Seitenwind Woche 3: Dufte

Ein letzter Blick

Du sagtest mir einmal, dass du gerne ein Parfüm aus mir machen würdest. Meinen Geruch konservieren, sodass du ihn niemals vergessen musst.

Du erinnerst dich an kalte Wintermorgen; nasses Laub; die anderen Kinder aus dem Kindergarten.
Später war es dann Sonnenmilch und Schwimmbad; das erste Bier und die erste Liebe; der Geruch von Sommer.
Danach war es der Duft eines Babys – es war deins; ein Glas Wein am Abend; der frische Herbstwind streicht um deine Nase.

Jetzt liegst du vor mir: die Hände faltig, die Augen ganz schwer. Um dich herum, nur noch der Geruch nach Desinfektionsmittel und Linoleumboden; nach Krankheit und Tod. Draußen ist es wieder Winter. Ich wehe durch das offene Fenster herein und nähere mich dir, da öffnest du die Augen. Dein Lächeln schmerzt ein wenig, aber das ist okay.

Nasses Laub; die erste Liebe; der Duft eines Babys – es war deins. Ein letzter Blick, dann bist du wieder jung.

Sinneswandel

Werde nun langsam auch schwermütig, weil ich bei dir nichts mehr bewirken kann. Seit Wochen geht das nun schon so.

Keine Emotion, wenn ich mich ofenwarm an dich schmiege, kein Lächeln kann ich in dein Gesicht zaubern. Ich mache nichts anders als vorher - nein - stimmt nicht ganz. Würde meinen, ich bemühe mich sogar mehr. Ich steige wie jeher auf aus der Pfanne, komme brühwarm aus dem Topf oder entweiche flink durch den Ritz in der Backofentür. Neuerdings konzentriere ich mich, bleibe länger an einem Ort, ziehe bedächtig in Richtung deiner kleinen Stupsnase und verweile dort lange. Meine Moleküle haften sich an deine Rezeptoren und massieren sie - bis du niesen musst.

Sonst Nichts!

Früher belohntest du meine Bemühungen mit: “Oh wie herrlich duftet das. Wann können wir endlich essen.“
Heute bist du nur noch abwehrend, wenn man dich zu Tisch bittet. „Keinen Hunger,“ sagst du und bist dünn geworden. Nicht nur ich bin ratlos, bei deiner Familie wittere ich Verzweiflung.

Als du dann, bitterlich weinend bemerkt hast: „Ich kann dich nicht mehr riechen,“ war ich tief betroffen und persönlich beleidigt.

Dabei trifft mich wirklich keinerlei Schuld. Bin umami und butterweich, nicht ansteckend und nachtragend.

Ich bin nicht Corona.

Verführung

Ich steige auf, wenn Leidenschaft im Spiel ist. Man liebt mich, begehrt mich. Ich verzaubere und verführe, bis an die Grenzen des Seins.

Diese wundervolle Wärme hilft mir, mich zu verteilen und zu betören. Sie liegt, entspannt auf dem Sofa und denkt an ihn. Sie streichelt sich, das treibt mich an.

Die Fenster sind geöffnet, der Wind treibt vom Meer herein und führt mich zu ihm. Wie schön, dass sein Apartment direkt neben ihrem liegt. Sie hat ihn gesehen, als er im Foyer stand, hat ihm zugelächelt, aber er hat sich nicht getraut. Hat weggesehen, aber ich sah, wie er lächelte. Jetzt werde ich ihn aufsuchen.

Welch Glück, er liegt auf dem Sofa, direkt an der Wand zu ihrem Zimmer. Nun gehört er mir.
Langsam nähere ich mich ihm, hülle ihn ein, spüre, wie seine Instinkte wach werden. Er merkt, dass ich da bin.
Meine Trägerin hat das Feuer entfacht, ich kann sie hören, wie sie sanft erbebt, ihr Atem intensiver wird. Ich muss mich beeilen und schmiege mich sanft an ihn. Wärme steigt auf und ich spüre, wie seine Leidenschaft erwacht. Er rekelt sich, fühlt ihre Nähe, ihre Hingabe.
Ich schleiche mich in seine Nase, entzünde meine Feuer an den Synapsen seiner Nerven, steige ihm direkt zu Kopf. Sein Atem beginnt zu fliegen, sein Körper zu glühen. Ich beflügel seine Sehnsucht und brenne mich unvergesslich in sein Herz.

Lack

Der Flur wurde letzte Woche frisch gestrichen. „Lack“, so nennen mich die Wesen, die mich durchschreiten, in sich aufnehmen und wieder ausatmen. „Es riecht nach Lack“. Ich bin leicht zu erkennen. Manche verziehen das Gesicht, andere lächeln heimlich - aber wirklich nur, wenn sonst niemand guckt - und atmen mich tief in ihre Lungen. Vorher habe ich in einer Dose gewohnt. Dort war es dunkel und eng, alles voll von mir und der Flüssigkeit, der ich entstamme – Lack. Als ich hier ankam, habe ich Freundschaften geschlossen. Ein Duft, der mir nahe steht, hieß einmal „Schimmel“ oder „Muffig“. Nach unserer Verschmelzung heißt auch er „Lack“. Wenn eine Tür geöffnet wird, strömt ein Teil von mir hinaus und verschwindet. Der Verlust ist nicht so schlimm, denn dann kommen „Feuchte Blätter“ oder „Rauch“ vorbei und wenn eines der Wesen schwer atmend hereinkommt, schwebt mir „Schweiß“ entgegen. Bei einer anderen Tür treffe ich manchmal „Fisch“ oder „Pizza“, selten auch „Pilze“. Sie alle bleiben nicht sehr lang. Wer zu mir kommt, wird schnell zu „Lack“.
Jetzt verweht mich ein Windhauch, bringt „Trockene Blätter“ mit und „Männerdeo“. Ein Wesen kommt herein, bleibt kurz stehen und ich beiße ihm genüsslich in die Nase. Es lächelt. Ich weiß, dass es jetzt an früher denkt, als es noch klein war und an den Lackfarben seines Vaters gerochen hat. Woher ich das weiß, bleibt mein Geheimnis. Ich weiß es einfach. Die Tür schließt sich. Es atmet seufzend aus, schüttelt kurz den Kopf und geht dann die Treppe hinauf.

