgelaunt: „Es ist doch toll, du siehst deine Freunde wieder.“
Genervt verdrehte ich die Augen und wurde direkter. „Nur drei Tage, Oma. Wir machen doch eh noch nichts Richtiges.“
„Na, umso besser.“, meinte sie. „Dann wirst du morgen einen entspannten Schultag haben.“ Mein Aufstöhnen ignorierte sie geflissentlich.
„Aber es ist hart. Wieder das frühe Aufstehen, wenn ich schon an den Schulbus denke, überhaupt den ganzen Mist wiederzusehen – und das so kurz nach dem Rückflug, ich bin geistig noch gar nicht richtig anwesend.“
Nun lachte meine Oma und sah mich an. „Ob es hart ist oder nicht – gehen musst du sowieso.“ Ich gab es auf. Da war nichts zu machen. Ich sah auf den Fernsehbildschirm, ohne etwas wahrzunehmen, und schmollte.
Nur ganz am Rande:
Das Lied von Limahl hieß Neverending Story, nicht Dream. Wenn du deine Geschichte mit zeitgeschichtlicher Musik untermalen möchtest, um das Gefühl für diese Zeit hervor zuheben , bin ich etwas irritiert. Dieses Lied ist von 1984. Sicher, auch da liefen ältere Songs im Radio, aber wenn du Musik benutzen möchtest, um ein Gefühl für die Zeit zu schaffen, wären Songs aus dem Beginn der 90er eventuell passender. Für mich persönlich sind Lieder stark mit meinem jungen Ich verbunden, sie helfen mir, meine Erinnerungen in die richtige Zeit zu setzen. Wie oft fragt man sich, wann war das noch mal? Die Musik,gerade die Hits eines Jahres, helfen mir bei der Einordnung.
Nur eine Nebensächlichkeit vielleicht. Ist mir aber aufgefallen.
Die 90er Musik kommt natürlich auch noch in rauen Mengen . Aber Ela hört hört gerne 80er Jahre Musik, und das wird sich auch nicht ändern…
Aber, wo genau ist das Problem, dass gerade ein älterer Song im Radio gespielt wird?
Na ja, vielleicht ist es nur mein Problem. Es ist für mich eben die Verbindung zu einer bestimmten Zeit. Solche Geschichten wie deine lösen ja eigene Erinnerungen aus. Welche Kleidermarken waren damals verbreitet, welches Eis…
Sowas eben. Bei dem speziellen Lied war dein Hauptcharakter 3 Jahre alt. Da hat man noch nicht diesen ganz speziellen Bezug zu einem Lied. Da du u.a.eine bestimmte Generation ansprechen möchtest, sollten auch die kollektiven Erinnerungen aus dieser Zeit stammen. Aber wie gesagt, vielleicht empfinde nur ich so. Ich habe vor einiger Zeit „Generation Golf“ gelesen. Hat mir nicht so gefallen, trotzdem hatte ich oft dieses „Ach ja“-Gefühl.
Ich denke, gerade bei solchen Sachen ist es ein großer Unterschied, ob man für sich selbst schreibt oder für die Veröffentlichung.
Man selbst kann natürlich in den Neunzigern einen Achtziger-Jahre-Hit zum ersten Mal gehört haben und damit ein persönliches - autobiographisches - Erlebnis verbinden. Aber die Leser können sich vermutlich mit Neunziger-Jahre-Musik besser in die Neunziger hineinversetzen.
Nachtrag: keine Sorge - 90er Hits kommen noch in Hülle und Fülle.
Ich möchte jedoch vorwarnen, dass ein Oldie aus den 70er Jahren, Elas Liebe zu Yallo ganz genau beschreibt, als ihr Mutter alte Schallplatten rausholt: die original Version von Stumbin in von Chris Norman & Suzi Quatro.
Ela hört später die Schallplatten ihrer Eltern durch und entdeckt Oldies, die sie bis dahin nur als moderne 90er Version kannte. Z. B. I can see clearly now - JohnnyNash (moderne Version Titelsong Cool Runnings).
Den Flüchtigkeitsfehler mit Limahl behebe ich umgehend
LG
Na, dann ist ja eine Verbindung da, wenn Ela sich die Platten der Mutter vornimmt. Diese Verbindung ist auch völlig nachvollziehbar. Mein Problem war eher, dass ein Song im luftleeren Raum steht. Mit dieser Erklärung passt es. Und ich sehe es wie Corinna, für Leser schreibt man anders, wie für sich selbst. Und gerade die Besonderheiten einer Zeit kann man ja wunderbar als Stilmittel verwenden um etwas zu transportieren.
Hallo,
Und was sagt ihr insgesamt zum überarbeiteten Abschnitt? Ich nehme an, dass es zu lang ist, oder stilistisch noch nicht tauglich.
ich weiß selbst, dass mein Erzähl / Schreibstil nicht so die erste Sahne ist. Aber ich möchte die Hoffnung noch nicht aufgeben. Mein Traum bleibt es ein Buch zu veröffentlichen.
Ich könnte damit leben, wenn das aktuelle Projekt privat für mich bleibt, ich ein schönes Werk für mich habe. Nebenbei kann ich dabeii Schreipraxis sammeln und habe auch nicht das Problem mit Personenschutz und dem Problem mit Ortsnamen… Bei meinem nächsten Projekt klappt es sicher besser.
Grüße
Guten Abend zusammen, ich habe ein Attentat auf euch vor. Weil ich an meinem Buchanfang verzweifle, habe ich ihn mal ganz dreist hierreingestellt. Es beschreibt den Schulalltag der Protagonistin Ela, die nach der Rückkehr aus dem Türkeiurlaub unglücklich ist und Liebeskummer hat, sich zudem mit der Schule schwer tut. ABer mir dauert das zu lange, bis Yallo, Elas große Liebe ins Spiel kommt. Aber ganz weglassen möchte ich das auch nicht. Vielleicht erbarmt sich jemand, und nimmt sich dem langen Text an, um mir zu erklären, was raus kann. Stundenlang lese ich den vermaledeiten Anfang und finde ihn so gähnend langweilig. Danke im Voraus!!!
Den Abend letzten verbrachten wir auf dem Basar in, um noch schnell ein paar Mitbringsel für die Daheimgebliebenen zu besorgen. Für meine beste Freundin Sabrina war es schwierig, das Richtige zu finden. Ihre Eltern, Besitzer eines gutgehenden Kinos erfüllten ihr alle Wünsche, bei Nadine hingegen war das Problem etwas leichter zu lösen. Suchend sah ich mich um, wobei meine Gedanken bereits wieder in meinem kleinen Heimatort waren. Ich würde Sabrina nach unserer Rückkehr von meinen Hoffnungen und Ängsten erzählen. Dinge, die nur beste Freundinnen verstanden. Sabrina und Nadine, aber auch Sabrinas Eltern, die fest mit meinen Eltern befreundet waren, waren der Rahmen in meinem Leben. Unsere Freundschaft war wie eine Festung. Als meine Eltern vor drei Jahren die Nebenjobs im Kino annahmen, freundete ich mich mit Sabrina an. Nadine zog im letzten Jahr in Sabrinas Nachbarschaft. Als Sabrina und ich vor ihrem Haus Federball spielten, kam Nadine gerade vorbei, sie kam mit uns ins Gespräch und wir nahmen sie freundlich auf. Nadine sprühte vor Heiterkeit und Ideen, ihr Lachen war ansteckend, womit sie sofort unsere Herzen gewann.
Der Basar also. Es galt, meinen Freundinnen etwas Originelles zu schenken, was nicht viel kostete. Aber mir fiel einfach nichts ein, je mehr ich grübelte, und je mehr Dinge ich mir ansah, desto klarer wurde mir, dass das alles nichts war.
In meinen neuen Sandalen hatte ich mir Blasen gelaufen, der Schweiß klebte mir am Rücken. Auch der Abend war heiß, die Klimaanlagen pusteten heiße Luft aus den Gebäuden in die engen Gassen. Für meine Großeltern hatten meine Eltern alles zusammen und ich folgte ihrem Beispiel, Lebensmittel einzukaufen: Früchtetee, Türkischer Honig – etwas, das man verzehrte und nicht achtlos beiseite stellte, wenn es den Geschmack nicht traf.
2. Kapitel
Die Busfahrt zum Flughafen Antalya, am nächsten Morgen, zog sich endlos. Der Busfahrer stellte das Radio an. Türkische Musik. Er angelte aus einer Zigarettenschachtel, die vorn auf dem Armaturenbrett lag, eine Zigarette und zündete sie an. Die vom Staub gelbe Windschutzscheibe war mit einer Fransengardine dekoriert. Im Fahrtwind, der durch das offene Seitenfenster blies, klimperten Perlen am Ende der Fransen. Unter dem Talisman, der am Rückspiegel baumelte, erkannte ich die Hand der Fatima. Die Hand der Fatima soll die Menschen beschützen. Gut, dachte ich, gut.
Draußen zogen einzelne, weiß gestrichene Hütten mit eigener Werkstatt vorbei, kleine Dörfer. Die Luft flimmerte. Einmal, als wir einen Hügel hinauffuhren, glitzerte das Meer in der Ferne. Erstaunlich wie anders die Landschaft abseits der Ferienregionen war. Ich beobachtete, wie der Fahrersitz auf und ab federte, bei jedem Schlagloch krachte und ächzte es unter unseren Füßen.
Der Flughafen Antalya war das reinste Labyrinth. Ich dachte, niemals würde ich mich hier allein zurechtfinden. Meine Eltern trieben mich regelrecht durch die Sicherheitsschleuse, erlaubten nicht, dass ich einen schnellen Blick auf das Röntgengerät warf, das unser Handgepäck durchleuchtete. Ich fand das so faszinierend, dass man damit genau in die Gepäckstücke schauen konnte. Mama gab mir einen ungeduldigen Stoß in den Rücken.
Da noch ein wenig Zeit war, besuchten wir die Aussichtsterrasse. Ich erinnerte mich, dass es Blumenkübel voller Kleeblätter gab, in denen ich vergeblich nach einem Vierblättrigen suchte. „Ich suche mein Glück“, murmelte ich.
