Abenteuerlich.
Abenteuerlich - kein anderes Wort beschreibt mein Leben in der großen Stadt der Menschen besser als dieses. Normalerweise lebt unser einer auf dem Land. Dort, wo die weiten Wiesen sind, die grünen Auen und Wälder. Doch in letzter Zeit wohnen immer mehr von uns in der Stadt. Der Mensch bringt uns dazu. Er schafft uns ein Heim auf den Dächern und Balkonen seiner Häuser.
Hier geht es uns nicht schlechter als den Vettern auf dem Land. Hier wie dort liegt unser Schicksal und Glück in der Menschen Hände. Einige sind uns gute Hirten, andere nicht.
Doch das Leben in der Stadt, zwischen den Straßen und Häuserschluchten, dem tosenden Verkehr und dahin eilenden Menschenmassen, bringt Herausforderungen mit sich, die unsere Geschwister auf dem Land nicht kennen.
Lass mich dich mitnehmen auf meine tägliche Reise durch die große Stadt der Menschen. Dann siehst Du, wovon ich spreche.
Sobald die ersten Sonnenstrahlen ihre Wärme spenden, beginnt mein Tag. Dann durchdringt eine Unruhe das Heim. Es drängt uns nach draußen, dem Licht entgegen. Es kribbelt in den Flügeln, nichts kann uns mehr halten. Es verlangt alle danach, hinaus zu streben, hinauf in die Luft, zu den Weiten des Himmels.
Und so schlage ich mit meinen Flügeln, so schnell und kräftig, wie ich nur kann. Bis sie mich empor tragen und mir das Gefühl von Freiheit geben. Freiheit, wie sie nur jene kennen, deren Lebensraum der Himmel ist.
Losgelöst von der Schwere des Bodens geht es zuerst hinauf, der Sonne entgegen. Beglückt vom neuen Tag tanzen wir mit dem Sonnenlicht und erfreuen uns des Lebens. Doch dann beginnt jede von uns nach dem Duft zu suchen, der uns leiten wird, der zieht und lockt. Der Geruch, der voller Freude das Leben verheißt.
Aber die Atmosphäre ist erfüllt mit dem Gestank der Menschen. Mit ihren Maschinen verpesten sie die Luft mit Düften, die mich verwirren. Ich finde den Weg nicht. Wohin soll ich meine Flügel lenken? Wie soll ich nur den Lebensduft entdecken?
Da! Die Fühler vibrieren und betasten die Luft. Hier ist etwas, zwischen dem Gestank der Abgase und dem Mief ihrer Fabriken und Schornsteine! Ein schwacher Hauch eines lieblichen Duftes! Ich folge ihm in rasantem Flug. Stürze nach unten, fliege Kurven und schlage Haken, immer dem besonderen Geruch hinterher.
Voller Risiko ist mein Flug und höchst gewagt. Nicht jedes der Geschwister wird den Tag überleben – werde ich es heute wieder schaffen? Doch keine Gefahr kann mich aufhalten, kein Wagnis ist mir zu hoch. Es gilt, dem Aroma zu folgen, denn es verspricht Nahrung und Leben.
Je tiefer ich fliege, desto mehr Verderben lauert auf mich. Die vielen Fenster spiegeln das Licht der Sonne und locken, damit ich vom Weg abkomme. Viele von uns stürzen dort in ihr Unglück. Das Glas ist hinterhältig und feig, es täuscht vor der Himmel zu sein und ist doch der Tod. Wenn du nicht acht gibst, hält es dich fest und lässt dich nicht mehr ans Licht. Wie vielen von uns hat es schon das Leben gekostet. Also schnell vorbei an den Spiegelfallen und weiter hinab, dem Geruch entgegen!
Doch schon lauert die nächste Gefahr. In ihren Autos sitzen die Menschen und reisen mit großem Tempo dahin. Wehe, wer nicht acht gibt! Schnell ist es um die geschehen, die dagegen fliegen. Also halte stets Abstand zur Straße, dort lauert nur das Verderben!
Weiter geht es, bis meine vielen Augen zwischen den Häuserzeilen endlich etwas sehen, das in der Stadt hervorsticht wie ein Signalfeuer. Grün! Dazwischen bunt und vielfältig Blüten in schönster Pracht. Der Duft wird stärker, zieht an mir wie ein Magnet. Ich eile, ich fliege und endlich bin ich an seiner Quelle, umschwirre sie und halte Ausschau nach einer sicheren Landung.
Die Blüte trägt mein Gewicht und dann tauche ich den Rüssel tief ein. Frischer Nektar erfrischt und belebt mich, weckt die Lebensgeister und gibt mir neuen Schwung. Nektar ist der Sinn meines Lebens. Ich trinke ihn begierig und mit Freude.
Wenig ist es, was eine einzelne Blüte bietet. Doch genug, um Kraft zu schöpfen. Energie, mit der ich zur nächsten Blüte fliege. So geht es dahin, von Blüte zu Blüte.
Doch selbst hier lauern Gefahren auf mich. Neben all den Tieren, für die ich ein willkommener Happen wäre, ist es wieder der Mensch, der meinesgleichen am stärksten bedroht.
Nicht nur, dass sich all sein Gestank, Dreck und Staub, mit dem er die Luft verpestet, in den Blüten und dem Nektar wieder findet. Der Mensch sprüht auch Gift auf die Blumen, die unsere Nahrung sind! So viele starben schon am Menschengift. Keiner von uns versteht, warum sie das tun.
Selbst wenn man mit Glück dem Gift und Dreck entkommt, bedroht uns der Mensch. Denn ohne Achtsamkeit hasten sie dahin, eilig und ungestüm. So manch einer nimmt den Weg durch die Blumen und zertrampelt nicht nur Pflanzen und Blüten, sondern auch jene von uns, die sich darin laben.
Sind alle Gefahren überstanden und der Magen voller Lebenselixier, die Beinchen dick mit Pollen bepackt, dann geht die gefährliche Reise wieder zurück zum Heim. Erneut vorbei an allerlei Bedrohungen, Gestank, Lärm und spiegelnden Täuschungen nähere ich mich der Sicherheit des Bienenstocks. Geschwind husche ich hinein und bin erleichtert. Umgeben von meinen Schwestern spüre ich ihren Schutz und Beistand. Voller Dankbarkeit füttere ich sie mit der frischen Blütenessenz, bevor ich den Rest davon in die Waben gebe, die sie erbaut haben. Dort wird er zu Honig reifen und mein Volk im Winter nähren.
Doch weit entfernt ist jene stille Zeit und ich werde sie nicht erleben. Darum geht es wieder hinaus zu einer neuen Reise - raus in die große Stadt der Menschen…