Die Dinge des Lebens
Heftiger Regen setzte ein, als er die Haustür öffnete, das Rauschen übertönte das Knacken des Schlosses und seine ersten Schritte auf den leicht knarzenden Dielen. Das Licht des Flures war sanft gedimmt, sodass alles konturlos in weiches Dämmerlicht getaucht war wie ein zerlaufenes Photo auf einem Kissen.
Der vertraute Anblick ließ ihn kurz schaudern, oder lag es an der mit dem Regen heraufziehenden Kälte ? Er wußte es nicht, musste sich aber zugleich eingestehen, dass er nicht einmal eine Antwort auf die Frage hatte, weshalb er überhaupt noch einmal gekommen war. Es würde das letzte Mal sein, soviel war klar.
Sie hatte wie immer die Tür zum Schlafzimmer nur angelehnt, eine Gewohnheit aus Kindertagen. Schwach fiel das Licht des Flures ins Zimmer, als er leise hereintrat.
Sie lag da wie ein aufgeschlagenes Buch, quer im Bett wie hingegossen, quer in der Zeit. Ihr allabendlicher Kampf mit dem Kopfkissen war auch diesmal wohl mit einem erschöpfenden Unentschieden geendet; ihre verschachtelte Umarmung mit dem Kissen, bei der man nicht entscheiden konnte, wer hier wen umarmt, gab lediglich den Blick auf ihren Nacken frei.
Er wollte sie nicht wecken und setzte sich sachte am Fußende nieder; verstreute Bilder und Briefe lagen auf Bett und Boden, einige hob er auf und begann in ihnen gedankenverloren zu blättern.
Seine Erinnerung ging zurück zu der Nacht, als er ihren schlafenden Nacken das erste Mal betrachten konnte. Glück war nicht das rechte Wort für das, was er damals angesichts ihrer geschwungenen Halslinie und ihres Haaransatzes empfunden hatte: Vielmehr ein nicht näher beschreibbares Gefühl einer allmächtigen Gegenwart, ein Gefühl, dass das Leben nicht länger nur eine bloße Abfolge von Augenblicken ist, es in ihren Zwischenräumen zerfließt und sich nach und nach verliert, sondern dieser eine Augenblick gilt, sodass es fortan Nichts anders zu tun und Nichts anderes zu erstreben gab, als diese Empfindung für die Gegenwart zu bewahren. Sie drehte sich im Schlaf, sodass er aufstand und die Decke freigab; ihr Arm kam auf der anderen Seite zum Liegen, dort, wo er sonst lag.
Als er ins Arbeitszimmer trat, bemerkte er, dass nichts verändert worden war:
Der Sessel, der Tisch, die grüne Leselampe, die kleine Couch, alle Dinge schienen an ihrem Platz, aber zugleich dennoch eltern- und geschwisterlos verwaist. Selbst seine Akten lagen in der bekannten chaotisch anmutenden Unordnung, diktiert von den Forderungen des Tages.
Seine Augen wanderten im Zimmer ruhig umher, während er in der Mitte des Zimmers stand, beide Hände in den Hosentaschen seines grauen Flanellanzuges. Die Bücherwand, die Musiksammlung, der schwarz-gusseiserne Halter mit der ungeöffneten Post, die beiden gerahmten Aktskizzen in Tusche, das halbhohe Sideboard mit Photos und den Flakons, alles war an seinem Platz.
Sein Blick pendelte sich auf den grünen Flakon in der Mitte ein, er trat heran und durch einen inneren Zwang geleitet betätigte er den Sprühmechanismus. Sofort entfaltete sich um ihn und auf ihm eine herbe Frische, so herb und gepaart mit einem ganz leichten bitteren Anflug, dass er sogar ein wenig zurückgestoßen wurde, um dann aber nur ein paar Sekunden später einzumünden in ein moosig-krautiges aber luftig-klares Grün, eine leise Erinnerung an Minze heraufbeschwörend, leicht umspielt von dem Duft von dezenten hellen Blumenakkorden mit nachhaltigem Veilchenakzent.