Der Duft der besonderen Blume

Es ist so weit, unser großer Auftritt hat begonnen. Wir alle perfekt aufeinander abgestimmt: die karminroten Blütenblätter, der samtweiche Pollen, der gehaltvolle Nektar und schließlich meine Wenigkeit: der betörende Duft, welcher die Gäste zum reichhaltigen Buffet führt, zum Buffet der besonderen Blume.
Jeder von uns hält sich für die wichtigste Komponente, aber ich weiß, dass ohne mich, ohne mein vollmundiges Aroma, keiner zu uns, zu ihr, finden würde, der besonderen Blume.
Ich zeige den Weg, ich verspreche das Schlaraffenland. Wegen mir machen sich die Gäste auch aus dem hinteresten Winkel des botanischen Gartens auf den Weg zu uns, zu ihr, der besonderen Blume.
Unsere Gäste, die unser Erscheinen nicht aus den Nachrichten, nicht aus dem Internet, nicht aus der Zeitung erfahren, sind auf mich angewiesen. Ich spreche ihre Sinne an, wecke ihr Begehren, lege die betörende Spur, der sie zielstrebig folgen, folgen bis zur besonderen Blume.
Ich lasse nicht nach, bis auch der letzte Gast meine einladende Botschaft erhalten hat. Ich ströme weiter und erst, wenn der letzte samtweiche Pollen verteilt, der letzte Tropfen des Nektars verzehrt und die letzte Farbe aus den karminroten Blättern gewichen ist, verblasse auch ich. Dann ist unser Werk getan und wir ruhen. Ruhen bis zur nächsten Blüte der besonderen Blume mit dem Namen Amorphophallus titanum.

Aroma des Lebens

Ich bin der Duft von frisch gemähtem Gras im Garten deines Opas, gemischt mit dem Geruch von verbranntem Holz aus einem vergessenen Lagerfeuer. Ich bin die Brise des Meeres, die dich an den Urlaub am Strand erinnert, und der salzige Geruch von Tränen, die in traurigen Momenten vergossen wurden. Das Aroma von frisch aufgebrühtem Kaffee, das dich nach einem langen Arbeitstag wieder auf die Beine bringt, und der beißende Geruch von kaltem Metall an einem frostigen Morgen. Ich bin der Duft deiner ersten Liebe und der Geruch des ersten Regens nach einem heißen Sommer, aber auch der Vorbote des ersten Schnees in eisigen Winternächten. Ich bin die Erinnerung, die dich zum Lächeln bringt, und die Sehnsucht, die dich zum Weinen bringt. Ich bin der Duft, der dich begleitet, in guten wie in schlechten Zeiten. Ich bin dein unsichtbarer Gefährte, der stets an deiner Seite ist, dich tröstet, dich erfreut, aber auch an die dunklen Momente deines Lebens erinnert. Manchmal bin ich nur ein Hauch. Ein anderes Mal bin ich wie ein Schlag ins Gesicht: schonungslos und wild. Ich brenne mich unauslöschlich in dein Gedächtnis ein. Und immer, wenn du nicht damit rechnest, trete ich wieder zum Vorschein. Denn ich bin nicht nur der Duft des Lebens, ich bin das gesamte Spektrum der Gefühle, dein ganzes Leben. Ich bin deine Erinnerung.