Der Bus vom Terminal zum Flugzeug war überfüllt, die Hitze drückend. Schweiß lief mir den Rücken hinunter, meine Jeans klebten unangenehm an den Oberschenkeln. Viel besser war es beim Verlassen des Busses auch nicht. Die Hitze von über dreißig Grad machte mir zu schaffen. Auf der Treppe zum Hintereingang des Flugzeugs ging es nur schleppend voran. Der beißende Geruch von Kerosin lag in der Luft, und die Triebwerke dröhnten ohrenbetäubend. Vor der Tür angekommen, blickte ich mich noch einmal um: Noch war ich hier. Ein letztes Mal streifte mein Blick das Flughafenterminal, den Tower, andere davor parkende Flugzeuge. Vage erkannte ich die Treibhäuser unweit der Startbahn.
Die Stewardess schaute auf unsere Bordkarte und deutete auf den richtigen Gang zu unseren Plätzen. Nach der Hitze war der klimatisierte Innenraum eine Wohltat. Das Dröhnen der Triebwerke nur noch als leises Summen zu hören, als meine Sandalen sich über den Teppichboden zu unserer Sitzreihe vortasteten. Mich fröstelte in meinem schweißnassen Shirt, als ich meinen Rucksack in der Gepäckklappe über unseren Sitzen verstaute. In unserer Reihe saß am Fensterplatz ein Mann in T-Shirts und Shorts, seine nackten Füße steckten in Latschen, so als sei er direkt vom Strand ins Flugzeug gestiegen. Sorglos und unbeeindruckt von der Kälte, die uns in Düsseldorf erwarten würden. Von unserem Platz aus, konnte ich aus dem Bullauge nicht viel erkennen; in knapp drei Stunden nach der Landung würden die großen Letter D Ü S S E L D O R F vor diesem auftauchen.
Während des Fluges konnte ich von meinem Platz aus zum Notausgang schauen. Ich wusste, dass die Türen eines Flugzeuges so dick sind, weil darin die Notrutsche verstaut ist; dass zwei Haken auf der Tragfläche vorgesehen waren, die Notrutsche einzuhaken. Im LTU-Magazin schaute ich mir fernere Reiseziele an. Die Streckenübersicht der Fluglinie.
Im Bord Kino lief ein Zeichentrickfilm. In der letzten Stunde vor der Landung setzten starke Turbulenzen ein. Mir machten diese Erschütterungen keine Angst, aber ich deutete sie als Omen für das, was mich in der folgenden Zeit erwarten würde.
Ich beobachtete, wie die Klokabine und das Flugzeugdach versetzt zueinander wackelten. Die Frau hinter mir stöhnte. „Mist, das ist schrecklich.“ Im ersten Moment war ich nah dran, mich zu ihr umzudrehen und ihr vom dem Aloha-Flug 1988 zu erzählen, bei dem das Dach des Flugzeuges weggerissen wurde. Das war wie Cabrio-Fliegen. Nein, nein, der Pilot konnte die Maschine landen, aber die Passagiere, die nicht angeschnallt waren, sind hinausgeschleudert worden. Ach, das wäre zu gemein gewesen.
Das Flugzeug sackte etwas ab. Der Pilot kündigte den Sinkflug an. Während das Flugzeug schwankend zu Boden sank, erkannte ich von meinem Mittelgang-Platz nur noch milchiges Weiß vor den Fenstern, das Blau hatte sich zunächst hinter ein paar dünnen Schleierwolken verborgen, verschwand bald ganz und machte einem Dunkelgrau Platz. Regentropfen bildeten Schlieren. Wir flogen über Essen herein, wie auf dem Bildschirm angezeigt wurde.
„Schau mal“, sagte der Mann am Fenster zu seiner Frau, „auf den letzten Metern fliegen wir so dicht über den Bäumen, dass es manchmal so aussieht, als würde die Tragfläche des Flugzeugs gleich einen Baum streifen.“
„Das habe ich beim Landeanflug auf Antalya auch gedacht“, sage ich zu Papa. „Ich dachte schon, die Tragfläche reißt gleich eines der unzähligen Gewächshäuser neben der Landebahn mit.“
Papa seufzte. „Noch sind wir alle zusammen in der Luft. Noch hat die Erde uns nicht wieder, nicht der Alltag mit seinen Verpflichtungen…“
„Ihr müsst beide morgen wieder arbeiten, nicht wahr? Naja, und ich übermorgen in die Schule.“
Doch dann setzte das Flugzeug auf der Landebahn auf, man spürte ein Ruckeln. Die Passagiere applaudierten, einige atmen hörbar auf.
„Ich habe noch nie so einen schrecklichen Flug erlebt.“, sagte jemand.
„Düsseldorf. Wir sind also wieder da“, murmelte ich.
Einige Reisende lösten gegen die Anweisungen des Piloten ihren Anschnallgurt; Zeitungen wurden zusammengefaltet, Stimmengewirr durchdrang die Kabine. Als die Maschine parkte und das Leuchtsignal zum Abschnallen erschien, ging alles ganz schnell. Alle sprangen auf und öffneten die Gepäckklappen. Dicht an dicht schoben sich die Menschen durch den Gang, und es wurde schnell stickig. Am Ausgang wünschten uns die Stewardessen einen angenehmen Aufenthalt in Düsseldorf.
Wir durchschritten lange, schmucklose Gänge mit braunem Teppichboden. Durch die großen Fenster sah ich auf das Vorfeld: ein grüngelber Tanklastwagen mit der Aufschrift BP-Air fuhr vorbei, ein gelbschwarz karierter Follow-me-Wagen sauste umher. Im Hintergrund drehte sich ein Radar auf einem rotweiß karierten Sockel. Das Geräusch eines Funkgerätes ertönte mehrmals, und in der Ferne hob eine Lufthansa ab.
An der Gepäckausgabe herrschte reges Gedränge um das Förderband. Mama und Papa stellten sich neben die schwarze Öffnung, die gleich beginnen würde, Koffer auszuspucken. Ich wartete abseits mit dem leeren Kofferkuli und streifte mir die Fleecejacke über. Die Turbulenzen hallten noch in meinem Körper nach, begleitet von einem seltsamen Gefühl des Unbehagens. Es war, als könnte ich die bevorstehenden Herausforderungen spüren – wie ein Flugzeug, das steil aufsteigt, nur um immer wieder abzusacken um sich erneut zur Reiseflughöhe zu kämpfen. Doch zunächst wusste ich, dass wieder Schule anstehen würde.
Ich hielt mir den Kragen der Jacke zusammen, als wir aus dem Terminal traten und den Weg Richtung Langzeit-Parkhaus einschlugen. Der Nieselregen benetzte mein Gesicht. Das Klicken, wie nach Beladen unseres Kofferraums der leere Kofferkuli in die Reihe der anderen Gepäckwagen einrastete, markierte die Rückkehr in den Alltag und mahnte mich, dass ab der siebten Klasse neue Anforderungen auf mich zukamen und die leichte Zeit der fünften und sechsten Klasse vorüber war.
Vom Flughafen lenkte Papa unser Cabrio auf die Bundesstraße; die Theodor-Heuß-Brücke, Oberkassel, Meerbusch, Osterath ließen wir auf der A 52 hinter uns. Nächster Halt Oma und Opa. Im Radio lief der neueste Hit von 2 Unlimited. Anschließend kam Neverending Story von Limahl, welcher mich immer an den Sonnenuntergang in Alanya erinnern würde.
3. Kapitel
Im Begrüßungstrubel war ans Schreiben nicht zu denken. Was halt so ansteht, wenn man von einer Reise zurückkehrt: Koffer auspacken, die Mitbringsel vom Basar verteilen – türkischer Früchtetee, Nüsse, Tee, sogar einen kleinen Teppich. Gemeinsames Abendessen mit Oma und Opa, ehe sich Mama und Papa verabschiedeten. „Die Pflicht ruft, wir müssen morgen wieder zur Arbeit.“
Auch bei Oma und Opa hatte ich ein eigenes Zimmer, Mamas ehemaliges Kinderzimmer. Daneben befand sich das ehemalige Kinderzimmer meines Onkels, umgestaltet in ein gemütliches Fernsehzimmer.
In meinem Zimmer stand ich nun nach dem Abendessen. Wo hatte ich denn mein Schreibpapier? In der Kommode war es nicht, in der Schreibtischschublade auch nicht. Die Stille rauschte in meinen Ohren. Erst jetzt fiel es mir auf, wie laut es auch abends noch in Alanya war. Durch die Decke hörte ich im Wohnzimmer den Fernseher. Ich war den ganzen Tag unterwegs gewesen, spürte noch immer die Bewegungen des Flugzeugs im Sinkflug und das Stimmengewirr der anderen Passagiere.
Auf einmal erschien es mir so unwirklich, wieder auf mein altes Bauernbett zu schauen, auf den Kleiderschrank im selben Stil. Es war noch keine vierundzwanzig Stunden her, dass Mustafa mich verabschiedete, alles war mir noch so nah, noch nicht aus mir gewichen, aber doch so weit weg. Ich musste mich erst wieder zurechtfinden, so fremd kam mir mein vertrautes Zimmer vor. Einfach weil ich Mustafas Nähe noch spürte, als wäre er neben mir. Mich überfiel der Schmerz mit voller Wucht, als würde mir das Blut aus den Beinen sacken: ich würde ihn nie wieder sehen. Nie mehr! Ich hörte auf, das Schreibpapier zu suchen, warf mich aufs Bett und bettete meinen Kopf auf die Armbeuge. Niemand würde verstehen, wie ich mich gerade fühlte. Würde ich hinunter zu Oma und Opa gehen, ihnen erzählen, dass mir ein junger Mann am Strand gefallen hat, was würden sie wohl sagen? „Den siehst du nie mehr wieder…“ Oder so ähnlich. Genau das wollte ich nicht hören. So fraß ich den Kummer in mich hinein.
