Hallo, ich schreibe gerade an einem Jungendroman, der in den 90er Jahren spielt, und stelle ich die Einleitung zu dem Buch vor: (der Name Yixiong ist schwierig auszusprechen, aber später im Roman wird er kurz „Yallo“ gerufen.)
Diese Geschichte beruht auf Begebenheit nach der Erzählung einer Jugendlichen, die ihre erste Liebe entdeckt, bisher nur die Sonnenseite des Lebens kannte, und plötzlich mit einer neuen Realität konfrontiert wird.
Auf Grund des Persönlichkeitsrechts wurden manche Details, Ereignisse und auch alle Namen der Personen, Orte und Daten aus Datenschutzgründen frei erfunden.
Oktober 2023 Cevennen, Frankreich
Die Nacht in den Cevennen war erfüllt von einer symphonischen Ruhe, die nur die Natur bieten kann. Während ich den dunklen Pfad hinabging, hörte ich das leise Rascheln der Blätter. Ab und zu durchbrach das Zirpen der Grillen die Stille. In der Ferne konnte ich das gelegentliche Rufen einer Eule hören, was der Nacht eine geheimnisvolle Atmosphäre verlieh. Manchmal hörte ich das leise Plätschern eines Baches, ein sanftes, beruhigendes Geräusch, das die Stille der Nacht ergänzte.
Der Weg vom Restaurant war dunkel und steil, es gab keine Laternen, doch ich verzichtete darauf, eine Taschenlampe einzuschalten. Über mir spannte sich der Himmel wie ein schwarzes Samttuch, durchzogen vom hellen Streifen der Milchstraße, der sich wie ein funkelndes Band über den Nachthimmel zog. Ich hatte versucht, aus einem anderen Ferienhaus, das leider verschlossen war, ein Teleskop zu holen, um die Sterne noch näher betrachten zu können. Doch auch ohne Teleskop war der Anblick überwältigend. Die Sterne funkelten so hell und klar, dass es schien, als könnte man sie mit den Händen greifen.
Während ich mit meinen Mitwanderern den Sternenhimmel betrachtete, überkam mich eine Welle der Erinnerung: Plötzlich befand ich mich wieder knapp dreißig Jahre in der Vergangenheit. Ich dachte an Yixiong, den Indianerjungen, der das Sternegucken liebte. Ich erinnerte mich daran, wie er mich einst beim Sternebeobachten an seine Brust gedrückt hielt. Er erzählte mir von den Sternen in seiner Heimat Venezuela, von den Yanomami-Indianern und ihren Sternbildern. Er sprach von den Feiern bei Mondlicht, bei denen die Yanomami tanzten und sangen. Die Yanomami-Indianer haben eine tief verwurzelte und spirituelle Verbindung zum Sternenhimmel. Für sie sind die Sterne nicht nur Himmelskörper, sondern auch wichtige Bestandteile ihrer Mythen und Geschichten. Sie haben verschiedene Sternbilder, die oft mit Tieren und Naturphänomenen verbunden sind. Diese Sternbilder spielen eine zentrale Rolle in ihren Erzählungen und Ritualen. Bestimmte Sternkonstellationen signalisieren den Beginn der Regenzeit oder der Trockenzeit, was für ihre landwirtschaftlichen Aktivitäten von großer Bedeutung ist. Während ihrer nächtlichen Rituale und Feste, die oft bei Vollmond stattfinden, erzählen die Ältesten Geschichten über die Sterne und ihre Bedeutung.
Es war mir, als sei es erst gestern passiert, wie er mich noch im Januar 1995 in seine Arme zog, als wir schlotternd vor Kälte auf dem Feldweg standen, neben uns das Bresser-Teleskop. Diese Erinnerungen erfüllten mich mit einer bittersüßen Sehnsucht. Der Sternenhimmel über Südfrankreich schien plötzlich nicht mehr nur ein wunderschönes Naturphänomen zu sein, sondern ein Fenster in die Vergangenheit, zu einer Zeit, die von der ersten Liebe geprägt war.
Als wir alle in den Cevennen mit unseren Ferngläsern im Gras lagen, war es kurz, als läge Yixiong neben mir. Sein vage vom Mondschein angeleuchtetes Gesicht von seinen schwarzen Haaren umrahmt, von seinen Augen war nur das Weiß zu erkennen. Ja, Yixiong, war blöd gelaufen damals, nicht wahr? Wir konnten uns ja nicht in ein Raumschiff setzen und in eine andere Galaxie fliegen, sondern mussten in der Welt bleiben, in der man uns voneinander trennen wollte. Von 1993 bis 1995 hatten wir gekämpft, am Ende verloren. Heute erscheint es mir, als sei ich schnell über dich hinweg gewesen. Klar, als Dreizehnjährige trauert man nicht wie eine Mittvierzigerin. Aber langfristig habe ich immer wieder an dich gedacht, oft unbewusst. Du bist Teil meiner Vergangenheit.
