Grandmas Geheimnis
„Grandma, das musst du dir ansehen.“ rief ich und lief zu ihr rüber, um sie ans Fenster zu schieben.
„Was gibt es denn mein Junge?“
„Jemand interessiert sich für deinen alten Koffer!“
Ich parkte ihren Rollstuhl direkt vor dem Fenster.
„Was will der Mann mit dem alten Ding? Den habe ich seit meiner Schiffsreise in die Karibik nicht mehr benutzt.“
„Grandma, war das nicht das erste Mal nach Grandpas Tod auf Curaçao, dass du dort wieder hingefahren bist? Ich weiß noch wie ich damals Angst hatte, dass du auch sterben würdest. Naja, damals war ich noch sehr klein.“
„Ja, mein Junge, du warst fünf. Ich war über fünfzig und konnte prima auf mich selbst aufpassen.“
„Sieh Grandma, er stellt ihn wieder zurück zu den anderen Sachen!“, rief ich fast erfreut.
„Kein Wunder Jonathan. Das Leder ist schon ziemlich verschlissen. Ich hätte ihn längst wegwerfen sollen.“
„Warum hast du es nicht getan?“, fragte ich, während wir beide den dunkelhaarigen Kerl nicht aus den Augen ließen, der immer noch da unten stand und jetzt offenbar den Kofferanhänger in Augenschein nahm.
„Bei manchen Erinnerungen, ist Loslassen schwierig“, sagte sie nachdenklich.
„Dein zufriedenes Lächeln eben spricht aber eine andere Sprache. Ich meine, was das Aufgeben dieses Apartments betrifft“, wagte ich mich vor. Wir sahen uns vertraut in die Augen.
„Erstens freue ich mich, dass du, mein liebster und natürlich auch einziger Enkel bald hier wohnen wirst und zweitens werde ich wohl zukünftig auf fremde Hilfe angewiesen bleiben. Man geht nicht mit Jammern in einen neuen Lebensabschnitt, auch wenn es der letzte sein sollte!“ hallten ihre Worte in die halbleere Wohnung. Still richteten wir unsere Blicke wieder auf den Dunkelhaarigen unten auf der Straße, der den Koffer wieder anhob, als ob er nun abschätzen wolle, wie schwer er sei.
„Der ist nicht vor hier!“ sagte Grandma entschlossen.
„Wie kommst du darauf?“
„Es würde sich doch kein New Yorker für einen alten Koffer interessieren, außer vielleicht ein Obdachloser.“
„Vielleicht ist er ja ein Antiquitätenhändler aus Jersey?“
„Schau dir seine Kleidung an! Wirkt wie ein Tourist - wahrscheinlich aus Europa. Dass du das nicht erkennst! Wozu waren wir eigentlich sooft zusammen in der Welt unser Vorfahren unterwegs, mein Junge?“ Sie grinste mich herausfordernd an. Ich lächelte zurück und sagte leise:
„Ich hoffe, du wirst dich in der Bronx, also im Andrew Freedman Home gut einleben, Grandma.“
Ich folgte ihrem Blick nach unten. Der wohl europäische Kerl hatte das gelb aussehende Etikett vom Koffergriff gelöst, steckte es ein und ging.
„Grandma, war das noch das Etikett von dem Flugzeugabsturz?“
„Nein mein Junge, der Koffer ging bei der Notlandung verloren. Diesen dort hatte ich bei meiner Schiffsreise nach Curaçao dabei. Zehn Jahre nach Franks Tod. Aber das erzähle ich dir lieber in Ruhe“.