Seitenwind Woche 3: Dufte

Die Welt ist klein

Mit einem elektronischen Surren öffnen sich die Türen der Linie 7 und ich schwebe hinaus in die neonbeleuchtete U-Bahn-Station Chegongmiao. Ich muss mich ein wenig drängeln, denn direkt vor mir steht ein junger Mann, der offensichtlich nicht von hier kommt. Sicher, Shenzhen ist die internationalste Stadt Chinas und Ausländer sind eigentlich keine Seltenheit, im asiatisch geprägten Stadtbild fallen sie aber dennoch auf. Der Mann trägt ein Hemd, das über und über mit Orangen bedruckt ist. Ein Detail, das deutlich zu seiner Auffälligkeit beiträgt. Er beachtet mich nicht wirklich, auch nicht, als ich neben ihm die Rolltreppe hinauf in die Stadt schwebe und mich mit meinesgleichen in den nahegelegenen Straßenküchen, auf die er zusteuert, tummle. Irgendwann verliere ich ihn aus den Augen, aber das macht nichts. Bisher habe ich diesen Mann noch immer wieder gefunden. Mal sind es Orangen auf seinem Hemd, mal Flugzeuge oder Fische. Auf seine Hemden ist Verlass. Europäisch sieht er aus und noch ziemlich jung, vielleicht achtzehn oder neunzehn, obwohl er älter wirkt mit seinem Bart. Ich bin gespannt, wann ich ihm das nächste Mal begegne.

Es ist schon einige Jahre her, irgendwann habe ich den Mann nicht mehr gesehen. Schade eigentlich, aber er muss wohl weitergereist sein. Ich bin es auf jeden Fall. Ich habe viel in der Welt erlebt, bin gereist und habe sämtliche Kulturen der Welt erkundet. Gerade bin ich in Europa und schwebe durch die Fleete Hamburgs und – ohh! Der junge Mann! Ich erkenne ihn an seinem Hemd, es ist das mit den bunten Flugzeugen drauf. Wie schön. Ich schaue ihn erwartungsvoll an. Als er an mir vorbeigeht, hält er plötzlich inne. Das ist neu, ich bin gespannt, ob er sich an mich erinnert. Er atmet tief ein und schließt die Augen. Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus und ich weiß, er hat mich erkannt. Wie klein die Welt doch ist.

Feines Aroma

Durch die offene Tür des Backofens entweiche ich schnell. Noch heiß liebkose ich das Gesicht der Bäckerin, sodass sie rasch ein paar Schritte zurückweicht. Warum tut sie das?
War ich noch zu heiß?
Das kann nicht sein!
Natürlich breite ich mich völlig ungezwungen im ganzen Raum aus, wehe durch jede Ritze und setze mich überall fest.

Die Hausfrau öffnet die Küchentür und lässt mich dadurch im Haus verteilen. Welch’ Wonne!
Mit Freuden wehe ich durch die Tür ins Vorzimmer.
Dort ist es kühler.
Mit Unbehagen mische ich mich mit der Luft dort und fühle mich schließlich immer wohler. Natürlich breite ich mich weiter aus. Die Wände zeigen mir Grenzen auf. Also strebe ich nach oben. Doch auch hier sind meine Möglichkeiten begrenzt. Dort fühle ich mich gut, breite mich an der Decke weiter aus und sinke etwas, als sich aus der Küche weiterer Dunst zu mir gesellt.

Erschrocken wirble ich durcheinander. Etwas Kaltes trifft mich und eine Tür wird lautstark ins Schloss geworfen.
„Mama … Mama …, du hast wieder gebacken“, ruft eine helle Stimme erfreut aus. Schnuppernd läuft das Kind auf die geöffnete Küchentür zu, durch die ich selbst noch vor Kurzem entkommen bin.
„Vanillekipferl“, jubelt der kleine Mensch, „du hast wieder Vanillekipferl gebacken!“
Ja, diesem Backwerk verdanke ich mein delikates Aroma.

In einer murkeligen, verschnarchten Kleinstadt namens Blaubergen gab es ein eigentümliches, unerklärliches Phänomen, das niemand so recht zu definieren vermochte. Es war ein Duft, der scheinbar aus dem Nichts auftauchte und sich durch die Straßen schlängelte, wie ein ungreifbarer Geist. Dieser Duft hatte keine feste Form oder Farbe; er war ganz selbstverständlich da, ein unverkennbares Aroma, das die Bewohner der Stadt in seinen Bann zog.

Eines launigen Morgens, als die Bewohner von Blaubergen gerade ihre Türen und Fenster öffneten, um die frische Morgenluft zu genießen, erschien der unergründliche Duft. Er zog durch die Straßen und Gassen und drang in die Nasen und Herzen der Menschen ein. Der Duft war süß und blumig, erinnerte an Sommerwiesen und längst vergessene Träume.

Für die junge Emma war dieser Duft ein Tor in die Vergangenheit. Als sie ihn roch, fand sie sich urplötzlich in einer alten Scheune wieder, umgeben von duftenden Heuballen. Sie war ein jünges Mädchen und lachte ausgelassen, während sie mit ihrem Großvater spielte. Der Duft hatte ihre Erinnerungen an die glücklichsten Tage ihrer Kindheit geweckt.

Ganz anders war die Reaktion von Herrn Miller, dem eigenbrötlerischen Nachbarn in der Straße. Als der Duft in seine Nase kroch, wurde er von einer Welle von Übelkeit und Ekel überwältigt. Seine Gesichtsfarbe veränderte sich, und er rannte hastig in sein Haus, um sich zu beruhigen. Der Duft erinnerte ihn an eine hochnotpeinliche Begegnung aus seiner Vergangenheit, die er am liebsten vergessen hätte.

Währenddessen versetzte der Duft den alten Grafen Lohenstein in eine tiefe Nostalgie. Er tanzte aus dem nichts in einem exzellenten Ballsaal des 19. Jahrhunderts, mit einer paradiesischen Dame in einem langen Kleid. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er sich an seine verlorene Liebe erinnerte.

Der geheimnisvolle Duft, der die Menschen von Blaubergen an diesem Tag heimsuchte, brachte die Emotionen der Bewohner zum Vorschein. Er war ein Teil ihrer Geschichten, ihrer Erinnerungen und Sehnsüchte. Niemand wusste, woher er kam oder wohin er verschwand, aber er hatte die Macht, die Menschen in eine Achterbahn der Gefühle zu versetzen. Und so ging dieser besondere Tag in die Geschichte von Blaubergen ein, als der Tag, an dem der Duft der Erinnerungen die Herzen der Menschen berührte und sie an ihre vergangenen und zukünftigen Träume erinnerte.

