Der Duft der Gefahr
SIE
Sie stieg in den maßlos überfüllten Bus. Das war definitiv nicht die bequemste Methode, allerdings in Anbetracht des furchtbaren Wetters heute immer noch besser als den Weg zu ihrer Wohnung zu Fuß zurückzulegen. Der Regen war am Nachmittag völlig überraschend über sie hereingebrochen. Dabei hatte es heute Morgen doch noch so gut ausgesehen. Wohl auch ein Grund dafür, dass sie die Wahl ihrer Schuhe passend zum restlichen Outfit nicht nochmal überdacht hatte. Nun stand sie mit nassen Füßen dicht gedrängt in mindestens einem Dutzend fremder Menschen und versuchte bei jeder Bremsung und jeder Beschleunigung den Griff an der Haltestange nicht zu verlieren, wobei ihr vermutlich auch in diesem Fall nichts passiert wäre, denn Platz zum Hinfallen hatte sie ohnehin keinen. Als sie bereits ein paar Stationen gefahren waren, bemerkte sie auf einmal einen süßlichen Duft. Er kam ihr bekannt vor, doch sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, woher sie ihn kannte. Sie versuchte seine Quelle auszumachen und sah sich einen Moment um. Dabei fiel ihr der Mann auf, der auf einem Platz am Fenster saß und sie geradewegs ansah. Sie war nie gut darin gewesen, Blickkontakten standzuhalten. Deshalb sah sie schnell weg und konzentrierte sich stattdessen wieder auf den Geruch, der ihr gerade erneut ganz prägnant in die Nase stieg und intensiver zu werden schien. Sie versuchte herauszufinden, an was er sie erinnerte, ihn in seine Bestandteile zu zerlegen. Ihr kamen Bilder von Blumen in den Kopf, lilane, schlanke Blumen mit großen grünen Blättern. Sie kannte die Pflanze nicht, aber die Richtung passte.
ER
Er saß schon seit mindestens einer Viertelstunde auf seinem Platz und sah aus dem Fenster. Er war an einer der ersten Stationen eingestiegen und allmählich hatte sich der Bus immer weiter gefüllt. Mittlerweile passte kaum noch jemand hinein und als er zur Tür blickte, um diese Vermutung zu bestätigen, sah er sie. Sie stieg gerade ein. Sie hatte blondes Haar, das an ihrem Hinterkopf zu einem Dutt gewickelt war, aus dem mittlerweile unzählige Strähnen wild herausstanden. Sie war offenbar vom Regen überrascht worden und hatte sich hektisch unter das Dach der Bushaltestelle gerettet. Das jedenfalls stellte er sich nun vor. Ihre Bluse und der Blazer darüber verrieten, dass sie eine schlanke Figur hatte und ihre Hose betonte ihre schönen langen Beine und ihren kleinen Po. Sie war genau sein Beuteschema. Er behielt sie im Auge und achtete genau auf jede ihrer Bewegungen. Als sich ihre Blicke trafen, sah sie schnell wieder weg. Er jedoch konnte seinen Blick nicht mehr von ihr abwenden. Kein einziges Mal blickte er in eine andere Richtung. Er hatte sein Ziel erfasst und würde es nicht wieder aus den Augen verlieren.
Sie schulterte gerade ihren Rucksack, als die Durchsage die nächste Station ansagte. Sie betätigte den Halteknopf. Wie vom Blitz getroffen, packte auch er all seine Sachen zusammen und sprang von seinem Platz auf. Er arbeitete sich durch die Menge zur Tür und stieg an der nächsten Haltestelle aus. Auch sie war dort wie vermutet ausgestiegen. Er zog schnell seine Jacke an und schulterte dann seinen Rucksack, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Dann begann er in dieselbe Richtung zu gehen.
SIE
Es war bereits dunkel, als sie an ihrer Zielhaltestelle ausstieg. Der Regen war etwas schwächer geworden, doch sie beeilte sich dennoch, schnell nachhause ins Trockene zu kommen. Gerade als sie um die Ecke in die nächste Straße bog, nahm sie wieder diesen Duft wahr, der intensiver zu werden schien. Kurz überlegte sie, ob sie ein neues Waschmittel hatte und roch an ihrem Schal, doch der roch wie immer. Auch neben ihr war nirgends ein Blumenladen oder irgendetwas dergleichen zu sehen.
