Die Karte des Piri Reis
Sein Arbeitszimmer war nur ein schmales Handtuch. Die ganze linke Wand nahm ein riesiges, übervolles Holzregal ein, das er selbst gebaut hatte. Obwohl es bis zur Decke reichte, hatte er Mühe gehabt, seine eintausendzweihunderteinundzwanzig Bücher darin unterzubringen. Sie waren weder sortiert, noch standen sie in Reih‘ und Glied. Er mochte es so. Auch auf seinem alten Eichenholzschreibtisch davor, einem Erbstück von seinen Urgroßeltern, war kaum noch ein freier Platz zu finden. Er war vollgestapelt mit Studienunterlagen und Zeitschriften.
An der Wand gegenüber hing über der Schlafcouch die Fotokopie der Seekarte von Piri Reis. Er hatte sie auf einen Holzrahmen gespannt und ein paar kleine Lampen dahinter angebracht. Es verging kein Tag, an dem er zu Hause war, an dem er sich nicht mindestens ein paar Minuten nahm, über diese Karte nachzudenken.
Es hieß, dass der osmanische Seefahrer sie fünfzehnhundertdreizehn gezeichnet hatte. Ein Teil von ihr zeigte die Küste der Antarktis mit einem deutlichen grünen Rand, doch zu Zeiten von Piri Reis war die Antarktis schon seit mehr als fünftausend Jahren unter kilometerhohem Eis begraben gewesen. Außerdem wies die Karte eine sphärische Verzerrung auf, die in etwa der eines Fotos von der Erdoberfläche entsprach, das aus mehreren einhundert Kilometern Höhe aufgenommen worden war. Von der Kugelgestalt der Erde wusste man frühestens seit Magellan 1519, dementsprechend hatten alle Karten bis dahin eine flache Erde dargestellt. Außerdem war die Antarktis erst im neunzehnten Jahrhundert entdeckt worden, Piri Reis hatte von der Existenz des sechsten Kontinents gar nichts wissen können und selbst wenn es Gerüchte darüber gegeben hätte – um ihre Küstenlinie ohne Eis gesehen zu haben, hätte er sechstausend Jahre alt sein müssen, denn da war sie für immer unter Schnee und Eis begraben worden.
Nicht nur für Christian stand fest, dass niemand auf der Erde damals hätte das Wissen haben können, eine solche Karte zu zeichnen. Doch sie existierte, lag in Istanbul im Topkapi unter Glas und spottete seit fast fünfhundert Jahren jedem Erklärungsversuch. Und sie war echt und erstaunlich genau, das hatte neunzehnhundertsechzig sogar die NASA bestätigt.
Er stellte sich ans Fenster und blickte hinaus. Der Himmel weinte. Dicke Tropfen klatschten gegen das Fenster. Breitgedrückt rannen sie am Glas herab und wuschen den Staub ab. Ein Teil von ihm würde bleiben und als hässlicher, kaum sichtbarer Rand das Glas verunzieren. Eine Spur, die nur zu sehen sein würde, wenn er nahe genug an das Fenster herantrat und die Sonnenstrahlen im richtigen Winkel darauf fielen. Alles im Leben hinterließ Spuren und meistens konnte man das, was geschehen war, nur anhand dieser Spuren vermuten. Aber nur, wenn man zur rechten Zeit am rechten Ort war. Doch war er das, weil er die Spuren deuten konnte? Oder deutete er sie falsch?
Konnte das alles Zufall sein? Die Karte war seine Leidenschaft, sein Vater war an dem Ort gestorben, den sie beschrieb und auch Johanna war dort gewesen. Marie von Ebner-Eschenbach hatte einmal gesagt, der Zufall sei das Eintreten der in Schleier gehüllten Notwendigkeit. Seine Ausbilder hatten das weniger prosaisch auf den Punkt gebracht: Wenn eine bestimmte Person rein zufällig einem vorher nicht diagnostizierten Herzleiden erliegt, ist das meistens kein Zufall, sondern perfekte Planung und präzise Ausführung.