Abschied

Ich betrete den Raum, in dem man dich vergessen hat.
Hier hat dich jemand achtlos auf den Tisch geworfen.
Deine nackte, rissige und verfärbte Haut ist das letzte Überbleibsel deiner Schönheit und unter dir entdecke ich deine Tränen, die herabgefallen sind.
Wenn ich vorsichtig deinen filigranen Körper streichle, tust du mir weh.
So wie damals, denke ich missmutig, als ich dich kennengelernt und mitgenommen habe.
Ich rieche ein letztes Mal an dir: Ein Geruch, der mich an eine welke Rose erinnert.

Der ultimative Duft

Ahh! Endlich! Ich darf wieder raus. Ich war zu lange eingesperrt in dieser Flasche, in dieser Flüssigkeit. Aber jetzt ist es soweit. Mein Herr und Meister hebt den Glasstopfen an und legt ihn beiseite. Nun fehlt nur noch ein Hauch Wärme durch die Heizplatte und schon habe ich genug Energie um mein gläsernes Gefängnis zu verlassen. Ach ich freu‘ mich so, ich war schon so lange nicht mehr draußen. Aber warum gerade jetzt? Das liegt sicher an der kommenden Weihnachtszeit. Da haben würzige Düfte Hochsaison: Weihrauch, Zimt, Nelken und was fehlt noch? Na klar, ich und mein Mandelduft! Aber nicht dieses süße, klebrige Marzipanzeug, dessen jeder schon nach wenigen Minuten überdrüssig wird. Nein, ich bin würzig aber dezent, nicht süß, sondern herb, vielleicht sogar ein wenig bitter, aber alles sehr ausgewogen und angenehm. Jetzt fliege ich durch den Raum und strebe nach oben. Mich hält nichts auf, schon gar nicht die doppelt so schwere Luft. Raus aus dem Kellerraum, die Treppen hoch, Richtung Wohnzimmer. Dort hat es sich die Hausherrin sicher vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Ich schwebe durch den Spalt der angelehnten Tür und ja, da sitzt sie, in Kissen und Decken eingehüllt, vor sich auf dem Tisch eine Tasse dampfenden Tee. Das Kaminfeuer knistert und im Fernsehen läuft eine Kochsendung. Wie wundervoll, da komme ich gerade recht. Sie wird sich sehr freuen, denn mein Mandelduft wird das i-Tüpfelchen auf diesem herrlichen Nachmittag sein. Ich fliege auf sie zu und schon saugt sie mich durch ihre Nase ein. Ihre Nasenflügel beben leicht, das wird die Freude sein. Schwupp durch die Luftröhre in die Lunge zu den Alveolen. Sie müssen wissen, dass ich von Natur aus völlig unkompliziert bin und aus einem ganz einfachen Molekül bestehe, aufgebaut aus nur drei verschiedenen Atomen: Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, jeweils gerade eins und genau in dieser Reihenfolge. Und dennoch dieser raffinierte Duft, einfach unerklärlich, einfach genial. Ich und meine Moleküle, wir lieben die Menschen, vor allem ihr Blut und davon insbesondere die roten Blutkörperchen; das zentrale Eisenion ist einfach zu appetitlich. Insbesondere mein Stickstoffende ist hin und weg, und schmeißt sich geradezu an das Eisen ran. Wenn es dort erst einmal sitzt, will es nicht mehr weg! Ich möchte aber heute noch was unternehmen und lasse mich daher mit dem Blutstrom einfach nur mitreißen, statt direkt fest am Eisen anzudocken. Wuusch! Sich einfach mal in den Arterien bis runter in die Fingerspitzen spülen lassen und Zack, in den Venen zurück zum Herzen. Die Aussicht in den Fingerspitzen ist heute aber nicht so doll, alles etwas bläulich trübe, muss wohl am schlechten Wetter liegen. Und jetzt ruckelt die Fahrt auch noch zurück zum Herzen. Es geht nur stockend voran. Gibt es hier sowas wie Stau, frage ich mich, davon habe ich ja noch nie gehört. Noch bevor ich ganz zum Herzen gekommen bin, kommt der Fluss komplett zum Stillstand. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht, denke ich mir und mache mich auf den Weg in die Lunge, den Übergang in die Atemluft und zurück über den Mund wieder ins Freie. Oh je, ich hab’s befürchtet, die Hausherrin sieht gar nicht gut aus. Nicht nur ihre Finger, auch ihr Gesicht ist blau verfärbt, die Augen sind verdreht und die Zunge hängt ihr seitlich aus dem Mund. Ist das etwa meine Schuld? Das kann doch nicht sein! Ich muss jetzt nachschauen. Also flugs aus dem Wohnzimmer die Treppe runter in den Keller. So langsam geht mir die Puste aus, ich werde dünner und schwächer, aber das will ich jetzt wissen. Noch einmal um die Ecke und da steht sie, die Glasflasche. Sie steht nicht mehr auf der Heizplatte und der Stopfen ist auch wieder drauf. Daneben steht mein Meister, der sieht auch schlimm aus. Sein Gesicht ist kaum wiederzuerkennen: zwei gigantisch weit aufgerissene, flache, gläserne Augen, ohne Nase und sein Mund ist riesig, kreisrund und nach vorne gestülpt. Furchtbar! Ein letzter Luftzug spült mich gerade noch nahe genug an die Flasche heran, um das Etikett zu lesen: HCN, Blausäure. Der Totenkopf daneben ist das letzte, was ich sehe; eine Winzigkeit später habe ich mich vollständig verflüchtigt.

Plötzlich und heimlich

Ein Duft durchströmt die Straße, ja, was mag es sein?
Die Leute schnuppern, rätseln, fühlen sich nicht mehr klein.
Der alte Mann denkt an Rosmarin, an seine Jugendzeit,
Die junge Frau riecht Karamell und spürt Geborgenheit.

Doch plötzlich, oh wie skurril, die Wendung kommt jetzt vor,
Der Duft wird scharf wie Chili, man hört ein lautes Chor.
Die Leute niesen, husten, sind allesamt perplex,
Der Duft zieht weiter, lacht und denkt: „Das war mein kleiner Hex!“

So tanzt der Duft von Ort zu Ort, macht Freud’ und auch mal Leid,
Und lässt uns ratlos, neugierig, auf seine nächste Heimlichkeit.