Die Hitze Antalyas hatte mir das Shirt an den Körper geklebt. Ich raffte mich auf, ging ins Badezimmer. Der Blick in den Spiegel ernüchterte mich und ließ mich zweifeln, ob ich Mustafa überhaupt gefallen habe. Ich sah ein Kind vor mir. Ein zwölf Jahre altes Mädchen. Meine kurzen Haare hingen mir strähnig in die Stirn. Mit meinem Shirt und der Jeans sah ich eher aus wie ein Junge. Sicherlich hatte er sich über mich sogar amüsiert, bisschen meine Aufmerksamkeit genossen. Meine Haut sah gerötet aus, auf meiner Nasenspitze pellte sich die Haut.
Ich kehrte meinem Spiegelbild den Rücken, schälte mich aus den Klamotten und ließ sie achtlos auf die Fliesen fallen. Duschen, und dann ab ins Bett. Ich war müde, vielleicht sah die Welt am nächsten Morgen, ausgeschlafen, besser aus.
Am nächsten Tag hing der Nieselregen den ganzen Tag über den Straßen und passte perfekt zu meiner Stimmung. Ich versuchte mich, mit dem Einkaufsbummel mit Oma abzulenken, was nicht funktionierte. Alle Geschäfte im Industriegebiet der Kreisstadt lagen in einem tristen Grau. Ich war am Morgen genauso niedergeschlagen aufgewacht, wie ich abends ins Bett gegangen war. Der Gedanke an den sonnigen Kleopatra-Strand ließ mein Herz schmerzen. Jede Faser meines Seins sehnte sich nach Mustafa Irgendwann rollte ich mit den Augen, als Oma mich in das fünfte Geschäft zog, ich die zehnte Jeanshose anprobierte. Lustlos betrachtete ich die Sweatshirts und Pullover auf den Drehbügeln.
„Gefällt dir denn gar nichts?“, fragte Oma besorgt.
Ich befühlte ein grünes Kangaroo-Shirt zwischen Daumen und Zeigefinger. „Vielleicht das hier.“
Oma hielt eine Bluse hoch. „Möchtest du nicht etwas schickes?“
Ich rümpfte die Nase. „Um für die Schule schön zu sein? Pahhh.“ Oma drehte ab, verstand meinen Hinweis durch die Blume nicht, oder wollte nicht verstehen: Schule war das Letzte, auf das ich Lust hatte.
Mir hätten mindestens drei freie Tage zur Akklimatisierung gutgetan. Im Vorjahr war unser Alanya-Urlaub in die mittleren beiden Ferienwochen gefallen, danach hatte ich zwei Ferienwochen übrig, in denen ich es mir bei Oma richtig gutgehen ließ.
Nachmittags saß ich in meinem Zimmer. Immer noch nieselte es, sodass an einen Spaziergang oder eine Runde Fahrradfahren nicht zu denken war. Ich hätte Tessa besuchen können, doch meine Schulkameradin erinnerte mich zu sehr an Schule. Etwas an das ich gar nicht denken wollte. Ich würde sie noch früh genug wiedersehen. Ich schaute aus dem Fenster, von unten dudelte WDR 4, ansonsten fuhr kaum ein Auto am Haus vorbei.
Beim Abendessen mit Oma und Opa und später beim gemeinsamen Fernsehen, versuchte ich zarte Andeutungen, doch Oma stellte sich taub. Opa meinte gutgelaunt: „Es ist doch toll, du siehst deine Freunde wieder.“
Genervt verdrehte ich die Augen und wurde direkter. „Nur drei Tage, Oma. Wir machen doch eh noch nichts Richtiges.“
„Na, umso besser.“, meinte sie. „Dann wirst du morgen einen entspannten Schultag haben.“ Mein Aufstöhnen ignorierte sie geflissentlich.
„Aber es ist hart. Wieder das frühe Aufstehen, wenn ich schon an den Schulbus denke, überhaupt den ganzen Mist wiederzusehen – und das so kurz nach dem Rückflug, ich bin geistig noch gar nicht richtig anwesend.“
Nun lachte meine Oma und sah mich an. „Ob es hart ist oder nicht – gehen musst du sowieso.“ Ich gab es auf. Da war nichts zu machen. Ich sah auf den Fernsehbildschirm, ohne etwas wahrzunehmen, und schmollte.
Wovor hatte ich Angst? Ich wusste es selbst nicht. Ich war nicht unbeliebt, ich hatte mein gutes Auskommen. Aber es gab immer noch Mädchen, die viel beliebter waren, von allen bewundert wurden. Der Ganztagsunterricht war das Problem. Oft wurden mir die Tage zu lang. Oft langweilte ich mich und konnte mich bereits ab der sechsten Stunde nicht mehr konzentrieren.
- Kapitel
„Ela Mertens! Aufwachen! Frühstück!“
Ich rieb mir verschlafen die Augen, graues Tageslicht sickerte durch die Ritzen des Rollladens. Ich drehte mein Kissen mit der kühlen Seite nach oben und kuschelte mich ein letztes Mal hinein.
Ich konnte nicht glauben, dass ich in einer guten Stunde im stickigen Schulbus sitzen würde, in zwei Stunden in meinem Klassenzimmer. Wenn ich doch noch frei hätte, würde ich mit meiner besten Freundin Sabrina Sega spielen oder eben zu schreiben beginnen. Morgens hatte ich immer die besten Ideen.
Ich drehte mich auf den Rücken. Wie gut ich mir etwas vormachen konnte. Niemand wusste besser als ich, dass ich mir erstmal eine Schale Cornflakes vor dem Fernseher reinziehen würde, anschließend noch eine Tüte Kartoffelchips. Mustafa. Beim Gedanken an ihn durchfuhr mich ein Schmerz. Was er wohl gerade machte? Vermutlich war er schon am Strand und stellte Sonnenliegen und Schirme auf. Ob er gerade jetzt auch an mich dachte?
Was motivierte mich denn, aufzustehen? Das nagelneue Klassenzimmer? Aber es nützte alles nichts… Ich rappelte mich auf, zog die Klamotten an, die mir Oma gestern Abend im Flur über das Treppengeländer gelegt hatte.
„Eeelaaa!“
„Ja-ha!“
Das Kaffeearoma strömte mir bereits auf der Treppe entgegen. Opa und Oma saßen am Küchentisch und tranken Kaffee. Jedoch war nur mein Platz gedeckt.
„Guten Morgen“, murmelte ich, als ich in die Küche kam. Opa brummelte etwas Unverständliches hinter seiner Zeitung. Oma hob eine Augenbraue. „Guten Morgen, Schatz, gut geschlafen? Und freust du dich ein bisschen auf heute?“
Ich setzte mich, schüttete mir Müsli in meine Schale, goss Milch darüber. „Unheimlich. Wie das an ersten Schultagen ist.“
„Aber du hast doch jetzt ein neues Klassenzimmer. Freust du dich nicht.“
Schnell stopfte ich mir einen gehäuften Löffel Müsli in den Mund. „Ach Oma, gelernt werden muss überall, ob in einem neuen oder alten Klassenzimmer.“
Über den Tisch griff Oma meine Hand: „Es wird sicher lustig, wenn ihr euch über eure Ferienerlebnisse austauscht. Und du hast doch wirklich viel von der Türkei zu erzählen, nicht?“
„Ja, Ja.“ Mühsam schluckte ich den Müslibrei herunter. Sehr gesprächig war ich morgens nicht; ich schätzte es, allein zum Schulbus zu gehen, Kopfhörer in den Ohren. Ein paar Minuten allein ich für mich. Dafür hängte ich gern Tessa ab, die in der Nachbarschaft meiner Großeltern wohnte.
Schließlich machte ich mich mit vollem Bauch auf den Weg. Ich setzte meinen Walkman auf: Sing Halleluja von Dr. Alban. Das holte ein wenig das Urlaubsfeeling zurück. Einige Meter vor mir ging ein kleines Mädchen mit Igelfrisur und quietschbunten Klamotten, die überhaupt nicht zueinander passten. Ich schätzte sie nicht älter als neun. Sicher war sie auf dem Weg zur Grundschule. Mitnichten, als ich an der Bushaltestelle eintraf, stand sie dort. Als sie sich kurz zu mir herumdrehte, leuchteten mich hellblaue Augen an. Irgendwas in mir riet mir dazu, auf Abstand zu bleiben.
Ich sprach während der Busfahrt mit niemanden, hörte Musik. Im Bus befanden sich neben dem auffälligem Mädchen viele neue Schüler. Die neuen Fünftklässler.
Eine riesige Uhr mitten auf dem Schulhof verriet einem, ob man es pünktlich zur ersten Stunde schaffte.
„Hey Ela! Du bist so schön braun.“ Anja wartete an der englischen Telefonzelle hinter dem blauen Schultor in der Pausenhalle, winkte mir zu. Sie trug bereits eine dicke Daunenjacke.
„Hey Anja!“ Ich trat auf sie zu. „Wie waren die Ferien? Ich fand es toll in der Türkei. Ihr wart in der Eifel?“
„Wie immer. Wir sind viel gewandert.“ Kurz verdrehte Anja die Augen. „Ich kann keine Wanderschuhe und Stöcke mehr sehen, habe sie zuhause im Keller in die Ecke geschmissen. Dieses Mal sind wir um Daun herumgewandert.“
Arme Anja, jede Ferien nur Eifel. Mal in Daun, mal in Mayschoß. Da war ich mit der türkischen Riviera besser bedient.
