Yalkons Wiederkehr
Die ersten Sonnenstrahlen des Tages vertrieben bereits den noch jungen Morgentau, indem sie ihm halfen, sich in zarten Nebelschwaden in die Lüfte zu erheben. Das Moos dampfte regelrecht und strahlte in einem satten Dunkelgrün. Vögel zwitscherten, als hätte sich der Frühling angekündigt und luden einander zum Tanz ein. Aufgeregt flogen sie akrobatische Kreise, auf und ab. Manche von ihnen in waghalsigen Formationen, die in einem abrupten Bremsmanöver endeten, um in einem Sandbad am Boden den Höhepunkt zu finden. Das Herbstlaub bedeckte den Boden wie eine wärmende Decke.
Synvald lag im Tal der großen Eichen. Es war ein kleines Dorf, das weniger Einwohner zählte, als Eichhörnchen in einen Fuchsbau passten. Synvald lag nahe dem Graven Strom, einem eiskalten, höchsten zwei Meter tiefem Fluss. Dieser wurde gespeist aus den Hohen Bergen von Quendlin, welche sich rings um Synvald erstreckten und dem Himmel sehr nahe waren.
Hier beginnt unsere Geschichte. Mein Name ist Bronwyn und ich muss sie euch erzählen, um Schlimmeres zu verhindern. Bitte, nehmt Platz und spitzt eure Ohren. Lauscht und gebt acht. Ja, ihr habt richtig gehört, es ist unsere Geschichte, nicht nur die meine. Warum dies so ist? Ich hätte es euch gerne erspart, wirklich. Aber das hätte ich mir nie verziehen. Es war am Zahterdag, dem vorletzten Tag der Woche. Die Sonne schien durch das Fenster meines Schlafraums und kitzelte mich an meiner großen Zehe, welche schon der Bettdecke entschlüpft war. Hin und wieder bewegte sich meine Zehe durch die warmen, kitzelnden Sonnenstrahlen, bis schließlich meine Arme unter der Bettdecke hervorkamen und sich gegen die Zimmerdecke streckten.
„Was für ein wunderbarer schöner Morgen dies doch ist.“, sagte ich mir, so als würde ich mit meinem Spiegelbild reden. Meine Bettdecke bewegte sich auf und ab und mein Strecken und Recken unter ihr wurde heftiger. Dazu gesellte sich mein Gestöhne, mein Schmatzen und Knirschen. Fluchs schob ich meine Bettdecke zur Seite, rutsche seitlich aus dem Bett zu Boden, und sprang mit einem langen Leinennachthemd bekleidet Richtung Fenster, wo ich innehielt und Sekunden später mit den Armen in der Luft herumwirbelte, woran sich flinke Bewegungen anschlossen, die etwas von Kniebeugen hatten.
„Ich wünsche allen einen wunderschönen, wunderschönsten Guten Morgen!“, schrie ich aus dem Fenster und stieß dabei selbiges derart heftig auf, sodass der linke Fensterflügel gegen die Außenwand des Hauses schlug. Das Glas zerbrach dabei mit einem lauten Klirren.
„Was für ein wunderschöner Morgen! Was für ein wunderschöner Tag! Was für ein Glück ich heute wieder haben muss!“, waren meine selbstverliebten Worte. Das Klopfen an der Tür war so weit weg von mir, wie der Himmel der Quendlin Berge. Dennoch hatte ich das Gefühl darauf reagieren zu müssen. Das Klopfen hatte einen unüblichen Klang. Es war härter, kräftiger und schwerer, ja, nahezu eindringlich. Es verstummte nicht.
“Hallo, ist da wer? Ich bin gerade bei meiner Morgengymnastik und erwarte auch keinen Besuch. Es ist sechs Uhr, der Tag noch jung und ich, ich werde gerade erst neu geboren. Also, wer ist da?”
“ Meister Bronwyn, bitte macht auf. Ich muss euch unverzüglich Bericht erstatten. Ich weiß, dass ihr …"
“Malvin, bist du das? Ich hatte dich doch gebeten, mich nicht vor sechs Uhr morgens zu stören. Ich mache gerade meine Gymnastik und du weißt, wie wichtig das für mich ist.”, unterbrach ich ihn. “Werde du erst einmal hundertachtundsechzig Jahre alt, dann verstehst du was ich meine!”
“Verzeiht mir, aber es ist etwas schreckliches geschehen. Yalk … Yalkon ist zurück, hört ihr? Er … er ist zurück!”
Mir wurde speiübel. Yalkon? Wie konnte dies nur geschehen? Hatte ich ihn nicht durch meinen letzten Zauber aus Quendlin verbannt und ihn zurückgeschickt in das Reich von Gnorr?
Das Blut gefror mir in meinen Adern und das Atmen fiel mir schwer. Yalkon war der mächtigste Drache, der jemals unser Dorf heimgesucht hatte und seine Gefolgschaft war nicht weniger schlimm. Im Gegenteil, sie waren wie Parasiten, die sich überall einnisteten und alles verbrannten was sich auch nur bewegte oder nicht aussah wie sie. Egal, ob Mensch, Zwerg, Gnom, Elf oder Tier, alles wurde verbrannt und vernichtet. Es war schrecklich. Das durfte nicht noch einmal geschehen.