Das Rad der Aroma

Nein, nein und nochmals nein. Dies ist einfach nicht der richtige Ort für mich.
In der Dunkelheit.
In der Kälte.
Und du bezeichnest dich als Feinschmeckerin. Ha, dass ich nicht lache. Ignorant bist du.
Ich glaube, du weißt absolut gar nichts über den erhabenen Schaffensprozess, durch den ich das Licht der Welt erblickt habe.
Darüber, dass ich ein wahres Kunstwerk bin aus perfekten Zutaten und Aromen.
Du kannst ihn dir sicher nicht einmal ansatzweise vorstellen, meinen Schöpfer.
Wie vor seiner geistigen Nase aus Noten von leicht gärendem Heu, Haselnuss, geröstetem Brot, dunklem Karamell, Muskatnuss und scharfem Pfeffer, einem Hauch Kaffee, saurer Gurke und frischem Rosenduft etwas so Vollkommenes entsteht wie ich es nun einmal bin.
Ja, du trittst ihn und seine Kunst geradezu mit Füßen, wenn du mich hier einsperrst.
Meinen Herrn und Sommelier, der das Aromarad auf das Perfekteste zu drehen weiß.
So bleibt mir nichts anderes übrig als ihn auf die einzige mir mögliche Art und Weise zu rächen: Jedes Mal, wenn du die Kühlschranktür öffnest, wird der Rest deiner Familie wehklagen und ausrufen: Oh nein, hast du schon wieder diesen fürchterlichen Stinkekäse da drin.
Hoffentlich wird dir das trefflich den Appetit verderben.

Die Dinge des Lebens

Heftiger Regen setzte ein, als er die Haustür öffnete, das Rauschen übertönte das Knacken des Schlosses und seine ersten Schritte auf den leicht knarzenden Dielen. Das Licht des Flures war sanft gedimmt, sodass alles konturlos in weiches Dämmerlicht getaucht war wie ein zerlaufenes Photo auf einem Kissen.

Der vertraute Anblick ließ ihn kurz schaudern, oder lag es an der mit dem Regen heraufziehenden Kälte ? Er wußte es nicht, musste sich aber zugleich eingestehen, dass er nicht einmal eine Antwort auf die Frage hatte, weshalb er überhaupt noch einmal gekommen war. Es würde das letzte Mal sein, soviel war klar.

Sie hatte wie immer die Tür zum Schlafzimmer nur angelehnt, eine Gewohnheit aus Kindertagen. Schwach fiel das Licht des Flures ins Zimmer, als er leise hereintrat.

Sie lag da wie ein aufgeschlagenes Buch, quer im Bett wie hingegossen, quer in der Zeit. Ihr allabendlicher Kampf mit dem Kopfkissen war auch diesmal wohl mit einem erschöpfenden Unentschieden geendet; ihre verschachtelte Umarmung mit dem Kissen, bei der man nicht entscheiden konnte, wer hier wen umarmt, gab lediglich den Blick auf ihren Nacken frei.

Er wollte sie nicht wecken und setzte sich sachte am Fußende nieder; verstreute Bilder und Briefe lagen auf Bett und Boden, einige hob er auf und begann in ihnen gedankenverloren zu blättern.

Seine Erinnerung ging zurück zu der Nacht, als er ihren schlafenden Nacken das erste Mal betrachten konnte. Glück war nicht das rechte Wort für das, was er damals angesichts ihrer geschwungenen Halslinie und ihres Haaransatzes empfunden hatte: Vielmehr ein nicht näher beschreibbares Gefühl einer allmächtigen Gegenwart, ein Gefühl, dass das Leben nicht länger nur eine bloße Abfolge von Augenblicken ist, es in ihren Zwischenräumen zerfließt und sich nach und nach verliert, sondern dieser eine Augenblick gilt, sodass es fortan Nichts anders zu tun und Nichts anderes zu erstreben gab, als diese Empfindung für die Gegenwart zu bewahren. Sie drehte sich im Schlaf, sodass er aufstand und die Decke freigab; ihr Arm kam auf der anderen Seite zum Liegen, dort, wo er sonst lag.

Als er ins Arbeitszimmer trat, bemerkte er, dass nichts verändert worden war:

Der Sessel, der Tisch, die grüne Leselampe, die kleine Couch, alle Dinge schienen an ihrem Platz, aber zugleich dennoch eltern- und geschwisterlos verwaist. Selbst seine Akten lagen in der bekannten chaotisch anmutenden Unordnung, diktiert von den Forderungen des Tages.

Seine Augen wanderten im Zimmer ruhig umher, während er in der Mitte des Zimmers stand, beide Hände in den Hosentaschen seines grauen Flanellanzuges. Die Bücherwand, die Musiksammlung, der schwarz-gusseiserne Halter mit der ungeöffneten Post, die beiden gerahmten Aktskizzen in Tusche, das halbhohe Sideboard mit Photos und den Flakons, alles war an seinem Platz.

Sein Blick pendelte sich auf den grünen Flakon in der Mitte ein, er trat heran und durch einen inneren Zwang geleitet betätigte er den Sprühmechanismus. Sofort entfaltete sich um ihn und auf ihm eine herbe Frische, so herb und gepaart mit einem ganz leichten bitteren Anflug, dass er sogar ein wenig zurückgestoßen wurde, um dann aber nur ein paar Sekunden später einzumünden in ein moosig-krautiges aber luftig-klares Grün, eine leise Erinnerung an Minze heraufbeschwörend, leicht umspielt von dem Duft von dezenten hellen Blumenakkorden mit nachhaltigem Veilchenakzent.

Er atmete mehrmals tief ein und aus. Dieser Duft hatte ihn schon sein ganzes Leben lang begleitet und noch immer, wenn sich sein Leben geändert hatte, seine Vorlieben, insbesondere sein Geschmack, noch immer war er zu diesem Flakon wieder zurückgekehrt, zu diesem Duft, zu diesem herben Grün, was ihm stets versichern konnte, dass mit der Welt – und insbesondere mit ihm – alles in Ordnung war.

Er atmete noch einmal tief ein und er stellte befriedigt fest, dass sich das aufrührerische herbe Grün niedergelegt hatte zugunsten eines nun holzigeren nassen Grundtones, auf dem ein etwas eisiger Luftzug den Hauch von Veilchen stärker in den Vordergrund trieb. Seltsam, dachte er, dass nach all den Wechseln und Veränderungen im Leben man mehr oder weniger derselbe bleibt.

