Lumiel und der Alchemist
Es klopft an der Tür.
Meister, es ist jemand an der Tür.<<
Soll er doch. Oder nein, wirf einen Blick auf die Person.<< Mit diesen, in seinen unansehnlichen Bart, gemurmelten Worte, wendet sich der Alchemist wieder seiner Apparatur zu, denn die nächste Stufe seines Experimentes steht kurz vor der Vollendung. Mit gichtigen Fingern nimmt er das halb gefüllte Reagenzglas in seine Hand, hebt es gegen das spärliche Licht und nickt zufrieden. Es klopft erneut.
Nun mach schon!<< Verärgert nimmt seine Stimme einen bedrohlichen Ton an. >>Lass den Menschen da draußen nicht unnötig warten.<<
Lumiel wabert durch den Raum und schlüpft mit einem Teil ihres nicht fassbaren Körpers unter dem Türspalt hindurch, wirft entlang der langen Beine einen Blick auf die restliche Figur und Blitze schleudernd kehrt sie ins Zimmer zurück.
Meister, es steht eine Dame mit dunkler Hautfarbe dort, korrekt gekleidet, etwa 40 Jahre alt, nicht hässlich, aber auch nicht hübsch, mit einer starken Ausstrahlung. Sie hält einen Ausweis und ein Papier in der Hand, auf das sie immer wieder drauf guckt. Mehr weiß ich vorerst noch nicht.<<
Ist gut Lumiel, begib dich nach nebenan, du weißt ja, wie Fremde bei der ersten Begegnung mit dir reagieren.<< Widerwillig folgt sie diesem Befehl und füllt mit ihrer ständig veränderbaren Masse auf dem Weg zum Nebenraum fast bis zur Decke. Der Alchemist drängt an ihr vorbei und begibt sich zur Eingangstüre. Es klopft ein drittes Mal, dieses Mal drängender. Er drückt zögernd die Klinke hinunter. Dabei platzen auf seiner Handinnenfläche einige Warzen auf und die austretende Flüssigkeit verbreitet einen unnachahmlichen Geruch, einer Kloake gleich.
Mit einem Ruck öffnet er die Türe weit und richtet sich dabei zu seiner hünenhaften Größe auf. Die Dame erschrickt zutiefst, obwohl sie als Expertin für Tropenkrankheiten einiges gewohnt ist und stottert:
Mein Name ist Dr. Maarifa Jasiri. Ich bin vom Gesundheitsamt, Abteilung Tropenkrankheiten. Hier ist mein Ausweis. Es gibt seit einigen Wochen Beschwerden aus der Nachbarschaft und einen anonymen Anruf, der dieser Wohnung zugeordnet wurde, über unheimliche Geräusche und diesen,<< sie hält sich die Nase zu, zieht mit der anderen Hand eine Schutzmaske aus der Tasche und sucht nach einem passenden Ausdruck, >>diesen absonderlichen Geruch, für dessen Ursache ich Abhilfe schaffen soll. Was ist mit Ihnen, welche Krankheit hat sie fest im Griff? Der Geruch kommt ja wohl kaum von ihren Füßen. Schöne Schuhe übrigens…<<, stellt sie beiläufig fest und sieht ihn fragend an.
Nein, ich hoffe nicht.<<, grinst er verlegen, als er seine Fassung über ihre Anwesenheit, ihren Auftrag wiedergewonnen hat.
Das liegt an dem Inhalt dieser Beulen, die sich nach und nach entleeren.<<, beantwortet er endlich ihre bohrende Frage.
Sie bedecken mittlerweile meinen gesamten Körper, eine Nebenwirkung meines Elixiers, das ich vor 3 Monaten zusammengerührt habe und mir zu besonderer Erkenntnis, zum Stein der Weisen, verhelfen soll. Mehr kann ich Ihnen nicht dazu sagen, das Mittel ist noch nicht auf dem Markt und soll mich endlich aus meiner unverschuldeten Isolation heraushelfen.<<
Was hat Sie denn in die Isolation getrieben?<<, fragt sie interessiert, während sie einen Plastikbeutel aus der Tasche zieht und mit einem Spatel das Sekret vom Boden kratzt und gegen das spärliche Licht der Deckenlampe hält.
Ich darf doch?<<, meint sie und verschließt den ersten Beutel, nachdem sie ihn ordentlich mit Datum, Fundort und Zustand des Inhalts beschriftet hat.
Nur zu.<<, lautet die abwesend klingende Antwort. Und ohne auf die Frage nach seiner Isolation einzugehen, sagt er:
Ich hab’ eh Wichtigeres zu tun. Wenn Sie die Ursache für mein verbeultes Aussehen finden, wäre ich mehr als froh. Ich bin am Ende meiner Weisheit, was die Zusammensetzung angeht. Diese chemische Reaktion hab ich jedenfalls nicht erwartet. Aber nur so kommt man immer neuen Dingen auf die Spur.<<, hellt sich sein Gesicht wieder auf.
