GANGS OF ZENTRALFRIEDHOF
»Mein Geliebter, wann werden wir uns wiedersehen?«
Die junge Made presste ihren länglichen Körper zärtlich an den seinen.
»Morgen Abend, wenn die Sonne hinter den Mauern versinkt.«
Erregt wanderte eine ringförmige Kontraktion seiner Muskulatur von seinem spitz zulaufenden Oberstück zum breiteren Ende.
Julia lachte auf. »Oh Roman, das kitzelt.«
»Ich weiß«, entgegnete dieser verschmitzt.
Dann wurden sie wieder ernst. »Du weißt, mein Vater darf das nie erfahren.«
Schwermütig pflichtete Roman ihr bei: »Genau so wenig wie der meine.«
Mit einem Seufzer trennten sich die Liebenden. Sie schoben sich in krümmenden Bewegungen aus von dem schützenden Loch im Lehmklumpen und krochen weiter in entgegengesetzte Richtungen. Vorbei an den Maden, deren von der Arbeit ausgemergelte Körper unablässig aus dem frischen Grab hervorquollen.
»Ihre abscheuliche Gier ist grenzenlos!« Gehässig fläzte sich Elisabeth auf dem satten Grashalm und zerkleinerte mit ihrem zangenartigen Mundhaken ein paar trockene Hautschuppen. »Sie stellen deine Autorität in Frage, mein Lieber. Du musst handeln. Du führst den Clan!«
Franz Ferdinand schwieg. Das Zucken entlang seiner kräftigen Statur verriet seine innere Verfassung. Dann sprach er: »Ich weiß. Ich sollte ein Zeichen setzen. Es muss ein Ende haben mit diesem widerlichen Geschmeiß!«
Da schob sich eine der dienstbaren Maden vor das Herrscherpaar und verkündete: »Ein Emissär!«
»Lass ihn vortreten«, gewährte Franz Ferdinand. »Wir wollen hören, was er zu berichten hat!«
In einer Ziehharmonikabewegung erschien eine junge Made hinter dem Blatt eines zertretenen Löwenzahns. Richtete sich auf und sprach: »Mein Meister lässt Euch folgendes überbringen!« Er räusperte sich. »Die Fehde schafft Not und Leid für unsere beiden Familien. Darum biete ich Euch an, den Zwist zu beenden und die Feindseligkeiten zu begraben. Zum Zeichen unseres guten Willens erkläre ich deshalb, dass die nächste Leiche auf diesem Platz ganz Euch gehören soll. Von den Hautschuppen bis zum Gedärm. Gleiches gilt für das Glitzerzeug, dass die Leiche an sich trägt, an Leib und auch im Munde.«
»Hört hört«, spottete Franz Ferdinand. »Ihr überlasst uns gänzlich den Gold- und Silberhandel mit den Elstern?«
»So ist es«, erklärte der Emissär. »Für diese eine Leiche soll es gelten. Einen fairen Handel bieten wir Euch. Einen, der Frieden schafft und so der Zukunft unserer beiden Familien zuträglich ist. Dies zum Wohle der Lebenden und aller Nachkommen, die uns beschieden sind. Dies sind die Worte meines Fürsten Friedrich.«
Franz Ferdinand spürte einen Stupser an seiner Seite.
»Schwach sind sie geworden«, zischte Elisabeth. »Das ist der Moment. Lass sie in dem Glauben, und dann schlag zu!«
»Du hast Recht«, flüsterte ihr Ehemann. »Frieden ist ein vorzüglich bestellter Boden für einen vernichtenden Schlag!«
Elisabeths Blick traf ihn mit all der darin verborgenen Bewunderung. »Du bist der Fürst.«
Franz Ferdinand hob zu sprechen an: »So sei es! Überbringe Deinem Herrscher, dass wir zu einem Friedensschluss bereit sind. Morgen wollen wir ihn besiegeln, in den frühen Stunden des neuen Tages. Findet euch hierzu mit eurem Volk ein am Grab 772-C.«
»Ergebensten Dank«, ließ der Emissär vernehmen, und mit tiefen Verbeugungen zog er sich zurück.
