An den Hebeln der Macht
Rührend, wie sie alle um mich bedacht sind. Meine Sicherheit hat Ihnen oberste Priorität. Ich werde gehegt und gepflegt, wie wohl kaum einer meinesgleichen weltweit.
Was auch kein Wunder ist. Schließlich sitze ich an den Schalthebeln der Macht. Beteiligt an Entscheidungen, die über den Auf- und Niedergang ganzer Nationen - ach was, der Welt - bestimmen.
Ich erinnere mich, wie Ronald Reagan einst nach einer Pressekonferenz spöttisch bemerkte: „In fünf Minuten beginnen wir mit der Bombardierung!“. Dumm, dass die Mikrofone der Presseleute noch angeschaltet waren. Und dumm, dass mein Vorgänger nicht registriert hatte, wie ihn sein Stabschef darauf hingewiesen hat. Was hätte alles passieren können?!
Naja, es war damals alles nochmal gut gegangen. Und Reagan war schließlich allgemein als Scherzkeks bekannt.
Mir würde so ein Fauxpas nicht unterlaufen. Mir ist die ungeheure Verantwortung, die ich rund um die Uhr trage, vollkommen bewusst. Deshalb lasse ich mich auch regelmäßig auf Herz und Nieren durchchecken. Nicht auszudenken, welche Folgen es haben könnte, wäre ich nicht durch und durch leistungsfähig und reaktionsschnell.
Heute zum Beispiel. Wieder einmal wird es an mir liegen, welchem Schicksal unser Planet entgegensieht. Gerade betreten die Mitglieder des Krisenstabes das Oval Office. Ihnen voran der Stabschef, ein gefürchteter „Falke“, wie man die Kriegstreiber in Washington nennt. Hinter ihm die nationale Sicherheitsberaterin. An deren Händen, so kann man es ruhig sagen, das Blut Tausender klebt. Ich verachte sie. Genau wie den Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs. Sie alle stehen in der Mitte des Raumes und blicken gespannt auf den Mann, der hinter dem mächtigen alten Kennedy-Schreibtisch thront, dem „Resolute Desk“. Der übrigens aus dem Holz eines britischen Polar-Forschungsschiffes gebaut wurde. Nicht aus dem eines Kriegsschiffes, wie ich es den Verteidigungsminister, ein wirklich ungebildeter Mensch, einmal sagen hörte.
„Mr. President“, sagt der Stabschef in das gespannte Schweigen hinein: „Es ist soweit. Wir müssen ein Zeichen setzen. Eines, das unsere Feinde verstehen. Die letzten Provokationen waren so eindeutig, dass wir dringend zu einem massiven Präventivschlag raten!“
Ich glaube, nicht richtig zu hören. Was mich unter normalen Umständen durchaus kurz amüsiert hätte. Schon wieder also wollen die Kriegstreiber einen Teil der Welt in Flammen aufgehen lassen? Nur, weil ein verrückter kleiner Diktator, der ganz offenbar einen Vaterkomplex hat, mal wieder eine seiner größenwahnsinnigen, pubertären Reden halten musste?
Und so ist es auch in diesem Moment, wie so oft, einmal mehr meine Intelligenz, von der alles abhängt. Auch wenn manche Zeitgenossen sie abschätzig eine „künstliche“ nennen. Pah.
Ich formuliere das Ansinnen des Stabschefs so, dass die Antwort des Präsidenten den überragenden politischen Analysten zum Vorschein bringt, der er meiner Überzeugung nach nie gewesen ist.
„Ich danke ihnen, meine Herren!“, antwortet der Präsident der Vereinigten Staaten nach einer kurzen Pause. „Sie haben natürlich vollkommen recht. Wir lassen uns von diesem kleinen Despoten nicht provozieren. Eine militärische Reaktion wäre völlig unangemessen.“
„Wie bitte?“ höre ich die nationale Sicherheitsberaterin.
„Sehr weise!“ übersetze ich ihre Worte für das Ohr des Präsidenten, bemüht, die Stimme der Sicherheitsberaterin etwas weicher klingen zu lassen, als sie in Wirklichkeit ist.
„Dankeschön", sagt der Präsident. "Ich danke ihnen allen. Wenn sie mich jetzt bitte alleine lassen würden? Es warten noch andere Aufgaben.“
Es dauert einen Moment, bis die kleine Gruppe durch die Seitentüre neben der großen Standuhr den ovalen Raum verlassen hat.
Als wir wieder alleine sind, lächelt der Anführer der freien Welt seiner langjährigen Vorzimmerdame zu. Auch Margaret, fast so alt wie ihr Chef. trägt in jedem Ohr ein kaum sichtbares Hörgerät. Natürlich längst nicht so perfekt, wie ich es bin. „Wirklich Magaret, manchmal traue ich meinen Ohren kaum“, sagt der Präsident. „Was für ein Glück, dass mein Stab und ich uns so gut verstehen. Die Welt heute ist schließlich ein Pulverfass! Wer weiß, was alles passieren würde, wenn wir nicht alle so vernünftig wären …“