Ich wehe hinter ihr her wie ein Umhang. Welche Art von Umhang, das hängt von den Menschen ab, die mich wahrnehmen.
Für manche bin ich nichts, doch für ein paar Leute …
Es geht vorbei an einem kleinen Mädchen, das in ihrer Kreidemalerei innehält und meiner Trägerin mit Kulleraugen und einem Lächeln hinterhersieht. Ihre Lippen sind schon geöffnet, da bemerkt sie ihren Irrtum und wendet sich wieder dem Asphalt zu. Das Lächeln bleibt auf ihren Lippen.
Dann begegnen wir einem jungen Mann. Er richtet sich zu voller Größe auf, sein Kopf ruckt herum, seine Augen, vorher halb geschlossen, erstrahlen mit verloren geglaubter Lebensfreude. Doch im nächsten Moment fällt der Herr mit einem Seufzen in sich zusammen und setzt seinen Weg mit hängenden Schultern fort, sich dann und wann über die Augen reibend.
Eine Frau rümpft bei Kontakt mit mir die Nase und wendet sich dezent ab. Ihre Augen sind schmal und ihre Haltung ist gleich einen Ticken aufrechter.
Eine andere Dame zuckt förmlich zusammen und vergrößert den Abstand. Mit zusammengepressten Lippen und geballten Fäusten überholt sie meine Trägerin und biegt in eine Sackgasse ab, in der sie ihr rasendes Herz und ihre zu schnelle Atmung unter Kontrolle bringen will.
Ich bin nichts. Oder eine warme Decke, eisige Luft, eine schützende Mauer oder tausend scharfkantige Partikel.
Das Haus
Die Haustüre klemmt immer ein wenig. Wann der Hausmeister die Scharniere ölt, rieche ich das. Ich empfinde den Duft als alt, völlig unangenehm. Ich betrete den langen Laubengang. Ein miefer Duft steigt mit in die Nase. Das sind wohl die alten abgestellten Velos und das Altpapier in der hinteren Ecke unter der Treppe. Ich öffne den Briefkasten. Es ist der Vierte von rechts. Er ist leer. Robert flitz mit einem kurzen „hoi“ an mir vorbei. Seine Mutter sagt, er seih dreizehn. Sie wohnt im zweiten Stock. Die Treppe ist aus Holz. Wahrscheinlich alte Eiche. Wann immer der Hausmeister die Treppenstufen behandelt, duftet es nach Honig. So kommt es mir wenigsten vor. Links von der Treppe, im ersten Stock wohnt Frau Balmer. Dem Duft nach hat sie gebacken. Ihr Streusel ist eine Wucht, bringt sie doch immer wieder ein Stück zu uns hoch, verbunden mit einem kleinen Schwätzchen. Auf der anderen Seite wohnen die Meiers. Sie sind im Moment nicht zu Hause. Es riecht nach frischer Farbe. Hier wird die Wohnung neu gestrichen. Im zweiten Stock kommt mir der kleine Hugo entgegen. Seine Fahne, die er hinter sich nachzieht, ist unverkennbar mit einer vollen Windel verbunden. Ich grüsse seine Mutter, die ihm nacheilt. Ich muss noch aufpassen, dass sie mich nicht über den Haufen rennt. „Der Kleine“, entschuldigt sie sich. Auf dem Weg in den dritten Stock, treffe ich auf den Hausmeister. Seine Rauchfahne entblösst ihn als starken Raucher. „Alles klar? Kann ich dir helfen?“, fragt er höflich. Ich verneine dankend und gehe weiter die Treppe hoch. Bei unseren direkten Nachbarn duftet es nach Schweinebraten. Ich bekomme ein angenehmes Hungergefühl. Nun hab ich es gleich geschafft. Nach dem Öffnen der Türe kommt mir meine Liebste entgegen. Sie begrüsst mich mit einen Kuss. Die sinnliche Berührung der Lippen löst, auch nach Jahren, ein kribbelndes Gefühl in mir aus. Der Duft der Liebe betört meine Sinne. „Ich bringe dir gleich einen Kaffee“. Schon ist sie wieder auf dem Weg in die Küche. Der Windhauch, den sie hinterlässt, duftet nach einer Prise Lavendel. Ich lege meinen Blindenstock auf die Seite und setze mich in meinen Stuhl. In Gedanken bin ich noch auf der Magerwiese am Waldrand. Ich spüre nach wie vor den Duft der Kräuter, Blumen, Gräser und dem feuchten Waldholz. Ein feines Kaffeearoma holt mich in die Stube zurück.
Ich bin neu hier
Ich bin um 5.55 Uhr auf die Welt gekommen. Mit ganz vielen anderen Gerüchen habe ich mich auf den Weg gemacht. Blut, Schweiß, Fekalien und andere Gerüche waren meine Begleiter. Aber sie sind auch schnell wieder gegangen. Ich bin geblieben. Hier bei ihm. Und mir gefällt es hier wirklich gut, denn ich fühle mich geborgen und geliebt. Es ist wundervoll, denn ich scheine große Gefühle auszulösen. Immer wieder vergräbt man seine Nase in meinen Wirt. Was ich dann sehe, lässt mich fast zerspringen vor Glück. Manchmal begleitet von Tränen, manchmal vor Lachen. Ich höre sie auch immer wieder sagen, wie gerne sie diesen Duft konservieren würden. Das macht mich natürlich unfassbar stolz. Aber ich weiß nur allzu gut, dass die Zeit mir nicht wohlgesonnen ist. Ich weiß, dass ich irgendwann nur noch ein blasses Abbild sein werde. Die nach mir kommen, werden die Großen dann aber wieder an mich erinnern. Das ist der Kreislauf des Lebens. Für den Moment liebe ich es hier. Geborgen mit meinem Wirt und seiner Mama. Im Arm ganz kuschelig.
Kaffeetorium
Ich male ein Bild in deinen Schädel, ein Bild, dass du nicht sehen willst, es immer wieder abwischst, in der Hoffnung, es bliebe fern, doch ich male es immer wieder, bei jedem Mal mit stärkerem Strich, mit dickerer Schicht, mit größerer Qual, kehre ich, wieder und immer wieder in dein Inneres, dass du verschließen willst, in dem du deine Nase zwischen deinen Finger zusammenpresst, bis sie fast zerbricht und doch bremst mich nichts, bin längst durch deine Poren eingefallen, fresse mich durch deinen Kreislauf, reiße Wunden auf, die du vergessen wolltest. Ich könnte frisch gerösteter Kaffe sein, der ununterscheidbar gleich riecht, doch eben diese Ununterscheidbarkeit macht es so egal, was ich bin. Es ist dir egal, denn das Bild in deinem Schädel haust dort trotzdem.