Warum man beim Kuchenbacken nicht telefonieren sollte

Um mich herrscht ein Getümmel der schlimmsten Vertreter meiner Art. Ätzend und stinkend wabern sie in dieser finsteren, mit glitschig verrottenden Abfall gefüllten Tüte herum. Was vor Kurzem mit Wohlgeruch Genuss versprach, schimmelt jetzt gärend dem Verfall entgegen.
Heute Mittag fing mein Leben vielversprechend an, als ich mich im wohlig warmen Backofen schüchtern und zart aus dem Kuchenteig heraus wagte. Das Erste, was ich sah, war das verschwommene Gesicht der Erzeugerin dieses Backwerks hinter der beschlagenen Glasscheibe des Ofens. Schnuppernd und mit kritischem Blick prüfte sie sein Aufgehen und Werden. Schließlich nickte sie zufrieden und lächelte, woraufhin ich mich vor Stolz bemühte, noch intensiver süß zu duften. Ausgelassen vermischte ich mich mit Zwetschgendünsten, Vanille- und Zimtaromen. Wir wirbelten lustig im Ofen herum, zwängten uns durch winzige Ritzen an den Seiten der Ofentür hinaus in die Küche und schwirrten dann durch das ganze Haus. Im Wohnzimmer trafen wir auf unsere Erzeugerin, die dort ein angeregtes Telefonat mit einer Freundin führte.
»Ja, liebe Monika, die Kaffeerunde fängt heute um 15 Uhr an. Ich habe das Zwetschgenkuchenrezept von Hilde ausprobiert. Apropos Hilde, weißt du mehr darüber, warum sie sich von ihrem Freund getrennt hat? Wie, du warst dabei, als sie sich zerstritten haben? Das musst du mir unbedingt erzählen…«
Kichernd huschten meine Duftfreunde und ich um ihre Nase herum in Vorfreude auf unseren großen Moment auf dem Kaffeetisch. Die Kuchenbäckerin hielt inne und sog uns genussvoll ein. Dann sah sie auf ihre Armbanduhr und ging weiter telefonierend nach draußen. Sie zog die Terrassentür hinter sich zu, setzte sich in einen Gartenstuhl und lauschte hochkonzentriert Hildes Beziehungsproblemen. Wir konnten ihr nicht folgen, aber das bedrückte uns nicht. Wir dufteten jung und frisch und kannten weder Gefahren noch Sorgen.
Plötzlich hörten wir ein schmerzvolles Stöhnen aus der Küche.
»Hilfe, ich verbrenne, hol mich raus!«
Der Kuchen! Erste, von Braun ins Schwarze übergehende Flecken zeigten sich auf ihm, und auch die Zwetschgen heulten auf. Der Küchenwecker klingelte ungehört, und die Kuchenbäckerin schien die Zeit vergessen zu haben angesichts der spannenden Details zu Hildes Trennung.
Scharf beißender Brandgestank drang aus dem Ofen, und vertrieb und überwältigte meine köstlich duftenden Freunde und mich. Ich wurde immer schwächer und von den Feuerstinkern überrannt. Hilflos sah ich hinaus auf unsere sorglos telefonierende Kuchenbäckerin, die einfach weiter plapperte und uns keine Nase gönnte.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, schaute sie erneut auf ihre Uhr und eilte ins Wohnzimmer, sog erschrocken die verpestete Luft ein und stürzte in die Küche. Es war zu spät. Der Kuchen ähnelte einem Kohlestück, und die Zwetschgen waren zu schwarzen Klümpchen geschrumpft. Nur noch wenige meiner Kuchenduftbrüder und -schwestern krochen mit mir zusammen im Ofen herum. Mit letzter Kraft verfluchte ich die Kuchenbäckerin, bevor ich auf einen Kuchenkrümel sank und dort einfach liegen blieb.
Die Kuchenbäckerin entsorgte den Ofeninhalt in eine Tüte und schmiss uns, die letzten Überlebenden, mitsamt dem Gebäck in einen schwarzen Eimer.
Hier sitze ich nun, gequetscht und bedrängt, in Plastik gefangen mit Branddunst und anderem Gestank. Der schönste Traum von uns Gerüchen, nämlich Menschen genüsslich zu erfreuen, ist ausgeträumt. Stinkig vor Wut auf diese unbedachte Kuchenbäckerin verflüchtige ich mich.