“Malvin, mein Lieber”, rief ich dem verunsicherten, wartenden Elf durch die verschlossene Tür zu, “ geh schnell hinunter zur Höhle am Waldsee. Du weißt schon. Hole mir meinen Kessel der Sinfonie des Himmels. Geh zu Ahrony und gib ihm Bescheid. Er hat noch Ysop und Myrre, Grunzwurz und Taustiefel. Bring bitte alles schnell zu mir. Ich beeile mich und wir treffen uns am Platz der tausend Blüten. Hast du verstanden?”
“Ja, Meister. Ich werde mich beeilen. Aber bitte, beeilt euch auch, hört ihr?”
Ich antwortete nicht mehr, sondern tauchte hinab in meinen Schrank, auf der Suche nach Warob, meinem Zaubergewand. Jahre hatte ich es nicht mehr in Gebrauch nehmen müssen. Das letzte Mal, als ich es umlegte, war, als Yalkon erschien, um uns alle zu vernichten.
“Bronwyn! Hallo, mein lieber Schatz. Bist du schon wach?” Zum unpassendsten Augenblick rief Minne, meine liebe Gemahlin nach mir. „Wie wunderbar es heute nach Apfelsirup riecht und wie verlockend der Duft von frisch gebrühtem Sonnenblumentee mit Lavendelhonig in meiner Nase liegt. Ich habe dir Frühstück gemacht, mein Schatz.”
Sie durfte nichts erfahren, denn ich wollte sie nicht beunruhigen. Nicht noch einmal. Als Yalkon das letzte Mal tobte verloren wir unseren Sohn, Ivar. Bis zum heutigen Tag hatte Minne es nicht überwinden können. Sie vermochte es nicht loszulassen.
“Ich will nur noch schnell ein morgendliches Bad im Fluss nehmen und dann, dann gibt es ein Frühstück, wie es sich sehen lassen kann.“, gelobte ich und machte einen Satz durch das Fenster, über die Glasscherben hinweg und lief nur mit Nachthemd bekleidet barfuß Richtung Fluss, meinen Warob in der Hand.
„Guten Morgen, Bronwyn.“, grüßte mich Fahri, der Müller, welcher gerade mit seinem Getreide beladenen Handkarren unterwegs Richtung Mühle war, als unsere Wege sich kreuzten. „Na, hast du wieder eine Fensterscheibe zu Bruch gehen lassen?“, fügte er fragend seinem morgendlichen Gruß hinzu, obwohl er die Antwort auf seine Frage schon kannte.
„Na wie soll man denn sonst Glück haben?“, war meine knappe Antwort. Ohne mich umzudrehen, setzte ich so schnell ich konnte, meinen Weg fort.
Als ich die Höhle am Waldsee erreichte, krähte der Hahn des Dorfes den Sonnenaufgang herbei. Er war spät dran, aber auch nicht mehr der Jüngste. Wie dem auch sei, es war noch genug Zeit, um den Trank Ex Dracyr zu brauen, mit welchem ich Yalkon zurückschicken könnte - zurück ins Nichts.
“Es ist alles vorhanden, Meister Bronwyn, wie ihr es angewiesen habt.”, begrüßte mich Malvin mit einem verunsicherten Lächeln. “ Ich habe schon Feuer gemacht und das Wasser kocht bereits.”
“Danke, mein getreuer Gefährte. All die Jahre habe ich dich immer unterschätzt. Bitte, verzeih mir. Aber ich weiß, dass ich mich stets auf dich verlassen kann.”, entgegnete ich ihm und war erleichtert, dass er den Ernst der Lage erkannt hatte.
Als Yalkons Flügelschlag sich hörbar näherte und sein blutrünstiges Fauchen zu uns Drang, war der Sud bereits, Mashelwi sei Dank, fertig gebraut. Yalkon schwebte nur noch circa fünfzig Meter über uns, als ich eine, der wenig verbliebenden Perlen von Holgast in den Kessel warf. Hunderte, tausende von Feuerflammen sprangen aus dem Kessel heraus und stürmten Richtung Himmel, auf Yalkon zu. Es gab kein Entkommen. Sie züngelten um ihn herum, tänzelnd, lodernd und vernichtend. Wir hatten es geschafft. Yalkon zerfiel zu Staub und wurde vom Herbstwind weggetragen, bevor er den Boden erreichte. Malvin und ich lagen uns jubelnd in den Armen.
“Na, mein Lieber, hast du auch Lust auf Apfelsirup und frisch gebrühtem Sonnenblumentee mit Lavendelhonig?”, fragte ich Malvin dankbar und erleichtert.
“Ja, Meister, sehr gerne. Und wenn ihr mögt, dann können wir gemeinsam auch noch eine Fensterscheibe zerbrechen.”
Lachend fielen wir uns in den Arm. Drachenstaub lag in der Luft. Aber auch der Duft von Sonnenblumentee mit Lavendelhonig.