Seitenwind Woche 5: Verlassene Orte

Die Tür

Er war spät. Hastete durch den Haupteingang. Nahm nicht den Lift. Bloß jetzt nicht noch warten müssen. Nahm die Treppe, wie er immer die Treppe nahm, um in Form zu bleiben oder in Form zu kommen, je nach Jahreszeit.
Es war Frühsommer und seine Form war gut. Er rannte im Laufschritt zwei Stufen auf einmal nehmend, die knarrende Holztreppe hinauf und landete vor der Tür.
Eine dunkelbraune Tür, fast schwarz mit einem Butzenglasfenster in Augenhöhe. Die Adresse stimmte. Hier musste es sein. An beiden Seiten verziert durch ziselierte Intarsien aus hellerem Holz, bremste die Tür ihn aus. In Brusthöhe, ein blankes Messingschloss mit einem suppenlöffelgroßen Griff.
Er hob die Hand.
Kam nicht weit mit der Hand, nicht einmal bis in Reichweite des Griffes. Etwas stoppte ihn. Ein Gefühl, ein archaisches Gefühl der Bedrohung und Gefahr.
Er kannte diese Tür. Diese Tür in diesem Haus, in dem er noch nie gewesen war. Und doch hatte diese Tür als Bild einen festen Platz in seinem Kopf und das seit langem schon. Nur ein Bild, vielleicht ein Traum?
Auch das Gefühl kannte er. Das Gefühl, dass ihn jetzt in diesem Moment in die Mangel nahm und in die Form eines viel zu leichten Kindes steckte, das sich noch in starren Schrecken gegen irgendetwas Unbegreifliches wehrt, ohne Chance.
Er kannte das.
Diese Schwere, als sei das Blut mit einem Male zu breiig für die Gefäße, die Muskeln zu schwer für die Sehnen. Der Schreck traf ihn ungeahnt, zitterte durch seine Zellen als habe er, eingeritzt in seine Knochen, nur auf diesen Auftritt gewartet.
Schon stand er bereit zur Flucht. Ein Impuls, der ohne Sinn und Verstand sein ganzes Sein ausfüllte.
Weg, weg von diesem Gefühl in seinem Kopf, in seinem Bauch, diesem Druck, den er kannte, nur zu gut kannte, der nicht neu für ihn war, der immer wieder einmal auftauchte wie ein Wal, der sein Luftloch öffnet und das Meer um sich herum in Aufruhr bringt.
Nur weg von hier, dachte er, dabei war er noch gar nicht richtig angekommen. Angekommen an seinem Ziel und voller Vorfreude auf das Zusammensein mit den Freunden, die endlich eine neue Wohnung gefunden hatten, dies feiern wollten mit ihm, wenn möglich die ganze Nacht durch, mit Essen und Trinken um das Leben zu genießen bei so viel Glück. Weggewischt, ausgelöscht innerhalb eines Augenblickes der Erinnerung.
Er kam nicht weiter. Dabei war die Tür, dass erkannte er sofort, nur diese eine Tür und er selbst mit seinem Gefühl sein eigentlicher Feind.
Während sich in ihm Kräfte verschoben, Bilder, Gerüche und Geräusche ihn ansprangen, kämpfte er hier vor der Tür um eine Entscheidung. Seine Hand auf dem Weg zum Suppenlöffeltürgriff hing wie festgenagelt in der Luft. Das Blut in seinen Beinen und Armen fühlte sich wie Eiswasser an und stieg bis hinauf in seinen Nacken.
Er musste hier weg.
Weg, bevor die Tür sich öffnen und er die Stimme hören würde, den Geruch von kalter Asche, die Geräusche der knarrenden Scharniere und der verstopften Lunge. Weg.
Irgendwo im Treppenhaus hinter ihm lachte wie aus heiterem Himmel ein Kind. Lachte und rief nach der Mutter, rief, sie solle doch hinschauen, wie es, das Kind das Treppengeländer hinunterrutsche, lachte und das Lachen der Mutter fiel in das Lachen des Kindes ein, und eine Tür schlug zu mit lautem Knall.
Seine Hand hatte sich an der Tür abgestützt, hatte intuitiv Halt gesucht in diesem Moment, als er wieder auftauchte aus dem Schattenreich seiner Erinnerungen.
Vorbei, dachte er, alles längst vorbei. Der Alte ist tot. Er hat keine Macht mehr über mich. Es sind meine eigenen Dämonen, die noch keine Ruhe geben. Noch nicht, aber bald.
Behutsam strich er über die filigranen Maserungen, erreichte den Messinggriff, atmete tief in den Leib und drückte den Griff hinunter. Die Tür öffnete sich leicht. Viel leichter als in seiner Erinnerung. Ein heller, lichtdurchfluteter Raum breitete sich vor ihm aus. Die Freunde am Fenster winkten ihm zu. Auf der Terrasse tanzten lachend zwei Frauen.

Hommage an Herb

Langsam lasse ich meinen silbergrauen Acht C ausrollen, noch ganz kurz knirscht der Kies unter den Rädern, bevor der Wagen steht. Dann drehe ich den Zündschlüssel und das satte Röhren des Achtzylinders erlischt. Jetzt ist es ganz still. Ich liebe dieses kurze Vakuum zwischen dem aufdringlichen Lärm der Fahrt und dem stillen Lärm der Ankunft. Fast traue ich mich nicht zu atmen, nur weil ich diesen Moment nicht zerstören will.

Nach einer Weile öffne ich die Türe - klack macht das - steige aus, gehe zum Kofferraum, nehme mir meine alte Tumi Tasche und setze meinen grauen Boston Pork Pie auf. Eine Jacke brauche ich nicht. Es ist kurz nach neun, langsam neigt sich die Sonne dem Meer entgegen, das irgendwo hinter den Dünen liegt. Die Fahrt war lang, meine Kehle ist staubtrocken.

Ich verlasse den Parkplatz nach rechts. Ein kleiner Pfad schlängelt sich hinauf. Es geht links vorbei an einer kleinen Strand-Kiefer, der Boden ist noch steinig, aber an der nächsten Biegung kommt ein Findling und dort wird der Untergrund sandig. Ich ziehe meine Schuhe aus und lege sie auf die Tasche.

In diesem Moment steigt mir die salzige Luft des Meeres in die Nase. Es riecht nach Sonne und nach den Holzbohlen vom Steg und es riecht nach frischem Gras und nach den Wildblumen, die wie bunte Tupfer das Grün der Dünen durchziehen. Der Wind weht leicht durch den Strandhafer und das sieht ein bisschen so aus wie Wellen an Land. Mit jedem Schritt verblasst die Erinnerung der Stadt, mit jedem Schritt verblassen die Stimmen der Mandanten. Endlich erscheint hinter der letzten Düne meine Hütte, der Strand, das Meer und auch der hölzerne Steg.

Herb hat die Hütte wie immer vorbereitet, ich lege die Tasche auf das Sommerbett und gehe zum Kühlschrank. Im Eisfach finde ich die beiden Tumbler mit Eiswürfeln. Ich nehme sie raus, fülle sie je zur Hälfte mit Monkey 47 Dry Gin und mit Thomas Henry Elderflower. Alles steht genau dort, wo es hingehört. Herb macht das wirklich gut, soviel steht fest.

Jetzt wo ich an Herb denke, sehe ich ihn wieder vor mir. Seinen aufrechten Gang, den schlanken Körper und die immer schwarze Kleidung mit den offenen Ledersandalen von Bottega Veneta, die er auch im Winter und auch vor Gericht getragen hat. Ich sehe auch sein Gesicht, das von seinen weißen, schulterlangen Haaren und seinem Vollbart nahezu verdeckt wird.
Sein Leben als Strafverteidiger hat tiefe Furchen gegraben, seine Augen sind immer klar. Und ich sehe auch das Tattoo des kleinen Prinzen, das aussieht, als umarme er Herbs Hals.

Also, vor mir stehen die beiden Gläser. Das erste Glas leere ich sofort. Mit dem zweiten gehe ich über den Strand zum Steg und setze mich vorne auf den Rand. Der Gin fängt langsam an zu wirken, das weiß ich. Es beginnt hinten rechts im Auge und breitet sich dann über das gesamte Sichtfeld aus. Das Meer vor mir wird Stück für Stück verschwommener und am Rand löst es sich einfach auf.
Genau das, die sanften Wellen am Steg und das leichte Klicken der Eiswürfel machen mich ganz ruhig. Ich sitze da bis die glutrote Sonne im Meer versunken ist. Dann gehe ich zurück zur Hütte, lege mich aufs Bett und schlafe ein.