Er trat zum Fenster. Draußen fiel der Regen unaufhörlich weiter ins dunkle Grün; die Dämmerung hatte mittlerweile die Oberhand gewonnen, sodass der Garten und seine Einwohner nur noch in Umrissen erahnbar waren. Das verlassene Elsternest in der hohen Birke zeichnete sich kurz schemenhaft ab, als eine Wolke für einen Moment aufriss und den aufkommenden Mondschein freigab, sich dann aber wieder zusammenzog und alles ins nasse dunkle Grau zurücksank. Der Regen war so dünn und fein, dass man sich seiner Existenz nur durch das gleichmäßige Rauschen, Zischen und Klopfen versichern konnte.

Ein stärkerer Luftzug traf sein Gesicht, instinktiv drehte er sich um und trat einen Schritt zurück, neben das Fenster hinein in den Schatten, dort, wo das spärliche Licht des Flures und der Dämmerung nicht heranreichen konnte. Er hielt den Atem an und spähte mit zusammengekniffenen Augen zur offenen Tür, konnte aber nichts erkennen: das Ticken der Uhr, das Rauschen des Regens, aber sonst nur Stille.

Wieder erreichte ihn ein kühler Luftzug, er drehte sich um: Das Fenster - sein Blick fiel suchend auf die Scheibe und fand schließlich den feinen Sprung, der vor Monaten durch einen herumirrenden Ast in einer stürmischen Nacht entstanden war.

Das Fenster wollte er doch repariert haben: seine Hand strich vorsichtig über den feinen Riss im Glas, als ihm gewahr wurde, dass er dort gestanden hatte, exakt dort hatte er gestanden, als er sich auf einmal wie in Wasser getaucht gefühlt hatte, schwer atmend und schlagartig unendlich müde, wie eine hohle Puppe, die sich langsam von unten mit flüssigem heißem Blei füllt.

Alle Geräusche, der Lärm der Straße, die Kinderrufe vom Nachbargrundstück, die Musik aus dem Nebenzimmer, die ihre Tonart verzerrend zu ändern schien, all dies war nur noch in Wellen zu ihm gedrungen, alle Gegenstände, das gesamte Zimmer selbst, stürzten von ihm weg wie ein vorbeifahrender Zug, während er langsam unterging als das heiße Blei seinen Kopf erreichte.

Der Riss im Glass war gar nicht lang; seine Finger fuhren dem geschwungenen Bruch entlang wie einem Fluß auf einer Landkarte. Vielleicht, dachte er, vielleicht hätte alles auch ganz anders kommen können, wenn … ja … vielleicht wenn er dieses Fenster rechtzeitig gerichtet hätte. Sein Blick starrte in das rauschende Schwarz draußen, mit einem milden Lächeln zuckte er dann die Schultern und riss sich los.

Er trat zurück zum Schreibtisch, wo das Licht des Flures verstreut herumliegende Gegenstände in lange dämonenhafte Schatten verwandelte:

Eine Zeitung lag vor Kopf, er drehte sie und las die aufgeschlagenen Todesanzeigen, las seinen Namen. Er nickte. Es war Zeit.

Draußen

Wir sind ein bunt gemischter Haufen und unser kleinster gemeinsamer Nenner ist unser Aufenthaltsort. Ich bin der Älteste und Flüchtigste der Gruppe. Ich erinnere mich noch an früher, da dufteten wir nach Pferdemist und Leder und Wagenschmiere, nach Tabakrauch und ungewaschenen Zeitungsjungen. Heute riechen wir nach Autoabgasen, dem penetranten Hopfengeruch der neuen Brauerei gegenüber, dem etwas aufdringlichen Aftershave der vorüber hastenden Rechtsanwälte und dem appetitanregenden Duft der fahrbaren Dönerbude.
Ich bin achtsam und konzentriere mich auf die Öffnung der unauffälligen Tür in der Mauer unter dem Stacheldraht. Sobald jemand aus dieser Tür tritt, bleibt er stehen und wittert.
Wie ein Reh, das aus dem Unterholz hinausschreitet auf die Lichtung. Nicht sicher, was es erwartet.
Das ist mein Moment. Ich reiße mich zusammen, blase zum Sammeln und schare meine Kumpel um mich herum. Und in einer undefinierbaren Mischung von zerlumpten Gestalten scharen wir uns um unser Opfer. Und überfallen seine Riechzellen mit immer neuen Nuancen. Platzregen auf der Straße, frisch gemähtes Gras im Park neben der Brauerei, stinkende Abgase von einem Zweitakter, der knatternd vorbeifährt, und das sanfte Parfüm der Frau, die ihm entgegenläuft.

Wir sind unverwechselbar. Wir sind draußen.

Wie jeden Morgen

Ich stehe am Bahnsteig und blicke ungeduldig auf die Uhr. Ein Windstoß erfasst mich. Endlich, denke ich mir, während mir die kühle Luft entgegen wirbelt. Die U-Bahn fährt quietschend ein. Ein metallischer Geruch mit einer Note Maschinenöl umgibt mich. Ich steige ein. Die anderen tun es mir gleich. Manche Menschen haben es offenbar eiliger, stoßen und drängen sich mit aller Kraft in den bereits überfüllten Zug. Morgen mache ich es anders, denke ich mir und weiß genau, dass ich es nicht anders machen werde.

Biep, Biep, Biep, Tusch!

Die Türen sind zu. Die Gerüche, welche die Passagiere mit sich gebracht haben, sind nun in dem Zug gefangen. Ich rieche die Extrawurst noch bevor ich es neben mir rascheln höre. Ein besonders hungriger Fahrgast, denke ich mir und frage mich, wieso man nicht die fünf Minuten warten kann, bis man wieder ausgestiegen ist? Dann plötzlich wird der Geruch der Wurst von einer Blumenwiese abgelöst.

Nanu? Wo bin ich jetzt gelandet?

Eine junge Frau drängt sich neben mir in Richtung der Türe. Sie hat einen Spritzer blumiges Parfum zu viel aufgetragen. Kaum fährt die U-Bahn in der nächsten Station ein, schieben sich die einen hinaus und zwängen sich die anderen hinein. Der blumige Duft verschwindet genauso wie der Geruch nach Wurst. Er wird abgelöst von Hundekot. Offensichtlich war wohl jemand ins „Glück“ gestiegen. Morgen möchte ich früher außer Haus. Morgen mache ich es anders, denke ich mir und weiß genau, dass ich es ja doch nicht anders machen werde.

