Ein einziges Mal hatte ich Zeit, um an der Uni ein Seminar für kreatives Schreiben zu besuchen. Eine Aufgabe war, das Wort „Halle“ in den ersten Satz und das Wort „Nacht“ in den letzten einzubauen. Hier ist das Ergebnis (und ich habe nur eine einzige Fußnote verwendet
):
Der Holzlängenhai* begutachtete die sorgfältig aufgeschichteten Holzscheite in der Halle. Sie würden nun hier lagern, bis sie ordentlich durchgetrocknet wären und in den Verkauf gingen. Für den Holzlängenhai war es ein Fest zwischen den Stapeln hindurch zu schwimmen. Ab und zu griff er nach einem Scheit und begutachtete seine Länge. Gleiches kam zu gleichem. Kein 30-Zentimeter-Holzscheit steckte in einem 28-Zentimeter-Stapel. Er war stolz auf seine Arbeit, zufrieden mit seinem Werk. Aber er wusste auch, dass irgendwann die Zeit des Abschieds kommen würde. Bei dem Gedanken allein wurde ihm das Herz schwer. So verließ er die Halle und schwamm zur Bäckereifiliale beim nächsten Edeka. Er bestellte einen Käsekuchen und einen Milchkaffee, balancierte beides zu einem Tischchen und setzte sich nieder. Während er aß und trank, in dieser Reihenfolge, denn erst wenn der Käsekuchen vertilgt war, durfte der Kaffee getrunken werden, sinnierte er über die Entwicklung der Holzpreise. Ein weiteres Feld, für das sich Holzlängenhaie interessieren. Das Vibrieren seines Telefons unterbrach seine kontemplativen Gedanken.
„Ja? Hallo?“
„Kommst du heute?“
„Äh. Wohin?“
„Du hast doch nicht etwa das Ritual vergessen!“
Empörung rauschte dem Holzlängenhai aus dem Handy entgegen. Nun, er hatte den Termin vergessen. Das kann ja mal vorkommen. Es gibt schließlich auch Leute, die Weihnachten vergessen oder den Hochzeitstag. Aber das Ritual hatte er natürlich nicht vergessen. Nur den Termin.
Wie bereits erwähnt – falls Sie die Fußnote nicht übersehen haben – ist das ursprüngliche Habitat der Holzlängenhaie der transsylvanische Wald. Unter normalen Umständen sind Holzlängenhaie strikte Einzelgänger. Aber aufgrund des Papierhungers westlicher Zivilisationen fraßen sich die Straßen der Holzzulieferer immer tiefer in die unberührte Natur. Nur jene unter den Holzlängenhaien, die das Glück hatten in einem unzugänglichen Gebiet zu leben, an zu steilen Hängen oder in abgeschnittenen Tälern, konnten bleiben. Die anderen waren gezwungen ihre Sachen zu packen und in die besiedelte Welt hinaus zu schwimmen. Es war ein hartes Leben. Wo gab es schon noch große Wälder auf dieser Welt? Von Straßen durchzogen, zersiedelt – und wenn sich irgendwo ein friedliches Stückchen Wald fand, dann stand in seiner Mitte ein Forsthaus mit einem fröhlichen Förster, der die Bäume fällte und auf alles schoss, was sich zu schnell bewegte. Gut, es gab viele Holzstapel. Und darum ließen sich einige Holzlängenhaie doch nieder. Andere waren gezwungen ihr einsiedlerisches Leben aufzugeben und einen Job in der Holzindustrie anzunehmen.
Die Vertreibung aus den Wäldern hatte tiefgreifende Spuren in der Lebensweise der Holzlängenhaie hinterlassen. Aber nach wie vor, wie schon seit Anbeginn der Zeit, trafen sie sich, wenn der Hundsstern das erste Mal im Jahr am Himmel aufgeht zu dem Ritual. Keiner mehr konnte seine Bedeutung erklären. Doch würde die Welt untergehen, wenn das Ritual nicht ausgeführt werden würde.
So kamen sie nach und nach in den heiligen Hain, bis es Zeit wurde. Sie formierten einen Kreis und als der letzte Hai das Rund geschlossen hatte, schwoll ein tiefes Brummen an, dass die Würde der Handlung untermalte. Als der Hundsstern aufging, erschien in ihrer Mitte ein glühendes Holzscheit. Der Älteste und Würdigste (er hatte übrigens auch den längsten Bart) rief die magische Holzlänge.
„30 Zentimeter!“
Das Holzscheit verglomm, Asche rieselte zu Boden. Für jeden Holzlängenhai erschien und verglühte ein neues Holzscheit. Und als die letzte Holzlänge genannt worden war, verstummte das Brummen.
Die Holzlängenhaie nickten einander anerkennend zu und schwammen zur Bar. Es gibt kaum einen erhebenderen Anblick als die Versammlung der trunkenen Holzlängenhaie nach vollendetem Ritual in der Tiefe der Nacht.
*Die Spezies der Holzlängenhaie stammt aus den Tiefen der transsylvanischen Wälder. Dort schwimmen sie zwischen den mächtigen Baumstämmen umher. Wenn sie auf einen Holzstapel stoßen, murmeln sie die Längen der Holzscheite vor sich her.