Haus am Meer

Das Badetuch umgehängt, mit Badeanzug und Strandschuhen schlendert Antonia frühmorgens zum Nachbarhaus. Der Sonnenaufgang taucht die drei kleinen Ferienhäuser direkt am Strand einer kroatischen Insel in ein sattes Orange. Seit einer Woche war sie nun hier auf Erholung und nur ein weiteres Haus war bewohnt. Sie hatte die Nachbarin erst vor zwei Tagen am Gartenzaun kennen gelernt. Antonia schätzt sie auf vielleicht dreißig Jahre, eine umwerfend attraktive Frau mit langen, mahagonifarbenen Haaren und smaragdgrünen Augen.
„Elisa?“, ruft sie durch das offene Schlafzimmerfenster.
„Wir wollten heute gemeinsam schwimmen gehen, bist du wach?“. Langsam drückt sie die Türklinke runter, es ist nicht verschlossen, sie späht in den Wohnraum.
„Elisa?“, fragt sie nochmals. Mehrmals klopft sie an den Türrahmen. Sie sieht die Unordnung auf dem Sofa und dem Couchtisch. Leere, umgekippte Gin Flaschen, benutzte Gläser, Kleider, Schuhe, alles wild durcheinander auf Boden und Möbeln. Auf der Anrichte der kleinen Küche stapeln sich schmutziges Geschirr und geöffnete Dosen mit Fertigmahlzeiten.
Antonia tritt zögernd ein und ein zartblumiger, pudriger Duft nach Bergamotte, Rose und Sandelholz steigt ihr in die Nase. Chanel Nummer 5, schätzt sie.
„Elisa, soll ich später nochmal kommen?“. Ein leises, gleichmäßiges Rauschen ist von der Hinterseite des Wohnraumes zu hören, es ist ein alter Plattenspieler, der Tonarm ist angehoben, die Platte dreht sich noch. Antonia stellt den Hebel zurück und macht das Gerät aus. „Die Moldau“ von Friedrich Smetana steht auf dem Vinyl. Sie hat gestern die Musik den ganzen Nachmittag bis zu ihrem Haus gehört, immer und immer wieder in ziemlicher Lautstärke.
Langsam steigt sie die Wendeltreppe ins Obergeschoß hoch.
„Elisa?“.
Die Tür zum Schlafzimmer steht offen, die Gardinen wehen sachte vor der geöffneten Balkontüre. Das Bett ist ungemacht und auch hier oben liegen Kleider, Schuhe, Ginflaschen und Gläser in wilder Unordnung verstreut. An der Wand oberhalb der Kommode, an der schmalen Seite des Raumes, hängt ein großer Spiegel mit einem schweren Holzrahmen und auf dem weißen Möbelstück liegt eine Schere, umgeben von langen, dicken mahagonifarbenen Haarsträhnen.
Antonia tritt an die Balkontüre, sieht zum Strand, ihr Atem stockt: ein weißes Kleid liegt auf den Felsen, daneben Flip-Flops und Unterwäsche. Sie umklammert die Tür, ihr Herz rast. Das Meer liegt ruhig vor ihr, es ist niemand zu sehen, kein Schwimmer, kein Boot, nichts.

Papa

Beim Betreten des Hauses überkommt mich ein mulmiges Gefühl. Obwohl du schon fast ein Jahr hier nicht mehr lebst, nehme ich deinen Geruch wahr. Hier hast du fast dein ganzes Leben verbracht.
Du hast immer gesagt, niemals würdest du umziehen, hier ist deine Heimat. Hier hast du mit 6 Jahren, nach einer Flucht zu Kriegszeiten, deine Wurzeln geschlagen.
Einst war es nur eine Scheune. Du und dein Ziehvater haben daraus ein Haus gebaut.
In den Jahren, die du hier gelebt hast, gründetest du eine Familie und das Haus wurde zu klein. An den Abenden und Wochenenden hast du es vergrößert. Ein Anbau mit einer riesigen Dachterrasse, die einen wunderschönen Ausblick durch das Tal bot, war das Ergebnis der vielen Stunden, die du diesem Haus gespendet hast.
Dann kam der Schicksalsschlag, deine Frau konnte nicht mehr laufen und du standest vor einer Mamutaufgabe. Wieder verbrachtest du Stunden damit, dass Haus rollstuhlgerecht umzubauen.
Ein neues Bad, eine Rampe neben der Treppe und vieles mehr, veränderten das Haus von Innen und Außen.
Neben der Arbeit, die Pflege deiner Frau und das große Gelände, um das Haus herum, plagten dich die Bandscheiben. Aber zum Klagen blieb keine Zeit. Deine Freunde von früher kamen immer seltener. Du kanntest nur noch eins: deine Pflichten, doch der Krug geht nur so lange zum Brunnen bis er bricht. Es war nicht der Krug, sondern der Rücken. Zu groß war die Last, die du versuchtest zu bewältigen. Deine Kräfte waren aufgebraucht. Der Körper setzte ein krasses Zeichen. Du musstest deine Arbeit aufgeben. Trotz deinen Schmerzen pflegtest du weiterhin deine Frau, bis zu ihrem letzten Tag. Einsamkeit war von diesem Tag an, dein ständiger Begleiter. Ab und zu kamen die Töchter und das das Enkelkind vorbei, doch du lebtest in deinem Haus mit all deinen Erinnerungen.
Depressionen quälten dich. Dann kam er zu dir, ein Geschenk von mir. Wutz, ein Kater, der seinen eigenen Kopf hatte. Er gab dir eine neue Aufgabe. Forderte dich heraus und ihr beiden wart ein Team. Niemals hättest du früher erlaubt ein Tier mit ins Bett zu nehmen. Doch Wutz hielt sich nicht an Vorschriften. Schnell nahm er den Platz an deiner Seite ein. Schlief neben dir im Bett. Brachte dich zum Lachen. Überall in der Wohnung lagen Geschenke von Wutz an dich. Tote Mäuse, Blindschleichen. Ringelnattern … seine Liebe zu dir war recht blutig. Immer wieder hattest du Bisswunden an den Händen.
Im Dezember 2018 kam dann der größte Schlag, Wutz lag tot am Straßenrand. Überfahren. Eine unermessliche Trauer befiel dich. Nichts konnte dich trösten. Dein Körper baute in Windeseile ab und im Mai kamst du ins Krankenhaus. Der Pflegenotstand besiegelte dein Ende.
Ich stehe jetzt hier, in dem Haus, was du aufgebaut hast. In den du jeden Pfennig gesteckt hast. Um dessen Erbe, du durch deine eigene Mutter betrogen wurdest. Es ist leer. Keine Möbel, keine Geräusche, nichts mehr, ausser dein Geruch.

LINKS, DREI METER SENKRECHT

Als sich die letzte der Marmorplatten auf die Seite schob kamen mir fliegende Herzen entgegen.

Ganz erstaunt über meine Wahrnehmung drehte ich mich zu meinem Kollegen um und bemerkte, dass er nichts solches wahrnahm. Im Gegenteil, er war völlig fixiert mit seinen Körperaugen etwas Reales zu entdecken. Also schwieg ich lieber.

Überall hingen Seile, das Licht der vielen Baustrahler tat mir weh in den Augen. Maschinengeräusche. Es roch nach kaltem Stein - zu sehen war jedoch kein Gebein.

Lautes Stimmenwirrwarr und die Aufregung der Menschen umgaben mich, hallten an den Wänden zurück wie in einer Höhle. Hunderte von Kamerablitzen. Mir wurde schwindelig.

Immer noch herum-fliegende Herzen. Aber diese bereiteten mir Schmerzen, körperliche und seelische. Mein Kollege war ganz aufgedreht – ich aber war nicht mehr im Stande meine Tränen zurückzuhalten.

«Geht es dir gut?» flüsterte Bernd mir hastig ins Ohr. Meine Tränen waren ihm offensichtlich peinlich. Klar, überall waren Menschen am Filmen, fotografieren, und andere bekannte Archäologen standen neben uns.

Doch in mir, urplötzlich, eine unendliche Ruhe und ein süsser Frieden, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Ich habe mich noch nie so frei und glücklich gefühlt wie in diesem Moment. Und ich schrie: «Das IST das Grab von Jesus!«

Seit geraumer Zeit fahren wir mit dem Auto über flache Hügel und sanfte Täler.
Wir, meine jüngste Tochter mit meinem Schwiegersohn. Das Navigationsgerät zeigt, das nur noch wenige Kilometer bis zu unserem Ziel bleibt.
Der Frühling scheint langsam Einzug in diese Landschaft zu halten, überall bemerkt man frisches Grün, durch die Alleebäume durchscheinen.
Auf den Weideflächen sieht man kein Vieh und kein Traktor, der die ersten Furchen für dieses Jahr zieht.
Dort das wird es sein, ruft meine Tochter begeistert.
Wir fahren über einen sanften Hügel und in dem weiten Tal schlängelt sich ein funkelter Bach und ein alter Gutshof liegt verSeit lassen am Weg.
Das kleine Wohnhaus mit seinen neben Gebäuden steht vor einer Streuobstwiese, davor eine mächtige Linde mit einer Rundbank, die zum Verweilen einlädt.
Der Kiesweg auf dem Grundstück ist gepflegt und führt am Hof vorbei direkt zur Haustür.
Eine schwere Limousine steht auf dem Vorplatz, die Maklerin scheint auf uns zu warten.
Schön das sie so rechtzeitig da sind. Haben sie es gut gefunden? Flötet mit gekünstelter Stimme, kommt sie auf uns zu.
Wir würden uns gerne einfach mal umschauen, erklärt ihr meine Tochter.
Da ich kein Mitspracherecht habe, wandere ich über den Hof. Die Stalltür steht offen, ich trete ein. Es riecht noch nach Kuh, nach Stroh, nach Heu. Da stehen ja Tiere im Halbschatten und kauen genüsslich. Irgendjemand hat sie gefüttert. Hatte Kim nicht davon gesprochen, dass der Gutshof leer sei.
Es sind wenige Tiere, ein paar Scharfe, zwei Kühe, ein Schwein. Die Katzenmutter liegt in einer Heukuhle mit den noch blinden Katzenkindern. Alle scheinen mich zu beobachten, aber keins zeigt Angst oder Scheu. Sie sind gut behandelt worden, so bin ich für sie keine Bedrohung.
Eine schnelle Bewegung in meinem Augenwinkel. Ich drehe mich erschreckt um. In der Stalltür steht ein großer Hütehund. Bevor ich Angst entwickel, kommt er wedelnd auf mich zu, stupst mit der Nase meine Hand, wie zur Begrüßung.
Mit Tieren hab ich so meine Probleme, sie können mich nicht leiden, aber dieser Hund hat keine Wahl. Er merkt, dass er einen neuen Besitzer benötigt.
Ich schlender weiter durch die Stalltür an kleinen Nebengebäuden vorbei Richtung Wohnhaus. Die Maklerin mit meinen Kindern kommt mir über den Hof entgegen. Beim vorüber gehen höre ich die Dame zu einer Erklärung ansetzen, dass doch Tiere anwesend sind, aber sie heute Nachmittag abgeholt werden.
Der Hund drängelt sich an mein Bein. Eine schwere Holztür, die ins Haus führt, ist nur angelehnt. Der dunkle Dielenboden knarrt, wie ich eintrete, rechts steht eine nostalgische Gattrobe, leer.
Mein Blick fällt in einen großen Raum, dieser scheint das gesamte Untergeschoss auszufüllen. Ein riesiger Eichentisch mit grober Bank unter dem Fenster zeigt, das viele Menschen hier wohnten: Bauer, Knecht, Mägde, Kinder. Es ist sauber. Ich hätte wenigstens mit einer kleinen Staubschicht gerechnet. Die hintere Wand füllt eine weiße Küchenanrichte, ein großer Vintage Küchenofen, Arbeitsflächen mit Unterregalen, teilweise stehen die Töpfe und Pfannen noch auf ihrem angestammten Platz.
Der Hund winselt leis.
Seitlich führt eine Holztreppe nach oben, bestimmt sind dort die Schlafzimmer. Eigentlich bräuchte ich nicht nach oben, aber der Hund schiebt mich in diese Richtung.
Wie ich es mir dachte, mehrer Türe im Flur, sechs einzelnen Zimmer. Im halb Schatten liegt noch ein etwas kleiner Hund vor der hinteren Tür.
Hatte Kim nicht gesagt, dass dieses Bauernhaus schon ein Jahr leer steht. Irgendwie kann das nicht sein. Wer hat die Tiere den versorgt?
Die Tür knarzt, wie ich sie öffne, die Hund drängen an mir vorbei. Im halb dunkel sitzt eine Frau auf zwei Koffern.
Es ist ein Schlafzimmer mit großem bemalten Bauernschrank, Ehebett, in der Ecke hängt ein Kreuz und eine fein gearbeitete Madonna steht auf einem Nachtschränkchen, davor.
Die Frau schaut auf. Der Abdecker wird die Tiere heute Nachmittag holen, sie sind alt und zu nichtsmehr zu gebrauchen.
Der kleine Hund bellt leise.
Ja, Bell es wird Zeit für den Abschied. Ich weiß, es sollte schon längst leer geräumt sein. Die Verkäuferin liegt mir seit Tagen in den Ohren, das die Menschen aus der Stadt, alles anders machen und hier kein Platz mehr ist. Es wird verkauft ohne Leben.
Bell, meine Liebe, der Tierschutz wird gleich da sein. Ich warte auf ein Taxi, gnädige Frau. Hier auf dem Land kann es eine Weile dauern.
Die beiden Hund haben sich wie ein Schutzschild vor die alte Bäuerin gesetzt.

