Die achte Plage
Während sich Chester schwitzend den Damm hinauf quälte, schien die Kante der Böschung wie ein Vorhang auf ihn herabzugleiten und die Sicht auf etwas freizugeben, was sein Leben und das Millionen anderer grundlegend verändern sollte. Er redete sich ein, dass alles okay sein musste, aber sein Gewissen durchkreuzte diesen halbherzigen Versuch, indem es Unsicherheit, Zweifel und Misstrauen einstreute. Als er über den Rand der Böschung trat und realisierte, was seine Augen erblickten, weckte es eine Angst in ihm, wie er sie zuletzt als Kind verspürt hatte. Chester war durch und durch Amerikaner. Business, Money, Besitz, Familie, der American Way of Life eben, waren wie ein Naturgesetz für ihn. Amerika war die Welt und die Welt war Amerika. Das war bei seinem Großvater so gewesen, das war bei seinem Vater so und verdammt nochmal, so würde es auch bei ihm sein. Alles andere waren Fake News, die von irgendwelchen Spinnern in die Welt gesetzt wurden, um ihm und den Erfolgreichen den Tag zu vermiesen, den wohlverdienten Erfolg ihrer Arbeit streitig zu machen und Unfrieden zu stiften. Dieses tief verankerte und fest gebaute Haus aus Lebensprinzipien und unveränderlichen Wahrheiten, welches er errichtet hatte, um ihm ein Leben lang Sicherheit zu bieten, ächzte in allen Fugen und die Wände durchzogen tiefe Risse; über Jahrzehnte perfekt in Takt, jetzt in seinen Grundfesten erschüttert.
Sein Geist war noch immer damit beschäftigt zu verarbeiten, was seine Augen sahen, während sie wie gelähmt über die Landschaft krochen. Der Lake Oroville war der zweitgrößte Stausee in Kalifornien und er hatte damit gerechnet, dass der Wasserspiegel stark gesunken sein musste. Die Meldungen über Wasserknappheit, die Aufforderungen Wasser zu sparen, die Verbote den Rasen mehr als zweimal die Woche zu wässern, hatten sicher Gründe. Er hatte sich darauf eingestellt, dass er einige zig Meter, vielleicht sogar Hundert oder Zweihundert Meter laufen musste, um den Rand des Sees zu erreichen. Vielleicht würden einige Boote auf dem Trockenen liegen. Der Uferstreifen würde sicher deutlich grösser als gewohnt sein. Es war eben Trockenheit, sowas hatte es schon immer gegeben, kein Grund zur Panikmache. Mal ist der See voll, mal ist der See eben leerer, dann regnet es und alles ist wieder okay.
Was er aber jetzt sah und Stück für Stück begriff, war etwas völlig anderes. Der See war, ja, man konnte es nur so nennen, zu einer winzigen Pfütze zusammengeschrumpft, die weit unter ihm in der Talsohle in der Sonne glänzte. Der ehemals so große und herrliche See war verschwunden. Wo ihn sonst frische, feuchte Luft empfangen hatte, waberte ihm heute eine schwere heiße Dunstglocke entgegen, die faulig nach Algen und altem Fisch roch und Übelkeit verursachte. Er schluckte, verdrängte den Geruch und lief weiter in die Senke zum Wasser hinunter. Er hörte keine Vögel, keine Enten oder sonst irgendwelche Tiere, es war bedrückend still. Der Boden war sandig und gab unter seinen Schritten nach. Falls es hier Wasserpflanzen gegeben hatte, dann waren sie jetzt jedenfalls komplett verschwunden, keine verdorrten Reste, nichts. Während er in die Senke hinunterstieg, wurde der warme Wind schwächer und setzte dann komplett aus; in der Windstille begann er zu schwitzen und nach wenigen Minuten klebte sein Hemd wie eine zweite Haut an seinem Körper. Der Boden zeigte nun die typische Struktur ausgedörrter Wasserflächen, mit den ovalen, schindelförmigen Bruchstücken, die den gesamten Boden wie Narbengewebe überzogen. Er nahm die ersten Reste von Algen und abgestorbenen Wasserpflanzen wahr, fast völlig eingetrocknet; Fliegen summten um sie herum. Die Luft war wie in einer Sauna nach einem Aufguss, heiß, extrem schwül, stickig und nach Fisch und Algen stinkend. Ihm wurde übel und er rutschte auf den feuchter werdenden Bruchstücken des Bodens aus und stürzte. Er fluchte, stand wieder auf und versuchte sich keuchend und schwitzend vom Dreck an seiner Hose, seinen Armen und Händen zu befreien; vergeblich, das Zeug klebte an ihm wie Spachtelmasse. Er schlurfte schwitzend, entgeistert weiter dem Rand der Pfütze entgegen, während seine Energie, seine Motivation in Strömen aus seinem Körper flossen. Am Rand der muffigen, trüben Suppe angekommen, konnte er seinen Brechreiz nicht mehr bändigen und er übergab sich. Als er wieder zu Atem gekommen war und seinen Blick über die Naturruine schweifen lies, drängte sich ein schwelender Gedanke mehr und mehr in sein Bewusstsein und er begriff mit einem Schlag, dass dies das Ende seines bisherigen Lebens war und wahrscheinlich auch das von Millionen weiterer Menschen.
Damit hatte er Unrecht. Es war das Ende des bisherigen Lebens von Milliarden!