Die Tür
Er war spät. Hastete durch den Haupteingang. Nahm nicht den Lift. Bloß jetzt nicht noch warten müssen. Nahm die Treppe, wie er immer die Treppe nahm, um in Form zu bleiben oder in Form zu kommen, je nach Jahreszeit.
Es war Frühsommer und seine Form war gut. Er rannte im Laufschritt zwei Stufen auf einmal nehmend, die knarrende Holztreppe hinauf und landete vor der Tür.
Eine dunkelbraune Tür, fast schwarz mit einem Butzenglasfenster in Augenhöhe. Die Adresse stimmte. Hier musste es sein. An beiden Seiten verziert durch ziselierte Intarsien aus hellerem Holz, bremste die Tür ihn aus. In Brusthöhe, ein blankes Messingschloss mit einem suppenlöffelgroßen Griff.
Er hob die Hand.
Kam nicht weit mit der Hand, nicht einmal bis in Reichweite des Griffes. Etwas stoppte ihn. Ein Gefühl, ein archaisches Gefühl der Bedrohung und Gefahr.
Er kannte diese Tür. Diese Tür in diesem Haus, in dem er noch nie gewesen war. Und doch hatte diese Tür als Bild einen festen Platz in seinem Kopf und das seit langem schon. Nur ein Bild, vielleicht ein Traum?
Auch das Gefühl kannte er. Das Gefühl, dass ihn jetzt in diesem Moment in die Mangel nahm und in die Form eines viel zu leichten Kindes steckte, das sich noch in starren Schrecken gegen irgendetwas Unbegreifliches wehrt, ohne Chance.
Er kannte das.
Diese Schwere, als sei das Blut mit einem Male zu breiig für die Gefäße, die Muskeln zu schwer für die Sehnen. Der Schreck traf ihn ungeahnt, zitterte durch seine Zellen als habe er, eingeritzt in seine Knochen, nur auf diesen Auftritt gewartet.
Schon stand er bereit zur Flucht. Ein Impuls, der ohne Sinn und Verstand sein ganzes Sein ausfüllte.
Weg, weg von diesem Gefühl in seinem Kopf, in seinem Bauch, diesem Druck, den er kannte, nur zu gut kannte, der nicht neu für ihn war, der immer wieder einmal auftauchte wie ein Wal, der sein Luftloch öffnet und das Meer um sich herum in Aufruhr bringt.
Nur weg von hier, dachte er, dabei war er noch gar nicht richtig angekommen. Angekommen an seinem Ziel und voller Vorfreude auf das Zusammensein mit den Freunden, die endlich eine neue Wohnung gefunden hatten, dies feiern wollten mit ihm, wenn möglich die ganze Nacht durch, mit Essen und Trinken um das Leben zu genießen bei so viel Glück. Weggewischt, ausgelöscht innerhalb eines Augenblickes der Erinnerung.
Er kam nicht weiter. Dabei war die Tür, dass erkannte er sofort, nur diese eine Tür und er selbst mit seinem Gefühl sein eigentlicher Feind.
Während sich in ihm Kräfte verschoben, Bilder, Gerüche und Geräusche ihn ansprangen, kämpfte er hier vor der Tür um eine Entscheidung. Seine Hand auf dem Weg zum Suppenlöffeltürgriff hing wie festgenagelt in der Luft. Das Blut in seinen Beinen und Armen fühlte sich wie Eiswasser an und stieg bis hinauf in seinen Nacken.
Er musste hier weg.
Weg, bevor die Tür sich öffnen und er die Stimme hören würde, den Geruch von kalter Asche, die Geräusche der knarrenden Scharniere und der verstopften Lunge. Weg.
Irgendwo im Treppenhaus hinter ihm lachte wie aus heiterem Himmel ein Kind. Lachte und rief nach der Mutter, rief, sie solle doch hinschauen, wie es, das Kind das Treppengeländer hinunterrutsche, lachte und das Lachen der Mutter fiel in das Lachen des Kindes ein, und eine Tür schlug zu mit lautem Knall.
Seine Hand hatte sich an der Tür abgestützt, hatte intuitiv Halt gesucht in diesem Moment, als er wieder auftauchte aus dem Schattenreich seiner Erinnerungen.
Vorbei, dachte er, alles längst vorbei. Der Alte ist tot. Er hat keine Macht mehr über mich. Es sind meine eigenen Dämonen, die noch keine Ruhe geben. Noch nicht, aber bald.
Behutsam strich er über die filigranen Maserungen, erreichte den Messinggriff, atmete tief in den Leib und drückte den Griff hinunter. Die Tür öffnete sich leicht. Viel leichter als in seiner Erinnerung. Ein heller, lichtdurchfluteter Raum breitete sich vor ihm aus. Die Freunde am Fenster winkten ihm zu. Auf der Terrasse tanzten lachend zwei Frauen.