Gerücheküche

In grauer Vorzeit, als man „dass“ noch mit „ß“ schrieb, soll angeblich in seinem Hinterhofe ein gewisser Jean P. aus L. eine Gerücheküche eröffnet haben. Diese unerhörte Neuigkeit verbreitete sich – hinter vorgehaltener Hand, versteht sich – wie ein Lauffeuer im ganzen Lande.
Und so kam’s, wie’s kommen mußte: Kaum war dies nämlich durch Hörensagen auch bei Hofe ruchbar geworden, schaute dem Vernehmen nach im Schutze der Abenddämmerung der König vorbei:
„Mein lieber Untertan, hör‘ mir zu!“ und über den Tresen gebeugt:
„Mir läuft ein schlechter Ruch voraus. Besorg‘ mir bitte einen neuen Ruch, daß ich mich wieder meinem Volke zeigen kann, ohne daß alle Welt die Nase rümpft! Dein Schade soll’s nicht sein!“
„Sehr wohl, meinb Könbig! Nbichts leichter als das!“ Der Gerüchekoch – sich verhohlen die Nase zuhaltend – eilte sich, einen wahrhaft königlichen Ruch zusammenzubrauen, denn er roch ein gutes Geschäft:
„Ich habe hier schonb einbmal etwas vorbereitet!“
Nachdem der König entschwunden, begann der Gerüchekocher die bereitliegenden Rohmaterialien zu zerkleinern, er destillierte und mazerierte, daß es eine Art hatte und eine helle Freude war’s, wie er enfleurierte, extrahierte und exprimierte. Und, siehe da, binnen Wochenfrist wurde durch stille Post dem Könige ein versiegelt Riechfläschchen zugespielt. Geich bei seiner nächsten Thronrede wollt‘ er’s ausprobieren und entsiegelte es.
Kaum aber ward das Duftwasserfläschlein geöffnet, schießt stichflammenartig ein Stank dermaßen vermaledeit widerwärtigster Art durch den Thronsaal, daß es den Umstehenden aufderstell den Atem raubt. Ein Miasma infernalischen Pestgestanks aus schweißiger Verderbnis und fauliger Zersetzung breitet sich blitzartig aus. So bestialisch und gottserbärmlich stinkt’s, als sei der ruchlose Höllenfürst unter Mitnahme sämtlicher Schwefelvorräte leibhaftig aus der Unterwelt heraufgefegt.
Die Motten fallen halsüberkopf aus den Kleidern, die Schaben flüchten in Scharen. Der Oberhofmarschall, mit einem Schlage völlig fahl, wankt, der Mundschenk, den gerade verkosteten Wein ausspeiend, ringt schmerzverzerrt um Fassung, der Seneschalk grotesk verzogenen Gesichts findet gerade noch Halt am Gobelin, bevor dieser mitsamt ihm aus der Wand reißt, während Kammerdiener und Zofen reihenweise aus ihren gülden bestickten Pantöffelchen kippen. Der König wendet sich verwundert an seine Gemahlin:
„Meine Königin, was haben nur die Leute all‘?“
„Ich … ich weiß nbicht recht, … meinb Könbig. Vielleicht … solltet Ihr einb Fenbster aufmachenb?!“ keucht die Königin und drückt ihren Schleier noch etwas fester in ihr königliches Antlitz, aus dem alle Farbe gewichen, bevor sie entseelt vom Throne sinkt und vom Oberhofmarschall aufgefangen und mit letzter Kraft davongetragen wird.
Und so kam’s, wie’s kommen mußte: Unser Gerüchekoch wurde angeklagt und vor Gericht gezerrt. Der Bescholtene brachte zu seiner Verteidigung vor, er habe unter großem Drucke gestanden, denn es sei ihm nur eine einzige Woche für seine Komposition gewährt worden. Und nun wisse doch ein jedes Kind, daß man innert sieben Tagen kaum etwas Gescheites komponieren könne. Außerdem sei es die Dosis, die die Gabe zum Gifte mache: Habe man auch das Süßeste im Sinne, könne doch das Sauerste daraus hervorgehen.
Allein alles Jammern half nicht: Das Gericht sah die Schuld als erwiesen, erkannte auf hinterhältigen ruchlosen Anschlag auf des Reiches Geruchswesen und verhängte das härteste, drakonischste zur Verfügung stehende Strafmaß: sieben Tage verschärften Stubenarrests, mit der Auflage, einen verbesserten neuen Ruch herzustellen.
Unser Gerüchekoch ließ dies sich nicht zweimal sagen und machte sich sofort an die Arbeit. Nachdem er allerlei Rohmaterialien zerkleinert hatte, destillierte er und mazerierte, daß es eine Art hatte und eine helle Freude war’s, wie er enfleurierte, extrahierte und exprimierte. Und, siehe da, binnen Wochenfrist wurde auf verschwiegenen Wegen dem Könige ein versiegelt Riechfläschchen zugespielt. Geich bei seiner übernächsten Thronrede wollt‘ er’s ausprobieren und entsiegelte es.
Kaum aber ward das Duftwasserfläschlein geöffnet, entfaltet sich zartester Duft aus Orangenblüte und Maiglöckchen. Zimt und Vanille schweben durch den Saal. So überirdisch frühlingsfrisch duftet es, daß ein jeder einen Blick ins Paradies zu erhaschen vermeint und beschwingt seine persönliche Himmelfahrt antreten möchte. Der Oberhofmarschall bittet galant die Königin zum Tanze und der gesamte Hofstaat reiht sich ein in den Reigen. Und mit einem Male wird der ganzen Höflingsschar bewußt, daß es auf Erden doch noch etwas Beßres gebe als das Hofschranzentum.

Und so kam’s, wie’s kommen mußte: Es verduftete nach und nach der gesamte Hofstaat und die Republik wurde ausgerufen. Der König aber sah sich infolge der Veilchenduftrevolution gezwungen, wie man hört, einen Minijob bei Kaiser’s anzunehmen. Und wenn er nicht erstunken ist, malocht er dort noch heute.
Die Gerücheküche aber wird dem Vernehmen nach – mittlerweile in soundsovielter Generation – weiterhin betrieben, denn es soll sie wohl immer noch geben, die Nachfrage nach riechtig guten Gerüchen …

Der Duft

Ich nähere mich sanft und vorsichtig. So wie Sie es auch immer tut. Immer wenn ich mich dann zart und behutsam um Sie lege, von ihr eingeatmet werde, sehe ich ihr Lächeln. Ihre Zufriedenheit. Ihre Befriedigung. Aber plötzlich nicht mehr. Es kommen Männer. Sie reißen sie von mir los. Knüppel, Handschellen. Ich versuche bei ihr zu bleiben. Bahn mir meinen Weg. Die Männer halten sich ihre Hände vors Gesicht. Ich muss wieder zu ihr finden. So oft hat sie mich befreit. Ich will ihr hinterher aber kann Sie nicht erreichen. Ich mach mich groß, ich erfülle den ganzen Raum. Keiner will es mit mir aushalten. Alle fliehen. Sie nie. Ich bin ihre Lust. Ich bin ihre Erfüllung. Jetzt ist Sie weg.

Und ich bin allein. Mit ihm. In einem schwarzen Sack.

