Unter Erdlingen
„Dein Sprachtest war erfolgreich. Die Applikation für deinen Menschenanzug ist fertig. Er sitzt gut. Deine Antennenhörner sind in den Haaren versteckt. Schau in den Spiegel, sieh deine gebräunte Haut, deine schwarze Mähne. Damit wirst du nicht auffallen. Sie werden dich als einen der ihren halten. Wenn du raus gehst, musst du erst einmal beobachten und nicht auf erst beste Begegnung eingehen. Dich herantasten, das sie nicht merken, dass du vom anderen Stern kommst“, sagt ﴾﴿ 18.9.19.5.21.18.
Ausblenden muss ich, dass ich anders ticke wie die Erdbewohner. Wie abenteuerlich. Ich bin gewarnt. Viele Erdlinge benutzen nicht ihre Beine, sondern sitzen in rollenden Kästen, die sie Auto, manchmal Automobil heißen. Man soll mich vor ihnen in acht nehmen und mich an die weißen Streifen in den Straßen zu halten. Sie sind nach schwarz-weiß gestreiften Vierbeinern benannt, die sie Zebra nennen. Die Tiere hält man gefangen. Ihr Gefängnis heißt Zoo. Nach ihrer Fellzeichnung werden die Überwege Zebrastreifen genannt.
Die rollenden Kästen sind mit Tempo unterwegs und folgen festen Bahnen, die sie Straßen nennen. Laut sind sie. Viele stinken. Es gibt auch Karossen, die fast lautlos sind und nicht riechen, so benannte E-Autos. Aber am Zebrastreifen halten sie an und lassen Leute passieren, solange eine rote Lampe leuchtet.
Solche Ampeln wechseln dann ins gelb und werden grün. Alle gehen los, von zwei Seiten aufeinander zu, ohne Zusammenstoß. In den Lampenscheiben sind kleine Figuren eingelassen, mal eine mit Hosen, wie ich sie trage, mal mit einem Rock. Auch gibt es Dreiergruppen mit Hosenmann, Rockfrau und Kind.
Hoppla, aufpassen an der Spur, wo die Erdlinge auf zwei Rädern daher balancieren und mit einer Tretkurbel über Zahnrädern eine Kette bewegen und schnell ankommen. Auf dem Radweg unterscheiden sich die Fahrradbilder. Die Zeichnung mit einer Stange in der Mitte und einmal ohne ist ihnen wichtig, nach Damen- und Herrenrädern zu differenzieren. Aber fahren dürfen beide auf dem gleichen Weg.
An der nächsten Ampel komme ich neben einer rothaarigen Erdlinging zum Stehen. Sie lächelt mich an. Ihre strahlenden Augen fesseln. Sie hat merkwürdig rote Lippen. Ich traue mich nicht, zu reagieren. Doch folge ich dem Rotschopf mit Abstand. Meine visierte Erdlinging tritt vor eine Glastür und öffnet sie. Ein Klingelton Ding-Dong ertönt.
Ich bleibe draußen vor dem Schaufenster mit den Frisuren stehen und schaue auf lauter Haarschöpfe, die künstliche Köpfe schmücken. Mal sind die Haare kurz bubihaft, mal lang und strähnig oder lockig, in schwarz oder braun, blond oder rot.
Durch die Scheibe sehe ich, wie die Eingetretene plötzlich ihre roten Haare vom Kopf zieht. Hervor kommt ein kahler, bleicher Schädel. Sieht fast aus, wie bei Verwandten von mir. Nur hat sie keine Empfangshörner. Mit Haartracht gefällt sie mir besser.
Die Frau im Laden bringt einen neuen Haarschopf in dunkelbrauner Farbe und hüllt den frei gewordenen Kahlschädel neu ein. Jetzt dreht die Frau ihren Kopf vor dem Spiegel und erhält einen zweiten Spiegel gereicht, um sich von hinten zubetrachten. Sie lächelt sich an. Wie sie den Zweitspiegel zur Seite legt, sagt sie etwas und reicht eine Zahlkarte rüber, so eine wie ich eine bekommen habe. Sie tippt eine PIN, wie man es mir auch gesagt hat und aus einem kleinen Gerät schiebt sich ein Zettel, den die Frau einsteckt.