Vanille mit Zimt
Durch die Hitze einer Kerzenflamme steige ich auf.
Ich bin ein Aroma, Vanille mit Zimt, der diesen wohligen Raum einnimmt.
Ein Paar sich in die Augen sieht, Sie küsst ihn, sie sind verliebt.
Seine Hand durch Ihr Haar streicht sacht, mit mir verbringen sie die Nacht.
Fünfzig Jahre später, weht ein Duft von Vanille mit Zimt, der sie hierher zurückbringt.
Odor Mutabiliis
Kennst Du das?
Wenn Du plötzlich etwas riechst, einen ganz speziellen Duft, wie aus dem Nichts. Aber keiner deiner Freunde nimmt ihn wahr? Nur Dir steigt er in die Nase und reizt Deine Sinne?
Dann bist du auf meinesgleichen gestoßen. Denn ich bin ein Odor Mutabiliis. Ein Wechselduft. Kein gewöhnlicher Gestank oder Wohlgeruch, weder Rosenduft noch ordinärer Pupsgestank.
Nein, ich kann sein, was ich will. Ob Aroma oder Mief, Odeur oder Fetide, Malodor oder Floral und was so dazwischen liegt. All das kann ich sein, wenn mich danach verlangt.
Du verstehst das nicht? Dann werde ich es Dir zeigen!
Schau dort, die Frau auf der Straße. Sie eilt dahin, wendet ihren Blick weder nach links noch rechts, nur ihrem Ziel zustrebend, so geschwind wie sie vermag. Jetzt siehe zu, wie ich ihren Geruchssinn umgarnen werde …
Hast du es gesehen? Als ich ihr in die Nase fuhr, ihre Sinneszellen reizte und mit ihnen spielte. Wie sie eben noch all ihre Gedanken auf ihr Ziel gerichtet hatte, und dann mich wahrnahm. Es hat sie aus ihrer Trance geholt, sie aufgeweckt und wach gerüttelt. Plötzlich hat sie geschnuppert, als würde sie eine versteckte Essenz wahrnehmen – mich.
Hast du gesehen, was mein Geruch in ihr ausgelöst hat? Wohl kaum, aber ich erzähle es Dir! Es hat eine Erinnerung geweckt. Lange vergessen, tief verschüttet von all dem Gedankenunrat des Lebens. Und ich habe sie wieder hervorgeholt, ihr ins Bewusstsein gerufen.
Es ist eine schöne Erinnerung. An bessere Zeiten, ein freudiges Erlebnis, an das man sich gerne erinnert. Eine Liebe, die man nicht vergisst – oder nicht vergessen sollte. Sie wurde wieder wach. Durch mich, durch meinen Geruch.
Schau sie dir jetzt an! Wie ihre Augen glänzen. Siehe den verträumten Blick. Sie schlendert mehr, als dass sie geht. Nimmt wahr, was um ihr ist. Das wird ihr gut tun. Es wird sie beeinflussen. Und wer weiß, was sich dadurch alles für sie ändern wird.
Hast du es gesehen? Ja?
Das ist gut, dann hast Du keine Angst vor mir, oder?
Denn jetzt bist Du an der Reihe. Atme einfach weiter, ein und aus. Ich komme zu dir.
Was riechst Du?
Der Todesgeruch
Ich weiß nicht, wie ich entstanden bin und auch nicht wie lange ich schon existiere. Ich vegetiere einsam und in vollkommener Dunkelheit dahin, eingesperrt in einen gläsernen Quader mit einer Länge von drei Metern, einer Breite von einem Meter und einer Höhe von zwei Metern. Wenn die Türe des Raumes, indem ich gefangen gehalten werde, aufgeht, sehe ich ihre angsterfüllten Augen und das Zittern ihrer Körper. Einmal den Raum betreten, ist deren Schicksal besiegelt. Ich weiß es. Sie wissen es.
Ich habe nach hundert aufgehört zu zählen. Es ist unerheblich, wie vielen ich dabei zugesehen habe, wie sie ihre Nasen in die dafür geschaffene Öffnung steckten. Wie sich manche mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, aber nie wirklich eine Chance gehabt haben, mir zu entkommen. Dafür haben die beiden Wärter gesorgt, die sie letztendlich am Kopf packten und diesen gewaltsam in die Öffnung drückten. Viele versuchten, die Luft anzuhalten, jedoch war dies nicht aussichtsreich. Manche brauchten länger, manche kürzer, aber irgendwann mussten alle einatmen, um zu leben, doch dieser Atemzug besiegelte ihren Tod. Bei jedem Einzelnen weiteten sich die Augen, als sie mich rochen und einatmeten. Meist drehten sie sich voller Ekel weg von mir, geschockt über den Geruch, den Sie in dem Quader wahrgenommen hatten. Mein Geruch breitete sich in ihren Eingeweiden aus, drang in die Nervenbahnen, in jede einzelne ihrer Zellen ein. Ihre Nasen fingen an zu laufen, der Körper zuckte, manche schrien, andere wiederum krümmten sich am Boden vor Schmerzen. Das Ende des Todeskampfes läutete das Bluten aus allen Körperöffnungen ein. Dann dauerte es nicht mehr lange, bis meine Arbeit getan war. Danach begann die Säuberung. Der leblose Körper wurde entsorgt. Das Blut auf den weiß gefliesten Boden wurde beseitigt. Nach der Arbeit wurde die Tür wieder geschlossen und die Stille kam zurück.
Wie oft habe ich darum gebeten, dass meine Existenz ein Ende finden würde, wenn genügend Menschen an mir gerochen hatten. Ich dachte, dass mit jedem Atemzug ein bisschen Volumen von mir verschwinden würde. Doch diese Hoffnung schwand mit den Jahren. Also akzeptiere ich, dass meine Dosis bei jedem tödlich wirkt. Ich bin eine nie endende Ressource für jene atemberaubende Blondine, die den Hinrichtungen ab und zu beiwohnte und immer ein Lächeln im Gesicht hatte, wenn ihre Gegner ihr am Boden zu Fuße lagen. Im Anschluss fuhr sie zärtlich mit ihrer Handfläche über den Glasquader und bedankte sich bei mir. Diese seltenen Augenblicke erfüllen mich mit Stolz auf meine Wirkung und ich fing an mich nach ihr zu sehnen. Ich wünsche, das Glas würde nicht zwischen uns stehen, um sie spüren zu können, ihr nah zu sein. Ich begann, mich darauf zu freuen, wenn die Türe des Raumes geöffnet wurde. Ich bemerkte, dass sie immer öfter den Hinrichtungen beiwohnte, als ob Sie auch in meiner Nähe suchte.
