LEBBEN IN DER SCHLEIFE
Vorvorgestern
Ja ich bin sicher, es war der Tag, an dem ich morgens mein gewohntes Weckerklingeln vermisste. An diesem Tag verspürte ich es das erste Mal. Ein mir bis zu diesem
Zeitpunkt noch nie bewusst erlebtes Spannungsgefühl durchströmte mein linkes Augenlid, just in dem Moment, als sich das Tor zu diesem neuen Tag in mir öffnete.
Ich werde wach und sehe in meine Umgebung hinein. Wundernd über eine sehr zweifelhafte Umfeldwahrnehmung, die mit einer wirklichkeitsfremden Distanzperspektive aufwartete, erklärte mein Unterbewusstsein sofort, dass ich mich in einem Traum befinde.
Nein. Es ist Realität. Ich träume jetzt im Traum, dass ich träume, ich bin wach geworden.
Aha, denke ich für diesen Moment. Das gibt mir eine beruhigende Gewissheit. Doch es ist innerlich kein bedrohungsflüchtendes Gefühl. Alles ist so untraumhaft, als wäre ich wach.
Wieso sehe ich das Zimmer mit seinen Objekten, alle wie immer am gleichen Standort? Aber nicht abschätzbaren Distanzen zwischen den sich meinen Augen, hinter und nebeneinander, auf Abstand platzierten Gegenständen. Diese Wahrnehmung fühlt sich an, wie es für einen Einäugigen, als normales, tagtägliches Sehmuster erfahrbar ist.
Leben in der Schleife
Wir kennen den Satz: ‚Ich sah mein Leben wie in einem Film vor meinem inneren Auge projiziert‘. Solch ein subjektives Hirnkino startet, um traktierend, meine Gedankenstrukturen in panikartige, nanosekündliche Fraktalflashs zu zerlegen. Angst. Horror. Bilder von phantastischen Ungeheuern, wie aus bekannten Endzeitfilmen. Wechselweise mit bunten, grausigen Illustrationen, wie aus alten Märchenbüchern, übertrumpfen sich gegenseitig, Rampensäuen gleich, ihre intensiven hirnrissigen Bühnenshoweffekte, in mein Sehorgan, zu schleudern.
Was ist das? Was war das? Erschreckend, wie bewusst und intensiv ich meine eigene Existenz, erfahre. Ja es ist ein Traum. Diesen Gedankenfetzen denke und realisiere ich blitzschnell zwischen dem Bombardement, einer intensiv wechselnden Formenflut und den sich aus allen Gedankenritzen, raumnehmenden Farbtsunamis.
Jetzt, verschwunden. Leere. Nichts. Gar nichts mehr. Aber ich lebe doch. Ich sehe nur Schwarz. Sehe ich? Gedanken an plötzliche Blindheit oder tiefschwarze Nacht, nehmen ohne Zeitgefühl einer Schnelle oder Langsamkeit, Besitz von meiner Gedankenwelt. Ich kann mich konzentrieren und erinnernd an einen Gedanken, vor diesem Gedanken,
erinnern.
Zweifel kommen auf. Träume ich immer noch? Habe ich je geträumt? Ist das der Übergang zum Tode? Meines Eigenen? Sehe ich nur Bilderwelten von diesem Tunnel zum
Jenseitigen, der oft charakterisiert, von Nahtotprobanden. Jetzt bin ich sicher, ich bin wach. Alles ist Realität. Ich träume in diesem Moment ohne Sehreize ein schwarzes
Schwarz. Aber mit Traumgedanken im Traum. Genau, das muss es sein. Zum ersten Mal fühle ich mit einer physischen Schwere meinen rechten Arm. Er bewegt sich. Nicht frei locker sondern mattig und schlurfend, über einen Teil, meines linken Oberkörpers.
In der Bewegung innehaltend, jetzt, als die Handaußenseite, die Stelle der Kuhle von Daumen und Zeigefinger, von der Kinnunterseite an dem weiteren Bewegungsfluss gehindert wird, entsteht ein Gefühl der Ohnmacht. Ähnlich des Trudeln, in einem aus Schatten bestehenden Sturm. Noch immer nichts sehend, stecke ich inmitten dieses lichtlosen Desasters.