„Wir hatten drei Wochen Sonne und Strand. Zwei Mal sind wir auf die Festung von Alanya hochgewandert, und das bei vierzig Grad. Zwei Mal sind wir ins Taurus-Gebirge gefahren und konnten uns im Gebirgsbach erfrischen.“ Ich kaute auf den Innenseiten meiner Wange. Das Wichtigste hatte ich noch gar nicht erzählt… Stattdessen seufzte ich: „Hast du auch so viel Lust wie ich?“
Anja schürzte die Lippen. „Wenn ich diesen ersten Tag überstehe, gönne ich mir nach Schulschluss einen riesigen Bananen-Split.“
Untergehakt überquerten wir den Schulhof. Vor dem Anjas Gebäudetrakt, liebevoll Container genannt, standen bereits einige Mädchen, alle in bunten Leggins und knallengen T-Shirts. Sie lehnten an die blassblaue Fassade und tauschten munter ihre Ferienerlebnisse aus, durchblätterten einen Katalog. Besonders auffällig war eine sehr schlanke Dunkelhäutige, mit durchtrainiertem Körper. Ich mochte dunkelhäutige Menschen, meine Lieblingsschauspielerin war Whoopi Goldberg. Im letzten Winter hatte ich im Kino Sister Act geschaut, im April Sarafina. Aus Sarafina kannte ich die Schauspielerin Leleti Khumalo, an die mich das dunkelhäutige Mädchen ein wenig erinnerte. Wenn sie nur nicht immer so düster dreingeschaut hätte. In der Gruppe hüpfte ein sommersprossiges, rothaariges Mädchen auf und ab, die an Pippi Langstrumpf erinnerte. Sie alle waren schlank, bis auf ein Mädchen, das locker neunzig Kilo auf die Waage brachte und einen Jogginganzug trug. Es war offensichtlich, dass diese Clique fest zusammenhielt.
Der Neubau mit allen technischen Neuerungen konnte nicht von dem Bewusstsein ablenken, dass in dem uralten Container schon unzählige Schülergenerationen vor uns gelernt und gelitten hatten. Wie alt mochte dieser Modul-Bau sein, wenn bereits Mama dort ihr Klassenzimmer hatte? Er wurde zunächst als Provisorium errichtet, als die Schule noch ein Schulzentrum war und man nicht wusste, wohin mit den vielen Schülern. Da kam es auf Schönheit nicht an. Aber die Räume darin waren angenehm groß, und immerhin beherbergte der Container zwölf Klassen. Ich hatte mich darin, in der fünften und sechsten Klasse wohl gefühlt und fand den Umzug unnötig.
„Jaja, unser schöner Neubau“, seufzte ich, Anja folgte meinem Fingerzeig auf die moderne Architektur mit roter Ziegelfassade, großen, blauen Fenstern, die sowohl vertikal als auch horizontal ausgerichtet waren. „So schön er auch ist, bald heißt es wieder Klausuren schreiben, Tests, Hausaufgaben ohne Ende…“
„Das hat zum Glück noch ein paar Wochen Zeit.“ Nicole, meine Klassenkameradin tauchte in Begleitung von Raffaela auf. „Die Klausuren sind erst im Herbst dran. Aber erstmal Hallo.“ Beide umarmten uns. „Hattet ihr auch schöne Ferien? Mensch, Ela, du siehst gut aus.“
„Hör auf.“, sagte ich mit gespielter Empörung. „Ich will noch nicht an die kalte Jahreszeit denken, die kommt sowieso viel zu schnell. In der Türkei ist es immer noch warm, wenn wir hier schon frieren.“, jammerte ich.
Aus den Augenwinkeln sah ich einen dunkelhäutigen Jungen mit glatten, schwarzen Haaren durch die Tür des Containers verschwinden.
„Nun hör auf zu jammern.“, tadelte mich Raffaela. „Es kann nicht das ganze Jahr Urlaub sein, nun komm mit…“
„Tschau Anja, bis zur Pause.“, winkte ich, dann ließ ich mich von Nicole mitziehen. Andere Schüler aus meiner Klasse sammelten sich bereits vor der Eingangstür. Wie eine Kuh Herde zu ihrem Stall liefen wir zu unserem Klassenzimmer, eine Treppe aufwärts, dann den Flur entlang zur letzten Türe rechts. Es war schon aufgeschlossen, und alle nahmen ihre Plätze ein, die sie sich vor den Ferien ausgesucht hatten.
Irgendwie war schon jetzt alles wie immer, der Kreidegeruch, die Fotocollagen der letzten Klassenfahrt an der Wand, andererseits roch alles noch nach neu. Neu war auch der Gong zum Stundenwechsel oder zur Pause. Vier Gong-Töne in absteigender Reihenfolge, lösten des typische Schellen ab, und hörten sich exakt an, wie der Gong am Flughafen.
Ich merkte, dass ich mich sogar ein wenig auf meine Klassenlehrerin Frau Jensen zu freuen begann, und Ramona, die neben mir saß, flüsterte mir zu, dass es ihr ebenso erginge. Bei ihr wusste ich, dass der Unterricht interessant war. Fast alle mochten diese Lehrerin; Frau Jensens engagierte Art motivierte uns immer wieder dazu, im Unterricht unser Bestes zu geben.
Ja, dachte ich, und schaute aus dem Fenster, auf den großen Kastanienbaum im Schulgarten. Wo ich hier saß, auf demselben Platz wie vor den Ferien, war ich gefühlt gar nicht weggewesen. Ich hatte für kurze Zeit das verwirrende Gefühl, den Urlaub noch vor mir zu haben.
„Hoffentlich bekommen wir nicht neue Lehrer, die Schlaffis sind.“ Ramona hat sich zu mir vorgebeugt, „bei denen man einschläft, wenn man ihnen zuhört.“
Als Frau Jensen ein Jahr zuvor, zu Beginn der sechsten Klasse zu uns kam, gab sie eine ganze Unterrichtsstunde dafür her, um mit uns ins Gespräch zu kommen, bevor sie mit dem eigentlichen Unterricht begann.
Auf Anhieb spürten wir: Hier ist jemand, der uns ernst nimmt, uns nicht nur bevormunden will. Ihre Beliebtheit stieg noch, als sie die gesamte Klasse wenig später zu sich nach Hause einlud, um mit uns gemeinsam einen Spieleabend zu verbringen.
Es gongte zur Stunde, und im selben Augenblick kam Frau Jensen herein, die langen Haare wieder zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie stellte ihre Ledertasche auf dem Pult ab und atmete tief durch, ehe sie uns begrüßte.
„Guten Morgen, meine Lieben“, sagte sie. „Ich freue mich, euch wiederzusehen und hoffe, ihr hattet schöne und erholsame Ferien. Tja, einiges wird sich an diesem Schuljahr ändern. Wie ihr bereits wisst, sind Englisch und Mathematik in Erweiterungs- und Grundkurs aufgeteilt. Hinzu kommt noch das Wahlpflichtfach. Es wird in den ersten Wochen etwas ungewohnt sein, in verschiedene Klassenräume zu wechseln. Und einige neue Lehrer fangen heute in unserer Schule an.“
Unwilliges Gemurmel breitete sich aus. Neben mir verdrehte Ramona die Augen, rückte mit dem Stuhl näher an mich heran. „Hoffentlich nicht solche Typen, die sich nicht durchsetzen können. Weißt du noch, einige Lehrer im letzten Jahr?“
Ich zuckte die Schultern. „Wir werden sehen.“
Im Wahlpflichtfach, kurz WP1, hätte ich gerne Naturwissenschaften oder Latein gewählt. Frau Jensen war der Meinung, ich sei in Arbeitslehre gut aufgehoben, und Mama hatte dem zugestimmt. Ich würde also Kochen, Backen und Hauswirtschaft als Unterrichtsfach haben.
Insgesamt verlief der erste Tag locker und ich entspannte. Sowieso war in den ersten beiden Wochen nach den Ferien alles lockerer und der Unterricht fand nur halbtags statt. Jeder an der Schule wusste, dass nach der Schonfrist das Lerntempo rasant anzog. In den Wochen darauf war ich damit beschäftigt, in den Alltag zu finden. Herr Jürgens, unser Mathelehrer warf uns mit Dreisatz ins kalte Wasser, ließ bereits zwei Wochen nach Schulbeginn eine Arbeit schreiben, bei der ich so gerade eine Vier schaffte. Die nächste folgte wenig später und war insgesamt so schlecht ausgefallen, dass sie nicht gewertet wurde. Allerdings verschwieg ich zuhause, dass wir sie nachschrieben, weil ich punktsicher eine Fünf gelandet hatte. Alle anderen waren besser als ich. Ich schob die Arbeit schnell in meine Schultasche. Es schien, als könne ich die miese Note durch den Stoff hindurchleuchten sehen. Ich hoffte, Oma und Opa würden nicht böse. Meine Eltern waren in vielen Dingen sehr cool und überließen mir meine Freiheiten, aber gerade meinen Großeltern, besonders Oma, waren die Schule sehr wichtig. Von Oma würde ich sicher Ärger bekommen. Ich hatte Glück, dass Herr Jürgens danach einige Tage krank war und auch danach vergaß, die Unterschriften einzusammeln. Mama und Oma bohrten immer wieder nach, wann der Nachschreibe-Termin sei. Ich wand mich immer wieder raus und versteckte die vermasselte Arbeit hinter einigen Kleidungsstücken im Kleiderschrank und erfand Ausreden. Bald darauf hatte ich das vermaledeite Schriftstück vergessen.
An einem Nachmittag, ich fuhr nach der Schule zu Oma und Opa, fragte mich Tessa, ob ich sie zum Spielplatz am Hochhaus begleiten wollte.
Ein paar Stumme Atemzüge dachte ich nach. Lust hatte ich nicht. Das bedeutete ein Treffen mit Tessas Clique. Ich wollte mir eigentlich einen ruhigen Nachmittag machen. Meist schrieb ich dann in mein Tagebuch, oder eben einfach, was mir so einfiel. Vielleicht würde ich später einmal Schriftstellerin. Andererseits war ich immer noch erstaunt, dass sich Tessa, die Jahrgangsbeste und eines der beliebtesten Mädchen an der Schule sich für mich interessierte.
Die Mädchen aus meiner Klasse hatten über Mustafa gelächelt und gesagt, dass es ihnen in den Ferien ähnlich ergangen war, doch die Ferien waren seit wenigen Wochen vorbei und alle waren zur Tagesordnung übergegangen und hatten sich feste Freunde aus unserem oder dem nächsthöheren Jahrgang gesucht. Nur ich verweilte in meiner Traumwelt, und das umso tiefer, je häufiger ich spürte, dass ich insbesondere im Matheunterricht nicht mitkam oder mich in Wirtschaftslehre langweilte.
