Vor lauter Bäumen
Vor lauter Bäumen
Der Vater hat die Schlüsselgewalt und öffnet die Wohnungstür. Uns schlägt ein undefinierbarer Geruch entgegen, der abstoßend ist: nicht richtig süß, aber auch nicht sauer, nicht dumpf, nicht hell, nicht nach Ammoniak oder Fäkalien, ein wenig nach verdorbener, stark vergorener Milch vielleicht und dann doch wieder nicht. Ich weiß nur, dass ich ihn für den Rest meines Lebens in meinem olfaktorischen Gedächtnis gespeichert haben werde. Die Fensterläden sind geschlossen. Ich lasse Licht in die Wohnung und öffne weit die Balkontür.
In der Küche steht gebrauchtes Geschirr in der Spüle, die Henkelbecher haben allesamt braune Ränder im Inneren und auf der Unterseite Brandspuren. „Schaut mal, Sie hat sich in denen wohl den Kaffee direkt auf der Herdplatte gekocht. Was da hätte passieren können!“ , sage ich. Der eklige Geruch lässt sich nicht an mich gewöhnen. Als ich den Kühlschrank öffne, schlägt er mir mit unbarmherziger Intensität entgegen, und ich werfe die Tür sofort wieder zu, als ich Schimmel über Schimmel sehe.
„Mutter“, sage ich, „bitte lass die Finger davon und komm nicht auf die Idee, ihn auszuwaschen. Das hier ist stark gesundheitsgefährdend.“ Da hat der neunmalkluge Vater doch tatsächlich vor ein paar Tagen einfach den Stecker aus der Dose gezogen und dieses Desaster verursacht. Ich sage aber nichts, er weiß ja sowieso alles besser.
Er hat die Gewalt über den Schlüssel und war der Erste und Einzige, der zunächst die Räume betrat. Erst dann gab er sie frei für die Mutter und mich und unsre Arbeitskraft. Die Mutter sagt nichts zu meiner Aufforderung. Nun hat sich mein Vater zu uns gesellt und beginnt, im Schreibschrank zu kramen, und bald darauf sitzen die Eltern auf dem Sofa und sortieren Papiere.
Wie bescheiden doch die Tante hier gelebt hat! Eine spießige Couchgarnitur im undefinierbaren Stilmöbel-Look, in die Jahre gekommen, die Polster verblichen und schäbig, die obligatorische berüchtigte Gelsenkirchner-Barock-Schrankwand, an den Wänden viele Fotos aus vergangener Zeit: ein Portrait der Großmutter, eines der ältesten Schwester nebst vierjährigem Sohn, der während der Flucht an Diphterie erkrankt war. Er starb, bevor er richtig leben durfte, zum Glück ein paar Tage vor seiner Mutter, die Typhus hatte. Da hängt einiges an Leid an den Wänden.
Aber wie stolz die Tante auf ihre Einrichtung gewesen ist! Das hier war ihr Nest, ihr Rückzugsort, an dem sie sich wohlfühlte. Das Wichtigste war ihr immer, ein warmes, gut geheiztes Zuhause zu haben, denn die Winter in Ostpreußen waren bitterkalt gewesen und schlummerten das ganz Jahr über in den Knochen. Aber auch im Seniorenheim würde man nun dafür sorgen, dass sie nie frieren musste.
„Vater“, sage ich, „gib der Mutter bitte morgen den Schlüssel zur Wohnung, damit wir hier weiterarbeiten können, weil Du ja den Arzttermin hast.“ „Hier kommt niemand ohne meine Anwesenheit rein“, sagt er, „ich bin schließlich als gerichtlich bestellter Betreuer für meine Schwester eingesetzt. Ich habe die Verantwortung, und ihr habt meinen Anweisungen zu folgen. Der Schlüssel bleibt bei mir. Basta!“
Die Mutter und ich schauen uns an und verdrehen die Augen. „Lass dem Kind den Kringel“, flüstert mir die Mutter zu, „dann machen wir halt erst übermorgen weiter.“ Auch da wird der Vater sich mit letzter Kraft als das autoritätsstarke Familienoberhaupt aufführen, das er im Übrigen nie war.
Dann aber werden der Vater und die Mutter am nächsten Tag in der Wohnung gewesen sein, ohne mich einzubeziehen. Als wir uns wiedertreffen, erzählt sie mir freudestrahlend, sie habe den Kühlschrank ausgewaschen und zeigt mir stolz ihr Werk. „Ich hab‘ ihn doch unsrer Putzhilfe versprochen, weißt Du.“ ‚Und an Papas Chronisch Obstruktive Bronchitis hast Du nicht gedacht“, denke ich.
Ein paar Tage später treffen sie und ich uns wieder, dieses Mal ohne Vater. Offensichtlich bringt der seiner Frau nach der Mutprobe mit dem versifften Kühlschrank nun genug Vertrauen entgegen. „Dass dieser Mann sich derartig wichtigtuerisch gebärden muss und so ein Gewese um diesen blöden Schlüssel macht“ sagt die Mutter „wir könnten schon ewig lange mit allem fertig sein.“ „Ja“, sage ich, „ich hätte es wissen müssen, hätte ja problemlos statt seiner die Betreuung bekommen, war mir ja angetragen worden. Ich aber dachte, es wäre gut für ihn, wenn er wieder eine Aufgabe hat. Wie konnte ich nur so naiv sein! So jemand wie er ändert sich nie.“
Wir sitzen auf dem Sofa, sprechen über die Tante und die Zeit mit ihr. Ich erzähle, wie sie mir im Zusammenhang mit ihrer letzten Kur den Schlüssel übergab: „Falls mir was passiert. Aber Du kannst gern hierherkommen, wann immer du magst und die Gemütlichkeit genießen. Ich habe es doch so hübsch hier.“ Kein einziges Mal tat ich es, diese dunkle Spießigkeit erdrückte mich nur. Nach Beendigung der Kur rief sie mich an und war außer sich: „Gib zu, dass Du die 100 Euro genommen hast, die ich in dem Kästchen über der Spüle aufbewahrt habe!“ Ich erkannte meine doch immer so vertrauensselige und großzügige Tante nicht mehr.
Und so hat sich die Alzheimer-Demenz ganz allmählich in unser aller Leben geschlichen. Die Mutter erzählt noch einmal, wie die Tante, die der Vater mindestens einmal in der Woche zum Essen abholte, damit sie eine gute Mahlzeit bekam, an einem der Tage hektisch in ihrer Wohnung herumgelaufen war und sagte: „Ich muss doch meiner Schwägerin ein Geschenk mitbringen!“ Und wie sie schließlich fündig wurde und ausrief: „Ich hab‘ was! Da wird sie sich freuen.“ Es handelte sich um zwei Rollen Toilettenpapier.
Letztendlich war uns nach einigen sich und andere gefährdenden Aktionen der Tante nichts anderes übriggeblieben, als den gerichtlichen Beschluss zum Umzug ins Altenheim zu beantragen.
Wir beide haben von der Couch aus den Blick in die enge dunkle Diele, spärlich möbliert mit ein paar Garderobenhaken, einem kleinen Regal, auf dem der Telefonapparat steht und einem Schlüsselbrett im Brokatstickerei-Look.
Die Mutter steht abrupt auf, geht in den Flur, kommt zurück und hält mir mit der Pose einer Siegerin etwas entgegen: „Unsre Freiheit!“, sagt sie. „Wir sind nicht mehr abhängig von diesem sturen alten Mann. Einen Teufel werde ich ihm davon erzählen. Hier ist der Ersatzschlüssel für die Wohnungstür.
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