Was denkt ihr über Sensitivity reader?

Ich stehe dieser Thematik offen gegenüber. In vielen Gesprächen bin ich überrascht worden von den Erfahrungen selbst betroffener Menschen. Und manche entwickeln durch sich wiederholende Erlebnisse dann auch Empfindlichkeiten, die andere schnell mal zur Seite wischen mit: „Ist nicht so ernst gemeint.“ oder „Sei nicht so empfindlich.“ oder „Mein Gott, bald darf man ja garnichts mehr sagen.“

Je nach Leserschaft und Thematik kann ich mir ein solches sensitives Gegenlesen sehr gut vorstellen. Es bleibt dann immer noch die Möglichkeit, als Autor etwas an- oder abzulehnen. Es gibt aber Sichtweisen, auf die Nichtbetroffene nie kommen würden, weil diese Erfahrungswelt so fremd erscheint.

Beispiele:

  • Wer nie gestalkt wurde, versteht die Dimension bei vielen Betroffenen kaum bis gar nicht.
  • Wer keinen Überfall an der Kasse erlebt hat, vermag sich u.U. kaum vorzustellen, wie traumatisch so ein Ereignis sein kann.
  • Wer keine körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtigung kennt, findet selten einen Grund, warum das Wort „Behinderung“ mal ok sein soll und mal nicht.
  • Wer noch jung ist, ist von manchen Reaktionen überrascht, wenn von „Alten“ oder „Senioren“ gesprochen wird.
  • Es gibt auch „Schubladen“ für Frauen, Männer oder diverse Menschen, die weh tun können.

Was ich sagen will: es kommt auf den jeweiligen Autoren in Person und auf die konkrete Leserschaft an, ob sensitives Gegenlesen von Vorteil sein kann oder ein „Zuviel des Guten“ ist. Es gibt für mich kein eindeutig absolut zu setzendes Pro und Contra. Öffentlichkeit ohne Gegenrede gab es nie und gibt es nicht. Das ist auch hier in der Community so. Meistens ist das auch in Ordnung. Mir sind selbst nur absolut gesetzte Positionen eher „unheimlich“.

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Das Problem ist, dass deine Beispielliste unendlich fortgesetzt werden könnte. Ich habe schon mal Einbrecher in unserem Haus auf frischer Tat ertappt. Zwei von mehreren Personen standen unter einem Meter „Entfernung“ vor mir. Soll ich jetzt bei jeder Geschichte, die sich mit einem Einbrecher befasst, aufschreien, weil ich ein solches Erlebnis hatte?
Ich hatte schon mehrere Verkehrsunfälle, bei denen ich verletzt worden bin. Soll ich jetzt bei jeder Geschichte mit Verkehrsunfällen aufschreien?
Ich bin auf der Arbeit über zwei Jahre gemobbt worden, von Chef und Kolleginnen gleichermaßen. Ich bin im Reitstall über mehrere Monate vom Reitstallbesitzer und dessen Anhängern gemobbt worden. Das ging so weit, dass einigen Einstallern ein Redeverbot mit mir verordnet worden ist. Soll ich jetzt bei jeder Mobbing-Geschichte aufschreien?
Ich bin … oh, mir würden noch so einige Sachen einfallen und ich bin immerhin nur eine einzige Person.
Was ich damit sagen will: Es wird kaum einen Menschen auf der Welt geben, dem nicht irgendwann irgendwo schon einmal etwas passiert ist, das an seiner Seele nagt. Rein theoretisch müsste ich alle Geschichten, die damit in Zusammenhang stehen und nicht im Sinne desjenigen, der es erlebt hat sind oder von diesem geprüft wurden, enthärten. Das geht ganz einfach nicht, denn dann sind wir wieder beim Schweigen, wie ich es oben schon einmal erwähnt habe.

Hier startet meine Geschichte. Und Ende.

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Es kommt nicht darauf an, ob jemand schonmal irgendwas erlebt hat.
Es geht darum, ob dem z. B. Gemobbten in der Mobbingstory noch zusätzlich vom Autor eins reingewürgt wird, ohne dass er es beabsichtigt hat. Darauf schaut ein guter SRer.