Die Junisonne war soeben über die Mauern des Zentralfriedhofs gestiegen, und ihre Strahlen fielen auf ein Meer aus Maden. In zwei Gruppen standen sie sich gegenüber. Zwei Madenteppiche, aus denen das Rauschen sich aneinanderreibender Tiere über den Friedhof klang.
»Was soll uns der Frieden jetzt bringen?«, grantelte eine der unzähligen Maden mitten im Gewimmel. »Als wenn er für unsereins etwas ändern sollte! Wir buddeln tagein tagaus bis uns die Mundhaken aus dem Schlund fallen und schwitzen für die Obrigkeit.«
»Und am Ende holt dich die Amsel«, pflichtete eine zweite Made bei. »So war es, so ist es, und so wird es immer sein.«
»Wenn wir nicht schon vorher verdörren«, brummte eine dritte Made. »Wann war das letzte Mal, dass du dich an einer Leiche laben durftest?«
Eine Fanfare ertönte, und mit einem Schlag kehrte Stille ein in den beiden Madenteppichen vor Grab 772-C.
Zwei Emissäre lösten sich aus ihren Haufen und wurmten vor. In respektvollem Abstand zueinander blieben sie stehen.
»Mein Volk«, verkündete ein Emissär, »erklärt sich einverstanden mit dem vorgeschlagenen Frieden.«
»So tut es auch das meine«, entgegnete der andere.
Damit lösten sich auch die beiden Clanchefs aus ihren Haufen und schoben sich in die Mitte des freien Platzes.
Dort angekommen blickten sie sich lange an.
»Bist du bereit?«, fragte Friedrich.
»Ich bin es«, antwortete Franz Ferdinand.
»Dann will ich es auch sein.«
»Die nächste Leiche gehört uns?«
»So ist es abgemacht.«
»Auch der Schmuckhandel mit den Elstern?«
»Auch der.«
»Dann schließen wir also Frieden.«
Feierlich rieben beide Herrscher ihre Körper aneinander.
Ein Ruf hallte über den Platz, und eine junge Made eilte auf die beiden Oberhäupter zu.
»Papa! Papa! Endlich Frieden! Ich bin ja so glücklich.«
»Julia?«, entfuhr es Franz Ferdinand.
»Ja, Papa! Endlich kann ich es dir sagen! Weil Roman und ich, wir werden heiraten!«
»Ihr werdet was?«, donnerte auch Friedrich. In seine Fassungslosigkeit mischten sich Zorn und aufflammender Hass.
»Was Julia sagt, das stimmt!«, erscholl es aus dem anderen Madenteppich, und der stattliche Roman robbte vor. »Wir werden heiraten, Vater. Und damit das neue Band des Friedens zwischen unseren Völkern besiegeln. Ist das nicht wunderbar?«
»Wunderbar?«, schrie Franz Ferdinand, und blanke Mordlust spiegelte sich in seinem Gesicht. »Das werde ich nicht zulassen, dass sich meine Tochter mit einem stinkende Leichenfledderer wie dir vermählt!«
»Wie nennst du meinen Sohn?«, fuhr Friedrich dazwischen, so sehr von Hass und Wut erfüllt, dass er weder den Schatten bemerkte, der sich über ihn legte, noch den Staub, der im plötzlichen Luftzug aufwirbelte. Und schon hatte ihn ein kräftiger Schnabel gepackt, und ihn in den Himmel entführt. Ebenso erging es Franz Ferdinand, der vor Schreck ganz starr war.
»Papa!«, entfuhr es der entsetzten Julia, denn verschwand auch sie in dem gierigen Schlund einer Amsel.
Blanke Panik ergriff Besitz von den Madenteppichen, und jede für sich versuchte zu fliehen. Ein nutzloses Unterfangen, allein der Natur geschuldet.
Das war das Ende der beiden Clans von Grabstelle 772-C auf dem Wiener Zentralfriedhof.
»Schade fürs Geschäft«, krächzte eine der beiden Elstern, die dem Schauspiel vom Ast einer Tränenkiefer aus stumm beigewohnt hatten.
»Kein Verlust«, widersprach die andere. »Drüben in der Parzelle 775-B haben sie neulich einen eingebuddelt. Ich wette, Maden gibt es auch dort!«