Sie konnte nicht sehen, dass ich da war. Sie konnte nicht hören, dass ich näher kam. Und fühlen konnte sie im Moment gar nichts. Sie weinte den ganzen Tag, die ganze Nacht. Und vergessen hatte sie mich auch. Fast. Denn langsam drang ich aus der Glasflasche hervor. Ich gehörte nicht ihr, man hatte mich vergessen. Langsam bewegte ich mich unter dem Bett hervor und zog meine Kreise durch den Raum. Sie schluchzte und wurde ganz ruhig. Sie zog kräftig Luft und wimmerte. Ich konnte nicht sagen, an wen oder was ich sie erinnerte, doch ihre Reaktion war bisher ganz entspannt. Verträumt starrte sie in den Raum, den ich bereits ganz zu benebelt hatte. Ich hatte mich ausgebreitet, waberte um sie herum. Still roch sie mich, ließ sich in ihren Erinnerungen fallen. Was verband sie mit meinem Geruch? Eine Reise? Ein Date, ein Ausflug? Den Herbst vielleicht? Ich finde, ich erinnere an Rosen, an Veilchen, an Vanille. An viele blumige Gerüche. Ich strahlte Ruhe aus, ich konnte niemanden leiden sehen. Und ich wirkte. Sie schob die Taschentücher von ihrem Bett. Sie rochen wie Altpapier, wie eine alte Zeitung. Ich hingegen roch gut. Sie lachte kurz und wischte sich die Tränen weg. Dann starrte sie aus dem Fenster, nahm noch einen kräftigen Zug, um mich zu riechen. Und sie weinte wieder. Erschüttert geriet ich in Panik. Das konnte nicht sein! Ich roch gut! Ich musste eine gute Erinnerung in ihr auslösen! Doch ich hatte das Gegenteil bewirkt. Ich erinnerte sie an jemanden, der sie verletzt hatte. Sie öffnete das Fenster. Die kalte, nasse Luft unterdrückte mich. Der Geruch nach altem Laub überdeckte mich und der Wind trug mich hinaus, verwehte mich, bis nichts mehr von mir übrig blieb.

Seit der ersten Sekunde wusste ich, dass ich etwas ganz besonders war. „Blanchard No. 1“ – in silbernen Lettern wurde es in meinen Flakon graviert. Rosa getöntes Glas, sinnlich mit Facettenschliff, alle Welt wird wissen, dass ich ihr Duft bin – Madame Vivienne Blanchard. Heute werde ich zum ersten Mal in ihre zarte Nase dringen. Ich kann es kaum erwarten. Ungeduldig sehe ich sie auf mich zutreten, ihre elegante Gestalt im Nerzmantel von den Facetten dutzendfach abgebildet. Der ordinäre Produktmanager, der neben den Chemikern der Einzige war, der mich bisher erschnuppert hat, greift nach meiner Flasche und reicht sie ihr. Fast glaube ich, ihre weiche Hand zu spüren, als sie endlich auf den Sprühkopf drückt. Ich halte den Atem an und sause aus dem Zerstäuber. Endlich – endlich werden wir zu einem! Ich spüre, wie sie atmet, und schon glaube ich mich tief in ihren Nebenhöhlen, als mich ein heftiger Druck zurückwirft. »Hatschi!« Fassungslos schwebe ich durch den Raum.
»Non, non, ist das etwa Jasmin? Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass ich gegen Jasmin allergisch bin?! Nehmen Sie es weg!«
Ich sehe noch, wie sie das Flakon dem blassen Produktmanager in die Hand drückt. Das war sie … meine schillernde Zukunft. Mit einem seufzenden Wirbel löste ich mich auf.

Blinder Geruch

Als sie ihre Wohnungstür aufschließt, stürze ich mich auf sie.
Bin ihr ganz nah.
Eindeutig zu nah.
Warne sie. Vor ihm.
Ich gehöre zu jenem Mann, der heute versuchen wird, ihr das Leben zu stehlen.
Ich stecke fest in seinen Klamotten, seinen strähnigen Haaren, seinem Atem.
Meine Duftmelange, die sich aus Schweiß, zu viel Testosteron und billigem Aftershave auszeichnet, gipfelt in einer Kopfnote aus ranzigem Fett. Sie bildete die Hülle für jene dumpfe Brutalität, die meinen Träger für seinen Job qualifiziert.
Seit mehreren Tagen hat sie meine Anwesenheit über ihre Nase wahrgenommen. Überall dort, wo sie sich aufhielt, füllte auch ich die Räume aus. Zunächst unterschwellig, sodass sie mich eher beiläufig speicherte, doch je mehr mein Träger sich ihr näherte, desto mehr drängte ich mich in den Vordergrund ihres Bewusstseins. So lange, bis ich es schaffte, mir in aufdringlicher Manier die Poleposition ihrer Wahrnehmung zu sichern.
Vermutlich hört sie das hohe Summen ihrer Neonröhre an der Decke.
Mein Träger muss sie bereits sehen, sie ihn hingegen nicht.
Sie in absoluter Schwärze, er im bläulichen Licht der Küche.
Ich breite mich in dem Blau aus, verteile mich, bis ich von den Wänden zurückgeworfen werde. Weil sie mit nur vier verbliebenen Sinnen ausgestattet ist, verlässt sie sich auf ihre olfaktorischen Eindrücke.
Sie besitzt gegen ihn keine Chance.
Vielleicht grinst er deshalb.
Das schmatzende Geräusch seiner soliden Gummisohlen auf dem Laminat setzt meine Bedrohlichkeit geschickt in Szene. Ich intensiviere mich, der Hauch einer metallischen Note mischt sich in meine ranzige Kopfnote.
Stahl, Eisen?
Waffenöl.
Als ich sie komplett in mich einhülle und meinen Atem an ihrer Wange entlangstreichen lasse, reißt sie ihre linke Hand hoch, rammt meinem Träger das Messer irgendwo hinein, drehte die Klinge, in der Hoffnung, ihn lebensbedrohlich zu verletzen. Ich höre ihn stöhnen, höre, wie er in den Neonschatten der Lampe sinkt und mich mit gen Boden zieht. Meine Geruchspalette wird durch einen Weiteren ergänzt.
Der Geruch, der aus ihr austritt, als sie von seiner Kugel getroffen wird, mischt sich mit meinem. Wir werden eins. Der warme Geruch des Blutes riecht nach Tod.

unwiderstehlich

Hallo! Komm her!

Ja, du!

Du riechst mich doch! Gib’s zu!

Ich locke dich, und du musst dich anstrengen, um mir zu widerstehen.