Meine Tochter scheint schon eine Zeitlang in der Tür zu stehen.
Der Hof ist nicht das, was wir uns vorgestellt haben, Mutti.
Aber der Sinn eines Gnadenhofs, das hat hier einen guten Anfang.

(Arbeitstitel: Hofgut Allerlei)

Ein letztes Mal …

An einem Sonntagmorgen, beim gemütlichen Kaffee trinken …
Meine Mutter streckte mir ein A4 blatt entgegen, auf dem ein Foto des Hauses meiner Oma zu sehen war: „Wenn du nochmal dahin möchtest, musst du dich beeilen … Das Haus wird nächste Woche abgerissen“
Das hatte gesessen! Ich wusste schon lange, dass dieser Tag einmal kommen würde, aber weil jahrelang niemand mehr darüber sprach, hatte ich es fast vergessen.
Das Haus stand ganz nah an einem Bahngleis und obschon es an diesem Ort sehr schön ist - eine kleine idyllische Gemeinde in der Schweiz unweit eines schönen Sees - wollte niemand es mehr haben. Der Zugverkehr hatte sich in den letzten 80 Jahren verzehnfacht. Der riesige Garten, die Obstbaüme und die vielen üppigen Beerensträucher, konnten mit den schnell vorbeifahrenden Zügen nicht konkurrieren.
Ich entschied, mich nochmal zu gehen, den ein endgültiger Abschied ist etwas anderes, als wenn ein altes Haus neu bewohnt wird …
Zwei Tage später stand ich nun da, vor dem großen alten Haus. Mir war richtig mulmig zumute. Mein Bauch schnürte sich zusammen und ich musste einen tiefen Atemzug nehmen, bevor ich das Haus betrat: „Dies ist also das letzte mal das ich dich sehe“, murmelte ich leise vor mich hin …
Schon oft waren wir hier, als das Haus schon leer war. Wie es halt so ist, kommen die Kinder und Kindeskinder nach dem Ableben der Oma, um noch ein paar Souvenirs von früheren Zeiten zu ergattern. Schon damals war das Gefühl sehr bedrückend, denn das sonst, immer mit liebe gepflegte Haus, stand einfach nur da, öd und leer.
Danach wurde in der Familie immer wieder spekuliert, was nun mit dem Haus geschehen sollte. Die Geschwister waren uneins und so zogen die Jahre über das Land, ohne das irgendetwas geschah … Einzig die vielen Früchte wurden immer wieder eifrig gepflückt und in der Familie verteilt, denn die alten Obstbäume gaben nach wie vor jedes Jahr einen großzügigen Ertrag.
Heute war alles anders … Bei jedem Schritt schaute ich mich um und suchte überall nach Gründen, weshalb das einst so schöne alte Bauernhaus, jetzt wegmusste.
Über dreissig Jahre stand das Haus nun leer, und die Zeit hat ihre Arbeit geleistet.
Die ungepflegten Holzdielen knarrten unter jedem meiner Schritte. Alle Räume wahren leergefegt, bis auf den alten standhaften Kachelofen.
Abgesehen vom Garten, hatte niemand mehr Interesse an dem alten Haus gezeigt und so hingen überall Staubschlacken von der Decke herab. Gespenstisch flatterte im oberen Stock ein alter Vorhang vor sich hin. Der Kit an den einfachen alten Fenstern, war so alt und zerbröckelt, dass beim letzten starken wind gar die ganze Scheibe aus dem Rahmen geflogen war, und dort in tausend kleinen Stückchen immer noch lag.
Ich lief gemütlich durch das große Haus und prägte mir jedes Zimmer noch ein letztes Mal ein. Erinnerungen schossen wie wild durch mein Kopf. Ich traf in jedem Raum liebe Menschen, die einst in meiner Kindheit dorthin gehörten.
Aus der Küche lächelte mich als allererste meine Oma an. Da stand die feste stämmige Frau, mit Rot angelaufenen Wangen an ihrem Herd, schob ein Holzscheit hinein und schaute von unten gebückt in meine Richtung.
Im Wohnzimmer tummelte sich meine ganze Familie. Meine Kusinen und meine Schwester kämpften um einen warmen Platz auf der Sitzbank des Kachelofens. Mein Vater saß auf der Couch und blätterte sinnesabwesend in einer Zeitung … Meine Mutter befand sich im Esszimmer und deckte mit einer meiner Kusinen den Tisch.
Die alte Pendeluhr an der Wand tickte gemütlich vor sich hin und ein Geruch von Sonntagsbraten stieg uns allen in die Nase …
„Na ? Nostalgisch ?“ … Die Stimme hinter mir weckte mich ruckartig aus meinen Tagträumen auf, und so stand ich wieder, inmitten dem kahlen, winddurchzogenen Wohnzimmer. Mein Onkel, der unweit zuhause ist, war eingetroffen und stand für mein Empfinden urplötzlich einfach da. Ich blickte ihn mit wässrigen Augen an und nickte still. Er Nam mich bei der Hand: „Komm; wir gehen noch zusammen in die Scheune. Ich möchte nicht, das du alleine dort hingehst. Das alte Haus ist vielerorts gefährlich geworden“.
Mein Onkel lief voraus … Als wir die Scheune betraten, wirbelten Millionen Staubpartikel glitzernd, durch die Sonne die durch einen Schlitz in der Holzwand durchschien, in der Luft herum. Dort stand er, mein Opa, in einer Ecke der Scheune, drehend an dem großen Mahlstein, den er sich gebastelt hatte, um seine Messer zu schleifen. Schon sehr lange war mein Opa von uns gegangen und deshalb blieben mir von ihm, nur ganz wenige, einzelne Bilder und eines davon war dieses.
Ein zweites war noch, als er zum Stroh lief, vorsichtig ein altes Holzbrett zur Seite hob, und sich mir ein Haufen winziger Kätzchen offenbarten …
„Nicht anfassen“ hör ich ihn heut noch sagen … „Sie sind noch zu klein“…

„Komm“, weckte mich abermals mein Onkel auf. „Genug getrauert …Wir gehen jetzt noch zu uns nach Hause, einen warmen Kaffee trinken. Deine Tante wartet schon auf uns …“
Als wir den schmalen Pfad am Waldrand hochliefen, blickte ich nach einiger Zeit ein letztes Mal auf das alte Haus zurück. Ein letztes Mal …, auch dieser Anblick, den mein Onkel und meine Tante ziehen auch bald um, weg aus dem Dorf in die nahe gelegene Stadt … „Das ist altersgerecht“ pflegt er zu sagen … und so weiß ich, das ich heute zum letzten Mal, diesen Blick, von oben auf den See hinunter, auf das alte Bauernhaus, tun werde …

Horrortrip

… „Gehn wir wieder mal hin?“
„Wie kommst denn darauf?“
„Nur so - also, gehen wir da wieder mal hin? Wir waren schon lange nicht mehr dort.“
„Mag sein, aber ich sehe keinen Grund, mich da noch einmal blicken zu lassen. Immerhin bin ich dort fast zusammengebrochen.“
„Na ja, das ist doch leicht übertrieben.“
„Ich weiss, du hast dich dort immer wohlgefühlt, aber ich habe diesen Ort gehasst.“
„Immerhin hast du von dieser negativen Energie lange profitiert - bis du deinen Hass nicht mehr im Griff hattest.“
„Da hast du natürlich Recht.“
„Also, gehn wir wieder mal hin?“
„Du meinst, ich habe gelernt, mich besser zu beherrschen?“
„Nein, du bist langweilig geworden.“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst. Du willst, das ich diesen Ort wieder aufsuche, weil ich nicht mehr aggressiv genug bin?“
„Das hab ich nicht gesagt.“
„Aber gemeint?“
"Morgen geht es los. Wir hatten noch Glück, das Fastenhotel ist nahezu ausgebucht.“ …

