Nebelliebe
Der gefrorene Morgentau hält sich schon seit Stunden. Prachtvoll glitzert er auf den dünnen Grashalmen, die die Last seiner millionen Juwelen nur mit größter Mühe tragen.
Ich strecke meine Glieder entzückt danach aus und krieche über das Gras.
Ein Stück. Noch ein Stück. Wo ich bin, hinterlasse ich meinen Schleier, nehme alles in mich auf.
Hinter der großen Wiese und dem kahlen Feld liegt das Dorf. Dutzende Lichter in den Fenstern. Der Novembermorgen hat Wolken gebracht; meine hochgeachteten Vettern. Sanft verästeln sie sich, machen es der Sonne schwer, ihre Arme hindurch zu strecken.
Wie es wohl sein mochte hoch oben am Himmel zu fliegen? Ich weiß es nicht. Mein Platz ist schon immer unten gewesen.
Der Boden hat sich ausgezeichnet abgekühlt. Es ist meine Zeit.
Wohlig lächelnd räkele ich mich. Wachse. Erst langsam, dann schneller, immer schneller, immer weiter in jede Richtung. Wie Tentakeln schlängeln meine Glieder sich vorwärts. Mit jedem Atemzug gewinne ich an Kraft, werde stark, undurchdringbar.
Mein Blick ist starr auf die Häuser des Dorfes gerichtet; heute kriege ich euch alle.
Ich beobachte euch, bevor ich zum verzehren komme. Wusstet ihr das? Ich lausche, bevor ich euch verschlucke.
Heute höre ich Kinderstimmen.
Von ihrem hellen Klang angezogen, dem unschuldigen Lachen und Kreischen, krieche ich weiter. Eilig ziehe ich meine Nebelspur weiter über das Feld und den Weg.
Da sehe ich sie schon.
Ein dutzend kleiner Menschenkinder in einem eingezäunten Hof. Ein wenig enttäuscht, lasse ich meine Finger darüber gleiten und hinterlasse einen nassen Film auf den Gitterstreben. Durch den Zaun bekomme ich sie nicht durch.
Früher habe ich am liebsten einsame Wanderer oder törichte Reiter verschlungen, doch von ihnen verlaufen sich nicht mehr viele in meine Arme. Doch Kinder! Heutzutage sind Kinder die einfachste Beute.
Nichts genieße ich so sehr, wie den Moment, wenn sie sich im mir verlieren. Wenn sie erstarrt stehen bleiben und begreifen, dass sie verloren sind im Nichts. Sich dann im Kreis drehen, flennen und rufen, aber niemand sie mehr hört, weil sie ganz mir gehören.
Schon der Gedanke an ihre Furcht nährt mich. Der Morgentau ist bereits unauffindbar verloren.
Durch den Zaun bekomme ich die Menschenkinder vielleicht nicht durch, aber zumindest kann ich ein wenig mit ihnen spielen.
Freudig lecke ich mir über die feuchtkalten Lippen. Welches der Kinderlein, die unbedarft schaukeln und rennen und ihre Sandschlösser bauen, ich als erstes in mich hüllen sollte?
Da fällt mir ein Junge auf. Er sitzt im Sandkasten und schaut mich an. Ja, fast könnte man meinen, er schaut mir direkt in die Augen. Weiß und unergründlich. Neugierig blinzelt er. Ich merke, wie er fröstelt, während er mir zusieht, wie ich rasendschnell dichter werde, an Form gewinne, wie ein Ungeheuer, doch er schaut nicht weg. Schon im nächsten Moment kann er den Baum auf der anderen Seite des Zauns nicht mehr erkennen.
Lauf, Junge! Fürchte mich! Er tut es nicht. Er zeigt in meine Richtung.
Angriff.
Ich bäume mich auf, springe über den Zaun und drücke meine Arme und Beine durch das Gitter hindurch, nahezu zeitgleich. Überall bin ich. Überall auf einmal.
Ich beeile mich. Schon gleite ich feucht unter ihre Kleidung, dringe in ihre Lungen, wenn sie einatmen. Schmiege mich an sie, schlüpfe an ihnen vorbei, hauche einen kalten Kuss in ihre Nacken.
Ein Kind nach dem anderen schaut auf. Schaut sich um, reibt sich irritiert die Äuglein.
Oh, herzzerreißende Unschuld!
Schnell habe ich mein Ziel erreicht. Der Junge steht noch unverändert dort. Gerade will ich ihn umschlingen, erstarrt wie er ist, als ein anderes Kind anfängt, bitterlich zu weinen. Einen Sekundenbruchteil zu lange lenkt es mich ab. Der Junge dreht um, rennt los und entkommt mir. Statt in meine schmeißt er sich in die Arme einer Erwachsenen, die mit einer Taschenlampe meinen Körper durchbohrt. Trotzig plustere ich mich auf und schlucke das Licht des Lämpchens.
Ich fühle ihr Unwohlsein. Ein bittersüßer Geruch. So war es immer. So wird es immer sein.
„Alle reinkommen!“, ruft sie, bemüht ihre Furcht zu verbergen. „Wir gehen in den Gruppenraum. Lia, Karl, Josua, ihr auch! Wir gehen heute nachmittag nochmal nach draußen, jetzt wird der Nebel zu dicht.“
Zwei weitere Erwachsene kommen heraus und sammeln die Kinder in Windeseile ein.
Ich versuche noch, wahllos nach einem Mädchen zu greifen, doch es wird mir entrissen, bevor ich es ganz umhülle. Keines lassen sie mir übrig. Alle bringen sie hinein in die warme, grell ausgeleuchtete Stube.
Hinter dem letzten Kind wird die Tür vor meiner Nase zugeworfen.
Durch die Fenster kann ich in den bunten Raum mit den kleinen Tischen und Stühlen sehen. Die Menschenkinder ziehen Schuhe, Jacke und Mütze aus.
So knapp war es mir gelungen.
Frustriert schnaube ich, strecke mich. Stülpe mich ganz über sie in ihrem Haus. Hülle sie ein, wie in einen Mantel, den ich immer enger binde. Es soll ihnen eine Lehre sein.
Lacht nur ihr Wolken; ich kann euch hören.
Gerade will ich weiterziehen, als die Tür sich auf einmal wieder einen Spalt öffnet.
Es ist der Junge.
Zaghaft drückt er sich durch den Spalt und streckt seinen Arm nach mir aus. Fast berührt er mich.
Nun lache ich. Lauter als die Wolken, die vor Schrecken auseinanderreißen. Dummes Menschenkind! Haben sie dich nicht gelehrt, Ungeheuer zu fürchten? Ich hechte vor, fasse seine kleine Hand. Ein eiskalter Schauder ergreift ihn. Schon will ich ihn an mich ziehen.
„So schön! Anna, Anna, guck doch mal, wie schön das aussieht!“
Ich stocke.
„Ja, ja, stimmt“, antwortet eine Stimme von innen, „mach die Tür bitte fix wieder zu.“
Der Junge verharrt, den Arm immer noch weit ausgestreckt. Und ich verharre mit ihm. „Ich mag dich, Nebel“, lächelt er plötzlich.
Da passiert es. Mir wird warm.
Die Sonne reißt ein riesiges Loch mitten durch meine Vettern. Wind pustet in mein Kleid. Es geht viel zu schnell. Der Junge schaut mich immer noch an; er starrt, fröhlich, voll kindlichster Begeisterung, dass ich bis zum Schluss nicht weiß, ob es die Strahlen der Mittagssonne sind, die mich auflösen, oder seine Liebe, die mich heiß und innig durchdringt.