Er atmete mehrmals tief ein und aus. Dieser Duft hatte ihn schon sein ganzes Leben lang begleitet und noch immer, wenn sich sein Leben geändert hatte, seine Vorlieben, insbesondere sein Geschmack, noch immer war er zu diesem Flakon wieder zurückgekehrt, zu diesem Duft, zu diesem herben Grün, was ihm stets versichern konnte, dass mit der Welt – und insbesondere mit ihm – alles in Ordnung war.
Er atmete noch einmal tief ein und er stellte befriedigt fest, dass sich das aufrührerische herbe Grün niedergelegt hatte zugunsten eines nun holzigeren nassen Grundtones, auf dem ein etwas eisiger Luftzug den Hauch von Veilchen stärker in den Vordergrund trieb. Seltsam, dachte er, dass nach all den Wechseln und Veränderungen im Leben man mehr oder weniger derselbe bleibt.
Er trat zum Fenster. Draußen fiel der Regen unaufhörlich weiter ins dunkle Grün; die Dämmerung hatte mittlerweile die Oberhand gewonnen, sodass der Garten und seine Einwohner nur noch in Umrissen erahnbar waren. Das verlassene Elsternest in der hohen Birke zeichnete sich kurz schemenhaft ab, als eine Wolke für einen Moment aufriss und den aufkommenden Mondschein freigab, sich dann aber wieder zusammenzog und alles ins nasse dunkle Grau zurücksank. Der Regen war so dünn und fein, dass man sich seiner Existenz nur durch das gleichmäßige Rauschen, Zischen und Klopfen versichern konnte.
Ein stärkerer Luftzug traf sein Gesicht, instinktiv drehte er sich um und trat einen Schritt zurück, neben das Fenster hinein in den Schatten, dort, wo das spärliche Licht des Flures und der Dämmerung nicht heranreichen konnte. Er hielt den Atem an und spähte mit zusammengekniffenen Augen zur offenen Tür, konnte aber nichts erkennen: das Ticken der Uhr, das Rauschen des Regens, aber sonst nur Stille.
Wieder erreichte ihn ein kühler Luftzug, er drehte sich um: Das Fenster - sein Blick fiel suchend auf die Scheibe und fand schließlich den feinen Sprung, der vor Monaten durch einen herumirrenden Ast in einer stürmischen Nacht entstanden war.
Das Fenster wollte er doch repariert haben: seine Hand strich vorsichtig über den feinen Riss im Glas, als ihm gewahr wurde, dass er dort gestanden hatte, exakt dort hatte er gestanden, als er sich auf einmal wie in Wasser getaucht gefühlt hatte, schwer atmend und schlagartig unendlich müde, wie eine hohle Puppe, die sich langsam von unten mit flüssigem heißem Blei füllt.
Alle Geräusche, der Lärm der Straße, die Kinderrufe vom Nachbargrundstück, die Musik aus dem Nebenzimmer, die ihre Tonart verzerrend zu ändern schien, all dies war nur noch in Wellen zu ihm gedrungen, alle Gegenstände, das gesamte Zimmer selbst, stürzten von ihm weg wie ein vorbeifahrender Zug, während er langsam unterging als das heiße Blei seinen Kopf erreichte.
Der Riss im Glass war gar nicht lang; seine Finger fuhren dem geschwungenen Bruch entlang wie einem Fluß auf einer Landkarte. Vielleicht, dachte er, vielleicht hätte alles auch ganz anders kommen können, wenn … ja … vielleicht wenn er dieses Fenster rechtzeitig gerichtet hätte. Sein Blick starrte in das rauschende Schwarz draußen, mit einem milden Lächeln zuckte er dann die Schultern und riss sich los.
Er trat zurück zum Schreibtisch, wo das Licht des Flures verstreut herumliegende Gegenstände in lange dämonenhafte Schatten verwandelte:
Eine Zeitung lag vor Kopf, er drehte sie und las die aufgeschlagenen Todesanzeigen, las seinen Namen. Er nickte. Es war Zeit.