Ich kann mein Glück kaum fassen, als der Schließmechanismus der Quaderöffnung nicht funktionierte, meine Angehimmelte im Raum anwesend ist und ich meinem Gefängnis entfliehen kann. Endlich Freiheit. Sie bleibt wie angewurzelt stehen und schaut zielsicher auf den Glasquader. Sie kann mich nicht sehen, aber sie weiß, dass ich entwichen bin und mich im Raum ausbreite. Ich sehe keine Angst. Da ist etwas anderes, was ich spüren kann - Faszination. Ich nähere mich ihr langsam, umhülle Sie im Ganzen, nicht vergessend, ihr den notwendigen Luftpuffer zum Atmen zwischen uns zu belassen. „Ich wusste, dass Du mein Schicksal sein würdest“ haucht sie. Wir bewegen uns hin und her, als ob wir miteinander tanzen würden, immer mit der nötigen Distanz, die sie benötigt, um am Leben zu bleiben. Die Zeit scheint still zu stehen. Keiner kann unsere Zweisamkeit mehr stören, denn die Wachen liegen längst tot am Boden. Irgendwann kann ich die Distanz nicht mehr aufrecht halten, langsam schwindet der Luftpuffer. Sie stockt jedoch nicht, ist von meinem Geruch nicht angewidert. Sie hält den Atem nicht an, sondern saugt ihn, wie selbstverständlich, in sich auf. Ich schieße durch ihre Blutbahnen, wie auf einer Achterbahn hindurch, und sie spürt mich in jeder Faser ihres Körpers. Doch sie entwickelt keine Symptome der Vergiftung. Kein Nasentröpfeln, kein wildes Zucken, keine Blutungen. Ich bin in ihr und trotzdem höre ich ihr Herz weiter schlagen. Ich habe ein neues Gefängnis, doch dieses werde ich nicht freiwillig wieder verlassen. Ich werde nie wieder einsam sein, denn mit ihr kann ich interagieren. Sie lächelt. Sie hat meinen Geruch angenommen. Dies bedeutet, dass jeder Mensch, der sich ihr zukünftig nähern wird, unseren Geruch einatmen muss und daran elendig zugrunde gehen wird. Wir sind auf immer und ewig vereint.
Der ewige Fluch …
Niemand findet gefallen daran, mich zu riechen … Seit ewig werde ich gejagt und gehetzt … An keinem Ort hab ich das Recht zu verweilen …
Manche Lebewesen verbuddeln den Wirt auf dem ich lebe, so tief wie möglich, aus Angst von ihren Feinden entdeckt zu werden. Bei anderen Tieren wird der besagte Gastgeber sofort überwältigt. Tausende von fliegen, Bakterien und andersartige Organismen, stürzen sich auf ihn. Sobald mein Träger verdaut ist, bin auch ich wieder verschwunden. Keine Chance, mal fünf Minuten die frische Luft zu genießen, sich zu entwickeln, oder gar die diversen Essenzen aus denen ich bestehe auszuströmen … Schwupps, schon werde ich auf irgendeiner Form entsorgt. Manchmal versuchen sie, den Geruch den ich von mir gebe zu versenken, unter literweise schwerem Wasser. Doch wenn sie annehmen sie könnten mich untergehen lassen, dann haben sie sich aber geschnitten! Ich bin leicht und flüchtig, und meistens komme ich davon. Es stinke, sagen Sie …
Früher … Ja früher, landete ich zumindest auf dem Kompost; oder in der Latrine; dort hatte ich noch das Recht mich für ein paar Wochen zu entfalten, vermengt mit dem Mief von vergammeltem Grünzeugs oder gar jener Wohlgerüche meiner Kumpanen, die im Heu vom Stall verweilten.
In den modernen Haüsern der Menschen ist es mir nicht mehr erlaubt zu sein. Dort geht‘s mir so richtig an den Kragen. Jedes Teilchen meines Wesens, egal wie winzig es ist, wird verjagt, verdünnt und entlüftet. Meist klammere ich, halte fest am kleinsten partikel Lebensraum, dass sie vielleicht übersehen haben. Doch es gelingt mir nur bedingt. Spätestens dann, wenn die fleißige Hausfrau kommt, werde ich, samt dem Unrat, resolut, mit Bürste und viel Putzmittel unsanft weggeschrubbt. Und wehe es bleibt ein letzter Anflug von mir übrig! So wird dieser sofort, überdeckt mit allerlei Parfüm, oder nach draußen befördert. Da besteht nicht die kleinste Chance, mich an irgendeinem Ort festzuklammern. In Windeseile schwebe ich durch den Raum, gefangener eines heftigen Luftstosses, provoziert durch zwei offene Fenster.
So ist mein Leben … Niemand findet Gefallen daran, mich zu riechen … Ich werde schon ewig und vermutlich für alle Zeiten, gejagt und gehetzt …
Verführungskunst im Dunst
„Hatschiii, Haaaaatschi, Haaaaaatschiiiiiiiiiiiiii!“, entfährt es vernehmbar Herrn W aus K.
Er ist bedauernswert verschnupft. Wie heißt es doch gleich? Ach ja: „Wer dreimal niest ist doof!“ Aber doof ist nur, dass Herr W aus K derzeit außerstande ist, mich zu riechen. Denn ich kann ohne Übertreibung von mir behaupten, einfach göttlich zu duften. Oh nein, Herr W will leider schon verduften. Gleich ist er meinem Dunstkreis entkommen. Wie ärgerlich! Ich entweiche mit feinem Vanille-Zimtaroma einem frisch gebackenem Quarkbällchen des zuckersüßen Marktstandes von Frau H aus B auf dem hiesigen Weihnachtsmarkt. Die Quarkbällchenbäckerin ruft laut in die Runde, wie gut ihre Bällchen munden. Ich gebe mir alle Mühe, sie mit meinen außerordentlichen Duftreizen beim erfolgreichen Verkauf zu unterstützen. Aber was soll man machen, wenn die Nieszeit Hochsaison hat? Ich schleiche extra ausgiebig um die potenziellen Kundennasen. Bei manchen ist es ein Leichtes, sich an ein Nasenhaar zu heften und richtungsweisend zum Quarkbällchenstand zu lenken. Oh wie schön, Frau U aus M hat sich für eine Tüte mit 6 Quarkbällchen entschieden. Mein Duftursprung ist unter ihnen und ich umhülle die Dame sogleich mit einem zarten Duftschleier. So dient sie mir unbewusst der weiteren Verführung als mobiler Appetitanreger für die Bällchen von Frau H. Bis die Münder der Dame U, ihres Ehemannes K und deren Kinder F, B und A aus M die Quarkbällchen samt mich verschlingen.
