WER ZIEHT DEM FÖHN DEN STECKER RAUS?
»Mir platzt der Schädel,« klagte die Stimme aus der Freisprechanlage des Passats.
»Ute, du machst mich fertig. Nimm was dagegen. Aspirin oder Ibu.«
»Kannst du heute Abend ohne mich zu Wilberts gehen?«
»Wie stellst du dir das vor?«
»Migräne.«
»Klar. Immer dann, wenn’s zu meinen Freunden geht.«
»Dieses Wetter …«
»Ach, so weit sind wir schon? Dass wir über das Wetter reden?«
»Das ist der Föhn, Norbert. Was kann ich dafür?«
Ein dunkler BMW schoss am Passat vorbei und quetschte sich gefährlich nah in die knappe Lücke davor.
Instinktiv drückte Norbert aufs Bremspedal.
»Dieser Spinner, dieser …«
Hinter ihm ertönte ein Quietschen, und um ein Haar wäre das nachfolgende Auto mit dem Passat kollidiert.
Darin saß ein Mann im Anzug, ein Anwalt, käsig im Gesicht. »Scheiße!«, entfuhr es ihm. »So eine gottverdammte Scheiße!«
Vor Schreck über das abrupte Bremsmanöver war ihm das Handy aus der Hand gefallen, direkt in den Becher auf der Mittelkonsole.
Mit zitternden Fingern fischte der Anwalt das Mobiltelefon aus dem brühheißen Kaffee und hielt es ans Ohr.
»Hören Sie mich?«, rief er. »Hallo?«
Das Handy blieb stumm.
»Nein, nein …!«
Verzweifelt tippte er auf die Tasten.
»Scheiße, scheiße, scheiße!«
Der Druck in seinem Schädel, an dem er schon den ganzen Morgen gelitten hatte, nahm zu.
»Komm, bitte, geh wieder an!«
Schweiß perlte auf seiner Stirn, und die Gedanken kreisten um das soeben geführte Telefonat.
Hatte sein Gesprächspartner die Anweisung korrekt verstanden?
Nicht auszudenken, wenn nicht!
Der Puls schlug ihm bis zum Hals, er lockerte seine Krawatte.
Atme, sagte er sich. Ein und aus. Ein und aus.
Kauf? Verkauf? Hatte er seine Order korrekt platziert? Was genau waren seine letzten Worte, bevor der Wahnsinnige vor ihm plötzlich stehengeblieben war?
Kauf oder Verkauf?
Sekunden später wechselte ein Aktienpaket im Wert von zehn Millionen EURO seinen Besitzer. Fast zeitgleich erreichte diese Transaktion den Bildschirm eines Buchhalters am anderen Ende der Stadt.
Dieser schüttelte den Kopf, glaubend, er hätte sich verlesen. Den ganzen Tag lang hatte er schon Schwierigkeiten gehabt, sich zu konzentrieren. Wie so oft, wenn der Föhn über das Land wehte.
Angestrengt blickte er auf den Screen. Suchte nach an einem Fehler. Aber da war keiner. Das Ergebnis blieb das gleiche.
Der Buchhalter wusste, was das bedeutete.
Schwer atmend erhob er sich, fieberhaft nach Worten suchend, mit denen er die Nachricht überbringen würde.
Bedächtig schritt er zur Türe. Öffnete sie.
»Was?«, brüllte sein Boss. »Sag das nochmal!«
»Gekauft.«
»Dieses Arschloch! Ausdrücklich habe ich ihm gesagt, er soll uns die Scheiße vom Hals schaffen! Bevor sie uns um die Ohren fliegt! Und was macht er? Was macht dieser verfickte Anwalt? Er kauft!«
Schlagartig verstummte er.
Diese plötzliche Stille ließ den Buchhalter frösteln.
»Du weißt«, hob der Boss an, »wie ich zu Illoyalität stehe.«
Der Angesprochene schwieg.
»Geh jetzt. Darum kümmere ich mich selbst.«
Er wartete, bis sich die Türe hinter seinem Buchhalter geschlossen hatte. Dann griff er zum Telefon.
»Der Anwalt«, sagte er kurz angebunden. »Du weißt, was zu tun ist!« Er legte auf.
Der Angerufene tat es ihm gleich und ließ das Handy in seiner Hosentasche verschwinden.
Atmete durch, griff zu dem Glas Wasser und warf sich die Tablette ein.
Dieses Pochen im Kopf. Er hatte das Gefühl, neben sich zu stehen, und wenn er gerade etwas gar nicht brauchte, dann das. Wer, dachte er, zieht dem Föhn endlich mal den Stecker aus der Dose? Das Wortspiel ließ ihn schmunzeln.
Aus der Jackentasche zog er die Waffe. Warf einen prüfenden Blick darauf, schließlich schraubte er den Dämpfer auf den Lauf.
Er wusste genau, wo er diesen Anwalt finden würde.
Ein gezielter Schuss aus nächster Nähe. Danach schnell in der Menge untertauchen. Hatte bislang immer geklappt. Business as usual.
Der Ort des Einsatzes lag in Fußnähe. Das sollte zeitlich passen. Und ein bisschen frische Luft täte ihm jetzt gut.
Er trat ins Freie. Wechselte die Straßenseite an der Ampel. Lief vorbei an den Geschäften und Cafés bis zur Kreuzung. Dort blieb er stehen und wartete.
Schaute nach oben, betrachtete das verwaschene Blau des Himmels und die schlierigen Föhnwolken. Als er den Blick senkte, bemerkte er die Zielperson.
Beobachtete, wie der Mann aus dem Auto stieg, nach seiner Aktentasche griff und den Wagen verschloss.
Jetzt kam der Anwalt auf ihn zu. Seinem Schritt fehlte es an der üblichen Selbstsicherheit, so als ahnte er, was ihn gleich ereilen sollte.
Der Killer tastete nach der Waffe. Trat seinem Opfer entgegen. Hob die Hand. Und dann flog er durch die Luft.
Auf der Straße kam er zum Liegen. Unweit des Autos, das ihn angefahren hatte.
Der Blick aus den weit geöffneten Augen war leer. Und doch schienen sie auf den Anwalt gerichtet zu sein, der mit offenem Mund beobachtete, wie sich eine klebrige, rote Pfütze um den Kopf des Verunglückten bildete.
Aus dem Unfallwagen kreischte eine Frau: »Oh Gott, oh Gott!« Wie von Sinnen schrie sie in ihr Handy. »Norbert, hilf mir! Ich, ich habe jemand totgefahren.«
»Du hast was?«
»Norbert, da liegt einer vor dem Auto. Und der rührt sich nicht. Oh Gott, Norbert, was habe ich getan?«
»Ute! Ganz ruhig! Wo bist du jetzt?«
»Apotheke. Ich wollte doch nur zur Apotheke. Wegen des Triptans. Wegen der Schmerzen. Das Ibu, das hat doch nicht geholfen!«
»Wo bist Du, Ute?«
Die Antwort ging unter in dem Heulen herannahender Sirenen.
Und unbeeindruckt blies der Föhnwind über die Stadt.