Süß-warme Erinnerungen

Langsam finde ich meinen Weg aus dem kleinen heißen Kasten heraus. Noch ganz schwach und undeutlich, denn ich bin sozusagen gerade erst geboren worden.
Bereits nach wenigen Minuten bin ich bereits so stark, dass ich mich auch auf den Weg in andere Räume machen kann. Dort finde ich ein paar dieser kleinen Wesen und ich lasse mich von einem Windhauch zu ihren Riechorganen tragen. Eine Weile bemerken sie nichts, doch dann höre ich, wie sie anfangen zu schnüffeln. Offenbar gefalle ich ihnen. Kaum, dass sie herausgefunden haben, was sie wahrnehmen, tragen ihre kleinen Beinchen sie schon zu meinem Geburtsort – der Küche.
Füße trappeln, Türen werden aufgestoßen und aufgeregte Stimmen sind zu hören: »Mama, Mama, das riecht hier so toll. Genauso wie bei Oma Lieschen.«
»Das muss daran liegen, dass das ihr Rezept ist«, lächelt das größere der Wesen, das noch Flecken von Mehl an der Wange und am Pulli hat. »Geht mal einen Schritt zur Seite. Ich will Euch nicht verbrennen.«
Das große Wesen, dass die Kleinen ›Mama‹ genannt haben, öffnet die Tür des heißen Kastens und holt ein Blech heraus.
»Ooohhh, Omas Zuckerkuchen! Hmmh, wenn ich die Augen zu mache, fühlt es sich durch den Duft und die Wärme so an, als wären wir gerade bei Oma Lieschen in der Küche. Und wenn ich mich ganz dolle anstrenge, kann ich fühlen, wie sie mich in den Arm nimmt.«
Die kleinen Wesen drängen sich um den Tisch herum und halten ihre Nasen ganz dicht über den Ursprung von mir und atmen ihn genussvoll ganz tief ein. Ich kann erkennen, wie glücklich es sie macht.
»Oma Lieschen fehlt mir. Aber gerade fühlt es sich so an, als wäre sie hier«, sagt eines der kleinen Wesen.
»Sie ist immer bei uns. Aber in Momenten wie diesem ganz besonders. Und sie schaut uns gerade glücklich von oben zu, wie wir ihren Zuckerkuchen verputzen und dabei an sie denken.«

Während ich mich noch weiter im Haus verteile, in der Hoffnung, noch weitere Wesen anlocken zu können, bin ich hochzufrieden damit, was ich heute erreicht habe.

An deiner Seite

Ich bin immer bei dir, begleite dich durch deinen Tag. Die meiste Zeit nimmst du mich nicht wahr – morgens, wenn du zur Arbeit eilst, im Büro, wenn du mit den Kollegen um die Wette denkst. Nur abends, wenn deine Sinne frei sind für die schönen Dinge, dann erkennst du mich. Ich bin der Duft, der dich umhüllt.

Jeden Tag zeige ich dir ein anderes Gesicht.
Im Frühjahr bringe ich dir ein Meer von Blüten. Das satte Gelb des Rapsfeldes wäre nicht halb so intensiv ohne den schweren, öligen Geruch, den es verströmt.

Im Sommer bringe ich dir gemähtes Gras – es lässt dich eine unvergleichliche Frische atmen, du fühlst dich beschwingt, voller Energie, solange dich der Heuschnupfen verschont.
Am abgeernteten Getreidefeld verschmilzt der Staub der Halme mit dem Flair des Korns. Im Bäckerladen begegne ich dir wieder – als Geruch des Brotes, das dir das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt.

Der Herbst riecht nach aufgebrochener Erde, damit das Feld im Frühjahr neuen Raps, neues Getreide gebiert.

Im Winter lasse ich die rauchige Kälte in deine Sinne ziehen. Aus den Schornsteinen der Häuser legt sich ein scharfer Nebel über die Siedlung.

Meine Geschwister – das Licht, die Wärme, die Kälte – und ich bringen dich durch die Zeit. Die Luft trägt uns zu dir, umschmeichelt dich, lässt dich tiefer erleben, was um dich herum geschieht: der Jahreszyklus deines Lebens.

Der Lärm

Oh, diese wundervolle Frühlingssonne! Mit ihr kommt das Licht, die Wärme, das Leben … und der Lärm. Über mir thront der Kirschbaum und streckt seine Äste aufreizend in den Tag. Seine Knospen sind aufgeplatzt und die Blüten brüllen ihren Duft in die Welt hinaus, wild und süß und laut: »Kommt zu mir!«, schreit der Duft, »feiert mit mir, lasst uns den Genuss, die Liebe und das Leben feiern!«
Und sie und folgen der Einladung. Von überallher kommen sie, es summt und brummt und Flügel schillern wie Tautropfen in der Frühlingssonne. Auf den Blättern drängt es sich, und man streitet darum, wer als nächstes seinen Rüssel in die duftende Tunke tauchen darf, um dann mit vollem Bauch und pollenbeschmiertem Leib davonzubrummen. Der Kirschbaum selbst schaukelt zufrieden in der Gewissheit, dass ihm seine Partygäste ein paar saftiger Kirschen gezeugt haben werden.
Genauso laut wie der Kirschbaum sind auch die Menschen, die unter ihm umherwandeln. Sie saugen den lärmenden Duft der Kirschblüten in sich hinein, schließen verzückt die Augen und irren dabei nicht selten von den Wegen ab. Dann geraten sie ins Gras, wo sie mich und meinesgleichen meist achtlos zertrampeln.
Auch jetzt spüre ich die Erschütterung von Schritten, die sich mir nähern, und einen Luftzug, der heranbrandet, als wolle er mich von der kleinen Blüte hinwegstoßen, über der ich schwebe. »Sieh mal Papa!«, donnert eine Stimme über mich hinweg. Dann bückt sich jemand und ein großes Auge sieht mich an. Ein Mund ist neben diesem Auge, er öffnet sich, und ich warte ängstlich auf den Menschenlärm, der daraus hervorstoßen wird und mich einfach wegpustet. Aber statt Lärm klettert da nur ein zartes Flüstern heraus.
»Was ist denn das für eine Blume?«, flüstert der Mund.
»Ich habe keine Ahnung, mein Schatz«, donnert der Menschenlärm von weiter oben, »Sie ist klein …«
»Sie ist ganz zart!«, flüstert der Mund. »So wie ihr Duft.«
Der große Mensch beugt sich zu einem meiner Geschwister herab, und seine große Nase saugt mit lautem Rauschen alles von ihrem Duft in sich hinein. »Die riechen doch nach gar nichts!«, donnert der Mensch.
»Doch«, flüstert der Mund bei mir. »Man muss nur behutsam sein!« Eine kleine Nase beugt sich zu mir hinab und schnuppert zärtlich. Schüchtern folge ich der Einladung und steige zu ihr empor. Ich ströme in den Körper ein, verweile dort für die Dauer eines Atemzuges und spüre die zarte kleine Freude, die sich dort ausbreitet. Dann erhebt sich der kleine Mensch, der Atemzug entweicht, und ich werde genauso sanft verabschiedet, wie ich eingeladen wurde. »Es ist ein ganz besonderer Duft« flüstert der Mund, der mich ausgeatmet hat, »zart und leise, aber auch ganz tief und vielschichtig und wunderbar.« Ich wehe durch die Luft und kann sehen, wie der große Mensch den kleinen Mensch an sich herandrückt. »So wie du«, sagt der große Mensch. Auch er flüstert nun. „So wie du.“