Nun also der Nachmittag am Spielplatz. „Sechzehn Uhr könnte ich knapp schaffen“, überlegte ich laut, nun doch bemüht, nicht allzu widerstrebend zu klingen. „Aber wird das dann nicht ein bisschen spät?“
„Komm schon“, Tessa ließ nicht locker. „Für ein Stündchen wirst du dich wohl losmachen können. Dann siehst du andere Leute. Du kannst ruhig mal deinen Horizont ein bisschen erweitern.“
Auf dem Spielplatz tummelten sich ein Haufen älterer Teenager und die meisten von ihnen hatten eine Zigarette zwischen den Lippen oder ganz gewieft hinters Ohr geklemmt.
Es gab mehrere kleine Grüppchen, die quer über die einzelnen Bänke und Spielgeräte verstreut saßen. Tessa steuerte zielstrebig eine von ihnen am Rand des Sandkastens an.
„Hey“, sagte ein blondes Mädchen freundlich zu uns beiden. „Auch eine?“ Sie hielt uns eine Schachtel Zigaretten entgegen. Tessa bedankte sich und nahm sich eine, ich lehnte ab. Ich fand es ekelhaft. Was andere Leute daran fanden, war mir ein Rätsel. Zumal ich mein eh schon bescheidenes Taschengeld lieber in Zeitschriften oder Süßigkeiten investierte.
Hin und wieder fragte mich jemand etwas. Wie alt ich sei, ob ich trinke, wieviel Taschengeld ich bekomme, wann ich abends ins Bett muss.
Ich versuchte zu lächeln, aber ich fühlte mich unwohl. Sie schauten sich untereinander an, wenn ich etwas sagte, stießen sich an, kicherten. Wie wohl ich mich dagegen mit Sabrina und Nadine fühlte, oder mit Anja.
Das hysterische Gekicher und das ständige Zurückfallen der Unterhaltung auf Alkohol, Party und Klamotten und Schminke irritierte mich.
Als sie mich fragten, welche Filme ich toll finde, ich ehrlich mit „Unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug“ antwortete, brachen sie in schallendes Gelächter aus.
„Oder was eben halt gerade im Kino läuft.“, versuchte ich das Gelächter zu unterbrechen.
„Gib’s zu, du schaust doch noch gerne Cinderella.“ Tessa klatschte sich auf den Oberschenkel. „Oder?“
Ich errötete, versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, während ich daran dachte, dass ich sogar heimlich noch Zaubertrolle sammelte, Zaubertrolle mit ihren fusseligen neonfarbenen Haaren und faltigen Gesichtern mit Wunschjuwel am Bauchnabel. Oder dass ich mir sogar gern alte Filme der Airport-Reihe ansah.
„Ja, was ist das denn für ein Film Unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug?“, fragte doch ein Mädchen interessiert. Ich erklärte, dass es eine Parodie auf die Katastrophenfilme, der Airport-Reihe der 1970er Jahre sei. Der Film erzählte die Geschichte von Ted Striker, einem ehemaligen Kampfpiloten, der unter Flugangst leidet und sich dennoch ein Flugticket kauft, um seine Ex-Freundin, die Stewardess Elaine Dickinson zurückzugewinnen. Während des Fluges erkranken der Pilot sowie Co-Pilot und Navigator und einige Passagiere an einer Fischvergiftung. In dieser Notlage muss Ted, trotz seiner Flugangst und seinen traumatischen Erlebnissen aus seiner Militärzeit, das Flugzeug sicher landen.
„Ach so.“, das Mädchen blickte Tessa an. „Alt, aber hört sich intTressant an.“
Tessa zuckte die Schultern. „Irgendwann habe ich den auch gesehen. Stimmt. Leslie Nielsen spielt doch mit, oder?“
„Ja, als Dr. Rumeck.“
„Ja, als Dr. Rumeck,“ bestätigte ich, froh, dass das Gespräch endlich eine Wendung nahm, die mich nicht bloßstellte. Doch das Gefühl der Fremdheit blieb. Ich fühlte mich wie ein Außenseiter in dieser Gruppe, die sich so sehr um Oberflächlichkeit drehte.
„Also, was machen wir jetzt?“ fragte Tessa und blies eine Rauchwolke in die Luft. „Noch jemand Lust auf eine Runde Flaschendrehen?“ Einige der Mädchen kicherten und nickten zustimmend. Ich hingegen fühlte mich immer unwohler. Flaschendrehen bedeutete meistens peinliche Fragen oder Mutproben.
„Ich glaube, ich gehe lieber nach Hause,“ sagte ich leise, aber bestimmt. „Ich habe noch Hausaufgaben zu erledigen.“
Tessa sah mich enttäuscht an. „Ach komm schon, Ela. Bleib doch noch ein bisschen.“
„Nein, wirklich,“ beharrte ich. „Ich muss los.“ Ich stand auf und verabschiedete mich höflich von den anderen. Während ich den Spielplatz verließ, hörte ich hinter mir das erneute Kichern und Flüstern. Ich wusste, dass ich nicht hierhergehörte.
Zurück in Omas Haus lag mein Gitarrenkoffer mitten auf der Treppenstufe, ich schob ihn mit dem Fuß beiseite und ging hoch in mein Zimmer, holte endlich mein Schreibzeug heraus und stellte Invite me to Trance von 2 Unlimited an. Ich ließ mich davontragen: Ich begann zu schreiben, ließ meine Gedanken und Gefühle frei fließen. Das Schreiben war mein Zufluchtsort, mein sicherer Hafen. Hier konnte ich sein, wer ich wirklich war, ohne Angst vor Urteilen oder Spott. Ich entschied mich für eine Kurzgeschichte. Oder vielleicht könnte endlich ein komplettes Buch daraus werden?
Geld für ein Flugticket hatte ich keins, deshalb beschloss ich mich als blinder Passagier in den Frachtraum eines Flugzeugs zu schmuggeln. Die Vorstellung, die Türkei wiederzusehen, ließ mein Herz höherschlagen.
Mit klopfendem Herzen schlich ich zum Flughafen und beobachtete die Betriebsamkeit auf dem Vorfeld. Sie entdeckte einen LKW für die Bordverpflegung, der gerade beladen wurde. In einem unbemerkten Moment huschte ich hinter den LKW und kletterte hinein. Ich versteckte mich zwischen den Containern mit Essen und Getränken und hoffte, dass niemand mich entdecken würde.
Der LKW fuhr zum Flugzeug, und ich konnte durch die kleinen Fenster sehen, wie wir uns dem riesigen Flugzeug näherten. Ich hielt den Atem an, als die Fracht um mich herumbewegt wurden, aber niemand bemerkte mich. Als die Verpflegung im Flugzeug verstaut war, nutzte ich die Gelegenheit, mich in den Frachtraum zu schleichen. Ich versteckte mich, zog mich in eine dunkle Ecke zurück. Der Frachtraum war dunkel und kühl, es roch leicht muffig. Ich zog die Jacke enger um sich, klammerte mich an den Netzen fest, die die Koffer sicherten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit einem Surren schloss sich die Klappe zum Gepäckraum.
Als das Flugzeug startete, spürte ich, wie der Boden unter mir zu vibrieren begann. Das Dröhnen der Triebwerke wurde lauter, ich spürte das Rumpeln der Räder auf der Startbahn. Mein Herz schlug schnell, als das Flugzeug abhob und ich das Gefühl hatte, in die Luft gehoben zu werden. Die Vibrationen wurden stärker, und ich klammerte sich noch fester an die Netze, um nicht umhergeschleudert zu werden.
Während des Fluges hörte ich das gleichmäßige Brummen der Triebwerke und das gelegentliche Klappern der Fracht um mich herum. Es war eine seltsame Mischung aus Aufregung und Angst, die mich durchströmte. Ich wusste, dass ich etwas Verbotenes tat. Allmählich dachte ich an meine Eltern, die sich wohl Sorgen machten, weil ich verschwunden war, sie nicht wussten, wo ich steckte.
Nach zweieinhalb Stunden spürte ich, wie das Flugzeug zu sinken begann. Die Landung war holprig, ich musste mich erneut gut festhalten. Als das Flugzeug schließlich zum Stillstand kam, wartete ich geduldig, bis die Frachtluke geöffnet wurde. Mit einem letzten Blick auf den Frachtraum schlich ich hinaus und verschwand in der Menge des Flughafens Antalyas.…
Ich las mir das Geschriebene noch einmal durch, strich hier und dort paar Wörter. „Bisschen holprig geschrieben“, sagte ich mir, „sprüht nicht gerade von Lebendigkeit, aber sowas würde ich niemals tun. Einfach so abzuhauen.“
Oma rief von unten: „Hab’ ich mir doch gedacht, dass du über den Gitarrenkoffer steigst, was glaubst du, warum ich ihn mitten auf die Treppe gelegt habe.“
„Später.“, gab ich unwillig zurück und setzte mich wieder an den Schreibtisch.
„Was heißt später, um zehn Uhr abends?“
Gitarre zu üben war wirklich das Letzte, wozu ich Bock hatte, nicht das ich gänzlich abgeneigt war, mir fehlte einfach die Begabung.
Auch nachdem ich eine Stunde lang im Wohnzimmer Opa und Oma etwas vorgeklimpert hatte, bis es richtig saß, gab es keine Ruhe. Abendbrot mit Blick auf den Stundenplan und einer Fragerunde: „Wann steht die nächste Mathearbeit an?“ „Was nehmt ihr in Englisch durch?“
„Keine Ahnung.“, sagte ich genervt und schnappte mir eine Brotschnitte.
„Aber du schreibst dir das doch auf? Übst du denn auch?“
Genervt rollte ich die Augen. „Die Termine stehen in meinem Mitteilungsheft. Ich schaue gleich nach, dann sag ich dir Bescheid.“
„Willst du nach dem Abendessen in dein Mathebuch schauen?“
„Bestimmt nicht.“ Hastig stopfte ich mir ein großes Stück Wurst in den Mund, kaute lange und umständlich, ehe ich mit Milch nachspülte, stellte mich taub. Ich war froh, als das Abendessen beendet war und ich aufstehen durfte.