Tiefes Schwarz

Jemand betritt den Raum. Es ist stockdunkel, düster. Ein ungutes Gefühl erschleicht sich den Weg über den Kopf und etwas weiter herab. Die Nackenhaare stellen sich langsam auf und der eigene Körper fuhlt sich plötzlich etwas kühl an. Keine Sorge. In kurzer Zeit dürfte in dem Raum ja bereits etwas zu erkennen sein. Tatsächlich es zeichnen sich leichte Konturen des Raumes ab, aber sie sind verschwommen. Es ist viel größer als angenommen. Während einer kurzen trance zeichnen sich helle Streifen im oberen Teil des Raumes ab. Sie Glitzern ein wenig und heben sich vom Dunkel ab. Es sind schwebende Klaviertasten. Sie sind sogar aneinandergereiht. Jemand fragt sich: „was soll das?“ - mehr in sich hinein als in den Raum. Doch es fängt langsam an zu vibrieren. Ein kitzel in den Ohren jemand anderes haucht. Oder ist ein nur ein Schall wie wenn man unter einer Brücke steht. Nun jemand ist wohl nicht allein. Es flüstert: „spiele weiter Klavier, jede Taste hat einen anderen Ton. Du kannst nicht voraus sehen wie sich die Tage entwickeln. Was aus deinem Leben wird“

Elsbeth

Im Park war nicht Stadt und nicht Land. Ein paar imposante Villen mit prachtvollen Gärten grenzten an. In weiter Ferne, hinter dem Flachmoor bildeten Spielzeugautos eine endlose Schnur und zerschnitten das Land.
„Erlauben Sie, dass ich mich zu Ihnen setze?“, fragte da wie aus dem Nichts eine klare, helle Stimme, unterbrach Rudolfines Gedankenreise. Sie gehörte einer Dame mit graumeliertem Haar, das zu einem perfekten kinnlangen Bob geschnitten war. Sie trug eine schlichte schwarze Brille und schicke Freizeitkleidung, hielt einen Dackel an der Leine.
„Dies ist die Stelle mit der schönsten Aussicht auf die Stadt. Die Villa vor uns, die mit den vielen weißen Fenstern und der Ulme im Vorgarten, sie war mein Elternhaus“, sagte sie. Rudolfine bat mit einer einladenden Geste, sie möge sich setzen. Die Dame sprach weiter, band unterdessen die Leine des Hundes an der Bank fest. „Ich war ein kleines Mädchen, da zogen wir weit weg in eine andere Stadt. Es war Vaters Entscheidung, nachdem ich einige Monate davor mein linkes Bein bei einem Unfall verloren hatte. Anfangs war das schrecklich für mich, aber im Zuge der Jahre lernte ich, mit einer Prothese zu laufen. Später fand ich trotz meiner Gehbehinderung einen Mann. Wir bekamen einen Sohn. Er war ein hübscher Junge. Alles lief viele Jahre lang wie am Schnürchen. Wir führten ein glückliches Leben. Bis zu jenem Tag, an dem unser Sohn starb. Er hatte kurze Zeit davor vor den Betrieb meines Mannes übernommen. Jahre später lag ich eines Abends im Bett, allein, denn wenige Wochen nachdem unser Sohn nach seinem plötzlichen Herztod begraben war, hatte mein Mann mit einem Revolver in seine quälenden Gedanken geschossen. Alles, was nicht echt an mir war, nicht angewachsen, entfernte ich. Es waren dies das linke Bein, die rechte Brust, alle Zähne, Haare und Brille.“
Elsbeth unterbrach kurz ihren Bericht, um sich über die Augen zu wischen. Rudolfine wartete schweigsam auf die Fortsetzung, welche unmittelbar darauf folgte.
„Früh am Morgen des nächsten Tages setzte ich Brille und Perücke auf, montierte das Bein und die Brust, steckte die Zahnprothese in den Mund. Nach dem Frühstück packte ich die Koffer. Am Tag darauf kehrte ich hierher zurück: in die Stadt meiner Geburt. Ich kaufte mir eine komfortable Wohnung und einen Dackel. Die Haare wuchsen nach und ich schloss Frieden mit der Vergangenheit. Zum Sterben war es zu früh gewesen. Mein Gott, ich rede wie ein Wasserfall, anstatt mich vorzustellen!“
„Nein, warten Sie“, unterbrach Rudolfine die Dame hastig, „ist nicht notwendig. Ich kenne Sie. Sie sind Elsbeth. Elsbeth Sakoparnig. Sie wohnen im Siedlungshaus da drüben am Hang, sie sehen von ihrer Terrasse direkt auf das seinerzeitige Elternhaus. In dieser Villa habe auch ich gelebt. Erinnern Sie sich an den mit Holz verkleideten Raum, an die Nische hinter dem grünen Kachelofen, an den Kirschbaum vorm Fenster? Es sei das Zimmer der Mutter des Arztes gewesen, das Ihrer Großmutter, so hatten es die Leute erzählt. In der Nische hinterm Ofen habe sie geschlafen, wegen ihrer ständig kalten Füße. Schauen Sie Elsbeth! Die Holzbank an der Hausmauer! Mein Vater hat die Bank vom Wartezimmer weggenommen und vor das Haus unter den Dachvorsprung gestellt. Sie scheint die Einzige zu sein, die geblieben ist. Philomena, die vorletzte Besitzerin, auch nicht. Ich vermisse ihre Hand, welche den ganzen Tag lang das Staubtuch durch das Giebelfenster ihres Schlafzimmers ausgebeutelt hat. Eine Begleiterscheinung beginnender Demenz? Nun lebt sie im Seniorenheim und die Villa steht leer. Übrigens, mein Name ist Rudolfine. Rudolfine Stivos. Ich bin nicht hierher zurückgekehrt, besuche indes ab und zu den Ort, wo ich gelebt habe. Sonderbar: Heimatgefühle kamen erst, nachdem ich den Ort der Geburt verlassen hatte.“

„Hast du etwas von Kirsten gehört?“ fragte mich mein Chef. Nein, ich hatte keine Ahnung, warum sie nicht pünktlich zur Arbeit erschienen war. Zwei Stunden zu spät, dass sah ihr nicht ähnlich. Zumal sie sich keine Teamsitzung auf Chefebene entgehen lassen würde. Ich war mit Kirsten enger befreundet und sie war es, die mich ins Team geholt hatte. Die Vermarktung von Design Mobiliar, für eine bekannte norddeutsche Firma, gehörte zu unseren Aufgaben. Ich rief sie das dritte Mal auf ihrem Handy an, doch es meldete sich wieder nur ihre Mailbox. Die Stunden vergingen. Alle hingen ihren rutinemäßigen Aufgaben nach. Mein Arbeitgeber bat mich, nach Feierabend bei Kirsten vorbei zufahren und nach ihr zu sehen. „Was wenn ihr etwas zugestoßen ist?“ Das fragte ich mich auch schon die ganze Zeit. Eine halbe Stunde vor Dienstschluß stand ein Kollege in der Tür und die Information, die er an uns weitergab, war mehr als irritierend. Ein Mitarbeiter einer Speditionsfirma, die auch für unser Unternehmen tätig war, hatte sich gemeldet. Es war der Bruder unseres Kollegen der sich mit diesem Telefonat über seine Kompitenzen hinweg gesetzt hatte, als er mitteilte: „Eure Kirsten ist gestern Abend aus ihrer Wohnung ausgezogen.“ Mir fiel die Kinnlade herunter. Was soll das denn?, fragte ich mich doch alle Augen ruhten auf mir, als wäre ich die Komplizin eines geheimen Vorhabens. Ich fuhr gemeinsam mit meinem Chef zu Kirstens Wohnung. Tatsächlich war sie leer. Sie hatte ohne jemanden einzuweihen alle Brücken hinter sich abgebrochen. Das Speditionsunternehmen sollte ihre Möbel bis auf weiteres einlagern. Mehr wussten die auch nicht.
Das Ganze ist jetzt zehn Jahre her. Irgenwann tauchte ihr Gesicht im Internet auf. Sie arbeitete inzwischen in einer Großstadt in Deutschland als Coach für Persönlichkeitentwicklung.
Aus den Augen aus dem Sinn? Nein, sicherlich nicht. Ihre Stelle wurde an eine Kollegin weitergegeben, aber was treibt einen Menschen dazu, sein Leben so radikal zu verändern. Ich hätte es gerne verstanden.

Vor lauter Bäumen

Vor lauter Bäumen
Der Vater hat die Schlüsselgewalt und öffnet die Wohnungstür. Uns schlägt ein undefinierbarer Geruch entgegen, der abstoßend ist: nicht richtig süß, aber auch nicht sauer, nicht dumpf, nicht hell, nicht nach Ammoniak oder Fäkalien, ein wenig nach verdorbener, stark vergorener Milch vielleicht und dann doch wieder nicht. Ich weiß nur, dass ich ihn für den Rest meines Lebens in meinem olfaktorischen Gedächtnis gespeichert haben werde. Die Fensterläden sind geschlossen. Ich lasse Licht in die Wohnung und öffne weit die Balkontür.

In der Küche steht gebrauchtes Geschirr in der Spüle, die Henkelbecher haben allesamt braune Ränder im Inneren und auf der Unterseite Brandspuren. „Schaut mal, Sie hat sich in denen wohl den Kaffee direkt auf der Herdplatte gekocht. Was da hätte passieren können!“ , sage ich. Der eklige Geruch lässt sich nicht an mich gewöhnen. Als ich den Kühlschrank öffne, schlägt er mir mit unbarmherziger Intensität entgegen, und ich werfe die Tür sofort wieder zu, als ich Schimmel über Schimmel sehe.
„Mutter“, sage ich, „bitte lass die Finger davon und komm nicht auf die Idee, ihn auszuwaschen. Das hier ist stark gesundheitsgefährdend.“ Da hat der neunmalkluge Vater doch tatsächlich vor ein paar Tagen einfach den Stecker aus der Dose gezogen und dieses Desaster verursacht. Ich sage aber nichts, er weiß ja sowieso alles besser.