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Aus der Perspektive eines Autors ist Sensitivity Reading der Tod der Belletristik. Wer sein Buch bei einem Verlag veröffentlicht, braucht in erster Linie einen guten Lektor, der das Buch auf Sprache, Plausibilität, Inhalt etc. prüft.

Verlage entscheiden schon selbst, welches Buch zu Ihnen passt. Piper veröffentlicht andere Bücher als Suhrkamp und C.H.Beck andere als Bastei Lübbe.

Bücher wie Lolita von Nabokov oder Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell wären unter der Knute von Sensitive Readern heute undenkbar…

Ich zitiere aus der ZEIT vom 26.01.23:

Was ist ein Sensitivity-Reader?

Das englische Wort »sensitivity« bedeutet im Deutschen Empfindlichkeit. Sensitivity- Reader prüfen Bücher und Drehbücher, um Diskriminierung zu vermeiden. Erfunden wurde der Beruf im Jahr 2016 in den USA. Mehr als hundert
Menschen arbeiten Schätzungen zufolge in Deutschland als Sensitivity-Reader.

Eine Zusammenarbeit mit Sensitivity-Readern findet unserer Umfrage zufolge vor allem bei Werken statt, in denen es
um marginalisierte Gruppen geht, People of Color etwa. Oder wenn ein Autor oder eine Lektorin es erbittet, weil
sie sich bei einem Thema nicht sicher fühlt. Immer, betont Penguin Random House, finde alles in enger Abstimmung
mit Autorinnen und Autoren statt.
Recherche: Stella Schalamon

" Wokeness heisst die gesteigerte Form der Political Correctness: Sei wach, richte über andere, und fühle dich gut dabei" (NZZ vom 20.01.20)

Würden sämtliche Werke der Weltliteratur von Sensitivity-Readern neu gegengelesen werden, wäre das im übertragenen Sinn die größte Bücherverbrennung aller Zeiten!

Ich frage mich, was haben die Verlage die vergangenen 70 Jahre falsch gemacht, dass es heute Sensitivity-Reader bedarf?

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Niemand sieht den Tod der Kunst darin, dass ein Lektor an einem Text herumwerkelt.
SR ist nur ein Lektorat mehr. Wieder: Es muss jemand sein, der sich mit Sprache auskennt und mit einem Autor kommunizieren kann. Irgendwer mit „Befindlichkeiten“ taugt dazu nicht.
Dass sich jetzt Auswüchse in Form von Wortaustauschen in Klassikern ergeben, ist natürlich bedauerlich. Aber gerade Schriftsteller sollten in der Lage sein, zu differenzieren, ob sie an einen Profi mit Kenntnis oder einen Amateur mit „besten Absichten“ geraten sind.
Man arbeitet ja auch nicht mit jedem vorgeschlagenem Lektor zusammen.

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Du meinst sicher Zensurbehörde?
Beispiel Lolita: lies doch bitte die Entstehungsgeschichte des Romans hier bei Wikipedia nach und entscheide selbst, ob es diesen Roman heute unter diesem zusätzlichen Lektorat gäbe.

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„Was wäre, wenn“ hilft überhaupt nicht weiter.

Oh doch, Wehret den Anfängen!

Wenn ich annähme, dass ein Verlag das Werk als zu skandalös ablehnte, dann würde ich sagen, käme es im SP heraus, würde ein Bestseller und die Verlage würden sich um das Skript nachträglich reißen.

Wer beurteilt es, was reinwürgen bedeutet? Das kann man sachlich überhaupt nicht beurteilen. Ansonsten: siehe meine obigen Ausführungen.

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Dafür kommt ja die Rückfrage vom SRer. „Die Formulierung klingt jetzt so, als ob (…). Soll das so oder ersetzt werden durch (…)“
So arbeitet man mit einem guten SRer. Es ist wie mit einem üblichen Lektor, der nicht vorschreibt, sondern bestenfalls vorschlägt.