Guten Appetit!
Nassdunkel
Wieder einmal flaniere ich in Gedanken versunken an den Schaufenstern lang und atme tief den Duft nach frischgebackenen Keksen ein. Ich bin das nicht. Leider. Niemand lächelt so versonnen, wenn er mich riecht, wirklich niemand. Ich bin der ungeliebte kleine Bruder des Plätzchendufts, der nebelschwadenähnlich unter den Ritzen der Bäckereien hervorströmt zu dieser nachtschlafenden Zeit. Gut, zugegeben, viel Kummer habe ich nicht auszustehen, denn wenn ich mit meinem besten Kumpel, dem Nebel, um die Häuser ziehe, sind die meisten Menschen entweder noch oder schon wieder Zuhause. Wir ziehen schräge Gestalten an. Ich bin der Geruch nach nasskaltem Herbst, nach aufziehender Kälte. Ein Zwischending, eines das die Menschen bibbern lässt. Ich komme nach dem Sonnengeruch und vor dem Geruch nach kommendem Schnee, der dann auch schon wieder von erwartungsvollen Kindernasen liebevoll aufgenommen wird. Bei mir wird die Nase nur gerümpft. Mein Freund der Nebel macht alte Menschen mürbe, die dann die Kälte und Nässe in ihren Knochen spüren und gepeinigt vor sich hin schnaufen.
Aber halt - was ist das? Da ist eine junge Frau, sie hat die Arme ausgebreitet und ein erleichtertes Grinsen im Gesicht. Sie hat die Arme ausgebreitet, als wolle sie meinen Freund, den Nebel, der mir wie so oft direkt auf den Fersen ist, in die Arme nehmen. Ich bleibe stehen, umtanze sie etwas länger, tanze mit ihr, als sie voller Freude aufseufzt.
„Endlich ist dieser endlose Sommer vorbei; endlich kann man sich wieder in Decken hüllen und Tee schlürfen und drinnen bleiben und… langärmlig tragen. Endlich Herbst. Der Nebel ist das letzte Zeichen, was ich gebraucht habe. Es ist Herbst und ohhh, endlich wieder als ein Mensch wie jeder andere durchgehen…“
Was meint sie damit? Auf mich wirkt sie völlig normal!
„Ach, das denkst du auf den ersten Blick“, seufzte der letzte warme Luftzug. „Ich habe sie gesehen, diesen Sommer. Überall auf ihrem Körper hat sie Narben und obwohl sie schon so lange damit lebt, hat sie sich noch nie zuvor so sehr für jede einzelne Narbe geschämt, wie in diesem Sommer.“
„Was meinst du?“, fragte der nass-feuchte Hauch.
„Nur in der kalten Jahreszeit kann sie ihren Körper so verhüllen, das niemand anders die Narben der Wunden sieht, die sie sich selbst beigebracht hat, als sie dachte, sie könne nie so ein liebenswerter Sonnenschein sein wie die Anderen. Sie ist der personifizierte Nebel, ein Wesen der Nacht, das zu oft ins Tageslicht gezwungen wird. Weil man das eben so macht. Jeden Herbst versucht sie dich zu umarmen, aber du bist zu sehr vertieft in deinen eigenen Mist.“
Das brachte den Nebelgeruch zum Grübeln. Vielleicht gab es da draußen doch mehr Menschen, die ihm begeistert zugetan waren und er hatte es in seiner persönlichen Misere und dem Neid auf den Plätzchenduft einfach nicht gespürt? Jetzt spürte er es jedoch. Ein Willkommensgefühl, das wie eine herzliche Umarmung von diesem einsamen Mädchen ausging, die einst viel zu verloren gewesen sein mag.
Aber heute, heute Nacht hatten sich die Beiden gefunden.
Und so verschwanden sie Arm in Arm im Nebel.
Um liebevolle Erinnerungen zu schreiben.
Der Duft des Todes
Süß und metallisch zugleich
verwese ich arm wie auch reich.
Du willst mich begraben, verbrennen,
magst meinen Geruch nicht erkennen.
Aus Abscheu und mir zum Hohn
verwendest du Desinfektion.
Träume heute von Rosenduft,
von Liebe und Frühlingsluft -
denn morgen aus dem Schützengraben
steige ich hoch zu den gierigen Raben.
Befreit
Mit einem Schwall ergieße ich mich in ein wohlig warmes Becken. Ich begrüße das Wasser und mische mich in einem kleinen Strudel mit ihm. Wir werden langsam eins während weiter Wasser in das Becken läuft. Meine dunkelblaue Farbe habe ich bereits verloren und gegen einen hellen Blauton getauscht. Langsam wabernd trennt sich ein Teil von mir vom Wasser und steigt bis an die Decke des Raumes. Ich atme aus, strecke mich, breite mich aus. Der gesamte Raum füllt sich mit mir.
Als eine Person den Raum betritt hustet sie. Dann atmet sie ein. Es ist ein kurzes, stockendes Atmen, doch es reicht, um einen Teil von mir in sich aufzunehmen. Der Weg ist blockiert, doch ich entdecke ein kleines Loch, durch das ich schlupfen kann. Ich rufe nach Verstärkung - einem größeren Teil von mir und tatsächlich muss ich nicht lange warten. Durch ein erneutes verzweifeltes Einatmen werde ich mehr und kann das Loch vergrößern. Immer weiter kämpfe ich gegen die Barriere vor mir, während die Person immer wieder und immer tiefer einatmet. Mittlerweile scheint sie sich ins heiße Wasser gelegt zu haben. Hier bin ich in meinem Element. Immer wieder zieht sie meine Dämpfer gierig in ihr Inneres. Die Blockade wird immer kleiner, immer fragiler, bis sie schließlich in sich zusammenfällt. Ich habe es geschafft. Der Weg ist frei. Mit einem Lächeln betrachte ich mein Werk. Die Person stockt. Sie hat es bemerkt. Sie ist frei. Mit einem tiefen Atemzug saugt sie mich gierig ein. Jetzt kann sie mich bestimmt endlich richtig riechen. Sie ist befreit.