Quälend in der Bewegung, wie grapschend nach einem letzten Rettungsanker suchend, spüre ich, wie meine rechte Handinnenseite, Richtung linke Stirn, auf meiner Gesichtshälfte weiter wandert.
Immer noch in dem grenzenlosen, tiefen unendlichen Dunkel, bin ich gefangen und es umhüllt meine Sinne. Schwankend zwischen wirklichem Traum und traumhafter Wirklichkeit. Noch nicht begreifend, die zustandslose physikalische Gegenwart des Geistes und die vergeistigte Körperlichkeit der Gedanken. Urplötzlich, mit den Nervensensoren der Fingerkuppen tastend, erfühle ich ein Etwas auf meinem Gesicht, dort wo mein linkes Auge seinen Funktionsbereich haben müsste.
An diesem Auge. Jetzt. Ein eigenartiges, nie vorher verspürtes Spannungsgefühl, versetzt mir ein Déjà-vu. Ist es Fantasie oder tatsächlich ein Gefühl von schon Erlebtem. Verdammt noch mal. Ich denke den Satz, “Verdammt noch mal“. Wieder kann ich Gedanken in meinen Gedanken denken. In meinen Gedanken? Also bin ich wach. Nicht träumend. Wieso aber spüre ich im Wachzustand nichts von der Schwere meines, wo und wie auch immer, liegenden oder stehenden Körpers. Warum und wieso diese Schwärze.
Die Finger tasten an meinem linken Auge. Was ist das für ein Ding? Wie eine technische Apparatur? Fühlend realisiert mein Hintergrundgedächtnis, das es vergleichbar in Form und Größe eines halben Hühnereis, ist. Mit kleinen und kleinsten Unebenheiten auf der Oberfläche.
Mehr aus einer technischen Gewohnheit, alle Tasten ähnelnde Gebilde zu nutzen, drücke ich mit dem Finger auf eine Stelle, die meinen Merkel-Zellen wohl den sensorischen
Standardbefehl, zum Aktivieren gibt. Ich drücke. Ich schaltete einen Schalter. Langsam, ganz langsam weicht die Schwärze der Umgebung. Ein kleiner, unscharf gerandeter, zart grau amorpher Fleck, wechselt zu einem immer heller und klarer, fleischfarben, höhlenartigen Gang.
Ich ertappe mich bei einem Schmunzeln. Ja richtig, ich schmunzele in mich hinein, bei der grotesken Vorstellung, dass diese Höhle, in die ich jetzt blicke, eine Ähnlichkeit mit der Bildaufnahme einer Koloskopie, zeigt. Mein Schmunzeln steigert sich stetig. Mit geschlossenen Lippen, den pulsierenden Atem prustend und ausschließlich durch die Nasenöffnungen entweichen zu lassen, zeigt sich meine Umgebung, mehr und mehr vergleichbar, die eines Kolons, in dem ich mich befinde.
Und wieder frisst sich ein Gedanke, mit den schon vordem gestellten Fragen, zweifelnd und ohne eine Einhundert prozentige Sicherheit auf eine Antwort, wie ein archaischer Oktopus, in mein, von Unsicherheit und Wissbegierde, überschäumenden, schläfrigen Gedankenapparat. Bin ich wirklich wach? Ist das die Realität? Die objektive reale Realität? Alle gedachten Fragen und Antworten haben nur ein Ergebnis. Ich weiß es nicht.
Das visuelle Horrorspektakel verblasst langsam. Wenn ich etwas nicht weiß, so sinniere ich, so muss doch gleichzeitig etwas Wissendes in mir sein. Ich muss wissen das ich lebe.
Ich lebe, bilde ich mir ein. Folglich ist alles was geschieht, in diesen und den vorangegangenen Szenarien, objektive Realität. Diese verwirrende Reise in philosophische Strukturen, verliert sich rasch in fokuslose, wabernde Nebel. Da ist wieder die Realität. Genau wie in einem gut geschnittenen Film, erfühle ich die übergangslose Fortsetzung der Höhlenwanderung, meiner Augen.
Bisher hatte ich nur meinen rechten Arm mit Hand und Finger, als physisches Anhängsel meiner Selbst verspürt. Doch wo ist das Existenzielle, das willentlich Steuerbare, meines kompletten Körpers? Ich muss mir beweisen das ich lebe. Ich muss mich bewegen. Ich muss mich in der Bewegung selbst erfahren.