Er hat die Gewalt über den Schlüssel und war der Erste und Einzige, der zunächst die Räume betrat. Erst dann gab er sie frei für die Mutter und mich und unsre Arbeitskraft. Die Mutter sagt nichts zu meiner Aufforderung. Nun hat sich mein Vater zu uns gesellt und beginnt, im Schreibschrank zu kramen, und bald darauf sitzen die Eltern auf dem Sofa und sortieren Papiere.
Wie bescheiden doch die Tante hier gelebt hat! Eine spießige Couchgarnitur im undefinierbaren Stilmöbel-Look, in die Jahre gekommen, die Polster verblichen und schäbig, die obligatorische berüchtigte Gelsenkirchner-Barock-Schrankwand, an den Wänden viele Fotos aus vergangener Zeit: ein Portrait der Großmutter, eines der ältesten Schwester nebst vierjährigem Sohn, der während der Flucht an Diphterie erkrankt war. Er starb, bevor er richtig leben durfte, zum Glück ein paar Tage vor seiner Mutter, die Typhus hatte. Da hängt einiges an Leid an den Wänden.

Aber wie stolz die Tante auf ihre Einrichtung gewesen ist! Das hier war ihr Nest, ihr Rückzugsort, an dem sie sich wohlfühlte. Das Wichtigste war ihr immer, ein warmes, gut geheiztes Zuhause zu haben, denn die Winter in Ostpreußen waren bitterkalt gewesen und schlummerten das ganz Jahr über in den Knochen. Aber auch im Seniorenheim würde man nun dafür sorgen, dass sie nie frieren musste.

„Vater“, sage ich, „gib der Mutter bitte morgen den Schlüssel zur Wohnung, damit wir hier weiterarbeiten können, weil Du ja den Arzttermin hast.“ „Hier kommt niemand ohne meine Anwesenheit rein“, sagt er, „ich bin schließlich als gerichtlich bestellter Betreuer für meine Schwester eingesetzt. Ich habe die Verantwortung, und ihr habt meinen Anweisungen zu folgen. Der Schlüssel bleibt bei mir. Basta!“
Die Mutter und ich schauen uns an und verdrehen die Augen. „Lass dem Kind den Kringel“, flüstert mir die Mutter zu, „dann machen wir halt erst übermorgen weiter.“ Auch da wird der Vater sich mit letzter Kraft als das autoritätsstarke Familienoberhaupt aufführen, das er im Übrigen nie war.

Dann aber werden der Vater und die Mutter am nächsten Tag in der Wohnung gewesen sein, ohne mich einzubeziehen. Als wir uns wiedertreffen, erzählt sie mir freudestrahlend, sie habe den Kühlschrank ausgewaschen und zeigt mir stolz ihr Werk. „Ich hab‘ ihn doch unsrer Putzhilfe versprochen, weißt Du.“ ‚Und an Papas Chronisch Obstruktive Bronchitis hast Du nicht gedacht“, denke ich.
Ein paar Tage später treffen sie und ich uns wieder, dieses Mal ohne Vater. Offensichtlich bringt der seiner Frau nach der Mutprobe mit dem versifften Kühlschrank nun genug Vertrauen entgegen. „Dass dieser Mann sich derartig wichtigtuerisch gebärden muss und so ein Gewese um diesen blöden Schlüssel macht“ sagt die Mutter „wir könnten schon ewig lange mit allem fertig sein.“ „Ja“, sage ich, „ich hätte es wissen müssen, hätte ja problemlos statt seiner die Betreuung bekommen, war mir ja angetragen worden. Ich aber dachte, es wäre gut für ihn, wenn er wieder eine Aufgabe hat. Wie konnte ich nur so naiv sein! So jemand wie er ändert sich nie.“

Wir sitzen auf dem Sofa, sprechen über die Tante und die Zeit mit ihr. Ich erzähle, wie sie mir im Zusammenhang mit ihrer letzten Kur den Schlüssel übergab: „Falls mir was passiert. Aber Du kannst gern hierherkommen, wann immer du magst und die Gemütlichkeit genießen. Ich habe es doch so hübsch hier.“ Kein einziges Mal tat ich es, diese dunkle Spießigkeit erdrückte mich nur. Nach Beendigung der Kur rief sie mich an und war außer sich: „Gib zu, dass Du die 100 Euro genommen hast, die ich in dem Kästchen über der Spüle aufbewahrt habe!“ Ich erkannte meine doch immer so vertrauensselige und großzügige Tante nicht mehr.

Und so hat sich die Alzheimer-Demenz ganz allmählich in unser aller Leben geschlichen. Die Mutter erzählt noch einmal, wie die Tante, die der Vater mindestens einmal in der Woche zum Essen abholte, damit sie eine gute Mahlzeit bekam, an einem der Tage hektisch in ihrer Wohnung herumgelaufen war und sagte: „Ich muss doch meiner Schwägerin ein Geschenk mitbringen!“ Und wie sie schließlich fündig wurde und ausrief: „Ich hab‘ was! Da wird sie sich freuen.“ Es handelte sich um zwei Rollen Toilettenpapier.

Letztendlich war uns nach einigen sich und andere gefährdenden Aktionen der Tante nichts anderes übriggeblieben, als den gerichtlichen Beschluss zum Umzug ins Altenheim zu beantragen.

Wir beide haben von der Couch aus den Blick in die enge dunkle Diele, spärlich möbliert mit ein paar Garderobenhaken, einem kleinen Regal, auf dem der Telefonapparat steht und einem Schlüsselbrett im Brokatstickerei-Look.

Die Mutter steht abrupt auf, geht in den Flur, kommt zurück und hält mir mit der Pose einer Siegerin etwas entgegen: „Unsre Freiheit!“, sagt sie. „Wir sind nicht mehr abhängig von diesem sturen alten Mann. Einen Teufel werde ich ihm davon erzählen. Hier ist der Ersatzschlüssel für die Wohnungstür.
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Teil einer längeren Geschichte

Der Hauswart klapperte mit dem schweren Schlüsselbund. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, bis er den richtigen Schlüssel am Schlüsselbund identifizierte und ihn umständlich in das alte Schloss der vorderen Eingangstür steckte.

Ich zog meinen Mantel etwas enger und blickte ungeduldig die Fassade des alten Hauses empor.

Die schiefernen Dachschindeln hingen krumm auf dem uralten Eichengewölbe mit den zwei Spitztürmen. Die ungewöhnliche schwarze Fassade aus Sandstein stach aus der Reihe von durchgängig weißen genagelten Holzfassaden in der Rue de la Bourgone heraus.

Die einstöckige Villa war schon lange Zeit Teil des French Quarter von New Orleans gewesen. Sie hatte das große Feuer im 18.Jahrhundert gesehen und überstanden. Danach wurde dieses Haus nur notdürftig repariert und erweitert, da es in der Familie de Brabant immer an Geld gemangelt hatte.

Hier war ich nun wieder, nach fast 50 Jahren. Das Haus meines alten Freundes hatte sich nicht verändert, es wirkte im dunklen Licht der untergehenden Sonne genauso wie an dem Tag als ich es das erste Mal betreten hatte und all diese Dinge begannen, die ich am liebsten vergessen würde.

Wie konnte die Zeit so schnell vergehen?

„Haben sie es gleich?“ raunzte ich den Hauswart an und tippelte ungeduldig auf der Stelle. Es war kalt durch den vorangegangenen Regenschauer und ich wollte die Besichtigung nur schnell hinter mich bringen. Hoffentlich würde ich das Objekt meiner Begierde direkt in diesem verfluchten Haus finden, ohne den neugierigen Menschen, auf den ich gerade angewiesen war, noch mehr zu irritieren.

Endlich klackte das Schloss und die hölzerne Tür aus dem 19. Jahrhundert sprang mit einem leidvollen Knarren auf.

Nun breitete sich der Eingangsflur des alten Hauses vor uns aus. Der scharlachfarbene gebeizte Eichenboden hatte schon einmal bessere Zeiten erlebt.

„Passen sie auf wohin sie treten“ nickte mir der Hauswart zu, schob sich den überdimensionalen Ring des Schlüsselbundes über den linken Arm und marschierte schnellen Schrittes durch den Eingangsflur bis zu einer linken Tür. „Die Papiere liegen im Empfangsraum“. Ich nickte geistesabwesend und blickte zu der Treppe am Ende des Flurs, die ich durch das wenige Licht nur erahnen konnte.

Dort oben war es passiert. Dort war John gestorben.

Langsam schloss ich die Eingangstür hinter mir und hielt ein Moment inne mit meinen Händen, um das alte Holz und die Schnitzereien der Tür noch einmal zu fühlen. So viel Arbeit war es gewesen. Mit soviel Liebe zum Detail hatte John die Tür gefertigt. Damals, vor so langer Zeit, als wir gemeinsam hier gelebt hatten.

Ich musste mich zusammen reißen. Ich musste dieses Haus bekommen, koste es was es wolle.

Ich schritt schnellen Schrittes durch den dunklen Flur und folgte entschlossen dem Hauswart in den Empfangsraum. Dies war auch Johns Büro gewesen.

„Mein Gott, ist das staubig und dunkel hier. Soll ich die Vorhänge öffnen?“ Der Hauswart stand schon hinter dem großen antiken Schreibtisch aus Mahagoni in der Mitte des Raumes und wedelte mit seinen Fingern vor seinem Gesicht. Ich blickte zu den dunkelgrünen Samtvorhängen, durch die das letzte Licht der Sonne in einem scharfen Strahl auf den Boden fiel.

Langsam setzte ich meine schwarze Sonnenbrille ab und schaute auf meine silberne Armbanduhr. „Warten sie bitte noch einen Moment, bis die Sonne untergegangen ist“ sagte ich ohne den Hauswart eines Blickes zu würdigen. Hinter ihm und dem monströsen Schreibtisch erstreckten sich riesige Bücherregale in die Höhe, deren Inhalte akribisch sortiert waren.

„Wie sie meinen. Ich verstehe nicht, wie sie überhaupt hier drin was sehen können“ murrte der Hauswart und wackelte mit der kleinen Taschenlampe in seiner Hand, die er wohl schon vorher angeschaltet hatte. „Hier sind nun die Papiere, nach denen sie gefragt hatten“ sagte er und leuchtete auf einige ledergebundenen Aktenmappen.

(tobecontinued)

Ein verlassenes Haus

Mit meinem jungen Chef betrat ich das Haus. Nun einfach war es nicht, den Eingang zu finden.
Die Sträucher hatten sich zu einer Art Mauer formiert; eine Machete hätte das Problem gelöst.