Lass die Anstrengung!

Gib dich mir hin! Genieße mich!

Du willst es doch! Du willst mir folgen! Du weißt, wo ich herkomme, da wartet eine Belohnung auf dich!

Süßer Duft! Himmlischer Duft! Mit einer Spur Säure, nur so ein bisschen, um die Süße noch zu unterstreichen!

Folge mir, und du wirst den Gipfel der Genüsse erleben!

Ja, komm näher! Komm her! Hör auf zu kreisen!

Wovor hast du Angst? Niemand schaut. Niemand jagt dich!

Du bist sicher!

Ja! Fast! Folge mir! Aus dem kleinen Loch dort komme ich! Und aus dem daneben. Du passt dort hindurch! Das Süße wartet auf dich. Nur auf dich!

Du hast es geschafft! Du bist drinnen!

Stürz dich hinein in den Balsamico-Essig. Ertrinke darin. Oder bleib an der Wand der Falle und finde nicht wieder hinaus. Du bist jetzt mein, kleine Fruchtfliege!

Stille

Sie ist genauso ohrenbetäubend wie der Lärm, der noch Stunden zuvor hier wütete.

Stille. Staub. Überall Trümmer.

Das ist mein Lebensraum. Hier kann ich sein. Aber niemand nimmt mich wahr. Noch nicht. Aber sie werden kommen.

Ich kenne ihre Reaktionen. Sie sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst.

Sie brechen in Tränen aus, wenn sie mich riechen. Sie klagen, sie schreien. Sie binden sich Tücher vor Mund und Nase oder tragen Masken. Bei einigen Menschen sorge ich dafür, dass ihnen schlecht wird. Wahrlich, ich bin kein angenehmer Duft.

Einige tun so, als würden sie mich nicht wahrnehmen, oder als wäre ich ihnen egal. Sie haben mich schon oft gerochen. Denn ich bin ein Teil dieser Welt. Es gibt mich, seit es Leben gibt, und es wird mich immer geben.

Sie werden versuchen, mich zu beseitigen, so schnell es geht. Denn wo ich bin, kann kein menschliches Leben sein. Sie wollen mich nicht riechen und doch sorgen sie immer wieder dafür, dass ich mich ausbreiten kann. Ja, ich brauche mir keine Sorgen um meine Existenz zu machen. Selbst wenn sie es schaffen, mich von hier zu vertreiben – und das werden sie! – werde ich an anderer Stelle wieder auferstehen.

Denn ich bin der Geruch des Todes.

Ethylen

Wir haben einen bedeutenden Gast! Nicht wie gewohnt sitzt heute Schiller an seinem Arbeitstisch, sondern Freund Goethe ist zu Besuch und nutzt die kurze Abwesenheit des Hausherrn, um an dessen Arbeitsplatz ein paar Notizen zu machen.

Da muss ich mir aber Mühe geben! Vielleicht gelingt es mir, den Meister zu einem besonders gelungenen Werk mit meinem Duft zu inspirieren? Ich verlasse die faulenden Äpfel und fülle die Schreibtischschublade mit meinem Duft. Ich zwänge mich durch den Spalt hoch und über den Rand der Schreibfläche, setze mich in die Schreibfeder des Meisters und arbeite mich nach oben, zu seiner Nase.

Doch der scheint nicht erfreut. Sein Gesichtsausdruck wird immer leidender. Weiß er mich nicht zu schätzen? Ich bin seinem Kollegen doch ein ständiger Quell der Inspiration?
Was, er öffnet die Lade, starrt mit Entsetzen auf die faulenden Äpfel und stürzt zum Fenster - reißt es auf.

Zum Glück kommt Charlotte herein, Schillers Frau und erklärt dem Gast, dass dieser ohne meinen Duft gar nicht atmen, geschweige denn schreiben könne und der Duft von faulenden Äpfeln Schillern guttue.

Meine Ehre ist wiederhergestellt, aber ein Dämpfer für mein Selbstbewusstsein ist es doch!

Blindflug

hmmm … ah, daa … da ist ein Luftzug … einfach mittragen lassen …
hmmm … und jetzt rein in die Nasenflügel … hups … jaa, er zuckt.
Bestimmt hat er gerade den Kopf gedreht um mit den Augen zu suchen. Braucht’s doch gar nicht, Junge, einfach der Nase nach.

Jetzt Riechzellen nochmal kitzeln, und … yep, ich hab’s gewusst: Flugkapitäne sind heimliche Romantiker. Dass Annalena das Kälbchen noch einmal gestreichelt hat, bevor sie in den Park ging, war genau richtig. Ich meine, wer datet denn heute noch per smartphone? Jaaa … immer schön weiter, immer schön auf meiner Spur bleiben …

Mission Hedi

Unruhig winde ich mich zwischen den Ästen hindurch, stärke mich da und dort an einer der leuchtend gelben Früchte. Meine Unruhe rührt vom Verfärben der Blätter her. Sie verlieren ihr Grün, braune und orangene Flecken breiten sich darauf aus. Aber wo bleibt Hedi? Sie kam doch jedes Jahr genau zu dieser Zeit, um die Früchte, die mich verströmen, zu sich nach Hause zu holen.