Wir verbinden
Die meiste Zeit wohnen wir in einer Flasche. Doch heute ist es wieder so weit, und wir machen uns bereit für den Weg nach draußen. Es ist einer dieser Momente, in denen alles beginnt zu wackeln und wir durchgerüttelt werden. Wild prallen wir aneinander und aufgeregt schwirren wir um den Eingang der Röhre nach draußen. Dann wird ein Teil von uns durch die Röhre gezogen und verabschiedet sich. Wir fliegen hinaus und wabern durch eine Welt, die plötzlich ganz anders aussieht – wie langgezogen. Plötzlich sind wir ganz lang und langsam, reichen uns nur ausgestreckt die Hände und greifen um uns. In der Flasche war es eng und wir waren klein, und nun werden wir weit und lang. Gleichzeitig sind wir drinnen und draußen. Hier draußen strecken wir uns. Strecken uns nach den Objekten um uns aus und docken schließlich an – an einem dieser Menschen. Sie mögen es, wenn wir sie begleiten. Wenn wir an ihren Hälsen sitzen, lassen wir uns wie lang gezogene Tentakel um sie streifen. Wir werden getragen und gleichzeitig tragen wir sie in die Welt hinaus. Wie lange Fäden recken wir uns und schaffen neue Verbindung. Da hinten streifen wir einen anderen Menschen und begegnen den anderen von uns. Wir sind neugierig und vermischen uns mit ihnen, wollen sie spüren. Und so kommen wir einander immer näher und näher und werden wieder enger. Wir teilen die Luft, die unsere Menschen umgibt und wabern ineinander. Wie kleine Spiralen drehen wir uns um uns und merken dabei kaum, wie es immer enger und enger wird. Dann stoßen wir immer öfter aneinander, heften uns auch an den anderen Menschen und unsere Fäden ziehen sich immer mehr zusammen, werden kürzer. Die Weite wird zu einer Nähe und wir wissen, dass wir unsere Aufgabe erfüllt haben. Nach und nach lockern wir unseren Griff und lassen uns von der warmen Luft davontragen. In der engen Flasche warten wir auf unseren nächsten Auftritt.
Der duft der Erinnerung
Schon als junger Mann lag meine Leidenschaft in der Gastronomie. Meine Familie hatte ein kleines Restaurant das „Gonzo´s“, benannt nach meinem Vater.
Im Gonzo´s lernte ich das Handwerk der Essenszubereitung und war Stolz auf darauf wie leidenschaftlich meine Familie das Geschäft führte.
Doch vor zwanzig Jahren machten sich jugendliche Brandstifter einen Spaß daraus, das Geschäft meines Vaters abzufackeln.
Danach war meine Familie nicht mehr dieselbe. Da das Gebäude gegen Vandalismus nicht abgesichert war, waren wir ruiniert. Mein Vater bekam ein Alkoholproblem und verlor immer wieder die Kontrolle über seine Frustrationen. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und machte mich auf, um die Welt zu erkunden.
Nach Jahren in Amerika, Afrika und Asien, in denen ich alle möglichen an heimischen Gerichte erlernte und meine Fähigkeiten in der Küche perfektionierte, hatte ich immer das Gefühl, dass irgendetwas fehlen würde…
Dann bekam ich die Nachricht, dass mein Vater verstorben ist und die Beerdigung anstand. Zu dieser Zeit war ich bereits mit meiner Frau Kathrina verheiratet und auch wenn sie meinen Vater nicht kannte, stieg sie mit mir in den Flieger in meine alte Heimat.
Bereits als wir landeten und den Flughafen verließen, erinnerte mich der Geruch der Fliederbäume an meine Kindheit und an meine Eltern. Plötzlich begriff ich, was mir all die Jahre fehlte – meine Heimat.
Einige Tage Später war die Beerdigung. Zur Testamentsverlesung trafen sich Freunde und Familie in einem Restaurant um die Ecke. Am Schaufenster hing ein Schild mit der Aufschrift Neueröffnung. Ich dachte mir schon beim Betrachten des Schildes, wie ungewöhnlich es sei, in einem neu eröffneten Restaurant eine solche Veranstaltung zu halten… Doch als ich durch die Tür schritt, verabschiedete sich eine Träne und lief still meine Wange hinab. Es war keine Trauerträne, sondern ein Aufschwung von Freude spiegelte mein Gesicht. Zwanzig Jahre war es Her, dass unser Lokal abgebrannt ist und ich erinnere mich gut an den Geruch, den der Besucherraum umgab. Tatsächlich war es derselbe süß- herbe Geruch, der auch hier lag.
Bei der Testamentsverlesung bekam mein Onkel, die Plantage mit alten Apfelbaumsorten, von denen er immer Geschwärmt hat. Ein Freund meines Vaters den ich nicht kannte, bekam die Jahrzehnte alte Whiskeysammlung und dann kam ich. „Dir Sohn, vermache ich das Wertvollste, was ich besitze. Da ich wusste das mein Ende bevorsteht, habe ich etwas für dich vorbereitet, was dir mein Anwalt jetzt aushändigen wird.“ Der Notar übergab mir eine sperrige längliche in Stoff eingehüllte Holzkiste. Ich wickelte das Tuch ab und öffnete die Schatulle. Auf samt gebettet lag ein Schild auf dem stand „De la Silva“ Dazu eine Urkunde und ein Brief. „Ließ ihn vor!“ stupste Kathrina mich an. „Josh, mein lieber Sohn. Als damals das Gonzo´s abbrannte, war ich am Boden zerstört… nicht, weil die Versicherung nicht für den Schaden aufkommen wollte, sondern weil ich nichts hinterlassen würde, wenn ich einmal von dieser Erde gehe. Doch vor einem Jahr erreichte mich ein Schreiben der Gemeinde, mit der Bitte zu diesem Gebäude zu kommen. Sie haben zusammengelegt und das Gewerbe für uns gekauft. Sie fanden das Gonzo´s sollte eine zweite Chance bekommen. Da ich fand Gonzo´s und Sohn klingt schrecklich habe ich mich für unseren Familiennamen De la Silva entschieden. Kurz und Knapp… Ich hoffe du übernimmst dein Erbe und mit ihm diesen Laden.
Ich sagte Ja und seitdem lebe ich mit meiner Frau in meiner Geburtsstadt und umgebe mich mit der Erinnerung an meinen Vater in unserem Geschäft.
Der Hauch von Erinnerungen
Ich war ein einfacher Duft, ein Hauch von Lavendel, geboren aus den sanften Händen einer alten Dame, die ihr geliebtes Parfüm auftrug. An jenem Morgen, als die Sonne aufging und die Welt in ein sanftes goldenes Licht tauchte, fand ich mich selbst bereit, in die Welt hinauszuziehen und die Herzen der Menschen zu berühren.
Als erstes schlich ich mich durch die Fensterspalte eines kleinen Hauses und fand mich im Zimmer eines jungen Paares wieder. Sie lagen noch im Bett, eng umschlungen, die Stille des Morgens umhüllte sie. Ich wirbelte um sie herum, und als ich die Frau berührte, sah ich, wie ein Lächeln ihre Lippen umspielte. Die Erinnerung an den ersten Kuss unter dem Lavendelbaum in ihrem Elternhaus wurde wachgerufen, und ihr Herz füllte sich mit einer süßen Sehnsucht.