Es klopfte hinter ihm und bevor er sich umdrehen und „ja“ sagen konnte, stand Johanna bereits in der Tür. „Ich kann nicht schlafen“, sagte sie und: „Bei dir war noch Licht.“
Sie trug noch die gleichen Sachen, mit denen sie ihn vom Bahnhof abgeholt hatte: Pumps, Rock und Bluse. Er hätte es gehört, wenn sie sich mit den Absätzen auf dem Holzfußboden bewegt hätte und das bedeutete, dass sie die ganze Zeit, ohne sich zu rühren, auf dem Bett im Schlafzimmer gelegen oder gesessen hatte. Genau wie er in seinem Zimmer am Fenster gestanden hatte …
Sie lächelte nur, dann setzte sie hinzu: „Du musst dich nicht vor mir schützen. Vor mir am Allerwenigsten. Ich bin eine ganz normale Frau.“
„Sicher?“
Sie griff nach ihrem Zopf, der lang und dick über ihre linke Schulter fiel, und spielte damit. Feuerrot hob er sich von der weißen Seide ihrer ärmellosen Bluse ab. „Sie fasziniert dich, oder?“
„Was?“
„Die Karte des Piri Reis. Was denkst du, woher wusste er das alles?“
Was er dachte … Sie klopfte auch an jedes Tor seiner Festung. Er nahm an, dass er wahrscheinlich ein Schmunzeln bei ihr provozieren würde und erstaunt stellte er fest, dass er sich auf dieses Schmunzeln freute. Er räusperte sich. „Hochkulturen wie die Mayas, die Phönizier oder sogar die sagenhaften Atlantiden - wenn es sie denn tatsächlich gegeben hat, was ich bezweifele – sind in der Geschichte verschwunden, und zwar spurlos. Nicht ausgerottet, nicht dahingesiecht oder langsam akkulturiert, sondern verschwunden von einem Tag auf den anderen. Wären sie das nicht, hätten sie sich in dem gleichen Tempo wie der Rest der Menschheit weiterentwickelt, wären sie uns heute himmelhoch überlegen gewesen, immerhin hätten sie ein paar tausend Jahre mehr Zeit dafür gehabt und das war für uns die Zeit vom Eisenschwert bis zur Atombombe. Zur Zeit von Piri Reis wären sie etwa da gewesen, wo wir so um das Jahr 2500 sein werden, wenn es uns dann überhaupt noch gibt. Ein Volk von Millionen kann sich jedoch nicht so einfach in Luft auflösen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, es sei denn, es hätte es mit Absicht getan und sorgfältig alle Hinweise auf seine Existenz getilgt. Es gibt auf der Erde genug Orte, an denen ein ganzes Volk sich verstecken kann, vorausgesetzt, es besitzt die Technik dafür. Die Menschheit weiß immer noch weniger als von der Mondoberfläche von dem, was im Dschungel des Amazonas, in der Tiefsee und in der Antarktis vorgeht. Der Amazonasdschungel scheidet aus, weil die Menschen ihn früher oder später vollständig erforschen oder zerstören werden. Die Tiefsee ebenfalls, der gigantische Druck der kilometerhohen Wassermassen garantiert zwar, dass wir noch Jahrhunderte brauchen werden, bis wir den Meeresboden da unten wirklich erforschen können, aber anderseits stellt er auch jedes intelligente Leben da unten vor solche unglaublichen Herausforderungen, dass ich mir das nicht wirklich vorstellen kann. Aber wir haben uns schon immer gut vor Kälte schützen können, und so bleibt noch die Antarktis. Vor einem halben Jahr haben russische Wissenschaftler bestätigt, dass unter ihrer Forschungsstation ‚Wostok‘ ein riesiger See existiert, der mehr als eintausend Kilometer lang und fast neunhundert Meter tief ist, und sie sind sich sicher, dass er nur einer von über 360 ähnlichen Hohlräumen unter dem Sockel der Antarktis ist. Sie kommen nicht an ihn heran, weil er mehr als vier Kilometer unter dem ewigen Eis liegt, aber sie vermuten Protoleben darin, das viel älter als die Menschheit ist.“
Er lächelte, ohne dass es ihm selbst bewusst wurde. „Da wäre genug Platz, ein ganzes Volk zu verstecken. Alles, was sie bräuchten zum Leben, fänden sie da unten - Bodenschätze und Wasser. Nahrungsmittel und Luft könnten sie sicher synthetisch herstellen, von Licht ganz zu schweigen. Sie hätten 1513 die Technologie haben können, Fotos aus dem All zu machen und vielleicht ist ja eines davon Piri Reis in die Hände gefallen.“
Tatsächlich bekam er ihr Schmunzeln, auch wenn es irgendwie gequält wirkte. „Wen hättest du denn als Kandidaten anzubieten?“
„Da gibt es einige. Aber für am wahrscheinlichsten halte ich die Atlantiden. Platon – und er ist ja als griechischer Philosoph nicht nur Geschichtenerzähler gewesen – hat behauptet, das Atlantis sowohl existiert hat, als auch, dass es um 9600 vor Christus innerhalb einer Nacht versunken ist.“
„Und du glaubst das?“
„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass da etwas Wahres dran sein könnte.“
Sie nahm ihre getönte Brille ab und wieder fiel ihm auf, wie unglaublich groß ihre Augen waren. Ein Gendefekt, hatte sie nur gemeint, als er sie danach gefragt hatte, und schnell wieder ihre Brille aufgesetzt. Spöttisch drohend hob sie ihren Zeigefinger. „Du lässt dich von Gefühlen inspirieren? Tätest du es doch tatsächlich …“
„Es war nur ein Spruch. Ich habe keine Gefühle“, knurrte er.