Als wir uns zur Eingangstür vorgekämpft hatten konnten wir die ganze einmal dagewesene Pracht dieses Anwesens erahnen. Es muss gute, sehr gute Zeiten erlebt haben mit Festen und Zusammentreffen feiner Leute. Ich schaute mir noch einmal den Wildwuchs im Vorgarten an. Viele seltene Rosen und Duftrosen konnte ich erkennen.

An der Tür befand sich kein Namensschild. Vielleicht waren die Besitzer berühmt.

Der Schlüssel hakte etwas, gab aber schliesslich doch nach.

Wir betreten den Vorraum der die Zentrale für alle Türen, alle Zimmer im Untergeschoss ist.

Alles ist so sauber, als hätte erst heute jemand geputzt und Staub gewischt.

Lebt hier jemand heimlich? Doch wieso habe ich ein seltsames Gefühl in diesem Haus? Und wieso ist mir so kalt?

Meinem Chef sagte ich nichts von meiner persönlichen Wetterlage. Sowieso war er gedanklich an der Vermarktung des Objektes. Und Frauen sind ja sowieso empfindlich…

Es gab ein grosses Wohnzimmer ,woran sich durch eine abgeschlossene Schiebetür getrennt ein kleiner Salon anschloss.

Dieser hatte mein Interesse. Zuerst fiel mir auf einem Tischchen ein Schachspiel auf, zuerst weil es wunderschön und handgeschnitzt war.

Dann schaute ich näher hin; jemand hatte die letzte Partie verloren. Jemand war schachmatt.

Im kleinen Bücherregal befanden sich ausschliesslich Erstausgaben, meistens in Leder gebunden, wahre Schätze. Die Pfeifen waren alle ordentlich gereinigt, bis auf eine.

Nirgendwo konnte ich entdecken, wer denn der Bewohner des Hauses ist oder war.

Das Grammophon interessierte mich, weil es wunderschön war, also suchte ich nach den Schallplatten.

Leider war nichts zu finden.Mein Chef hatte sich laut rufend aus dem Keller gemeldet, er hatte sehr alten wertvollen Wein entdeckt. Schön eingestaubt und optimal gelagert.

Da ich ein ganz klein wenig über engagiert bin wollte ich ein kleines Stückchen aus der Kellermauer brechen, um nach Schimmelbildung zu suchen. Damit es nicht so auffällt schob ich ein Regal zur Seite und schlug mit einem Hammer kräftig zu.

Wie konnte die Mauer so schnell nachgeben?

Wie konnte ich mit nur drei Schlägen ein so grosses Loch schlagen?

Plötzlich wollte mir fast schlecht werden wegen einem Gestank, den ich nicht zuordnen konnte.

Ich wand mich ab und wollte nur eins; an die frische Luft.

Mein Chef hielt mich an der Kellertreppe auf und wollte irgendetwas wissen, aber ich wies nur auf das Loch und flüchtete nach draussen.

Die Polizei traf ein und wir wurden des Gebäudes verwiesen.

Ich hatte einen eingemauerten Menschen gefunden.

Leider konnte ich nicht mehr herausfinden, wie oder mit welchem Gegenstand er getötet wurde.

Ich tippe auf einen Korkenzieher, weil weder in der Küche noch im Weinkeller ein Korkenzieher zu finden war.

Und ich erinnere mich an eine alte Standuhr, die immer noch Tik Tak macht und zur vollen Stunde läutet…

Als mein Wecker um 6Uhr klingelt ist mein Gedächtnis noch im Fall des Eingemauerten. Eigentlich liebe ich Träume und schwer zu lösende Krimis.
Ich mache mich bereit, also Dusche, Kaffee, Schminken und Immobilienmappe für heute eingepackt.

Heute gibt es eine Villa zu besichtigen.Der Kunde, der sie unbedingt haben will wird kurz nach uns eintreffen.

Die Villa ist zwar verwildert, gut versteckt und wir müssen den Eingang suchen…

Andrea holte tief Luft, bevor er die Türklinke runterdrückte. Diesen Raum hatte er sich in den vergangenen Tagen für ganz zuletzt aufgespart. Die Tür ging leicht auf, ohne ein Quietschen oder Knarzen, wie man es vielleicht in einem Film oder einem Roman in diesem Moment erwartet hätte. Seine Hand suchte den Lichtschalter, doch griff diesmal viel zu tief. Die vielen Male, die er in diesem Raum war, lag zwar der Lichtschalter immer an der gleichen Stelle, aber aus seiner Sicht viel tiefer, so dass er anfangs immer seinen Arm strecken musste, um ihn zu erreichen. Schon faszinierend, wie sehr sich selbst ein Arm erinnert, dachte er, als seine Hand schrittweise höher tastete, bis er den Lichtschalter an der für einen Erwachsenen gewohnten Position fand. Die Deckenlampe warf ein gelbliches Licht auf den Raum, an ihrem gehäkelten Lampenschirm hingen einige Spinnweben. Er blickte auf das Doppelbett vor ihm. Seine Augen sahen ein komfortables wenngleich etwas verstaubtes Bett aus dunkelbraunem Holz, die geblümte Tagesdecke sorgfältig gespannt und alle Kissen akkurat in Position. Sein Gehirn - oder war es sein Herz? - sah einen kleinen Jungen auf diesem Bett springen, lachend, so dass man die Zahnlücke vorne links sah, ein Kissen in der Hand und einen funkelnden Blick in den Augen. Der Junge hob die Hand mit dem Kissen und setzte zum Wurf an. Andrea schloss instinktiv kurz die Augen. Seine Augen sahen nur ein in der Mitte gelblich durchleuchtetes Schwarz. Sein Herz sah, nur ganz kurz flackern, seine Großmutter, in der Tür in ihrer Alltagsschürze stehend und lachend - was man immer an ihrem dabei hopsenden Bauch merkte. Als er seine Augen gleich darauf wieder öffnete, war da kein Junge mehr, kein Lachen, sondern nur ein stilles Bett. Er musste kurz lächeln.