Damals fragte ich Yixiong, warum manche Sterne funkeln. Ich sagte, das seien Kinder, die noch nicht geboren sind und zu uns herabblicken. Darauf zog er mich ganz fest in seine Arme: „Das sind die Seelen unserer Vorfahren, die über uns wachen.“ Im Schein des Mondlichts sah ich Tränen in seinen schwarzen Augen glitzern. Wir umklammerten uns, dabei strichen seine langen Fingernägel über meinen Rücken, ich vergrub mein Gesicht in seinen schwarzen Haarschopf. „Wir müssen zusammenhalten, hörst du?“, sagte ich. „Wir dürfen nicht zulassen, noch einmal voneinander getrennt zu werden.“
Natürlich war der einsame Feldweg vor den Toren der Kleinstadt kein Vergleich zu Yixiongs Heimat, die er sehr vermisste. Es fehlten die schwüle Luftfeuchtigkeit und die Rufe tropischer Vögel. Stattdessen thronte der grün angestrahlte, quadratische Bergfried gut sichtbar über der Kleinstadt und sah unbeteiligt zu uns herüber. Auf der Landstraße fuhr ab und zu ein Auto vorbei.
„Ich könnte die ganze Nacht hier bleiben.“, meinte Yixiong. Ich stupste seine Nase. „Wir haben morgen Schule.“ Ich klappte das Teleskop zusammen. „Und Hausaufgaben habe ich auch noch.“
Plötzlich kamen immer mehr Erinnerungen. Zum Beispiel, wie Yixiong neben mir im Mathematikunterricht saß und unter der Bank meinen Fuß drückte, wenn ich Ärger wegen nicht gemachter Hausaufgaben zu erwarten hatte. Wenn Herr Jürgens sich zur Tafel drehte, griff Yixiong meine Hand und streichelte sanft mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Diese kleinen Gesten gaben mir immer ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.
Während ich in Erinnerungen schwelgte, fiel mir spontan der 90er Jahre Hit von Haddaway “Life” ein. Der Song, der davon handelt, den Alltag loszulassen und das Leben zu genießen, passte perfekt zu dem Wanderurlaub in den Cevennen. Nur Arbeit ist in deinem Kopf, das Leben ist so schnelllebig - hier konnte man die Seele baumeln lassen. Zudem war besagter Song gerade in den Charts, als ich Yixiong in der Schule kennenlernte.
Nach einer abschließenden Weinrunde auf der Terrasse des Ferienhauses, später auf meinem Zimmer, klickte mein Daumen auf das Cloud-Symbol. Das einzige Foto, das ich von ihm besitze, das Portrait, das Christin damals im Kunstunterricht gezeichnet hatte, lebensecht. Kurz lachte mich der vierzehnjährige Yixiong an, dann presste ich mein Smartphone auf die Brust, mein Herz klopfte langsam, aber kräftig.
Beim gemeinsamen Frühstück mit der Wandergruppe am nächsten Morgen – wir hatten die Delikatessen Frankreichs auf der großen Tafel angerichtet. Von jedem war etwas da. Es ging mir so gut. So gut, wie schon lange nicht mehr. Das war mit ein Grund, warum ich mich zurück in die Zeit versetzt fühlte, als das Leben einfach nur leicht und Freude war.
Mir gegenüber war stets ein Stuhl frei, nun hatte Yixiong ihn für sich beansprucht. Über den Tisch hinweg beobachteten mich seine schrägstehenden, schwarzen Augen, die die Sonne Venezuelas gespeichert hatten, ich hörte sein heiseres Lachen. Als wir später damit beschäftigt waren, den Tisch abzuräumen, ich Geschirr in die Spülmaschine räumte, spürte ich genau seine Augen in meinem Rücken, und fühlte mich in jene Zeit zurückversetzt, als ich mich in einem Film wähnte. Als hätte ein Regisseur mit Kamera und Mikrofon bewaffnet jede Szene von uns beiden aufgezeichnet. Und ich selbst stand plötzlich als Dreizehnjährige in dieser Ferienhausküche. Mit Igel-Kurzhaarschnitt und einem T-Shirt mit Jurassic-Park-Logo…
Die Wanderung bei dreißig Grad durch das Urgestein der Cevennen erforderte einen sicheren Tritt. Yixiong und ich hatten so manches Mal einen falschen Tritt gewagt oder eine vermeintlich gute Wanderroute herausgesucht, die in einer Sackgasse endete und uns zurückwarf.
Für den heutigen Wandertag stand die Tarn-Schlucht zwischen Florac und Le Rozier an. Nach einem steilen Aufstieg wurde unsere Wandergruppe mit einem fantastischen Ausblick über die Schlucht belohnt. Vor unseren Füßen ging es steil bergab. Plötzlich stand Yixiong auf der anderen Seite der Schlucht. Die Hände in die Hüften gestemmt, seine Augen blitzten wütend, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Wie war er auf die andere Seite gekommen? Die Antwort ist einfach: im Februar 1995, spätestens Anfang März hatte sich eine tiefe Schlucht zwischen uns aufgetan hat, selbst wenn wir nebeneinander auf der Wohnzimmercouch saßen. Ich hörte wieder das Geräusch einer zuschlagenden Wohnungstür, das Klackern von Kofferrollen im Hausflur, das dumpfe Zuschlagen der Haustür. Dann Stille. Als ich erneut auf die andere Seite der Schlucht blickte, war der Junge verschwunden und tauchte auch für den restlichen Cevennen-Urlaub nicht mehr auf – ebenso, wie er die vergangenen drei Jahrzehnte nie in dieser Form aufgetaucht war. Zu tief saß das schlechte Ende.