„Heda, herbei meine Mächte und Gewalten. Her zu mir, es gibt zu tun!“. Wellen brachen sich mit einem donnernden Echo an der Küste. Der Meeresgott höchstselbst, umgeben von aufbrausender Gischt, mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete, beorderte uns zu sich. Mein Kollege, der Sturm brauste und rumpelte schon ungeduldig und bohrte sich als Wirbel in Poseidons Meerespalast. Sein Tosen drückte Poesie aus. Inmitten einer Identitätskrise gefangen, wollte er als der Poet der Zerstörung gelten, ein Schöpfer dramatischer Geschichten am Himmel, der mit Blitzen und Donner seine ungeschriebenen Gedichte rezitierte. Verzweifelt die Anerkennung als Künstler suchend, drohte seine Krise, ihn zu extremen Taten zu treiben, die uns alle gegen ihn aufbringen könnten.
Die Dürre schlich staubig und trocken herbei. Eine geduldige Lehrerin der Demut, mit einem Ultimatum als Dreingabe: Wenn Menschen weiterhin die Gaben der Erde missachten, würden sich ausgedörrte Risse wie gierige Finger über das Land strecken, jeden Halm und jede Blüte in ihrem knöchernen Griff ersticken. Dieser Anspruch lastete schwer auf unserem Gemüt. Ließe sich eine Lösung finden, bevor die Dürre nicht mehr zu besänftigen war? Ich hingegen, die Flut, plätscherte in dem mir eigenen Rhythmus heran. In mir trage ich die reiche Erfahrung einer Lehrmeisterin. Ich bin jederzeit bereit, den Menschen mit Geduld die Lektionen von Demut und Respekt vor der Natur zu erteilen. Wenn der Gott des Meeres es befiehlt.
Da stach der mächtige Hippios, der Zeusbruder Poseidon, mit seinem Dreizack in die Erde und das stürmische Grollen eines Seebebens folgte. Er empfand seine Missachtung als „abgelegte Gottheit der Antike“ für eine Demütigung, die den Tiefpunkt seines Abstiegs in den Rängen der Götter markierte. Sein Begehr war, dass wir, seine Naturgewalten, diese unehrerbietigen Menschen wieder aufrütteln und seinen Rang wiederherstellten. Unser Disput war so stürmisch wie das Keifen mittelalterlicher Scholastiker. So kollernd wie der Sturm, der mit seiner Sehnsucht nach Poesie den Himmel zu seinem Theater machte. So hart wie die Dürre, die in ihrer zehrenden Kargheit eine Lektion der Wertschätzung des wenigen erteilte. Und so unberechenbar wie ich, deren menschenmordende Kräfte schlummerten. Jeder von uns wollte die Aufgabe übernehmen, Poseidons Macht zu demonstrieren. Als wir zu keiner Einigung kamen, entschied Poseidon, dass ein Mensch – ein gewisser Bauer Jorgo aus Nauplia – über unseren Auftrag zu entscheiden hatte. Er hatte das „Glasauge des Polyphem“, das Sendzeichen an die Naturgewalt zu überreichen, die er für würdig hielt.
Stumm hörte Jorgo unsere Argumente. Der Sturm prahlte mit seiner Kraft und der Eleganz seiner Wirbel, die Dürre mit ihrer Ausdauer und der Stärke ihrer Lehren und dem drohenden Ultimatum. Und ich? Milde gestimmt erzählte ich von den sanften Wellen, die auf mein Geheiß das Land schmeicheln würden. Und den stillen Lektionen, die ich im Rhythmus des Wassers vermittelte, ohne das volle Ausmaß meiner Fähigkeiten zu offenbaren.
Und Jorgo wählte mich, die Flut. Er sah etwas in mir, das weder der Sturm noch die Dürre boten: die Macht, Leben zu bringen und zu nehmen, zu zerstören und doch zu nähren, aber auch die Geduld und Weisheit, die nötig sind, um die Menschheit zu lehren und zu führen. Mit einem tiefen Verständnis für die Bedeutung des natürlichen Gleichgewichts, die zu übermitteln ich auslobte, überreichte er mir das Glasauge, meine Legitimation, und ich schwor, es würdig zu tragen.
Als später meine Sendboten, die Wellen, in das Land eindrangen, gafften die Menschen zunächst bloß und zückten ihre Mobilphone. Sie sahen nicht den Zorn Poseidons, sondern eine Sensation für ihre „Selfies mit Flut“. Der willkommene Anlass eines heftigen Tweetsturms. Als ich mich zurückzog, blieb eine gewandelte Welt zurück, in der das einst wilde Land in sattem Grün strahlte und die Sonne sich in den sanft wogenden Wellen spiegelte. Die überfluteten Felder verwandelten sich in fruchtbare Ebenen. Kinder spielten erneut an den Ufern der Flüsse, die vormals begradigt, kanalisiert und gezähmt waren und von Neuem in geschwungenen Mäandern zum Meer strebten. Die Menschen, die sich zuvor hinter geschlossenen Türen zu verschanzen, mit zu ihrem letzten Damm aufgestapelten Sandsäcken sich zu erwehren suchten, standen zusammen. Sie verstanden die Lektionen, die ich zu lehren hatte. Sie pflanzten Blumen entlang der Flussufer zum Zeichen des Dankes – jede Blüte ein stilles Versprechen, die Natur zu ehren.
Jetzt sitze ich hier, eine alte, viel besungene Flut. Mich umgeben meine zahlreichen Enkel und lassen sich erzählen von jenem Tag, an dem ein Bauer den Gott Poseidon herausforderte und mich, das lebenspendende Wasser, wählte. Ich lehre die Bedeutung von Respekt vor dem, was wir nicht kontrollieren können – und die Achtung dessen, was natürlich gewachsen ist. An irgendeinem Strand dieser Welt spielen meine Wellen mit dem Auge Polyphems. Poseidon verlor das Interesse an Verehrung auf einer ihm fremden Erde ohne seine abgelegten Mitgötter. Letzte Tweets deuten an, dass er mal wieder versucht, seinem Neffen Minos einen Stier abzujagen.