Du riechst mich, du riechst mich nicht

Hab weder Farbe
noch Gesicht,
kannst mich nicht sehen,
auch fassen nicht.
Du blickst durch Luft
im Waberschimmer,
doch mich, den Duft,
erfasst du nimmer.

Kann liegen schwer,
auch ohne Gewicht,
bin immer da,
auch wenn du denkst,
du riechst mich nicht.
Und riechst du mich,
so ströme ich
mit allem dar
auf dein Gesicht.

Raus aus dem Darm
und hin durch die Nase,
durch Körper
strömen meine Gase.
Sie sorgen für Seufzen
und liebliche Töne,
bezeugen das Keuchen
und Ekelgestöhne.

In finstere Gassen,
auf hohe Gebäude,
von tierisch Gebell,
von Jauchzen durch Freude.
So viele Geschichten
kann ich erzählen,
Bin alt, so dass
es nicht zu zählen.

Nur wenige Menschen
laufen durchs Leben
mit Nase hoch
und treten daneben.
Feine Nasen
erschnüffeln mich gern,
doch das, das liegt
den Menschen fern.

Bin ich penetrant
und aufdringlich,
dann richten sich
Emotionen auf mich.
Bin meist nicht lange
bei diesen Geschehen,
bevorzuge es doch,
schnell wieder zu gehen.

Wie andere auch,
wirst du wohl sehen:
Du atmest,
ohne mich wahrzunehmen.
Bin doch insgeheim scheu,
und traue mich nicht.
Mal riechst du mich,
mal wieder nicht.

Widerstand zwecklos

Ich bin ein Star. Ich bin ein Influencer. Ich bringe Menschen dazu, zu begehren. Ich bringe Menschen dazu zu tun, was sie nicht wollen. Ich bin verheißungsvoll. Ich bin ein Versprechen für puren Genuss.

Ich bin neu hier im Viertel und dennoch kennt mich jeder. Sie kennen mich von ihren Besuchen an anderen Orten. Doch jetzt bin ich hier bei ihnen. Sie müssen ihren Trieben nicht mehr woanders nachkommen, ich bin hier, sie können das, was sie begehren, gleich hier haben, egal, ob die Nachbarn es sehen.

Drei Wochen schon bin ich hier und habe fast alle neuen Nachbarn schon verführt. Sie riechen mich und schon lechzen sie nach meinem Ursprung. Sie alle waren zu schwach, sie konnten mir nicht widerstehen. Alle, außer diese seltsamen Leute, die sich einmal in der Woche in diesem Raum, keine 50 Meter von meinem Ursprung entfernt, treffen. Sie gehen in den Raum, stellen ihre Stühle in einem Kreis auf und reden. Worüber sie reden kann ich nicht hören. Sie schließen mich aus. Ich kann nicht zu ihnen. Ich bin mir sicher, das alleine ist der Grund, warum sie meiner Verheißung nicht nachgeben. Jeder der mich riecht, lässt sich verführen, ausnahmslos. Mir kann niemand widerstehen.

Ich beschließe, mir einen Weg ins Innere des ominösen Raums zu suchen. Doch kein Fenster ist offen, noch nicht mal gekippt. Es gibt keine Lüftungsschlitze in den Wänden und noch nicht mal einen Briefkastenschlitz an der Tür.

Doch ich habe Glück. Ein Stuhlkreisteilnehmer hat sich verspätet. Er öffnet die Tür und tritt in den Raum und mit ihm auch ich. In Windeseile fliege ich an all ihren Nasen vorbei, so dass sie mich in meiner ganzen Vollkommenheit wahrnehmen können. Während ich das tue, kann ich endlich hören worüber sie reden.

„Klaus“, fordert der einzig schmale Mensch im Raum einen der Stuhlkreisteilnehmer auf, „erzähle uns doch, wie es dir in der letzten Woche ergangen ist.“

„Ich bin so stolz“, strahlt Klaus. „Ich habe mich weiterhin an meinen Diätplan gehalten und bin viel gelaufen. Jetzt sind es wieder zwei Kilo weniger.“

Alle klatschen.

Der dünne Kerl fordert eine Teilnehmerin auf, sich mitzuteilen. „Marianne, was ist mit dir?“

„Ich habe sogar drei Kilo in einer Woche geschafft. Mein Mann hat auch schon bemerkt, dass ich schlanker geworden bin. Es tut mir so gut hier zu sein, in einer Gruppe von Gleichgesinnten.“

Mich langweilt das Geschwätz und ich fliege etwas langsamer, dafür aber in voller Intensität an den Teilnehmern vorbei.

„Max, wie ist es bei dir, hast du dich auch an die Diät gehalten?“, fragt der Mann jemand anderen.

„Natürlich, ich…“. Max stockt. Er schnuppert. Ich freue mich, denn er hat mich wahrgenommen. Ich spüre, wie sein Herz schneller schlägt und wie seine Körpersäfte sich bereits auf den endgültigen Genuss vorbereiten.

Max schüttelt den Kopf, schnuppert dann wieder: „Sagen Sie mal, riecht es hier etwa nach Fastfood?“

Alle im Raum tun es ihm nach. Ich merke, dass ich Recht hatte. Niemand kann mir widerstehen.

Es dauert keine zwei Tage, da kenne ich auch den Rest der Nachbarschaft.

Wie ist es mit euch? Könnt ihr mir widerstehen?

Der unvergessliche Geruch der Vergangenheit

Da sass sie nun, meine Schöpferin. Ihre Körperhaltung war halb nach vorne gebeugt. Ihr Rücken war krumm und ihre Hände zitterten. Meine Bäckerin, eine freundliche alte Dame, harrte ganz allein in ihrem dunklen Zimmer mit dem Hörer in der Hand aus. Eine leise Träne rollte still und einsam von ihrer Wange hinunter. Sie schaute aus dem Fenster, draußen war es fast schon Abend.

