Der Mann war größer als ich, so dass ich hochschauen musste. Er hatte offensichtlich ein schiefes Gesicht, vielleicht von einem Unfall. Das Grinsen war ein Dauergrinsen, das offensichtlich nicht abgestellt werden konnte. Ich konnte mir ein eigenes Grinsen nicht verkneifen.
„Entschuldigen sie, wenn ich sie in ihrer Arbeit gestört habe. Sie haben sicher viel zu tun. Ich bin neu in der Stadt und mir wurde dieses Café empfohlen. Ich muss schon sagen, ich bin begeistert. Ihre Torten sind wirklich exquisit. Dann diese geschmackvolle Einrichtung, die dezente Musik und dazu die hervorragenden Kunstwerke an den Wänden. Ich bin mehr als überrascht, hier in der Altstadt in dieser kleinen Gasse solch eine Oase zu finden. Warum machen Sie nicht mehr Werbung? Bei der Qualität muss der Laden doch brummen.“
Er redete sehr schnell und wechselte überraschend schnell das Thema. Die Frage kam für mich daher unerwartet. Ich konnte ihn noch nicht einschätzen. Vorsichtig antwortete ich: „Vielen Dank für ihr Lob. Kennen wir uns?“.
„Nein, natürlich nicht. Ich sagte ja, ich bin neu in dieser Stadt. Es war auch keine richtige Empfehlung, vielleicht aber auch doch. So genau kann ich es nicht sagen. Die Wahrheit ist, ich habe ihren Bericht im Stadtanzeiger gelesen.“
Er öffnete seine Aktentasche, wobei er seinen Hut sorgsam beiseitelegte und holte einen Zeitungsartikel heraus. ‚Kulinarische Raffinessen und kulturelle Highlights‘, war dort zu lesen, ‚eine Oase der Altstadt‘. Unterschrieben von einer Lucy Wacholder.
„Den Artikel kennen sie doch - oder?“
Die Frage riss mich aus meinen Gedanken.
„Ja, natürlich. Sind sie von der Konditoren Innung?“ In Wahrheit habe ich den Artikel noch nie gesehen.
Er lachte: „Nein, mit der Konditoren Innung habe ich nichts zu tun. Ich wusste nicht einmal, dass es eine Innung für Konditoren gibt. Nein, ich arbeite bei einer Versicherung. Ich bin hier, um mit ihnen über ihre Schätze zu reden, ihre Kunstschätze.“
Ich wusste nicht, ob er mein Zucken im Gesicht bemerkte. „Was wusste dieser Mensch? Sei vorsichtig, Robert.“
Er stand auf und ging zu einem Gemälde an der Wand. Dabei zog er seinen rechten Fuß ganz leicht nach. Es sah aus, als würde er hinken. Er betrachtete das Bild.
„Eine sehr schöne Arbeit“, sagte ich erleichtert und stellte mich dazu. „Eine talentierte Künstlerin. Sie wohnt hier ganz in der Nähe.“
Das Bild zeigte zwei badende Frauen in einer von der Abendsonne beleuchtete Flusslandschaft.
„Sie können es noch kaufen“, erwähnte ich.
Er ging zu einem anderen Bild, das einen Strohballen im Abendlicht zeigte.
„Wenn man den Strohballen durch einen Heuhaufen ersetzt, könnte das Bild glatt von Claude Monet sein.“
Er nahm seine Brille ab und ging dicht das Bild heran.
„Hervorragende Arbeit“, sagte er, „Haben sie hier häufiger Kunstausstellungen?“
Er drehte sich zu mir um und setzte seine Brille wieder auf.
In mir klingelten sämtliche Alarmglocken. „Wer ist dieser Mann und was will er von mir? Ahnt er irgendetwas?“
Ich antwortete wachsam: „Ja, die Malerin ist sehr talentiert. Aber wir wollen uns sicher nicht über ihre Bilder und die Kunstausstellung unterhalten. Ich habe noch einige Arbeiten in der Küche zu erledigen. Wie kann ich helfen?“
„Doch, doch. Eigentlich möchte ich mich gerade über die Bilder unterhalten. Die leckeren Naschereien sind nur eine Nebensache, wenn auch sehr süße Leckereien. Können sie mir die Adresse der Malerin geben? Wie ich sehe, sind die Bilder auch zum Verkauf.“
Ich gab dem Mann mit der braunen Aktentasche und dem Hut die Visitenkarte.
„Und ihre Kunstkenntnisse? Die Redakteurin sprach von einem ausgezeichneten Kunstkenner.“
Ich hob abwehrend die Hände. „Nein, das täuscht. Ich habe nur Gefallen an guter Malerei und meine Kunden mögen es, wenn wir hier wechselnde Ausstellungen haben. Außerdem haben meine Eltern im Stadtmuseum für Kunstgeschichte gearbeitet. Da wurde zu Hause viel über Kunst gesprochen.“
Er lachte: „Dann haben wir ja ein gemeinsames Interesse. Ich mag auch gute Malerei, sowohl privat als auch beruflich. Haben sie von dem letzten Kunstraub vor einigen Tagen gehört?“
Wieder eine überraschende Frage. Ich zögerte und versuchte, ruhig zu bleiben.
„Ich hörte davon in den Nachrichten.“
„Zwei Original-Monet und ein Bild von Marc Chagall. Beide unersetzlich. Da war ein Kenner am Werk, ein richtiger Profi, der genau wusste, was er stehlen musste. Aber warum er den Picasso nicht mitgenommen hat, weiß man nicht. Vermutlich war er allein. Oder es war eine Auftragsarbeit.“, er lachte. „Habe ich gelesen. Gibt es in ihrer Künstlerszene darüber Informationen?“
Er sah mich plötzlich durchdringend an.
„Nein, ich habe nichts darüber gehört. Woher sollte ich auch etwas wissen. Mein Talent liegt in der Küche zwischen Kirschtorte und Nusskuchen. Warum interessiert es sie so?“
Er lachte: „Ich sagte ja schon, ich arbeite bei einer Versicherung. Da redet man viel über solche Vorfälle.“
Er ging zum Tisch zurück, ohne auf eine Antwort zu warten, nahm seine Aktentasche, setzte sich den Hut auf, warf seine Jacke über den Arm und ging zur Tür.
„Dann möchte ich sie nicht länger aufhalten. Bezahlt habe ich ja schon. Ich komme mit Sicherheit wieder vorbei. Der Kuchen war ausgezeichnet.“
Die Türglocke pendelte lange hin und her. Ihr heller Klang hallte noch lang in meinen Ohren. Was wollte dieser Mensch?