„Hattest du Streit mit Tessa?“, fragte Oma nun doch, als wir später die Tagesschau schauten.
„Nein, warum?“
„Weil du so früh zurückwarst. Die anderen sind doch bestimmt länger geblieben?“
„Ich hatte nur einfach keine Lust mehr.“ Desinteressiert wandte ich mich dem Fernseher zu, hoffte das Thema wäre damit durch. Oma ließ nicht locker: „Aber du kannst dich doch nicht immer so abkapseln.“
Ich atmete tief ein. „Ich habe Freundinnen. Und was ist dabei, wenn ich mal Zeit allein verbringen will? Ich habe in meinem Zimmer schließlich auch mal was zu tun.“
„Was denn schon groß?“
Ruppiger als beabsichtigt maulte ich: „Ich suche mir meine Freunde selbst aus, okay? Und ich mag das nicht, wenn du und Mama ungefragt Mädchen einladet, mich in einer doofen Jugendfreizeit anmeldest. Bitte mache das nicht mehr.“
Kurz breitete sich eine unangenehme Stille im Wohnzimmer aus.
„Oma will doch nur dein Bestes“, schaltete sich Opa von seinem Sessel aus ein. „Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man sich ab und zu mal zurückzieht. Aber du tust das zu oft, und es wird später schwierig für dich, wenn du jetzt den Anschluss verlierst.“
„Ich kapsle mich nicht ab, ich verbringe viel Zeit mit Sabrina und Nadine. Und nach der Jugendfreizeit im letzten Jahr bin ich die nervige Angela monatelang nicht losgeworden. Außerdem muss es nicht haben, nonstop mit Jugendlichen, um die Häuser zu ziehen oder ständig jemanden zu Gast in meinem Zimmer zu haben. Okay?“
„Sabrina und Nadine werden vielleicht nicht für immer deine Freundinnen bleiben.“, sprach Oma weiter. „Und keine Widerrede, ich möchte, dass du mehr nach draußen gehst, auch dass du die Jugendfreizeit besuchst.“
„Irgendwann, später, wirst du an unsere Worte denken.“, mahnte Opa.
Ich stöhnte, gab es auf.
Kein Wunder, dass es mit dem geplanten Schreiben nicht klappte. Wenn mich ständig jemand störte, davon abhielt, in mein Zimmer platzte, mir den Gitarrenkoffer oder meine Schultasche neben meinen Stuhl stellte, konnte ich nicht mein volles Potential entwickeln. Und woher wollten Oma und Opa wissen, dass das so unwichtig war, was ich in meinem Zimmer tat? Wenn man mich nur ließe, würde ich gleich ein ganzes Buch schreiben. Dann würde ich Autorin und verdiente Geld, wäre auf die doofe Schule nicht angewiesen.
Am Wochenende darauf besuchten meine Eltern und ich Dietmar in der Uniklinik. Mein Onkel laborierte an einer seltsamen Krankheit, es hatte im Mai mit einer Grippe angefangen, die auch Wochen später nicht verging, bis er für ein paar Tage ins Krankenhaus musste – und man angeblich immer noch nicht herausfand, was ihm fehlte. Man überwies ihn an die weitentferntere Uniklinik.
Man sah ihm nicht an, dass ihm etwas fehlte. Auch meine Eltern und Großeltern wirkten gefasst. Oder sie wollten sich in meiner Gegenwart nichts anmerken lassen.
Auf meinen besorgten Blick streichelte Dietmar meine Wange. „Keine Angst, Mädchen, es ist nichts Schlimmes. Paar Tage und ich komme raus. Bis Weihnachten ist das hier vergessen.“
Auf mich wirkte diese ganze Klinikatmosphäre bedrückend. Der sterile Geruch, Patienten in Bademänteln und Schluppen, die über endlos lange Gänge schlichen. Umherhastende Ärzte und Krankenschwestern, Neonröhren, die wenig anheimelndes Licht verbreiteten. Mir entging nicht Mamas oft betrübter Blick ihre Gereiztheit. Ich wusste, dass sie an ihrem älteren Bruder hing. Mustafa, wenn du wüsstest. Was machst du gerade, hat auch dich der Wahnsinn des Alltags wieder eingeholt?
Manchmal saß ich im Klassenzimmer und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Ich stellte mir vor, wie Mustafa extra meinetwegen aus der Türkei anreist an Schulschluss am Schultor steht, genau wie in der Szene aus Pretty Woman, als Richard Gere mit einer Limousine vorfährt, um Julia Roberts zu überraschen. Lässig an das Tor gelehnt, mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen, mit schicker Lederjacke und hielt einen Strauß roter Rosen in der Hand. Die anderen Schüler glotzen neugierig, Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Mein Herz klopft rasend schnell. Er umarmt mich, reicht mir die Rosen und sagt mit sanfter Stimme: Ich konnte nicht länger warten, dich wiederzusehen.
Diese Vorstellung endete jeweils unsanft, wenn mich ein Lehrer aus meinen Tagträumen riss. Tastsächlich ertappte ich mich an Schulschluss, oder wenn ich auf unsere Haustür zulief, ob jemand auf mich warten würde. Doch nichts. Er drückte selbst in Ankara die Schulbank. Der Gedanke an ihn ließ mich laut aufseufzen. Ich sehnte mich danach, einfach nur seine Nähe zu genießen, so wie in der Strandbar. Musik hören, an einem der vielen Seen im Rheinland oder am Fluss Rur spazieren gehen, irgendwo etwas trinken. Einfach entspannen, einfach die Schule ausblenden.
Schulstress
Ich scherzte mit den Jungs herum. Mit Hendrik und Markus, mit denen ich den Koch- und Englischkurs besuchte, verstand ich mich, aber mit Mustafa zu reden, hatte sich so anders angefühlt, reifer, ehrlicher, voll gegenseitigem Verstehen. Als ob ich das gefunden hatte, was ich immer suchte. Bis der Tag der Abreise alles beendete. Mir war bewusst, dass es an der Zeit war, in der Wirklichkeit anzukommen.
Die Tage und Wochen vergingen in einem monotonen Rhythmus aus Schule, Hausaufgaben und Lernen. Meine Eltern waren besorgt über meine Leistungen, besonders in Mathe, und ich fühlte den Druck, ihre Erwartungen zu erfüllen.
Kapitel
An einem Nachmittag nach Schulschluss genügte ein kurzer Blick ins Wohnzimmer, um zu wissen, was da auf dem Couchtisch lag. Meine scharfen Augen erfassten das verhasste, und wie ich dachte, gut versteckte Schriftstück sofort. Auch Mamas verhaltener Gruß aus dem Wohnzimmer ließ darauf schließen, dass sie stinksauer war: die verhauene Mathearbeit, die ich innerlich längst abgehakt hatte. Ich stellte meine Schultasche lautlos an den Garderobenschrank und schlich gegenüber der Wohnungstür in die Küche. Doch ewig konnte ich nicht dortbleiben. Mama tauchte sogleich im Türrahmen auf. „Warum hast du uns nicht erzählt, dass du eine Fünf in Mathe hattest?“, kam sie sofort zur Sache. „Oma hat sie beim Aufräumen in deiner Kommode gefunden.“ Ich biss mir auf die Lippen. „Hast du gedacht, Oma findet sie dort nicht? Ich finde es daneben, uns anzulügen. Noch so eine Aktion und wir sperren dir den Computer und lassen dich nur noch bei guten Schulleistungen dran.“ Ich sagte immer noch nichts. Was gab es darauf auch zu sagen. Immer noch stand ich mit gesenktem Blick neben dem Kühlschrank. „Ela, sieh mich an, wenn ich mit dir rede. Wie stellst du dir das vor? Du lebst sorglos in den Tag hinein, während Papa und ich arbeiten, du erledigst nicht, wie verabredet, den Abwasch.“ Ich verkrampfte meine Fäuste, diese Rede würde sich noch bis zum Abend hinziehen. Ich suchte nach Worten, doch egal, was ich sagen würde, würde noch Öl ins Feuer gießen. Mama holte eine Tupperdose aus Omas Flechtkorb und tat mir Essen auf den Teller und schob diesen in die Mikrowelle. Mein Magen war wie zugeknotet, trotzdem aß ich brav den Grünkohl, um sie nicht noch mehr zu verärgern. Auf einem Blatt Papier rechnete mir Mama vor, welche Ausgaben an Miete, Versicherungen und Nebenkosten, sie und Papa im Monat hätten, und was unterm Strich noch übrigbliebe. „Ela, ich verstehe dich nicht. Wir tun doch schon alles für dich und sehen zu, dass wir dir viel ermöglichen. Warum kannst du dir im Gegenzug nicht etwas mehr Mühe geben?“ Gereizt schoss ich zurück: „Ach ja? Wenn angeblich zu wenig Geld da ist, wozu müssen Papa und du so ein teures Auto fahren?“ Mama zuckte zurück, presste die Lippen zu einem Strich zusammen. Das war ein wunder Punkt in dieser Familie: der Pontiac Firebird, der in Spritverbrauch und Versicherung ein Fass ohne Boden war.
„Jedenfalls wirst du dich noch wundern, wenn du selbst arbeiten gehst und dir selbst den Kühlschrank füllen musst. Später läuft nichts mehr mit Mama, hast du mal ne Mark. Wenn du nach der zehnten Klasse keinen Abschluss bekommst, kannst du putzen gehen, dann ist nicht einmal ein Kleinwagen drin.“
Wütend klatschte ich meine Gabel in den Grünkohl. „Tu doch nicht so! Papa schuftet sich in der Zeche halb zu Tode und es reicht nie. Du gehst ins Rathausbüro und es lohnt sich kaum. Wenn ihr es besser gemacht hättet, müsstet ihr nicht beide arbeiten, nebenbei noch im Kino Dienst schieben. Also bitte komme mir nicht so.“ Als Mama sich zurücklehnte und die Lippen aufeinanderpresste, setzte ich nach: „Warum hat es bei euch nicht für Abitur oder Studium gereicht.“
Mama schlug die flache Hand auf den Tisch. „Ela, du kennst die Gründe.“
„Aha. Und ich soll es jetzt besser machen.“
Mamas Miene wurde kein Grad wärmer. „Wenn du schon laufend meinst, dass wir alles falsch machen, warum meinst du, unsere vermeintlichen Fehler wiederholen zu müssen? Ja, du hattest dich eben früh angekündigt und Papa und ich waren gezwungen, für unseren Lebensunterhalt zu sorgen. Wir hatten doch damals sogar noch Glück, dass wir das Haus von Uroma geerbt hatten.“
Kurzzeitig tauchte eine vage Erinnerung auf. Etwas Dunkles, wie eine Dachkammer, wie Spinnweben, ein schmutziges, kleines Dachfenster, durch das kaum Tageslicht fiel. Eine Erinnerung, die ich nicht einzuordnen vermochte.