Ungeduldig klingelte mein Ofen. Alles in mir sehnte sich endlich raus zu kommen. All meine Aromen vereinten sich an diesem warmen Ort. Sie drängten sich durch jeden noch so kleinen Schlitz, um in die Freiheit zu gelangen. Langsam kam sie auf mich zu und zog sich dabei ihre Offenhandschuhe an. 10… 9… 8 … 7… Ach, springen wir vor auf 3… 2… 1. Endlich. Kaum hatte sie die Backofentür einwenig aufgemacht, strömte ich unaufhaltsam heraus. Im ganzen Haus verbreitete ich einen göttlichen Duft. Ich roch nach süßlichen Boskop-Äpfeln, Butter, Rosinen etwas nussig und einer feinen Note Zimt.

Meine Erschafferin atmete meinen frischen, zauberhaften und unwiderstehlichen Duft tief ein. Erneut füllten sich ihre Augen mit Wasser. Ich versuchte sie mit meinem Wohlgeruch zu betören, indem ich sie umarmte und ihre Sinne verhexte. Behutsam stellte sie mich ans Fenster. Ihre Schwermütigkeit war so erdrückend, dass ich mich verdampfte auf den Weg zu ihrer egoistischen Familie. Sie alle liebten Omas Apfelstrudel, doch diesmal ließen sie die alte Dame einfach so im Stich.

Ich flog durch die halbe Stadt direkt vor ihr Haus. Schon von weitem sah ich die Bande. Sie schwiegen sich an und starrten wie Zombies auf dieses seltsame Dingsda in ihren Händen. Während meine Schöpferin zu Hause verweilte. Ich versuchte mich durchs Fenster zu quetschen, aber es war verschlossen. Schnell sauste ich zur Haustür, wo ein enger Schlitz auf mich wartete. Eilig zwängte ich meine Duftwolke hindurch und schwups war ich im Haus. Für diese passive Bande brauchte ich mehr als ein bescheidenes Düftchen.

Ich zirkulierte im Kreis, bis ich zu einem kleinen, aber hartnäckigen Wirbelwind wurde.

Es dauerte nicht lange und schon fand ich mein erstes Opfer, der schlafende Hund Bello. Ohne Erlaubnis drang mein Aroma in seine Nase ein. Er nahm einen tiefen Atemzug zu sich und prompt stand er bellend und mit seinem Schwänzchen wedelnd neben mir. Bello versuchte, mich gierig abzuschlecken, doch ich entkam ihm. Natürlich akzeptierte er es nicht. Das ich ihn nicht an mir knabbern ließ und so verfolgte er mich wie ein Schatten. Leise schwebte ich mit meiner unwiderstehlichen Duftnote in die Küche, wo die Mutter grade das Abendessen vorbereitete.

Diesmal würde sie nach Hause kommen. Ich umrundete sie elegant mit meinem Aroma und pustete ihr vorsichtig einzelne Zutaten ins Gesicht. Bei jedem neuen Luftzug stöhnte sie genüsslich auf. Es handelte sich nur noch um Minuten, bis sie ihre Reise in die Vergangenheit antreten würde. Auch Bello lag völlig benebelt neben uns und sabberte vor sich hin. Sobald die Mutter anfing zu speicheln, suchte ich das nächste Opfer auf.

Ich wirbelte eine Runde im Wohnzimmer herum, wo zwei Zombies sassen. Weder sprachen sie miteinander, noch atmeten sie. Nein, sie starrten nur leer auf dieses seltsame Dingsbums in ihren Händen. Erneut wuchs mein Wirbel, der sie direkt umschloss. Ich feuerte Duftwolken auf sie ab, um sie wieder ins Leben zu holen. Meine betörenden Zutaten erlösten sie aus ihrer Trance und sie folgten mir willenlos in die Küche, wo sich weiterhin die Mutter und der Vierbeiner aufhielten.

der Vierbeiner aufhielten.
Keine Ahnung wie, aber ich schaffte es, sie ins Auto zu locken. Wo ich eine weitere intensive Duftwolke hinterließ. Es brauchten jetzt keine Worte mehr. Sie begriffen, wohin die Reise ging und wer auf sie allein und mit einem warmen Apfelstrudel wartete. Ebenfalls begab ich mich auf den Heimweg zu meiner besseren Hälfte. Und obgleich wir den heutigen Tag nicht überleben würden, so wusste ich, dass meine Kreateurin nicht länger einsam war.

Versagen

Ich bin ein stummer Hilferuf. Wenn mein Träger verletzt wird, ströme ich in alle Richtungen. Dann erfülle ich die Luft als Warnung. Will jeden Feind davon abhalten, meinem Träger noch mehr Schaden zuzufügen. Ich bin nur da, um ihn zu schützen.
Doch steige ich Menschen in die Nase, ist mein Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Sie sind taub für den Hilferuf meines Trägers. Zu gerne und oft lösen sie mich aus, lieben mich. Bringen scharfe Messer zum Rotieren, die meinen Träger durchtrennen. Ich erinnere sie an den Frühling, wenn die Natur zum Leben erwacht. Sie saugen mich tief in ihre Lunge. Finden mich erfrischend, schön und lebendig. Manchmal zart, erdig und herb-süß. Für sie bin ich ein Symbol. Sie verbinden mit mir die Schönheit der Natur und die Kraft der Erde. Aber ich bin nur ein stummer Hilferuf der Grasdecke, der von ihnen nicht erhört wird. Und so versage ich immer und immer wieder, wenn sie kommen und ihren Rasen mähen.

Schmerzliche Erinnerung

Ich schäme mich. Trotz, dass ich nicht ahnen konnte, was mein Duft an diesem Tag anrichtet.

Die alte Dame kenne ich, seit sie vor vielen Jahren in das leerstehende Bürgerhaus zog. Hohe Wände, mit Stuck an der Decke und knarrende alte Holzfußböden, die aus dicker Eiche gefertigt sind.

Einmal im Jahr holt sie den kräftigen jungen Nachbarn, um mich zum Leben zu erwecken. Der steckt sich die beiden grünen Geldscheine ein, die ihm die alte Frau mit zitternden Fingern hinhält und legt los. Danach glänzen die Fußböden, dass man sich drin spiegeln kann und ich dufte im ganzen Haus.

