Die Macht der Düfte
Die Ladentür öffnet sich und ein Klingeln ist zu hören.
„Chefin, da kommt eine neue Kundin.“
„Verdufte!“
Die Chefin wendet sich an die eintretende Kundin:
„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“
„Guten Tag! Sie wurden mir von einer Freundin empfohlen, denn ich habe diverse Probleme. Unter anderem kann ich sehr schlecht einschlafen und auch nicht durchschlafen. Meine Freundin meint, da wäre ich in Ihrer Massagepraxis mit einer Aromatherapie gut aufgehoben.“
„Ja, eine Aromatherapie kann Wunder wirken. Bitte kommen Sie mit und lassen Sie mich erklären, wie das Prozedere ist, um erfolgreich nach und nach zum Ziel zu kommen.“
Die beiden Frauen begeben sich in den hinteren Bereich der Praxis und die Chefin bittet die Kundin, in einem der bequemen Sessel Platz zu nehmen. Dann erläutert sie ihr, was Aromatherapie genau bedeutet, welchen Unterschied es zwischen der Anwendung mit ätherischen Ölen und Duftölen gibt. Sie fragt nach Gerüchen und Düften, die die Kundin besonders mag und welche, die bei ihr eher einen Widerwillen auslösen, ob sie eine Ganzkörpermassage möchte oder nur eine Teilkörperbehandlung. Sie zeigt ihr die Preisliste, die je nach Intensität gestaffelt ist, und bietet ihr verschiedene Termine an, damit sie zeitnah beginnen können.
Die Kundin ist von der Atmosphäre in diesen Räumen ganz angetan, verabredet sich schon für den übernächsten Tag und fragt schnuppernd im Hinausgehen, was denn eigentlich für ein Hauch von Duft hier im Raum schwebt.
„Das ist mit das teuerste Ätherische Öl, das es auf der Welt gibt, denn die Essenz wird aus einer sehr seltenen Pflanze gewonnen. Noch seltener ist die Pflanze Ratrani, die auch als nachtblühender Jasmin bezeichnet wird. Aber da kenne ich die Produktionsmenge und auch nicht den Preis. Das Öl hier heißt Tuberose Absolue. Die Weltjahresproduktion dieses Öls mit ihrem betörend süßen und einzigartigen Duft beträgt nur 15 kg.
„Tatsächlich? Und er erfüllt diesen Raum mit seinem Duft?“
Die Chefin nickt.
„Ja, ich kann einfach nicht von ihm lassen. Und er kann so viel bewirken…“
Sie lässt das Ende des Satzes in der Luft hängen, wie einen Duft.
Die Kundin ist wie benebelt und direkt eingenommen von der spürbaren Leidenschaft der Chefin für ihrem Beruf. Mit einem warmen Händedruck verabschieden sich die Frauen voneinander.
„Bis übermorgen.“
„Ja, bis Donnerstag. Ich freue mich schon.“
Die Chefin schließt die Praxistür hinter ihr und wendet sich dem Öl zu: „Musst du denn direkt in die Vollen gehen? Ist es nicht genüsslicher, sie schrittweise zum Erliegen zu bringen?“
„Von meiner Seite aus nicht. Sie sieht schon so gestresst aus und ist so wunderschön. Da sollten wir doch besser schnell zum Ziel kommen.“ Unwillig ströme ich an ihr vorbei in den hinteren Raum.
„Aber wenn du schon so früh übertreibst, schöpft sie vielleicht Verdacht und springt uns ab!“
„Welchen Verdacht denn? Dass sie hier bis zur Aufgabe ihrer Selbst liebevoll behandelt wird? Nein, nein, das lass mal meine Sorge sein. Und jetzt schließe den Laden ab und mache es dir auf der Massageliege bequem, ich möchte schweben, dich umgarnen, betören, besinnungslos machen.“
„Ja, ja!“
Die Chefin sinkt kurz darauf in sich zusammen. Und ich tanze über den Körper meiner Göttin, krieche mit Genuss in jede Pore, streichele ihr Haar, ihre Ohren, ihren Hals. Kehre zur Stirn zurück, gleite den Nasenrücken hinab, erkunde die Nasenöffnungen. Hier verweile ich eine kurze Zeit, liebkose ihre Lippen, fahre wieder hinab zum Hals, an ihren Schultern entlang zu ihren Händen, krieche zwischen ihre Finger, über ihre Handinnenflächen wieder hinauf unter ihre Achseln. Von dort streife ich ihre Brüste, lasse mich hinab zum Nabel, an ihren Hüften entlang - zwischen ihre Beine gleiten. Weiter hinunter geht es zu den Knien, den Fußknöcheln. Ihre Fersen zucken unter meiner sanften Berührung und ein Lächeln legt sich auf das Gesicht der Frau, die mir genauso erlegen ist, wie die anderen Kunden, wie die neue Kundin dereinst. Mit kleinen, zarten Streicheleinheiten mache ich mich über jeden einzelnen Zeh her, kehre, getragen von den Luftbewegungen im Raum, wieder zu ihrem Kopf zurück, dringe über die Nase in ihr Hirn ein und entwerfe dort als Höhepunkt Bilder von unbeschreiblich reiner Schönheit. Sodann lege ich mein restliches Aroma erschöpft, aber zufrieden auf der Liege ab.
Nach einer ganzen Weile erhebe ich mich wieder und wabere hinaus in den Vorratsraum, wo mein Flakon, neben den vielen anderen Duftflaschen stehend, schon auf mich wartet: „Wo bleibst du nur?“
Die Chefin räkelt sich. Sie ist wie üblich etwas verwirrt, fühlt sich aber erholt und befriedigt. Dann richtet sie sich auf und macht die Praxis fit für den nächsten Tag, für die nächsten weiblichen und männlichen Kunden.