„Aber es ist jetzt, wie es ist.“ Mama schob den Stuhl zurück und stand auf. „Du hast die Mathearbeit versaut und uns verheimlicht. Und weder mir noch Oma kannst du etwas vormachen – wir kommen immer dahinter und fühlen uns umso verletzter, wenn du uns hintergehst.“
Es wurde auch nicht besser, als Papa von der Arbeit kam und davon erfuhr. „Hast du denn so wenig Vertrauen in uns. Und es enttäuscht uns sehr, dass unsere Tochter uns anlügt. Mehrmals hatten wir dich nach der Mathearbeit gefragt und du erzählst uns, die sei nicht gewertet worden.“ Ich saß auf dem schweren Ledersessel, die beiden einträchtig auf dem Sofa. Ich kam mir vor wie auf der Anklagebank. Das vermaledeite Schriftstück wirkte neben der spanischen Glasschüssel und ein paar benutzten Gläsern, wie ein Fremdkörper. „Ela, nimm bitte die Mathearbeit, setz dich an den Esstisch und arbeite sie durch. Und nur zu deiner Information: du hast nur noch drei Jahre Zeit, drei Jahre, um die Kurve zu kriegen.“ Es hielt sich noch den ganzen Nachmittag dran, und war auch auf der Autofahrt zu Oma Thema. Auch Oma und Opa nahmen den Faden auf „Wenn das so weitergeht, werden wir Nachhilfe für dich bemühen.“ Es reichte mir völlig aus, bis nachmittags in der Schule bleiben zu müssen, wann sollte ich da, bitte schön, noch Nachhilfe nehmen? Eingeschnappt stand ich vom Sofa auf und lief hoch auf mein Zimmer.
„Ich hatte gestern zuhause voll den Stress“, klagte ich Anja am nächsten Tag mein Leid. In der kleinen Pause saßen wir auf der Bank neben dem Bolzplatz. Ein paar Jungs kickten lustlos einen Fußball vor sich hin. Ich zeigte auf die Mädchenclique aus Anjas Parallel-Klasse. Die Dunkelhäutige lachte und steckte sich Fruchtgummis in den Mund. „Sechste Klasse und sie sind alle so unbeschwert, haben noch ein Jahr länger Zeit, um Kind zu sein. Mama und Papa nerven mich bereits jetzt mit Berufswahl, und in drei Jahren würde ich putzen gehen.“
„Oh.“, machte Anja. „Das klingt nervig. Oh, schau mal da.“ Mit aufgerissenen Augen deutete sie auf die Dunkelhäutige, die Anlauf genommen hatte und Saltos schlug, um danach im Spagat auf dem Asphalt zu landen. Auch ich staunte. „Sie muss eine Wirbelsäule aus Gummi haben.“
„Das ist Shirley“, erklärte Anja. „Sie hat ein paar Jahre in den USA gelebt. Und neben ihr, das ist Jenny.“ Nun deutete Anja auf das Mädchen, das mit Pippi Langstrumpf ähnelte. „Sie macht Karate und Kickboxen. Und daneben, Martina, ist im Judoverein.“ Ich beobachtete, wie besagte Martina einem blonden Mädchen etwas ins Ohr flüsterte, was diese ungemein zu erheitern schien, denn sie legte den Kopf in den Nacken und lachte lauthals los, sie hatte unglaublich weiße Zähne, ihr ganzes Aussehen erinnerte an Barbie. Ich beobachtete, wie Jenny einen Handstand machte und auf den Händen lief.
Ich hätte auch gern etwas gehabt, was ich gut konnte, doch mit dem Gitarrenunterricht kämpfte ich mich ab, in Sport war ich nicht gut, und dass ich in Mathematik immer mehr ins Schwimmen geriet, trug auch nicht dazu bei, wieder auf die Füße zu kommen. Mein Leben verlief immer noch so eintönig. Die Zeit verging, ohne dass es etwas gab, an dem ich mich hätte festhalten können. Alles schien an mir vorbei zu rauschen.
Nur ungern ging ich an diesem Schultag nachhause, doch Mama schien sich beruhigt zu haben, sprach das Thema Mathearbeit nicht mehr an. Meine Eltern waren nicht nachtragend. Es rumste einmal kräftig, dann war es gut.
Einige Tage später saßen Anja und ich an derselben Stelle, als wir beobachteten, wie die Clique auf einen Jungen zuging, der allein neben dem Bolzplatz stand und Karten sortierte. „Jupps“, sagte Shirley und nahm dem Jungen die Karten ab. Blitzschnell langte Martina nach seiner Brille und zog sie ihm vom Kopf. „Hol sie dir doch.“, feixte sie und hielt sie hoch. Der Junge fluchte, ging in Angriffsstellung und ballte die Fäuste. Martina verpasste ihm einen Klaps auf die Wange, der Junge holte aus, aber Martina fing seine Faust einfach ab, ihr Bein schnellte hoch und binnen Sekunden lag der Junge flach auf dem Boden. Er versuchte, sich hochzurappeln, er wirkte zwar massig, aber nicht sehr fit. Stattdessen riss er die Hände schützend hoch, während Shirley auf ihn ein schimpfte: „Noch einmal verpfeifst du mich nicht im Unterricht. Ist das klar?“ Meine Muskeln verkrampften sich, sodass es schmerzte. Ich zog meine Schultern nach vorne zusammen. „Sollten wir nicht lieber Hilfe holen.“ Ich stand auf und zog Anja mit mir hoch, doch Anja hielt mich zurück. „Das machen die immer, und hinterher stellen die sich als Opfer hin. Lass uns lieber woanders hingehen.“
„Die Pausenaufsicht, die muss doch irgendwo sein.“
Anja winkte ab. „Frau Faatz? Die hat ihr vorletztes Jahr vor der Pensionierung, und ist mit solchen Szenen überfordert. Stefanie ist bei ihr, um sie abzulenken.“
Wir erhoben uns von der Bank und gingen Richtung Neubau, um uns dort in die Pausenhalle zu setzen. „Sie sind gefährlich.“, erklärte Anja. „Besser, man geht ihnen aus dem Weg. Wenn du ihnen begegnest, ignoriere sie, schau sie nicht zu lange an, oder lächle freundlich.“
„Mmmm“. Diese Brutalität, mit einer Härte, wie ich sie weder im Fernsehen noch im wirklichen Leben bei einer Frau, geschweige denn einem Mädchen gesehen hatte, und wie ich sie Sechstklässlerinnen schon gar nicht zugetraut hätte. Ich fühlte mich schäbig, weil ich unfähig war, auch nur eine Hand hilfreich zu rühren. Aber auch ich wollte eben einfach nur meinen Schulalltag bewältigen. Und rechnete auch nicht wirklich damit, je in solch eine Situation zu kommen.
Selbstredend fand ich die Woche Herbstferien viel zu kurz. Noch zwei Monate bis zu den Weihnachtsferien. Weihnachten, in unserer Familie immer ein schönes Fest. Mein Onkel und meine Tante kamen. Meine Oma gestaltete es immer sehr liebevoll. Sonst gab es nichts, auf das ich mich freute.
Sonniger November 1993
Anfang November nahm die Sonne alle Kraft zusammen. Es war einer dieser milden Tage, wie sie manchmal im Herbst vorkommen. Seit Tagen war ich ungewohnt optimistisch.
Anja musste an diesem Donnerstag in der Mittagspause im „Stillen Klassenraum“ Übungsaufgaben in Mathe erledigen. Während ich Kreuzworträtsel löste, summte ich „Katzenklo, Katzenklo, ja das macht die Katze froh,…“ vor mich hin. Anja, gereizt wegen der kniffeligen Aufgaben, warf ihren Füller aufs Heft. „Ich hoffe, ich muss das nicht die ganze Pause hören.“
„Tut mir leid, ist ein Ohrwurm, seit ich gestern Abend im Kino den neuen Film mit Helge Schneider gesehen habe… Willst du eine saubere Katze haben, musst du im Geschäft nach Katzenklo fragen…“
Wie so oft, das Mädchen mit der Igelfrisur allein an einem Gruppentisch. Ab und zu verzog sie etwas die Miene, arbeitete dann wieder konzentriert vor sich hin. Anja stöhnte und klappte ihr Mathebuch zu. „Ich kapiere null, ich gebe es auf.“
Wir lösten gemeinsam Kreuzworträtsel. Als sich die Pause dem Ende neigte, beschloss ich, den dunkelhäutigen Jungen genauer anzusehen. Vielleicht geht der, dachte ich.
Er stand im Flur neben den Jackenhaken, als Anja und ich die Treppe runtergingen. Als ich gerade zu ihm schaute, drehte er sich um und lächelte mich an; seine schwarze Augen betrachteten mich voller Interesse. Er hatte wunderschöne volle Lippen, makellos weiße Zähne und runde, rote Wangen. Dies alles registrierte ich in diesen Sekunden, die mein Leben veränderten.
„Ela, was ist los“, drang Anjas Stimme wie von weit entfernt in mein Bewusstsein. Erst da merkte ich, dass ich angewurzelt auf der halben Treppe stand, unfähig mich zu bewegen.