Der Fremde, der Neue, der Bewohner

Der Schlüssel hakt ein wenig als, er in seinen ihm zugehörigen Zylinder gedrückt wird. Die einzelnen abgenutzten Zacken vom Schlüsselbart rasten aber exakt im Türschloss ein und aktiveren eine komplizierte Mechanik. Nach einem kurzen Dreh aus dem Handgelenk wird dem Fremden, Einlass gewährt. Erst 45 Minuten zuvor erhielt er diesen Schlüssel. Der Makler warf ihm, ihn lässig entgegen als die Tinte auf dem Papier des Notars gerade noch trocknete. Sobald die Tür offen steht, schlägt ihm ein modrig miefiger Geruch entgegen. Er hält einen Moment inne. Dann tritt der Fremde ein und schaut sich behutsam und andächtig um. Im Flur erblickt er zu seiner Linken eine Holztreppe, welche in das Obergeschoss führt und ein paar Betonstufen die den Weg nach unten ermöglichen. Das Linoleum unter seinen Füßen ist im Flur nur provisorisch und alles andere als fachmännisch verlegt. Es steht an manchen Stellen über und an anderen Ecken reicht es nicht mal bis zur Wand. Er geht ein paar Schritte und kommt in ein kleines Durchgangszimmer. Rechts vom ihm befindet sich nun ein großer Wanddurchbruch zum Wohnzimmer und zu seiner Linken befindet sich eine Tür, welche die Küche hinter sich verbirgt. Der modrige Geruch wird immer intensiver. Schwarzer Schimmel hat sich bereits hüfthoch in die Trockenbauwände gefressen. Der Teppich, welcher sich in den restlichen Wohnräumen befindet erzeugt bei jedem Schritt ein patschendes Geräusch. Eine Woche zuvor platzte durch die kalten Temperaturen in der Küche, unter dem Spülbecken, eine Wasserleitung. Nach einigen Tagen wunderten sich die Nachbarn über plätschernde Geräusche aus diesem Haus. Die Neugier führt den fremden Eindringling zunächst in die Küche. Es ist ein kleiner Raum, der irgendwie grotesk anmutet. Die Küchenschränke sind mindestens 20 Jahre alt und die helle Folie löst sich durch das Wasser vom Sperrholz darunter. An den Hängeschränken wurden zusätzliche kleine Regale von einem scheinbar sehr motivierten aber leider völlig untalentierten Hobbyheimwerker angebracht. Alles ist irgendwie schief und lieblos zurecht gefuscht. Gewaltige Winkel aus verzinktem Metall halten ein zum Gewürzregal umfunktioniertes Brett, welches nur noch als Brennholz taugt. Über dem Herd hängen noch Pfannenwender und Suppenkelle. In der Spüle stehen noch zwei Teller und eine Tasse. In den Schubkästen findet der Fremde noch Korkenzieher vereinzeltes Besteck, Büroklammern, Einweggummis verwaiste Schlüssel ohne zugehöriges Schloss, Kugelschreiber und andere Utensilien, wie man sie in jeder Kramschublade in jeder Küche dieser Erde findet. Plötzlich reißt den Fremden ein Brummen aus dieser absoluten Stille. Es ist der mannshohe Gefrierschrank. Irgendwie trotzte er den Fluten der Havarie und aus irgendeinem Grund war er noch an der Steckdose angeschlossen. Tatsächlich befinden sich noch Lebensmittel im Tiefkühlschrank. Es ist hauptsächlich Weißbrot und irgendeine Art Eintopf. Zudem findet der Fremde im untersten Fach noch eine halbverbrauchte Tüte Pommes. Würde diese Küche nicht so wüst und chaotisch aussehen, hätte man fast den Eindruck, der Besitzer sei nur vorübergehend bedingt durch den Wasserschaden woanders untergekommen. Aber dem ist nicht so. Anderthalb Jahre stand dieses Haus leer. Der Vorbesitzer erkrankte und musste in ein betreutes Wohnen ziehen. Etliche Interessenten besuchten das Haus aber es dauerte einige Zeit, bis jemand wirklich die Entscheidung traf, sich hier etwas Neues aufzubauen. Der Neue geht nun über den Durchgangsraum ins Wohnzimmer. Auch hier kriecht der Schimmel die Wände hoch. Durch das Wasser löst sich die, vom Nikotin gelbverfärbte Tapete von den Wänden. Sogar die Fensterrahmen sind fast so gelb wie der Filter einer Zigarette. Auf dem Boden bemerkt er wieder diese Unmenge an größeren und kleineren Flecken. Sie kommen nicht vom Wasserschaden. Es sind Überreste von Fäkalien, die zwar weggeräumt aber nie mit einem entsprechenden Reiniger wirklich behandelt wurden. Von den Nachbarn weiß der Neue, dass der alte Besitzer zwei kleine Hunde hatte, aber leider nur sehr selten mit ihnen vor die Tür kam. Hinter dem geräumigen Wohnzimmer befindet sich noch ein kleiner Raum, der gerade mal Platz genug für ein Doppelbett bietet. Aber von diesem Raum hat man durch die Terrassentür einen guten Blick auf die Terrasse und den kleinen Garten. Ein Bett findet der neue Besitzer, hier, nicht mehr aber an der Wand befindet sich wieder notdürftig ein Nachttisch der Marke „Eigenbau“ befestigt. Um den Rest des Hauses zu erkunden bewegt sich der Neue wieder zurück durch das Wohnzimmer mit seinen Nikotingetränkten Tapeten und den beschmutzten Boden, durch das kleine Vorzimmer der Küche bis in den Flur, von dem aus seine Erkundung startete. Nun befindet sich zu seiner Linken die Haustür, durch die er eintrat und zu seiner rechten sein zukünftiges Badezimmer. Er tritt ins Bad und erblickt alte hell gestromte rechteckige Kacheln etwa halbhoch gefliest und darüber eine Raufasertapete, die in einem penetranten, ja schreienden Violett gestrichen wurde. An sich ist das Bad aber sehr geräumig und man hat die Möglichkeit, neben der Badewanne noch eine Dusche zu installieren. Das reizt den Neuen schon sehr. Von seiner Neugier geplagt untersucht er nun ausgiebig die Badschränke. Und er wird fündig. Neben etlichen Sorten teurem und billigen Parfum, findet er sogar noch Tabletten, Zahnpasta und Rasierklingen. Dieses Haus ist verwahrlost und steht schon lange leer und dennoch findet er in jedem Raum Dinge des täglichen Bedarfs. Der Wissensdurst im Bad ist befriedigt und der Weg führt weiter in den Keller. Es ist ein nicht so tiefer modriger Keller mit nur zwei Räumen. Den Kopf muss der Neue leicht einziehen, um ihn sich an diversen Wasserleitungen nicht zu stoßen. Im ersten Kellerraum findet er nur diverse gefüllte Müllsäcke. Im Zweiten befand sich früher offenbar die Werkstatt des großen Künstlers, der die Küche und das Schlafzimmer eine Etage höher verunstaltete. Auf der Werkbank liegen noch Akkuschrauber und Schraubendreher und Hammer. In einem kleinen Eimer daneben findet man Schrauben aller Couleur. Insgesamt wirkt es auch hier wieder, als wäre der Besitzer nur kurz auf der Terrasse, eine Rauchen gegangen. Wäre da nicht der Wasserschaden. Schraubendreher und Hammer sind verrostet, der Eimer mit den Schrauben ist bis zum Rand mit Wasser gefüllt und ringsherum löst sich der Putz von den Wänden. In einem Regal entdeckt der neuen drei Kartons voll mit durchnässten Briefen. Einige lassen sich noch entfalten, ohne sie dabei völlig zu zerreißen. Es sind Mahnungen. Die ältesten sind über 10 Jahre alt. Der Neue stutzt. Dieser Mensch, der hier früher lebte, hat es nicht geschafft, seinen Haushalt, seine Finanzen, ja sein ganzes Leben in Ordnung zu halten, aber seine Mahnungen hatte er allesamt fein säuberlich in Kartons geordnet und sogar nach den jeweiligen Gläubigern sortiert. Der Neue lauscht noch einmal in die Stille, während seine Augen durch den Raum wandern. Eine Etage ist noch übrig zum Erkunden. Sein Weg führt ihn ins Obergeschoss. Dort gilt es noch zwei Zimmer zu begutachten. Eine Flutkatastrophe wie in den unteren Etagen gab es hier nicht, aber die Tiere hinterließen auch hier ihre Geschenke auf den Teppichen. Die Zimmer sind in der Mitte des kleinen Hauses durch eine Trockenbauwand getrennt und werden zum äußeren Rand hin, durch Dachschrägen immer niedriger. Im linken Zimmer befinden sich zwei kleine Fenster etwa 20cm über den Boden. Von ihnen aus kann man auf die kopfsteingepflasterte Straße blicken. Es fährt gerade eine Pferdekutsche vorbei. Diverse vergilbte Aufkleber und ein Poster von Bruno dem Bären an der Zimmertür deuten, darauf hin, dass dies einst der Rückzugsort eines kleinen Kindes war. Vermutlich lebte hier vor langer Zeit ein Mädchen. Im Nachbarraum befinden sich zwei große Dachfenster. Er ist deutlich heller und gemütlicher. In einem der doppelt verglasten Dachfenster ist die innere Glasscheibe kaputtgeschlagen. Scherben sind aber nirgendwo zu finden. Im Fensterbrett steht ein vertrockneter Blumentopf, mit einem verdorrten Strunk. In der Schreibtischecke finden sich mehrere dicke Gesetzbücher und Bücher zum Thema Verwaltungsrecht wieder. Nebst neben den dicken Büchern liegt eine Zeitschrift, die in Anbetracht des winzigen Grundstücks mit der verwahrlosten Terrasse fast schon wie ein ironischer Spott wirkt. „Mein schöner Garten“ der Bewohner öffnet seine Flasche Bier, die er sich mitbrachte, und blättert kurz in dieser Zeitschrift. Dann schaut er sich wieder in seinem neuen Zuhause um. Hinter all dem Müll, dem Dreck, allem, was kaputt ist, spürt er etwas, was er in den anderen Häusern, auf seiner Suche, nicht spürte. Er fühlt sich endlich angekommen.

Ausgeklingt

"Wo haben Sie zuletzt gewohnt?“
Diese Frage hatte er erwartet und doch traf sie ihn hart. Er war nicht bereit, auf diesen Ort zurückzublicken, vor dem er geflüchtet war. Alles was ihn daran erinnerte, hatte er aus dem Gedächtnis gestrichen, zumindest versucht. Nichts, was er dort berührt oder gefühlt hatte, sollte sich ihm jemals wieder nähern. In seinen Träumen verschlug es ihn dennoch immer wieder dorthin. Und er war dankbar, dass das Erwachen so barmherzig war, die ätzenden Traumbilder zu löschen.
Schon wieder diese Frage: "Wo haben Sie zuletzt gewohnt?“.
Er würde es nicht zulassen, dass dieser Mensch diesen Ort wieder zum Leben erweckt, niemals. Dieser Mensch wollte ihn provozieren, soviel war klar, und er war gezwungen, sich zu wehren.
"Niemand darf mich ungestraft an diesen Ort erinnern, wissen Sie das nicht?“ Sein Gegenüber blickte entsetzt auf das gezückte Messer …

Beitrag 5

Das Haus an der Elmstraße
Meine Eltern hatten ein Haus im Zuckerbäckerstil aus den 1920ern gekauft, gerade mal drei Zimmerchen groß. Bad und Toilette, Fehlanzeige. Und damit eher ein Häuschen, das nicht nur deshalb niemand haben wollte, sondern auch, weil es hieß, dass die Eigentümerin, eine verwahrloste, betagte, alleinlebende Frau (um die 90) darin gestorben sei und ein Nachbar sie erst Tage später fand. Abergläubische Leute sagten daher, dass die Seele der Verstorbenen auf ewig an das Haus gebunden sei, und dass es zum Spukhaus geriete. Keine erbauliche Vorstellung.
Ein weiterer Hindernisgrund, ein winziges, verwildertes, urwaldähnlich überwachsenes Gärtchen, in das man zwar durch ein quietschend-klemmendes, schmiedeeisernes Gittertor schauen, aber ohne Machete oder Kettensäge nur einige Schritte weit zu betreten vermochte. Nadelbäume – himmelhoch erscheinend, wie Douglasien in Amerika – legten über das wuchernde Grünzeug einen immerwährenden kühlen, düsteren Schatten, der selbst mich frösteln ließ. Ein windschiefer, vor sich hin gammelnder Holzschuppen fiel einem ins Auge, da es schien, als wolle er jeden Moment in sich zusammenkrachen. Ein Plumpsklo, das seine Aufnahmegrenze weit überschritten hatte. Die Exkremente dienten Geschwadern an Schmeißfliegen als Heim für ihre Brut und deren Nahrung. Um den giftig-grünlich schimmernden Brummern auszuweichen, hockte sich die alte Dame fürs kleine und große Geschäft ins Gebüsch ihres verwilderten Gärtchens, das bald ausgesehen haben dürfte, wie manche Parkplätze ohne WC an der Autobahn.