Von dort aus zog ich weiter durch die Straßen, hinein in die frische Morgenluft. Ich schwebte durch die Tür eines kleinen Cafés, wo ein alter Mann allein an einem Tisch saß, seinen Kaffee trank und die Zeitung las. Als ich ihn umhüllte, sah ich die Tränen in seinen Augen glänzen. Er erinnerte sich an seine verstorbene Frau, die immer Lavendel in ihrem kleinen Garten gepflegt hatte. Für einen Moment war er wieder mit ihr vereint, in einem Garten voller Blumen und Liebe.
Der Tag führte mich weiter, zu einem belebten Markt, wo die Menschen geschäftig umhergingen. Unter ihnen war eine junge Frau, die scheinbar ziellos durch die Gassen streifte. Ich umgab sie, und plötzlich hielt sie inne. Ihr Gesicht verzog sich vor Ekel. Sie erinnerte sich an den schrecklichen Lavendelduft, der den Raum ihres strengen Lehrers gefüllt hatte. Ein Raum, in dem Kreativität und Freude erstickt wurden. Sie schüttelte den Kopf, um die dunklen Gedanken zu vertreiben, und eilte davon.
Als die Dunkelheit hereinbrach, fand ich mich in einem verlassenen Park wieder. Hier, in der Stille der Nacht, verblasste ich langsam, meine Essenz verlor sich in der kühlen Brise. Doch die Emotionen, die ich geweckt hatte, die Erinnerungen, die ich hervorgerufen hatte, lebten in den Herzen der Menschen weiter. Und so, in der Stille der Nacht, fühlte ich eine seltsame Zufriedenheit, eine stille Freude, die nur ein Duft, ein einfacher Hauch von Lavendel, verstehen konnte.
Heute ist es wieder soweit. An einem willkürlichen Tag im Jahr. Ich wähle die Menschen, deren Nasen ich erreichen möchte, mit Bedacht. Ich wähle Menschen, die vor lauter Kummer und Stress im Alltag keine Kraft haben, die schönen Dinge des Lebens zu sehen. Kleine, große, junge und alte. Für den einen rieche ich nach einem Hauch von Pfirsich. Für andere rieche ich vielleicht nach Rosen, einem Sonnenaufgang im Nebel oder einer Süßigkeit. Aber bei allen löse ich das gleiche Gefühl aus. Die Nasen die ich erreiche, rechnen nicht mit mir. Tief im Innern sehnen sie sich nach dem was ich auslöse. Doch in welcher Form es sie erreicht und wann, dass wissen sie nicht. Ich schleiche mich in einer stillen Minute an, wenn alle schlafen. Es dauert nur wenige Sekunden. Sie erwachen und merken erst einmal gar nichts von meiner kurzen Anwesenheit. Zu groß die Last der letzten Tage oder Monate. Von der Routine des Alltags gepackt, erheben sie sich aus der Waagerechten, strecken sich und merken, die Schultern sind leichter als am Tag zuvor. Der Kopf so klar. Die Augen wacher. Das Gesicht entspannter. Keiner weiß wieso, aber es fühlt sich gut an. Ich liebe diese Tage, an denen ich all den Kummer und den Stress des Alltags verschwinden lassen kann. Guten Tag, mein Name ist HOFFNUNG!
Der vertrauteste Duft
Ich bin der Duft der dich nicht mehr los lässt.
Der Duft nach dem du dich sehnen wirst.
Du bist stehts auf der Suche nach mir… obwohl du weißt, dass ich dir dein Herz brechen könnte.
Ich bestehe aus mehreren Aromen, Kopf- sowie Herznoten.
Und selbst die erfahrensten Parfumeure, haben an mir Ihren Meister gefunden.
Heute ist es wieder soweit, ich bin auf der Suche…
Aus der frisch aufgehängten Wäsche ziehe ich meine Bahnen, über den Marktplatz.
Ich wehe über die Blümlein der Balkone hinweg,
streife das frisch gemähte Gras der Vorgärten und schlängel mich
durch die Bäckerei hindurch,
vorbei an dem Friseur von nebenan.
Ich lasse mich treiben über den zwölften Glockenschlag der zentralen Kapelle und lasse mich nieder, vor dem beliebtesten Floristen der Vorstadt.
Josies Augen werden groß.
Tränen laufen über ihre faltigen Wangen.
Tief saugt Sie mich, in sich hinein.
Sie spricht: ,Ach…William mein Bruder,. hörst du mich?
Hast du das auch gerade gerochen?"
Abgestützt auf ihren Gehstock, wischt sie sich mit Ihrem Taschentuch übers Gesicht.
Josie nickt und stimmt zu:
,Ja,ja…der Duft der Kindheit ist einfach der Schönste.‚‘ Sie lächelt.
Ihr Blick wandert in Richtung der kleinen Gasse, nahe der Kapelle, wo einst ihr Elternhaus lag.
Doch während Josie noch einige Zeit in Erinnerungen schwelgt, bin ich bereits auf den leichten Wogen der Frühlingsbrise weiter getragen worden.
Auf den Weg weitere Seelen, Ihre Kindheit ins Gedächtnis zu rufen.
Das Geheimnis der Karten
Der graue Oktoberabend spielte ihm in die Hände, den heute machten sich viele Stadtbewohner auf den Weg in die Schänke. Die Dämmerung war angebrochen und die Schankmädchen hatten bereits einiges zu tun.
Er saß in seiner dunklen Ecke und beobachtete mit aller Ruhe das Geschehen. Wie auch in allen Städten davor kannte er hier niemanden, aber doch waren die Gäste solcher Häuser immer dieselben. Die Handwerker und Arbeiter aus der Stadt und auch der ein oder andere Stadtwächter kehrten nach getaner Arbeit hier ein. Manchmal verirrte sich auch ein gut betuchter Bürger in so eine Lokalität. Dieser Ort hatte für die Gäste um einiges mehr zu bieten als ihr zu Hause. Alkohol, Gesellschaft, keine jammernde Ehefrau und die Bälger, dafür die eine oder andere Dirne für ein paar unverbindliche Momente.
Der Gast seufzte. Eigentlich langweilte ihn dieser Ort. Der Dorfklatsch war doch in jeder Stadt identisch. Aber es war nun mal sein Arbeitsplatz und langsam wurde es Zeit, das Spiel zu beginnen.
Der voll Krug Bier krachte auf den Tisch, an dem drei junge Arbeiter saßen. Sie hatten den Abend früh begonnen und sich bereits das Leben schön getrunken. Der Unbekannte setzte ein dümmliches Lächeln auf und sah die Jungs fragen an.