Nach der Ecke war der Geruch verschwunden. Vielleicht hatte sie doch einen Blumenstrauß übersehen oder jemand aus dem Bus hatte zu viel Parfum aufgetragen und war auch an der Haltestelle ausgestiegen. Sie vergaß den Geruch und ging weiter. Als sie nun nach rechts schaute, stand sie vor ihrem Lieblingsasiaten und beschloss kurzerhand etwas für heute Abend mitzunehmen.
ER
Als er um die Ecke bog, sah er gerade noch, wie sie einen Laden betrat. Er blieb stehen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie wieder herauskam. Er hoffte, dass das nicht allzu lange dauern würde, da er bereits vollkommen durchnässt war vom unerbittlichen Regen.
Wenig später sah er sie mit einer Tüte in der Hand aus der Tür treten. Sofort ging auch er wieder los. Als sie sich plötzlich umschaute, versteckte er sich schnell in einem Hauseingang. Während er so hinter ihr lief, kam er nicht umhin, zu bemerken, wie elegant ihr Gang war und wie schön ihr Po sich dabei bewegte. Er stellte sie sich ohne Hose vor, wie sie sich an einem privaten Ort nur für ihn so lasziv bewegte. Dabei verringerte er ganz automatisch den Abstand zwischen ihnen und sein Verlangen nach ihr wuchs.
SIE
Mit dem Essen in der Hand verließ sie den Laden wieder. Während sie vor die Tür trat, stieg ihr auf einmal wieder dieser Duft in die Nase, noch stärker als zuvor. Sie sah sich kurz um, konnte jedoch nichts entdecken, was ihn ausströmen könnte also ging sie weiter. Auf ihrem restlichen Weg verschwand er immer mal wieder, nur um kurz danach wieder aufzutauchen. Am intensivsten war er, als sie gerade am Eingang des Parkes vorbeikam, der eine Abkürzung zu ihrer Wohnung darstellte und sich entschied, diese zu nutzen. Sie wollte nachhause und sich trockene Sachen anzuziehen.
ER
Nun waren sie an einem Parkeingang angekommen. Der Park schien leer zu sein. Sie überlegte kurz, lief dann jedoch auf den Eingang zu. Er sah seine Chance und holte noch weiter zu ihr auf, doch gerade als er sich ihr soweit genährt hatte, dass er sie packen konnte, wehte ein Windstoß ihren Schal davon. Vor Schreck stieß sie einen kurzen Schrei aus, drehte sich um und wollte ihrem Schal hinterherlaufen. Als sie ihn sah, wich sie ihm aus und lief nun in Richtung ihres Schals, der gerade von einem jungen Mann aufgefangen wurde, welcher ihn ihr reichte und mit ihr sprach. Die beiden gingen zusammen davon und ihm blieb nichts anderes übrig als von ihr abzulassen und selbst den Heimweg anzutreten.
SIE
Sie schaute ihrem Schal hinterher, der gerade von ihrem Freund Max aufgefangen wurde und lief schnell zu ihm, um ihn zu begrüßen.
»Hey! Vielen Dank.«
Max lächelte sie an und gab ihr den Schal. »Gern geschehen. Hab ich also richtig gehört. Du bist es.«
»Ja, sieht so aus. Ich bin auf dem Weg nachhause. Wollen wir zusammen gehen?«, fragte sie ihn nun.
»Gern, wir müssten aber vorn lang gehen. Ich muss noch ein Buch im Buchladen abholen.«, antwortete er. Sie stimmte zu und sie liefen zusammen in die andere Richtung. Bei der Gelegenheit fragte sie ihn gleich, ob er ihr helfen konnte, zu bestimmen woher sie den Geruch kannte, der in der Luft lag. Doch er schaute sie nur schief an und fragte verwundert: „Welcher Geruch? Ich riech nichts außer dein Essen, aber dabei weißt du vermutlich selbst, was es ist.“ Wie um seine Aussage zu unterstreichen, sog er demonstrativ die Luft vor sich durch die Nase ein. Und in dem Moment fiel ihr auf, dass auch sie nichts mehr roch. Der Geruch, der sie seit dem Bus begleitet hatte, war verflogen.