Der Alchemist begibt sich wortlos zu dem in der Mitte des Raumes stehenden Stuhles, hebt sein linkes Bein, öffnet den dreifachen Knoten des Schnürsenkels, entledigt sich des eleganten Halbschuhs und wirft ihn in eine Ecke. Dann zieht er das andere Bein nach oben, hüpft einbeinig auf dem unbeschuhten Fuß einige Male in die Höhe, dreht sich im Kreis, bis er schwindelig taumelt und lässt sich hinunter auf den Boden fallen, wobei wieder einige seiner Warzen platzen. Verbittert ruft er:
Das hat mich fest im Griff, das!<<
Was meinen Sie damit?<<, fragt die Frau, die die Probennahme erstaunt abbricht.
Seit einiger Zeit bin ich gezwungen, mich mindestens 10 Mal am Tag auf den Stuhl zu begeben, mich im Kreis zudrehen und hinunterzuspringen und bevor Lumiel hier auftauchte und meine Slippers in Schnürschuhe ausgetauscht hatte, war ich bei 40 Hüpfern pro Tag und die Stürze zu Boden mit jedem Mal schmerzhafter.<<, meint der Alchemist, während er verbittert zu seinen Reagenzgläsern zurückkehrt und grübelt, wer außer Lumiel den anonymen Anruf getätigt haben könnte.
Lumiel, die es schuldbewusst im Nebenraum nicht mehr länger aushält, schleicht sich ins Zimmer und umschmeichtelt die Füße von Maarifa. Zu Tode erschrocken springt sie nun auf den Stuhl und schreit:
Was ist das denn? Haben Sie das auch erfunden?<<
Mag sein, ich weiß es nicht mehr. Als ich mein Elixier herstellte, sind wohl höhere Temperaturen entstanden, als vorgesehen. Dabei könnte sie geboren worden sein. Jedenfalls ist sie auf die Schnürschuhe und den dreifachen Knoten gekommen. Sie ist also ein hilfreiches Wesen. Oder auch nicht.<< Ein strafender Blick streift das Plasma. >>Darf ich vorstellen: Lumiel, der ionisierte vierte Aggregatzustand. Und Ihr Name war?<<, wendet er sich nunmehr vollends dieser wahrhaft interessanten Frau zu und hilft ihr galant vom Stuhl. Solange hat er keine Frauenhand umfasst, in so dunkle, glänzende Augen gesehen.
Maarifa Jasiri.<<, verrät sich Lumiel sofort.
Du hast also gelauscht?<<
Um keine Ausrede verlegen, antwortet sie: >>Ich konnte ihren Ausweis schon draußen lesen. Und ich kann Ihnen sagen, was das für ein Sekret ist, das aus seinen Warzen strömt, Sie brauchen gar nichts weiter zu analysieren.<<
Beide Menschen ziehen die Augenbrauen hoch.
Wieso?<< >>Woher?<< schallt es aus ihren Mündern.
Es ist meine Vorstufe und entstanden durch den Selbstversuch meines Herrn und Meisters. Leider wird er an den Warzen verrecken, aber in mir weiter existieren.<< Lumiel schießt Blitze durch den Raum, dehnt sich erneut aus, nimmt menschliche Umrisse an und kniet schließlich vor dem Alchemisten nieder.
Es tut mir leid, aber es ist deine Bestimmung schon von alters her.<< Dann formt Lumiel sich um und nähert sich Maarifa.
Auch Sie sind Teil des Plans, damit endlich bekannt wird, was hier geplant ist. Denn den Stein der Weisen darf niemand jemals finden.<< Dann fährt sie bedeutungsschwanger fort:
Sobald Sie den Raum verlassen, wird er sterben, daran ändern Sie nichts. Sie werden zögern, es zu verhindern suchen, aber es wird passieren, denn nur sehr besondere Menschen können diesen Alchemisten länger als 3 Stunden ertragen. Deshalb ist er in Isolation und natürlich wegen seines Ticks, vom Stuhl hüpfen zu müssen.<<, beendet Lumiel ihre lange Ansprache.
Maarifa Jasiri legt die Stirn in Falten und ringt ihre Hände. Was für eine Last wird ihr da aufgebürdet? Als Ärztin und Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes ist sie moralisch verpflichtet, Menschenleben zu retten. Das hat sie in Kenia, ihrer Heimat, getan und in allen Ländern, in denen sie tätig war. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und will ihren Vorgesetzten verständigen. Doch Lumiel blitzt mit einem grellen und heißem Licht dazwischen, sodass das Handy zu schmelzen beginnt und sie es fallenlässt.
. >>Ts,ts,ts, Sie ändern es nicht. Ihrer beider Qual verlängert es nur. Sehen Sie, wie mein Meister sich auf dem Boden krümmt und dabei weitere Warzen platzen lässt? Seine ganze Haut geht jetzt rapide in Fetzen und ein zweites Plasma wird entstehen. Doch zuvor wird der Geruch Sie hinaustreiben, Sie würgen ja jetzt schon.<<
Maarifa zögert. Sie sieht auf den sich windenden Körper des eben noch stattlichen Mannes, erbricht in ein nahestehendes Becken und bringt ihren Magen nicht mehr zur Ruhe.
Ich muss hier raus.<<, vernehmen die beiden anderen Wesen, und eine verzweifelte Maarifa schafft es gerade so zur Ausgangstür, schlägt sie fast erleichtert hinter sich zu. Der Alchemist röchelt seinen letzten Atemzüge und Lumiel wirft kichernd den eleganten Lederschuh durch das geschlossene Fenster.
Marion Kulinna©, November 2022