Mit leicht lallender Stimme wandte er sich an sie. „Jungs, bitte helft mir. Ich bin neu hier und der Abend erscheint mir gar zu lang. Wo kann man sich hier vergnügen? Das Glück lächelt mir heute zu und wenn es genügt, dann reicht der Gewinn locker für eine Nacht mir ihr“. Er nickte zu der hübschesten Kellnerin der Wirtschaft und verzog anzüglich das Gesicht.
Der Männer sahen ihn skeptisch an. Der Fremde zog seine Karten hervor und wedelte damit. „Ihr versteht schon. Ein oder zwei kleine Spielchen. Oder kennt ihr das in diesem abgelegenen Dorf nicht? Dann bin ich hier wohl falsch und werde mein Glück woanders suchen“. Das Klimpern seiner Geldbörse gab den Ausschlag. Die Kerle sahen sich kurz an und nickten sich dann zu.
„Fremder, natürlich. Bleib und setz dich. Für ein Spielchen bist du hier am richtigen Ort. Ich bin Karl, das sind Moritz und Reiner“, sprach der größte der Männer.
„Danke meine Freunde.“ Er setzte sich mit einem leichten Schwanken und hielt sich an der Stuhllehne fest. Das Funkeln in den Augen seiner neuen Kameraden entging ihm nicht. Sie sahen in ihm ein leichtes Opfer. Gut so.
Der Unbekannte hatte in seinen vielen Lebensjahren so einiges gelernt. Dass es nicht gerecht zu ging in der Welt und man sich nehmen musste, was man brauchte, um zu überleben. Aber auch Geduld. Natürlich könnte er die Jungs in wenigen Minuten über den Tisch ziehen, aber das war nicht so lohnenswert wie sich Zeit zu lassen. Die Opfer sollten gar nicht merken, dass sie ausgenommen wurden, und das konnte nur mit Raffinesse gelingen.
Er winkte die hübsche Kellnerin zu sich und glotze ihr unverhohlen in den Ausschnitt. Nach wenigen Sekunden besann er sich und bestellte für seine neuen Freunde noch eine Runde.
„Männer! Was wird hier gespielt? Wie kann ich mein Glück auf die Probe stellen?“ Er breitete mit einer geübten Geste seine Karten auf dem Tisch aus.
Die ersten Runden liefen wenig erfolgreich für den Fremden und sein Beutel leerte sich zusehends. Dagegen füllte sich die Schenke und auch ihre Spielrunde wuchs. Es war an der Zeit.
„Eine Wette meine Freunde!“, rief der Unbekannte so laut mit lallender Stimme, dass ihn alle im Raum hören konnten.
„Das Glück hat mich verlassen und so ist es Zeit für ein letztes Spiel. Alles oder nichts. Mögen die Götter über mich entscheiden.“ Dabei wedelte er theatralisch mit einem dunklen Tuch und fuhr er fort. „Ich wette, das ich unter fünf Karten immer die Herzdame finden werde. Natürlich mit verbundenen Augen! Wenn mir noch etwas Glück bringen kann, dann sie! Wer hält dagegen?“
Seine Spielpartner ließen sich nicht lange bitten und wetteten ein ums ander mal gegen ihn. Und jedes Mal verloren sie. Doch fanden sich neue Mitspieler, denn keiner konnten glauben, dass ein Mensch so viel Glück hatte. Sie prüften seine Karten, sie prüften seine Augenbinde und sahen sogar in seinen Taschen und unter dem Tisch nach. Nichts wies auf einen Betrug hin. Und so füllte sie seine Geldbörse in Windeseile, bis nur noch wenige Gäste in der Schänke übrig waren. Nur wenige hatte nicht gegen ihn gewettet.
Als er keinen Gegner mehr fand und bereits im Aufbruch war, setzte sich eine Frau zu ihm. Sie sah ihn nicht an, den sie konnte es nicht. Ihr Augen waren von einem hellen Grau und blickten ohne Wirkung in seine Richtung.
„Meine Dame, wie kann ich Ihnen helfen? Ich war bereits im Aufbruch.“ Er lächelte ihr freundlich zu, bis er die Unnötigkeit dieser Geste bemerkte.
„Ihr Trick, den sie da benutzen, er ist bewundernswert. Ich habe in dieser Schenke schon einiges mitbekommen. Betrüger, Diebe und verlorene Gestalten. Aber keine von denen hat sein Handwerk so gut verstanden wie sie“, sprach sie.
Er blickte sie irritiert an. Schon viel war ihm in seinem Leben widerfahren, aber diese Situation verwirrte ihn. „Wer seid ihr? Und was vermutet ihr für einen Trick? Das Glück war mir am Ende gewogen.“
„Die Menschen verlassen sich zu sehr auf ihre Augen und vergessen dabei ihre anderen Sinne. Sie hören nicht, sie fühlen nicht und sie riechen nicht.“ Es entstand eine Pause, die ihren letzten Worten noch mehr Gewicht gab.
Der Unbekannte räusperte sich unbehaglich. Ihm fehlten die Worte.
„Ich habe eine Bitte an euch“, redete sie weiter, „ich möchte fort von diesem Ort. Ich bin wegen meiner angeborenen Unzulänglichkeit hier gefesselt. Ich hatte hier die Möglichkeit zu überleben, aber nicht zu leben. Nehmt mich mit auf eure Reisen und ich werde euch nicht verraten. Euch sogar nützlich sein. Ich möchte mehr von der Welt erfahren als nur den Tratsch der Dorfbewohner.“
Immer noch fehlten ihm die Worte. Ein tiefer Atemzug half ihm aus seiner Starre und er erlaubte sich ein Lächeln. Was für eine abwegige Situation und was für eine mutige Frau.
Vielleicht war das der Beginn von etwas ganz Neuem.
Der Kaffeeduft
Es war ein warmer Frühlingstag, als ich in die Welt der Menschen eintauchte. Als Duft, der durch die Luft schwebte, hatte ich die Macht, Emotionen und Erinnerungen zu wecken. An diesem Tag entwich ich mich aus der dampfenden Tasse Kaffee auf Annas Tisch in einem kleinen Bistro in einer belebten Stadt. Von dort aus begann ich meine Reise, um die Gedanken und Gefühle der Menschen zu erkunden.
In diesem Bistro saß Anna, eine junge Frau, die alleine an einem Tisch am Fenster saß. Ihre Augen starrten auf das Buch vor ihr, das sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr gelesen hatte. Ihre Gedanken schienen weit weg zu sein, als ich mich langsam aus der dampfenden Kaffeetasse auf ihrem Tisch erhob und mich um sie herum ausbreitete.