Dann kann ich auch gleich den nehmen.

Übrigens, der ZEIT-Artikel im Zitat oben geht ja eigentlich weiter. Die Reporter konfrontierten den 27jährigen Sensitivity-Reader mit einem Lolita-Zitat:

„Schaefers hat Lolita nie gelesen, darum will er nichts riskieren. Nur so viel: Eine bestimmte Erzählperspektive könne eine bestimmte Sprache motivieren. Oder wie im Fall von Lolita den Blick eines gierigen Mannes auf ein zu junges Mädchen. Er sagt: Er bräuchte mehr Zeit, um hier etwas zu empfehlen (Hervorhebung von mir) , zumal er es ja sonst mit Neuerscheinungen, nicht mit Klassikern der Weltliteratur zu tun hat. Experiment beendet.“

Man erkennt die Unsicherheit und Unerfahrenheit dieses neuen Lektors. Gruselig!

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Die Art der Zusammenarbeit ist wie mit einem Nicht-SR-Lektor.
Verzeih bitte, dass ich diese Spezifizierung vergaß.

Jeder neue Lektor ist unerfahren.
Ich finde seine Zurückhaltung und Nicht-Besserwisserei gegenüber Werken aus anderen gesellschaftlichen Kontexten eher begrüßenswert.
Von daher: Experiment gelungen. Der Mann gehört zu denen, die sich nicht anmaßen, zurückwirkend alles „besser zu wissen“. Nicht einmal im Auftrag der ZEIT.

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SR maßen sich an, zu beurteilen, ob und wem ich etwas beabsichtigt oder unbeabsichtigt hereinwürge. Das liegt in der Natur der Sache, würde ich meinen. Denn ohne Beurteilung kein Ergebnis.

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Nein, vermutlich ist ihm nur bekannt, welchen Shitstorm es auslöst, wenn man Klassiker absurd abändert. Bei den Neuerscheinungen gibt es die Gefahr für ihn nicht - da hätte er wohl sofort eine Empfehlung gehabt.

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Ich verstehe nicht, warum es so kompliziert sein muss. Ich schreibe einen Roman und der beinhaltet etwas, das jemand anders stören könnte. Warum legt er dann meinen Roman nicht einfach zur Seite und kauft nie wieder etwas von mir?

Nein, SR beurteilen das eben gerade nicht, sie fragen nach, ob einem das aufgefallen ist, dass dort sprachlich noch mehr mitschwingen könnte. Die Entscheidung bleibt bei Dir.
Dein Vorwurf würde doch auch bei jedem anderen Lektorat fassen: Er maßt sich an, zu beurteilen, ob ich (z. B.) ein unnützes Adjektiv zuviel verwendet habe.

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Aus dem Artikel das abschließende Zitat:

»Natürlich
fallen gewisse Dinge durch Sensitivity-
Reading unter den Tisch.« Was aber wegfalle,
sei ja nicht Kreativität, sondern Verletzungen.
»Und mit seiner Kunst will man doch niemandem
wehtun.«
Doch, möchte man erwidern. Es gibt
schon Kunst, die das in Kauf nimmt, vielleicht
sogar: in Kauf nehmen muss. Aber für Schaefers
soll Kunst vernünftig sein (Hervorhebung durch mich), niemanden
ausschließen. Er bürdet ihr damit einen gesellschaftlichen
Zweck auf.
Ist Marius Schaefers also am Ende nicht
doch so etwas wie ein Zensor, dessen bloße
Präsenz schon bewirkt, dass andere höllisch
aufpassen oder auch: sich selbst zensieren?
Und überhaupt: Wohin soll das denn führen?
Schaefers kennt die Empörung hinter dieser
Frage, und er antwortet darauf so besonnen,
wie er einen anblickt: »Im Idealfall dazu,
dass weniger Menschen diskriminiert, ausgeschlossen
und unterdrückt werden.« Er wünsche
sich eigentlich nur Empathie, sagt er.

Ich bleibe dabei: Wir brauchen kein weiteres Glawlit

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