An diesem Tag klingelt es und vor der Tür steht ein grauhaariger Mann, der sich auf seinen Stock stützt. Die beiden scheinen sich zu kennen, sie lächelt und bittet ihn herein. Doch plötzlich bricht der alte Mann in Tränen aus.

„Was ist mit dir?“ Fragt die alte Dame erschrocken.

Er antwortet nicht. Seine Bilder haben ihn eingeholt. Er ist ein kleiner Junge und steht genau in diesem Flur. Im Kinderheim riecht es immer nach irgendetwas, aber dieser durchdringende Geruch hat sich ihm eingebrannt. Sein Freund liegt mit dem Kopf nach unten auf dem Boden und rührt sich nicht. Sein Bein ist seltsam verdreht. Ein Erzieher steht schweratmend daneben. Er entdeckt den kleinen Jungen und schreit ihn an, dass er verschwinden soll. Zur Bekräftigung schwingt er seinen Gürtel, den er wie eine Peitsche durch die Luft sausen lässt. Er hat seinen Freund nie wiedergesehen. Der Geruch von Bohnerwachs schwebt in der Luft.

Immer der Nase nach

Du weißt es noch nicht, aber ich bin das Letzte, was du riechst. Ich bin das Letzte, was du riechen willst. Du sitzt gerade an deinem Computer und tüftelst an einer Geschichte für einen Schreibwettbewerb, als ich mich unter den Türschlitz zu dir hereinschleiche. Langsam und unsichtbar wabere ich über den Fußboden aus Vinyl und krieche an deinen Beinen hinauf. Noch einmal atmen! Ein letztes Mal Luftholen und dann wird sich alles für dich ändern. Du atmest aus und du saugst erneut die Luft ein. Die ersten meiner Partikel durchströmen deine Nasenlöcher. Wonach rieche ich wohl für dich? Für den einen bin ich süßlich, fruchtig. Für den Nächsten bin ich kernig und herb. Für dich rieche ich nach dem Parfüm deiner nie eroberten Jugendliebe. Doch das nimmt dein Bewusstsein schon gar nicht mehr so richtig wahr.
Du fühlst plötzlich nur noch diese wohlige Wärme, das Gefühl endlich angekommen zu sein. Eine Woge des Glücks durchströmt dich und nichts anderes ist mehr von Interesse. Wie inhalierbares Heroin vereinnahme ich dich mit Leib und Seele.
Deinen Text hast du mitten im Wort unterbrochen. Genauer gesagt du schreibst deine Geschichte nur noch mit dem Buchstaben weiter, auf dem dein Finger zuletzt drückte und sich nicht wieder erhob. Während auf deinem Laptop Seite für Seite der immer gleiche Buchstabe die endlosen Zeilen füllt, sitzt du nur noch da und atmest. Du atmest tief ein und wieder aus. Nichts kann dich in deiner völligen Glückseligkeit stören. Nicht der vor Hunger knurrende Magen, nicht die vor Durst ausgetrocknete Kehle, nicht einmal die Urinpfütze unter deinem Stuhl. Ich bin alles, was du brauchst! Ich bin deine Bestimmung!
Die Tage verstreichen und dein Körper wird immer schwächer. Du bist abgemagert und deine Haut wurde rissig und bleich. Der Akku von deinem Laptop ist längst leer, aber dein Finger drückt nach wie vor die Taste. Du siehst erbärmlich aus! Mir wird es zu langweilig mit dir. Ich ziehe mich langsam aus dem Raum zurück und gebe den anderen Gerüchen Platz, sich zu entwickeln. Ich krieche aus deinen Lungenflügeln zurück über deine Nasenlöcher, genau wie ich einst kam. Bald schon wirst du merken, wie meine Intensität immer mehr abbaut. Du bekommst langsam wieder die Kontrolle über dein Bewusstsein. Dir wird klar, dass du mich verlieren wirst. Gierig versuchst du, mich wieder einzusaugen. Du atmest Tief. Dann pustest du die Luft schnell aus und saugst meine letzten Reste erneut ein. Und wieder und wieder. Langsam merkst du, wie sich der Gestank deiner Wohnung immer mehr mit meinen Düften mischt. Die Panik erreicht ein ungeahntes Ausmaß in dir. Dir wird, spei übel. Du läufst panisch nach Luft schnappend durchs Zimmer und versuchst, meine Fährte erneut aufzunehmen. Die Zunge, die Beine und die Arme beginnen zu kribbeln als würden tausend Ameisen auf dir krabbeln. Du hyperventilierst in deiner Panik mich zu verlieren. Dein Sehfeld wird von einem sich stetig verengen schwarzen Rand umrahmt. Deine Hände verkrampfen schmerzhaft. Du brichst mitten im Zimmer zusammen und fällst in Ohnmacht.
Ein aller letztes Mal umschmeichle ich deine Nase und dann darfst du endllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll

Des Teufels Duftgrube

Es war einmal ein Land ohne Duft. Nichts in diesem Land roch. Die Menschen pflanzten Rosen und Flieder, doch sie verströmten keinen Geruch. Gras wurde gemäht, Holz geschlagen und kein Aroma ist spürbar. Nicht nur Wohlgerüche sind nicht zu riechen, auch keine Ausdünstungen. Weder der Misthaufen der Bauern, noch die Äpfel der Pferde sind wahrnehmbar.

Die Menschen sind verzweifelt. Da ihre Speisen, die sie zubereiten, nicht mehr appetitlich riechen, vergeht ihnen die Lust am Essen und sie werden zunehmend krank.

Die Blumen rebellierten zuerst. Wir wollen die Menschen mit unserem Duft betören. Obst und Gemüse stimmen mit ein. Appetit kommt bei Essen, vor allen, wenn es gut riecht.

„Was können wir nur dagegen tun, das kann so nicht mehr weitergehen. Wir müssen herausfinden, wo der Duft hin ist“.

Die Duftwichtel schwirren aus, um das Rätsel zu lösen. Sie schauen unter Büschen, fragen Schnecken und Käfer und besprechen sich mit den Vögeln des Himmels. Der Regenwurm findet es schließlich heraus.

„Ich weiß es, ich weiß es“, ruft einer schon von weitem. „Der Teufel leitet unseren ganzen Duft in seine Hölle ab, damit es dort nicht mehr so stinkt“.

Mühsam verstopfen sie gemeinsam die Löcher im Boden und versiegeln sie mit Pferdemist. Da der Duft nicht mehr entweichen kann, erholt sich die Luft und riecht nicht wieder nach Rose und Flieder, nach Mist und Verfaultem und nach leckerem Essen. Manchmal kann man auch der Geruch von Schwefel wahrnehmen.