Ich war der Duft von frisch gebrühtem Kaffee, der aus der Tasse vor ihr aufstieg. Die warmen, erdigen Noten des Kaffees umschmeichelten ihre Nase, und plötzlich wirkte sie wieder präsent. Anna schloss kurz die Augen und atmete tief ein, während ein Lächeln ihre Lippen umspielte. Ich hatte es geschafft, sie aus ihrer inneren Welt zurückzuholen, zumindest für einen Moment.
Während Anna an ihrem Kaffee nippte, konnte ich sehen, wie ihre Gedanken wanderten. Sie erinnerte sich an frühere Zeiten, an Morgenkaffee mit ihren Eltern, als sie noch ein kleines Mädchen war. Mein Kaffeeduft hatte sie immer an das Gefühl von Geborgenheit erinnert, das sie damals gespürt hatte.
Doch plötzlich wurde die Atmosphäre im Bistro spürbar angespannt. Die Tür öffnete sich, und ein Mann trat ein. Er war groß und trug einen eleganten Anzug. Seine Augen durchsuchten den Raum, bis sie auf Anna fielen. Als er auf sie zukam, spürte ich die Veränderung in der Luft.
Ich begann mich zu verändern, mich zu verdichten. Ich wurde zu einem süßen, blumigen Duft, der sich in Annas Nase festsetzte. Sie hob den Kopf und sah den Mann, der auf sie zukam. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, und ich konnte spüren, wie ihr Herz schneller schlug. Es war offensichtlich, dass dieser Mann eine besondere Bedeutung für sie hatte.
„David“, flüsterte sie leise, als er den Tisch erreichte. Die Erinnerungen an eine Zeit, die lange zurücklag, wurden wieder lebendig. David und Anna hatten sich vor vielen Jahren getrennt, aber der Duft seiner teuren Parfümmarke riss alte Wunden auf und brachte gleichzeitig Glücksmomente zurück.
Die beiden begannen zu reden, und ich konnte die Intensität ihrer Gefühle spüren. Ihre Blicke, ihre Worte, ihr Lachen - all das war erfüllt von einer Mischung aus Sehnsucht, Freude und Bedauern. Der Duft von David umgab Anna wie ein unsichtbarer Schleier, der sie in eine vergangene Zeit zurückversetzte.
Doch plötzlich änderte sich die Atmosphäre erneut. Ein anderer Gast im Bistro hatte sein Essen bekommen, und der Duft von Knoblauch und Zwiebeln begann sich in der Luft auszubreiten. Ich wurde von einem starken, unangenehmen Aroma verdrängt, das sich langsam aber sicher in die Nase von Anna schlich.
Ihr Gesicht veränderte sich schlagartig. Die Freude und das Wiedersehen mit David wurden von einem angewiderten Ausdruck abgelöst. Der Duft des Knoblauchs hatte ihre Erinnerungen jäh unterbrochen und sie in die Gegenwart zurückgeholt. Sie versuchte höflich zu lächeln, doch ich spürte, wie sehr sie das Gericht nebenan störte.
David bemerkte ihre Veränderung und sah sich im Bistro um. Als er den Ursprung des Duftes entdeckte, runzelte auch er die Stirn. Er schien den starken Knoblauchduft genauso unangenehm zu finden wie Anna.
Um den aufdringlichen Geruch zu bekämpfen, griff Anna nach ihrem Löffel und rührte energisch in ihrer Kaffeetasse. Dabei hoffte sie, dass der starke Kaffeeduft sich intensivieren und den Knoblauchgeruch vertreiben würde. Gleichzeitig begann ich mich erneut aus der Kaffeetasse zu erheben und mich um sie herum auszubreiten, während der süße Duft des Kaffees den Raum erfüllte und den aufkommenden Knoblauchgeruch zu vertreiben schien.
Doch trotz ihrer und meiner Bemühungen gelang es mir nicht, mich gegen den immer stärker werdenden Knoblauchgestank durchzusetzen, der immer mehr den Raum beherrschte.
Die Stimmung zwischen Anna und David war getrübt, und ich konnte förmlich spüren, wie der Konflikt in der Luft lag. Der Duft des Knoblauchs hatte eine heftige Reaktion ausgelöst, die die romantische Wiedervereinigung abrupt unterbrochen hatte.
Während ich mich so langsam in Luft auflöste, weil meine Kraft erschöpft war, konnte ich die Enttäuschung in Annas Augen sehen. Manchmal kann ein einfacher Duft die Perspektive eines Menschen verändern, Erinnerungen hervorrufen und Emotionen wecken. In diesem Fall hatte der Duft von Kaffee und Parfüm alte Gefühle geweckt, nur um dann von einem unangenehmen Knoblauchgeruch zerstört zu werden.
Als ich mich dann auflöste und der Wind mich weitertrug, konnte ich nicht anders, als darüber nachzudenken, wie die Welt aus meiner Perspektive aussieht:
Ich, ein einfacher Duft kann so viel bewirken, kann Menschen in die Vergangenheit versetzen oder in der Gegenwart verankern. Ich bin der unsichtbarer Beobachter, der die Macht hat, die Welt der Menschen auf vielfältige Weise zu beeinflussen.
Die Macht der Düfte
Ich stehe abgefüllt und konserviert in den ausgefallensten Flakons und Zerstäubern, die kreative Köpfe extra für mich entworfen haben. Meine Aufgabe ist es zu betören, zu umschmeicheln, zu verzaubern und die Welt zu täuschen. Ich bin einsame Spitze darin den Menschen etwas vorzugaukeln und mein Erfolg gibt mir recht. Im Jahr 2020 wurden weltweit 33 Miliarden US Dollar für Parfümprodukte, also für mich ausgegeben.
Ich liebe es, wenn ich meiner Hülle entnommen werde und mein gesamtes Potential entfalten kann. Dann gebe ich alles, um die Trägerin und den Träger von mir nicht zu enttäuschen.
Beliebt bin ich in einer Mischung aus Zitrusfrüchten in der Kopfnote, Jasmin und Beeren in der Herznote und Patchouli und Sandelholz in der Basisnote. Voilà, schon kann ich eine große Schar von Männern und Frauen begeistern. Wenn ich in ihre Duftzentren im Gehirn vorgedrungen bin, kann ich allerhand bewirken. Ich setze Emotionen frei, kann Erinnerungen wecken und sogar das Verhalten beeinflussen.
Ich habe eine unbändige Macht, schleiche still und heimlich überall hin, weil ich unsichtbar bin. Ich kann Streit entfachen und Liebe gedeihen lassen, wer kann das schon von sich behaupten. Ich bin unverzichtbar, weil ich Illusionen entstehen lasse und die Fantasie beflügeln kann.