Immer noch die Textur einer Kolon ähnlichen Innenwandung vor Augen, verspüre ich, trotz extensiver Anstrengung meines willentlich forcierten Geistes, keinerlei physische Daseinsform meines Körpers. Man kann es nicht simpel mit Worten, als das ich nichts fühle, formulieren. Ich fühle absolut nichts. Gar nichts. Null. Es ist die Leere des Nichts.
Finger, Hand und Arm, rechtsseitig, scheinen die einzig interaktiven Teile meines Körpers zu sein. Willentlich beginnt die Hand eine krampfende Bewegung. Stark greifend, weiterhin dieses fühlbar Vorhandene, am Auge ertastete Etwas umklammernd, verfolge ich, wie sich der gesamte Arm einer Elevation bemächtigt.
Während der Armerhebung, verändert sich meine visuelle Umgebung. Diese Höhle vor mir verlängert sich. Rückwärtsgehend, verlasse ich diese Umgebung. Bisher hatte ich keinerlei akustische Wahrnehmungen empfunden. Totale Stille. So verliere ich mich in den wechselnden, bildbildenden, surrealistischen Umgebungsstrukturen, meines rückwärts gewendeten Ganges. In diesem eigenwilligen Szenarium entfleucht das Interesse, nach Hörwelten zu suchen. Das Visuelle ist sich seiner Dominanz bewusst.
Meine raumwechselnde Reise in diesem unterirdischen Höhlensystem vermittelt Distanz vergrößernd, eine trügerische Ruhe. Ein großer, mit allerlei, nicht definierbaren, bruchartigen und auch gleichzeitig kantenlosen, mit graubrauner Soße angefüllter Höhlendom, verwandelt mein Gemüt, in einen beunruhigenden Zustand.
In diesem Moment, verspüre ich wieder bewusst, die Bewegungsmechanismen der funktionalen Armextremität. Meine Hand entfernt sich weiter vom Gesicht. Eine winzige Idee, bemächtigt sich meiner Gedanken. Ist das die Lösung? Die Lösung meines Zwiespaltes? Ist das die Antwort, dass nur das Denken des Gedachten sich als Traum.
. . . Oh mannoman . . .
Ich werde überrannt von neuen Bildfolgen der inneren Kamera. Jetzt purzeln und überschlagen sich die Wahrnehmungen in beängstigenden, alptraumgleichen Weltansichten. Die Summe der gesamten Weltphantasie, aller Phantasten, könnte kein Bildmaterial liefern, wie es sich mir in diesem Moment, als Ouvertüre präsentiert. Ich sehe, ich empfinde, ich denke alles zugleich, in rasendem Tempo. Die Welt geht unter. Es ist schlimmer. Der reale Weltexodus, so uns Fachleute für die ferne Zukunft prognostizieren, wird vergleichbar, dem eines romantischen Sonnenuntergangs. Schneller und schneller, mich weiterhin rückwärts bewegend, entfernt sich im mittigen Sehfeld verengend, der Höhlengang. Jetzt der Wahnsinn. Die Hölle des grauenvollsten Grauens lebt. Existiert tatsächlich. Kein Gedanke mehr an Zweifel. Alles ist Realität. Alle früheren Überlegungen ans Träumen werfe ich über den Haufen. Ich sehe die ungeschönte Wahrheit.
Eine kleine Videokamera, die ich in der Hand haltend, aus meinem Körper, aus der linken Augenöffnung ziehe, vermittelte mir dieses höhlenartige Erlebnis im Inneren meines Körpers.
Mehr krampfhaftes Fuchteln, als eine professionelle dokumentarische Kameraführung, zeigt mir mit zittrigen Bildern das Ausmaß der Katastrophe. Ich sehe jetzt den Grund meiner Unvollkommenheit, die Welt nur Eindimensional zu erfahren. Ich sehe ausschließlich ohne Augen, nur mit diesem elektronischen Hilfsmittel.
Dort wo die Platzierung des rechten Auges zu vermuten ist, befindet sich ein ekelig unappetitliches, verfranstes, dunkles, bodenloses Loch. Wie eine abscheulich erblühende Missgeburt des Bösen, gebiert sich windend, ein krummer rostiger Nagel, meinen Kopf auf einer nicht definierbaren Unterlage zu festigen.