Trotz aller Widrigkeiten machte das Zuckerbäckerhaus aufgrund seiner Fassade einen schnuckeligen Eindruck … zumindest von außen. Heller Putz – dem die Jahre im Verbund mit der Witterung den ursprünglichen Anstrich raubte – umrandete rotglänzenden Backstein. Beides gab dem Haus selbst noch nach Jahren und Jahrzehnten ein freundliches Aussehen.
Leider zeigte sich jedoch innen das genaue Gegenteil. Schäden im Dach ermöglichten es, nicht nur ein Messie-Paradies durch den eindringenden Regen zu durchfeuchten, sondern auch Balken und Fußbodenbretter faulen und einbrechen zu lassen. Zu erkennen bei unserer Erstbesichtigung auf der Wanderung von Räumchen zu Räumchen über etwa 40 Zentimeter breite Trampelpfade.
Wie in einem Landschaftspark führten sanft geschwungene Wege links und rechts an Bergen aus Müll vorbei, die, statt in den Wolken zu verschwinden, an der Decke des jeweiligen Raumes endeten. Einem Alpental en miniatur nicht unähnlich, nur weniger romantisch.
Zeitungen, zerbrochene Stühle und Kleinmöbel, jede Menge Papier, Flaschen, zerfledderte Bücher, Gläser, Lampenschirme, Blechdosen, eingedrückte Koffer, von Motten zerfressene Kleidungsstücke, vertrocknete Zwiebeln und anderes mumifiziertes Gemüse, stapelte sich bis obenhin … bildeten eine Müllgebirgslandschaft. Darin befand sich nichts mehr, was sich noch gebrauchstüchtig erwies. Stattdessen gediehen bunte, pelzige Schimmelwiesen an den feuchten Stellen, verströmten ihren modrigen Duft.
Und dennoch, ein gusseisernes Öfchen entwickelte sich später – wie Phönix aus der Asche – aufgearbeitet zu einem Schmuckstück. Ebenso ein handbetriebener Kaffeeröster, der in der Kriegs- und Nachkriegszeit zum Einsatz kam, indem man ihn in die Ringe der damaligen Küchenherde einsetzte, um Getreide zu rösten. Zu Muckefuck, dem Bohnenkaffee-Ersatz jener Zeit.
Wegen der schwarzölig-schmierig-glänzenden Rückstände und einem in der Nase kitzelnden verbrannten Gestank, mochte erst einmal niemand das Gerät anfassen. Hinzu kam ein Geruch, der – bedingt durch die seit Jahren ausgekühlten Wände des Hauses – ans Verließ einer Ritterburg erinnerte. Ein modrig-verbrannt-feuchter-Gemäuer-Geruch, der, zusammen mit den Müllbergen den Wunsch aufkommen ließ, den Saustall fluchtartig zu verlassen.

Da sich aber meine Eltern davon nicht abschrecken ließen und außerdem der Generation angehörten, die spätestens nach dem Krieg das Anpacken und Aufräumen lernten, packten sie an und räumten auf. Ihre Kinder und ihr Freundeskreis halfen tatkräftig dabei.
Erstgenannte eher zwangsweise.
Vier LKW Anhänger reichten nicht aus, um alles zur Mülldeponie zu karren. Hinzu kam später der Bauschutt, der beim Entkernen des Gebäudes anfiel, um die drei Zimmerchen im Erdgeschoss zu einen Allraum, einem offenen Wohngrundriss zu vereinen – im Verbund mit einer Küche.
Nachdem sie das Gärtchen gerodet und mit unterschiedlichem Grün neu bepflanzt, das Dachgeschoss ausgebaut und das gesamte Häuschen eingerichtet hatten, bezogen es meine Eltern und hauchten ihm neues Leben ein. Es wirkte wieder einladend, wohnlich und freundlich … wie einst in seiner Jugend. Zumal das Senioren-Domizil jetzt nicht mehr an den Mief und das Chaos des ersten Tages erinnerte.

Beim ersten Blick auf das Zimmer sieht alles aus wie ein gewöhnlicher Raum. Ein grosser Holztisch, Stühle, ein Bett mit zerknittertem Laken, die aufgeräumte schlichte Küche. Und doch scheint etwas anders zu sein - verborgene Dinge in der Luft zu liegen. Die Magie enthüllt sich nicht auf den ersten Blick. Auch ist sie nicht begrenzt auf den blossen äusseren Schein oder äussere Merkmale der Möbel und Einrichtungsgegenstände. Vielmehr dient die Welt der Materie lediglich als Eingangsportal in eine tiefere Dimension der Realität.
Auf der Kommode, direkt neben einer gelben Wachskerze, liegt ein kleines geschlossenes Notizbuch und eine Füllfeder. Als ich mich der Kommode nähere, habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich zucke zusammen und drehe mich um… Nichts. „Da war doch etwas“ denke ich. Noch bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht habe, blicke ich in die Augen einer grünen Koboldfigur aus Stein, welche auf dem Holzregal neben der Kommode steht. Auf seinem Hut steht mit gelben Ziffern die Inschrift „ETWAS“ geschrieben. Ich blicke in die Augen des Wesens, die mich anlachen - oder lachen sie über mich? Verwirrt schüttle ich den Kopf. Nur Sekunden später ist alles wieder normal, wie zu dem Zeitpunkt, als ich den Raum betreten hatte. „Ich war schon als Kind überfordert mit der unheimlichen Stille verlassener Räume“ denke ich und schiebe die Wahrnehmung auf meine Schreckhaftigkeit und lebhafte Fantasie.
Bei der Kommode angelangt, öffne ich das liebevoll gestaltete Notizbuch sorgfältig. In diesem Moment entsteht ein energetischer Sog und die Zeit scheint still zu stehen: An verschiedenen Orten des Zimmers zeigen sich kleine portalartige Eingangspforten, die in gold und den verschiedensten Farben flackern. Ich zucke erneut zusammen und will instinkitiv das Notizbuch schliessen und in die Normalität zurückkehren. Doch es lässt sich nicht schliessen - der Sog ist zu stark. Ehe ich verstehen kann, was geschieht, werde ich wie von magischer Hand vom regenbogenförmigen goldenen Tor auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes angezogen und durch das Portal geführt.

Ich warte

Er geht mir die steinernen Stufen voraus, langsam, schwer atmend. Fünftes Obergeschoss, da braucht man Kondition. Die hat er nicht, denn er raucht noch immer wie ein Schornstein.
„Ham uns immer zusammen eine gequarzt, Moni und ich. Dat konnten wir am besten, ne.“
Er gurgelt, hüstelt. Ich nicke zur Bestätigung, obwohl ich weiß, dass Karl das nicht sehen kann, denn er dreht sich nicht zu mir um, sondern zieht sich beharrlich am Treppengeländer nach oben wie eine alte Dampflock auf den Berg.
Und während ich mich noch frage, wieso es in einem Gebäude aus den 1990er Jahren keinen Aufzug gibt, sind wir endlich oben angekommen.
Jetzt will Karl die Wohnungstür aufschließen, aber seine rechte Hand zittert, sodass er trotz mehrmaliger Anläufe das Schlüsselloch nicht trifft.
„Soll ich?“
Karl macht eine wegwerfende Bewegung, als wollte er sagen: Wag es ja nicht, Bürschchen, dann sinkt er Stück für Stück in sich zusammen: Zuerst der rechte Arm mit Monis Schlüsselbund, an dem ein rotes Plastikherz baumelt, das ich so gut kenne. Dann der linke Arm. Dann der Rücken. Schließlich geben auch seine Beine nach und der alte Mann fällt auf die Knie, als wollte er beten.
Ich springe ihm bei, stütze ihn, spüre, wie dünn er geworden ist, wie zerbrechlich.
Ist das möglich innerhalb so weniger Tage?
Und als ob Karl meinen Gedanken gelesen hätte, sagt er: „Seit der Nachricht von ihrem Tod geht’s rapide mit mich bergab, ne.“
Es klingt wie eine Frage. Und ich nicke abermals stumm. Aber diesmal kreuzen sich unsere Blicke und wir lächeln uns an, beide mit Tränen in den Augen.
„Hömma, geh du allein rein“, sagt Karl schließlich so leise, dass ich, ohne ihn zu verstehen, weiß, was er sagen will, „immerhin war Moni deine Mama, ne.“
Nun zittern mir die Hände.
Und ich kann nicht sagen, wovor ich mehr Angst habe: Allein die Wohnung meiner Mutter zu betreten? Oder den langjährigen Freund meiner Mutter allein auf den kalten Flurfliesen sitzen zu lassen?
Also warte ich.
Dass die Leere sich füllt?
Indem meine Mama überraschend aus der Tür tritt und sagt: „Kerl inne Kiste! Getz stehn die da draussen und kommen nich rin inne Bude! Na los! Der Kaffee wird nich wärmer vom Rumstehen! Und ihr nich schöner, ne!“
Jetzt muss ich lächeln, als Karl plötzlich neben mir steht und mit dem Schlüsselbund klimpert.
Dann schließen wir gemeinsam auf.
Und Karl schiebt mich in den als Einzimmerwohnung ausgebauten Dachstuhl, wo rechter Hand sogleich ein alter Küchenschrank steht, bis oben hin vollgestellt mit Nippes, als hieße er die Gäste meiner Mutter willkommen zu ihrem ganz persönlichen Flohmarkt.
„Monis alte Schwäche: Wegschmeißen is nich, ne.“
„Schon klar“, antworte ich, als mir ein tiefer Seufzer entfährt, denn am zentralen Stützbalken lächelt mir ein Kindergesicht entgegen, das im fahlen Licht des regnerischen Nachmittags wenig Ähnlichkeit mit dem Mann aufweist, der ich heute bin.
„Seit wann hängt das Bild da?“
„Seit ihrem ersten Herzinfarkt.“
„Hätte sie nicht spätestens da zu dir ziehen können?“
„Wollt sie doch nich!“ Karl klingt jetzt ein wenig böse. „Kennsse doch, wollte lieber frei bleiben.“
Ich seufze abermals, gehe einen Schritt tiefer in den Raum, halte inne, senke den Kopf, schwer vor Traurigkeit.
„Warst lange nicht mehr hier“, sagt Karl, während er sich an mir vorbeischiebt, nur um mir dann sanft das Kinn zu heben. „Schon gut, Junge. Sie wusste, dass du an sie denken tust, ne.“
„Aber sie hat immer darauf gewartet, dass ich sie besuchen komme, verdammt!“
„Von London nach Gelsenkirchen is nich der nächste Weg.“
„Ach, Karl …“, sage ich beschämt, während ich denke, dass es immer nie der nächste Weg ist, nicht einmal zwischen zwei Herzinfarkten.
„Hömma, ich mach dich n Vorschlag, ne: Wir gehn getz in Monis Stammkneipe, einen auf sie trinken. Wat hälsse davon?“
Ich zucke die Schultern, nicke.
Den Gedanken an meinen für den späten Abend anberaumten Rückflug nach London schiebe ich beiseite. Stattdessen nehme ich das unter meinem Kinderfoto hängende Bild meiner Mutter mit.