Langsam, Schritt für Schritt kam sie den Hang zu uns herauf gestapft. Da, wo die Weinberge aufhören und der Wald beginnt, da an diesem Saum, da bin ich zuhause. Und hier habe ich Jahr für Jahr auf sie gewartet. Sie packte sich große Stofftaschen voll mit dichtbeflaumten Quitten. Jede einzelne hielt sie sich vor die Nase, schloss die Augen und atmete mich tief in sich hinein. „Unvergleichlich“, seufzte sie stets, „darin verströmen möchte ich mich!“ Auch während des Heimwegs schnupperte sie in die Taschen hinein. Nicht genug konnte ich von ihrer Verzückung bekommen. Beim Waschen und Zerkleinern, bevor sie das Obst in den Entsafter gab, sammelte ich all meine Energie. Weil ich den Moment noch auskosten wollte, bevor sie den Deckel auf den Topf gab. Danach würde ich verändert sein. Nicht mehr ganz so gelb und herb, viel mehr Süße trug ich dann in mir.
Wer vermag zu ahnen, wie ich mich fühlte, weil sie mich sogar in ihrer Wäsche im Schrank haben wollte? Jedem Stück schenkte ich eine Nuance von mir.

Aber jetzt? Wo bleibt sie nur?

Ich ducke mich unter den wollig behaarten Früchten und verfärbten Blättern weg und besteige den nächsten Windhauch, der von der Kuppe des Hügels nach unten weht. Er trägt mich in das Dorf, das sich in das Flusstal duckt, durch die engen Gassen und an Hedis geöffnetes Fenster.

Ich sehe sie sofort. Regungslos liegt sie in einem weiß bezogenen Bett. Ihre Augen sind geschlossen, ihre Haut fahl. Nur das fast unmerkliche Heben und Senken der Bettdecke kann mich ein bisschen beruhigen. Sie lebt. Noch.

Langsam nähere ich mich ihrem Gesicht, streiche über ihre Wangen, kose ihre Lippen. Täusche ich mich, ist da ein kleines Lächeln? Sachte fließe ich in ihren Atem. Tatsächlich, sie lächelt! Ich lasse ihr einen kleinen Hauch von mir da und sause zurück zu meinem Baum und reibe mich an den prallgoldenen Früchten, bis ich mich vor Schwere kaum noch bewegen kann. Trotzdem, ich muss mich zusammenreißen! Auf dem Weg über den Hang hole ich zwischen den Weinstöcken den süßlichen Gärgeruch der Weintrauben ab. Raben kreisen und kreischen, fallen plötzlich wie eine schwarze Wolke vom Himmel und versinken im frisch beackerten Feld. Ich bitte den herben und dunklen Geruch, vermischt mit Wurzelwürze der aufgebrochenen und fast schon müden Erde, mit mir zu kommen. Von droben rufen die harzigen Aromen der Nadelbäume und die Ausdünstungen modrigen Laubs, auch sie möchten sich an meiner Mission beteiligen.

Gemeinsam winden wir uns unter kratzenden Büschen und Brombeerranken hinweg, nehmen noch das Bukett sonnenwarmer Steine an die Hand und sammeln uns an Hedis Fenster.

Dann fließen wir ein.

Diesen Moment, den werde ich mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen.

Jeannie

„If you wanna be with me
Baby, there´s a price to pay
I´m a genie in a bottle
You gotta rub me the right way…“ ich summte den Song von Christina Aguilera und versuchte meine Gedanken an die Person zu übertragen die mein Gefängnis in den Händen hält. „Siegel brechen, Schleifchen schneiden, Deckel drehen…“. Nein, das funktioniert nicht. Rotschöpf schüttelt die Flasche, schnuppert an dem Verschluss, kratzt mit den langen Nägeln am Deckel, vergebens. Dann werde ich auf den Kopf gestellt. Mädchen, bis du doof? Weißt du nicht, wo oben und wo unten ist?
Ohne das Fläschchen zu öffnen, stellt die junge Frau es auf die Ablage und verlässt das Zimmer. „Maa, was hast du denn diesmal vom Flohmarkt mitgeschleppt?“ hörte ich Sie schreien. Eine nette weibliche Stimme antwortete prompt, „Liebes es ist was ganz Besonderes! Es kommt aus Persien!“. „Aha. Was ist da drin? Ich konnte das Ding nicht öffnen“. „Och ich denke es ist ein Parfum, Liebes. Bestimmt duftet es ganz traumhaft. Sei vorsichtig damit!“. „Und wenn es was anderes ist?“. „Was denn?“. „Gift zum bespiel! Die Flüssigkeit hat eine komische Farbe“. „Quatsch, ich sehe es mir später an. Bis dann!“ „Tschüss“. Ich hörte die Türen knallen und dann die Stille.
Lange warten muss ich nicht. Die Tür öffnet sich wieder. Zwei weiche, warme Kinderhände ziehen mich von dem Regal runter. Das Mädchen nimmt mich mit in ihr Zimmer, stellt mich in ein Puppenhaus. „Kannst du sprechen?“ versuche ich es wieder mit Telepathie. „Jeannie!“ lallt das Kind begeister. Wow, ich bin überrascht. Die Kleine hat mehr Verstand als ihre Mutter! Los Kleines, Siegel brechen, Schleifchen schneiden, Deckel drehen… Nein, geh nicht weg! Ach Mensch, schon wieder alleine. Mein Ohrwurm kommt wieder. „i´m a genie in a bottle…“.
Eine breite, feuchte Zunge leckt mir die Kruste vom Deckel. Ein Hund? Ein Namensschild klopft gegen das Glas, „Mein Name ist Sammy“ steht drauf. „Hey Sammy, kannst du mich hören?“ versuche ich es. Das war keine gute Idee. Sammy wirft mich auf den Boden und verpasst mir einen Schubs. Ich gleite und die Welt dreht sich vor mir. „Böser Hund“ fauche ich entrüstet. „Saaammyy!“ höre ich eine Stimme rufen und das Monster rennt weg. Komm mir nicht wieder, denke ich. Sammy ist längst verschwunden aber sein Werk hat er getan. Ich lande in einem Haufen Klamotten, allesamt verschmutzt und zerknittert. Hier habe ich nicht Mal mehr Lust auf Summen. Ich liege still da und warte. Eine Weile später werden die Klamotten mitsamt meiner Wenigkeit aufgesammelt und in einen Korb getan. Ich werde geschüttelt und gerüttelt, es wird dunkel, dann wieder hell. Ich werde aus dem weichen Haufen geworfen und wieder aufgefangen. Die Hand die mich diesmal hält ist braun und mit zahlreichen glitzernden Schmuckstücken besetzt. Bevor ich nur einen Versuch zur Gedankenübertragung starten kann, werde ich in eine sackartige Tasche gepackt und wieder geschüttelt. Die Tasche hat ein Loch, auf dem Weg falle ich raus ins weiche Gras. Ich bleibe aber nicht lange dort liegen. Meine Reise ist noch nicht zu Ende. Ich döse ein. Als ich aufwache, sehe ich einen Sternenhimmel und einen Mond, die sind aus Plastik und leuchten grün. Eine kleine Lampe erhellt das Zimmer in dem eine sehr alte Frau sitzt. Die Dame nimmt mich in ihre Hände, die sind kalt und zittern leicht. Sie streichelt die Glasoberfläche, wischt es sauber. Betrachtet aufmerksam die Versiegelung. Ich halte den Atem an, ist sie es? Wird sie mich befreien? So lange schon warte ich schon darauf, rausgelassen zu werden! Ich verspreche ihr sie glücklich zu machen und warte angespannt. Die alte Dame setzt ihre dicke Brille auf und nimmt eine kleine Schäre in die Hand. Vorsichtig entfernt sie das Wachs, durchschneidet das Schleifchen. Sehr langsam dreht sie den Deckel und öffnet die Flasche mit einem leisen Plopp.
Ich bin frei! Ich lasse mich einatmen, ich streichele alte Haut, fliege zwischen den grauen Haarsträhnen, breite mich in dem Raum aus. Die alte Frau sitzt auf der Bettkante, ihre Augen sind geschlossen. Ich sehe ein glückliches Lächeln und eine Träne, die sich auf ihrer Wange den Weg bahnt. Ich glaube, ich habe mein Versprechen erfüllt. Versonnen entweiche ich ins Freie.