„Was ist los mit dir?“ Anja schaute mich mit offenem Mund an. Seltsam, ich hatte gar nicht mitbekommen, wie wir den Flur verlassen hatten. Der Schulhof schwankte wie ein Schiff bei hohem Seegang unter meinen Füßen. Anja rüttelte mich. „Ela, ist vorhin der Blitz in dich eingeschlagen, oder warum bist du plötzlich wie angewachsen auf der Treppe stehen geblieben? Und was ist jetzt mit dir los?“ Meine Wangen wurden heiß. Ich schüttelte den Kopf. „Ach nichts.“ Zu entrückt war ich. Was auch immer gerade mit mir passiert war – es war unbeschreiblich! Ein letzter Blick in den Flur. Der unglaublich schöne Junge war verschwunden. Dann schüttelte ich mich, um zu mir zu finden. Ich musste jetzt wirklich los, wenn ich nicht zu spät zum Kunstunterricht kommen wollte.
Im Kunstraum ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen und wischte meine feuchten Hände an meiner Jeans ab. „Du bist knallrot im Gesicht, ist dir nicht gut?“, fragte mich meine Sitznachbarin Ramona. Jetzt bemerkte ich, dass mir mein Herz fast aus der Brust sprang. „Nein, ich glaube, es geht mir gerade sehr gut!“, erklärte ich, als ich wieder Luft holen konnte.
wie gesagt, ich veweifle an dem Buchanfang und würde ihn am liebsten schnell hinter mir haben, um mich dem wichtigerem Thema Yallo zu widmen, der den Hauptteil des Buches einnimmt.
Mustafa ist insofern wichtig, um Elas späteres Verhalten später besser nachvollziehen zu können.
Du verstehst es sehr gut, durch Beobachtung und ausführliche Beschreibung des Wahrgenommenen Atmosphäre zu schaffen. Das ist wichtig, denn Leser sollen mitfühlen und miterleben, um in die Story gezogen zu werden.
Für mich ist das hier allerdings viel zu viel des Guten! In der erschlagenden Fülle ermüdet es, da all das so oder ähnlich alle Urlauber erleben und die Aneinanderreihung des später in der Schule und zuhause Erlebten keine gewünschte Sogwirkung erzielen. Für einen Aufsatz ‚Urlaubsimpressionen‘ oder ein persönliches Tagebuch prima, aber du willst Leser doch auf eine persönliche Reise (zu dir?) mitnehmen und da wünsche ich mir Verdichtung oder außergewöhnliche Ereignisse. Was unterscheidet deine Reise damals von den unzähligen, die Leser erlebt haben? Was empfindet die Erzählerin, was macht das Erlebte mit ihr?
Wenn du selbst mit dem Einstieg haderst und dich lieber Yallo widmen würdest, lege den Anfang einfach auf Eis und schreibe zunächst den Hauptteil. Strukturiere und definiere zuvor die Spannungskurve und verlier dich beim Rohentwurf noch nicht in Einzelheiten. Sie können bei den zig folgenden Überarbeitungen hinzugefügt werden. Du wirst irgendwann selber merken, dass eine Erzählung in Echtzeit (den Eindruck erweckt der Einstieg) zehn Bände erfordern würde.
Doch wie heißt es: Jeder Jeck ist anders! Das ist nur der Eindruck einer Siebzigjährigen, die selbst im nur Trüben fischt und sich vielleicht besser mit Kritik zurückhalten sollte (was ich sonst eigentlich auch mache). Denn egal, was ich, egal, was andere sagen, du musst dein Tempo und deinen Stil finden, denn niemand von uns weiß, wohin deine Reise geht. Also, bitte nicht von mir demoralisieren lassen und auf jeden Fall weitermachen!!
Ich hab jetzt nur den Anfang gelesen. Der „Infodump“ über die Freundinnen Nadine und Sabrina sollte meiner Meinung nach an dieser Stelle ganz raus. Der Leser ist gerade mit Ela auf einem Basar in der Türkei, diese Freundinnen sind weit weg in Deutschland. Dass Sabrinas (und nicht Nadines) Eltern mit Elas Eltern befreundet sind, braucht der Leser an dieser Stelle noch nicht zu wissen, um die Handlung zu verstehen. Und es ermüdet beim Lesen, wenn man solche Informationen für später im Hinterkopf behalten soll.
Erst zu dem Zeitpunkt, an dem eine Sabrina in der aktuellen Handlung eine Rolle spielt, solltest du den Leser mit ihr bekanntmachen. Und dann fände ich Sabrinas Worte und Taten, ihr Verhalten gegenüber Ela, interessanter als Berufe, finanzielle Situation und Freundschaften von Sabrinas Eltern.
Ich habe mir jetzt mal die Mühe gemacht, die tatsächliche Handlung es ersten Tages zu notieren. Also die Action. Was passiert gerade:
- Ela kauft im türkischen Basar Früchtetee und Honig
- fährt im Bus zum Flughafen
- sucht flüchtig nach einem vierblättrigen Kleeblatt, findet keins
- sitzt im Flugzeug. Es gibt beim Flug Turbulenzen, die der Protagonistin keine Angst machen.
- Gepäckausgabe, Fußweg zum Parkplatz, Autofahrt zu den Großeltern
- (wörtliches Zitat, ungekürzt:) Koffer auspacken, die Mitbringsel vom Basar verteilen – türkischer Früchtetee, Nüsse, Tee, sogar einen kleinen Teppich. Gemeinsames Abendessen mit Oma und Opa, ehe sich Mama und Papa verabschiedeten
- hält sich allein in ihrem Zimmer auf, duscht, geht ins Bett
Irgendwie passiert da auch nicht sooo viel Spannendes, oder?
Die Suche nach einem vierblättrigen Kleeblatt, das Auspacken eines Koffers, im Auto über die Theodor-Heuss-Brücke fahren, Mitbringsel verteilen - so etwas könnte interessant zu lesen sein, wenn damit Emotionen verbunden wären.
Als emotionslose Informationen sind über eine Brücke fahren, Kofferauspacken und duschen halt nicht besonders interessant, deshalb könnten solche Infos meiner Meinung nach weggelassen werden.
Vorab ein großes Dankeschön für Eure Geduld und Ausdauer!
Was glaubt ihr, wie oft ich mir über die Dinge, wie „über die Brücke fahren“, oder „Koffer auspacken“ „Basar-Besuch“ Gedanken mache. Ich hatte es mehrmals geschrieben, gelöscht, wieder reingeschrieben.
Auch für mich, bzw. der Protagonistin Ela waren sie im Moment des Erlebens simpel und wahrlich nichts Besonderes – Und sie hätte sie 30 Jahre später sicherlich längst vergessen, wenn in den Monaten und Jahren danach in ihrem Leben nicht so viel passiert wäre.
Aber noch ist sie in dem Moment ein glückliches Mädchen, hat eine normale Kindheit. Wer das ganze Manuskript lesen würde, wüsste, dass in Alanya bereits dunkle Wolken am (Familien-) Himmel aufziehen, die Ela noch nicht wahrnimmt.
Nach ihrem Hochgefühl mit Yallo, ihrer ersten großen Liebe, (November 1993 – Sommer 1994) folgt der Absturz. Neid, Eifersucht… Ein Todesfall in Elas Familie, was das familiäre Gefüge auseinander sprengt. Die Oma hält die Familie zusammen, macht allerdings keinen Hehl daraus, dass Yallo ihr suspekt ist.
Und Elas und Yallos Umfeld tun alles, um das junge Paar auseinander zu reißen. Es werden böse Intrigen ausgedacht.
All das ahnt Ela noch nicht. Das sanfte Klicken, wie der Kofferwagen vor dem Terminal in die anderen Gepäckwagen einrastet, steht als Geräusch für die aufregende Zeit danach.
Den Rückflug habe ich detailliert beschrieben, weil die Turbulenzen metaphorisch für die aufkommenden Turbulenzen in Elas Leben stehen.
Mein erster Rohentwurf fing sogar erst bei den Konflikten an: Der Todesfall im August 1994, der Zusammenbruch von Elas Mama, Terror in der Schule, wie der Herbst 1994 sehr schlecht läuft. Danach war mir das zu wenig, ich fing an, immer weiter auszubauen, fand das „Davor“ zu wichtig, um es unterm Tisch fallen zu lassen: Die schöne Zeit, die Ela hat, nachdem sie sich in Yallo verliebt. Zuhause die vielen Partys. Ihre Eltern empfangen viel Besuch und unternehmen viel mit Ela. Kurz: eine heile Welt. Ich bin da echt im Konflikt, weil mir diese erste schöne Zeit nach dem Verlieben so wertvoll ist.
Beim Durchlesen fällt mir aber auf, dass Leser der Teil langweilen würde, sie bis zur „spannenden Phase“ das Buch längst weglegen würden. Bisschen spannend gemacht wird die „heile Welt“, dadurch, dass Shirley aus Yallos Klasse Ela abpasst und bedroht. Dass Ela vor den Sommerferien Drohzettel in ihrer Schultasche findet. Und dass es ihrem Onkel immer schlechter geht.
In den Sommerferien 1994, tauchen Yallos Klassenkameradinnen in dem Kino auf, in dem Ela einen Ferienjob macht und drohen ihr da offen. Sie beschatten sie in der Freizeit und terrorisieren sie mit Anrufen. Ela muss sechs Wochen ohne Yallo auskommen, da er ins Ferienlager geschickt wird, zudem weit von Elas Wohnort wohnt. Auch ihre Freundinnen warnen Ela, dass an Yallo etwas komisch ist. Ela mag ihre Liebe ihren Eltern noch nicht anvertrauen, da sie ihr einen Freund zu haben, verbieten würden…
Alternativ könnte ich mir vorstellen, direkt im Konflikt zu beginnen, und die schöne Zeit davor, portionsweise, in Rückblenden, einzubauen.
Mein allererster Entwurf begann damit, dass Ela im August 1994 bei den Schularbeiten sitzt, in der Diele das Telefon klingelt und ihre Mutter drangeht, im nächsten Moment mit einem Aufschrei zusammenbricht, und als Ela in die Diele stürzt, wimmert Mama, dass der Onkel gestorben ist. Ela kann das nicht glauben, es war ihm doch zwischenzeitlich besser gegangen…