„Und der Mond ist aus grünem Käse.“
„Aus Sternenstaub. Federleicht, silberhell und er glitzert im Licht der Sonne wie das Gewand einer Märchenfee. Jeder Windstoß lässt ihn auf Nimmerwiedersehen davonfliegen. Wie Träume.“
„Deine Träume?“
Weit riss er die Fensterflügel auf und atmete die Luft der Novembernacht ein. Eine kühle Brise wehte herein, strich sanft über seine Stirn, beruhigte sein hämmerndes Herz und blies den Alkohol aus seinem Gehirn.
Er schloss das Fenster und drehte sich zu ihr um. Flüchtig schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er genauso da stand, wie sie an seinem Schreibtisch lehnte: ein Mensch, der ihn verstand. Einer, der ihm unter die Haut ging und sich da wohl zu fühlen schien, genau wie auch er, wenn sie es tat. Zum ersten Mal fühlte er seine Gedanken, sein Innerstes, bei einem anderen Menschen gut aufgehoben. Er sagte: „Du schaffst es immer wieder, meine Abwehr zu unterlaufen. Warum?“
„Ich wollte mit dir reden. Mehr nicht. Du hast Träume. Du hast Hoffnungen, du hast Sehnsüchte und vielleicht sind es die gleichen, die ich auch habe. Aber dein Mund schweigt, obwohl deine Augen schreien. Ich kann es sehen. Das ist der Anfang von allem.“ Drei Schritte wie eine aus der Glut schießende Flamme, dann war sie bei ihm und genau so fauchte sie auch. „Ich sehe dich, ich fühle dich. Einen Mann, der immer noch Träume hat und Mut zum Leben, obwohl es ihm schon eine ziemliche Tracht Prügel verpasst hat. Obwohl er diese Schuld mit sich herumträgt.“ Ihre Stimme wurde sanft. „Gib deine Träume nicht auf, denn nur dann werden sie groß und können die Welt verändern. Ich glaube dir nicht, dass du tatsächlich Angst hast, dass sie jeder Windstoß auf Nimmerwiedersehen davonfliegen lassen kann. Nicht du! Denn dann wärst du nichts weiter als ein Phantast, wie es viel zu viele gibt; Kopfgeburten wie die Kinder des Zeus; Bastarde mit einem Herz aus Stein, die niemand je gewollt hat. Das bist du nicht und das wirst du niemals sein. Ich weiß es.“
Sie legte eine Hand auf seine Brust, da, wo sein Herz schlug und ihre Wärme breitete sich in seinem ganzen Körper aus. „Hier sind deine Träume geboren worden. Du würdest eher sterben, als sie aufzugeben und darum liebe ich dich.“
„Was hast du gerade gesagt?“
Sie legte ihre Hände um seinen Nacken, zog ihn ganz dicht zu sich heran und flüsterte: „Dass ich dich liebe, du großer Dummkopf!“
Er drehte den Kopf zur Seite und sammelte sich für das, was er als Letztes zu sagen hatte. Es muss schwer sein, schoss es ihm durch den Kopf. Es muss weh tun, dann ist sie es auch wert. „Es ist nicht die Krücke, Johanna. Es ist auch nicht die hässliche Narbe auf meiner Wange.“
Er musste schlucken. Mit dem Schmerz, der jetzt kam, hatte er nicht gerechnet. Ganz nah stand sie bei ihm, ihre Stimme war der Ruf eines silbernen Glöckchens im Nebel, ihre Augen ein grüner Ozean, und winzig klein sah er darin das Spiegelbild seines ich. „Es ist … ich will dich nicht belügen. Ich habe einen Menschen getötet. Was du auch für mich zu empfinden glaubst: Das schließt mich auf immer aus der menschlichen Gesellschaft aus.“
„Aber auch nur aus der der Menschen."
„Was soll das heißen?“
Sie flüsterte: "Küss mich und du wirst verstehen.“
RHCSo, Dezember 2022