Wintererinnerung

Wir fallen gemeinsam, rasend schnell. Ich klammere mich mit aller Kraft an dich, als könnte ich dich und du mich verlieren. Noch nicht, bald! Frostig und wild zerrt der Wind an uns und doch fühle ich sein Nachlassen. Was für ein Tanz! Da ist jetzt etwas, das unsere Sause in die Tiefe bremst. Wir sind jetzt eng miteinander verbunden. Und wir sind nicht allein. Soweit ich blicke, sehe ich tausende wie uns. Je tiefer es nach unten geht, umso größer, umso prachtvoller glänzen deine Kristalle und mit dir wachse ich. Bald ist es soweit. Dann legen wir uns alle sanft zu einander als wären wir eins. Jetzt sehe ich auch sie dort unten. Menschen recken ihre Köpfe, saugen in ihre Nasen die Winterluft tief ein und nehmen mich mit sich. Hier trennen wir uns, du und ich. Sie behalten uns in sich, wenn die Sonne uns beide längst aufgesogen hat.

Vorfreude

Voller Vorfreude und unruhig sehne ich mich nach diesem täglichen Moment. Zappelig warte ich darauf, mich entfalten zu können und ich spüre aufgeregt, dass es bald soweit sein wird.

Um mich herum wird es immer heißer, meine Anspannung steigt und steigt. Bereit drücke ich gegen meine Hülle und dann, endlich, reicht meine Energie, die Hülle zerspringt und ich entfalte mich ploppend.

In einer süßen wohlriechenden Woge gleite ich hinaus in die Welt. Sanft schwebe ich unter Türritzen hindurch, geselle mich zu den Düften der Räume hinzu und lege mich sacht darüber, um meine Arbeit zu tun. Lockend finde ich den Weg nach Draußen in die Stadt und wabere einige hundert Meter als duftende Wolke um mein Zuhause herum, bereit, Menschen zu erinnern, zu verführen und einzuladen.

Da, da sind Menschen! Entzückt gleite ich sachte in ihr Sinnesorgan, das Gerüche empfängt, und lasse mich von meiner süßesten Seite riechen. Viele Menschen gehen einfach weiter, ohne mich zu beachten, doch das nehme ich nicht persönlich. Ein paar Menschen saugen mich durch ihr Sinnesorgan tiefer ein und ich entfalte meinen wohlig-zuckerigen Duft in ihrer Nase, spüre ihr Wohlempfinden, das ich auslöse. Manche verziehen dabei Muskeln in ihrem Gesicht zu einem leichten Lächeln oder schließen sanft für einen kurzen Moment ihre Augen, einige bleiben stehen und genießen. Glückselig merke ich, wie sich einige Menschen so zu mir hingezogen fühlen, dass sie mich später noch besuchen wollen.

Jetzt warte ich freudig erregt und süß duftend in Pappkartons an der Bedientheke. Und dann, endlich, höre ich die Worte, bei denen ich vor Freude erneut aufpoppen würde, wäre ich das nicht schon längst. „Einmal süßes Popcorn, bitte.“