Jetzt, im Wissen um alle Realität, entflüchted mir jegliches Gefühl. Keine Angst mehr. Kein Verlangen nach Hintergrundwissen. Keine Erinnerung mehr. Ich drifte weg, einfach weg.
„Herr Wortranken. Hallo Herr Wortranken. Hallo. Aufwachen. Sie haben alles gut überstanden. Meine Assistentin wird ihnen beim Aufstehen helfen. Machen sie langsam …“
Zuerst sammele ich meine Gedanken, um mir mittels mehrerer intensiv befreiender Tiefatmungen, meine Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Mit der restlichen Kraft meines Atemorgans puste ich den gerade durchlebten Alptraum, aus Hirn und Gliedern, endgültig fort und höre mit wohliger Labsal das Strömungsgeräusch von meinem Odem. Ich lasse mich gehen. - Ich lasse mich fallen.
Wie umschlungen von den Armen der Liebsten, genieße ich jetzt das intensiv lechzende Empfinden, in einer Streichelorgie einer beschützenden, orgiastischen Umklammerung aufgenommen zu werden. Einem Wachtraum gleich, erlebe ich zarte Geräusche und Bilder, eines wunderschönen Bachlaufs, wie auf einer von Frühlingsfarben durchfluteten Waldlichtung. Ich blinzele mit meinen Augen, genau, wie ein Maler seine Vorlage anschaut, um differenzierte Kontraste zu erkennen.
Aus einem Dunstschleier, schärfer werdend, sehe ich eine wunderschöne Tropfenorgie um mich herum. Langsam beginnen meine Hörmuscheln unterscheidbare Klangfolgen, zu registrieren. Ungezwungen lauschend, genieße ich meine Umgebung.
Mächtig gurgeln die Größeren. Quirliges, an Glasharfen erinnernde, wie Engelshaar auf die Erde fallende Intervalle, entspringen den Kehlen der kleineren Spritzfontänen. Hier zwängen sich mehrere tollpatschige Wassergebilde, schlurfend und auch glockenhell spritzend, zwischen zwei Felsstückchen hindurch, während gleichzeitig Andere eine Steinbarriere überwinden. Dumpf brummend und siegessicher im Anlauf vor dem Hindernis, händehaltend das Wagnis zu bestehen, vereinzeln sie sich im Zenit des Sprunges und der zuvor basslastige Grundton wechselt über
in eine spritzige plitsch-platsch Melodie.
Über all diesen individuellen Äußerungen der Einzelnen liegt machtvoll, aber nicht aufdringlich, eine beruhigende samtartige Weise.
Ein wortloser Gedanke seufzt in meinem Innersten und ich empfinde mit einer Spur von zarter Traurigkeit, eine kleine Sehnsucht nach Wärme.
Trotz meiner sprunghaften Stimmungswechsel, stellt sich ein verwöhnendes Erleben, wie Urlaub in einem verklärten Südseeparadies ein, als just in diesem Moment, ein schon mehrfach, bewusst erlebtes Spannungsgefühl, an meinem linken Augenlid, mir die Grausamkeit des Daseins, in mein Hirn presst.
Ich werde wach. Ich sehe in meine Umgebung hinein.
Einem Filmabspann gleich, sehe ich, erst etwas unscharf, aber dennoch mit einiger Konzentration lesbar und immer klarer werdend, eine Buchstabenansammlung. Satzbildende Wortzeilen huschen, von einem nicht wirklich erkennbaren Begrenzungsrand, züngelnd über einen Monitor. Jetzt visualisiere ich klar und unmissverständlich vor Augen den fein strukturierten Screenshot.
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Sie sahen aus der Reihe
LEBEN IN DER SCHLEIFE
ein Beitrag von HerrWortranken
Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters
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Je länger ich mich nun auf diese Information konzentriere, je klarer verspüre ich ein rhythmisches, zartes Zucken, meines linken Augenlides.
Ich werde wach. Ich sehe in meine Umgebung hinein. Ein mir bis zu diesem Zeitpunkt noch nie bewusst erlebtes Spannungsgefühl durchströmt mein linkes Augenlid.
Ich werde wach.
Werde ich wach . . .
© by HerrWortranken