Die roten Haare werden ein eine Plastiktüte gesteckt. Von der Tatsache, sich Haare zu tauschen, hat mir vorher niemand berichtet. Geschweige denn, dass Erdlinge Haarmützen tragen. Wie sich so ihr Anblick wandelt.
Die Verwandelte kommt mit einem Ding-Dong wieder heraus. Ich trete zurück und warte, wohin sie sich begibt. Ich entdecke eine Inschrift über dem Fenster: „Perücken“.
Ein Stück weiter bleibe an einem Schaufenster hängen. Ich sehe Frauen hinter der Scheibe, die sich ihre Kopfbedeckung behandeln lassen. Keine von ihnen zeigt einen Kahlkopf. Eine Blondine zieht meine Blicke an. Ihre Haare werden mit einer Bürste glattgestrichen und zugleich in einem Luftstrom bewegt. Der Kopf wirkt mächtiger. Wie sie das so geduldig aushält. Die Behandlerin trägt in der Nase einen Ring. Ihre Arme sind filigran gemustert. Auch am Ohr glänzt es.
Auf der andern Raumseite sitzen ein paar Gestalten in bequemen Sesseln und haben ihren Kopf in runden Korbhauben stecken. Sie halten Papier in ihren Händen. Sie schauen Bilder an und lesen. Verstecken sie hier ihre Kahlköpf?
Eine Erdlingin kommt heraus. Eine süßliche Duftwolke, kräftig und lockend, umschwebt sie. Die Haarfrisur sitzt wie angeklebt. Auf dem Außenschild steht „Damenfriseur“.
Was für ein Duft, so intensiv und süß, wie er ström. Im Dunkeln würde ich die Spur halten können. Ach, da ist schon wieder so ein Erdling mit so einen Stengel im Mund, den er zum Glimmen bringt. Gleich stößt er weißen Rauch aus, der scharf riecht, den vorherigen Duft ablöst. In seinen Ohren stecken kurze Stangen. Er spricht in die Luft.
Der Mundstengel ist kurz geworden. Da wird er weggeschnippt. Aus einer kleinen Schachtel nimmt er sich einen neuen. Die Behältnis fliegt auf den Gehweg. Darauf lese ich: „Rauchen kann tödlich sein.“ Ich sollte mich von diesem Duftmacher fernhalten. Er zieht ein Teil aus der Tasche und macht damit Feuer. Der Stengel beginnt zu qualmen. Unerwartet biegt er ab. Dieser unangenehme Geruch verfliegt und ich überlebe. Ich nehme den blumigen Duft von vorhin wahr.
Die Frau steuert auf Reihen von Korbwagen zu. Und dann seh ich sie, die mich anlächelte und sich so verwandelte. Ihre Tüte mit der Perücke hängt sie gerade an so einen Wagen´, schiebt ihn durch eine breite Tür, die sich automatisch öffnet. Soll ich folgen, ohne Wagen?
Sie bleibt beim Grünzeug stehen und greift Blätter und runde Früchte, legt sie in den Korb. Was holt sie jetzt aus der Tasche? Ein Gestell mit zwei Gläsern und Bügeln, setzt es vor die Augen. Sie nennen es eine Brille. Von Regalen nimmt sie Verpacktes, starrt darauf und liest, sammelt und sammelt Teile in ihren Korbwagen. Es sind Dinge zum Essen.
Oh, sie nähert sich einer Sperre, wo sich Körbe stauen. Die Sachen werden von dort auf ein Band gelegt, dass sich zur Kasse bewegt. Jedes Teil wird in die Hand genommen und über ein rotes Licht gezogen. Dann piept es. Der ewig gleiche Ton nervt. Das mit den Karten kenne ich. Aber die eine Person neben der Kassiererin zieht einen Beutel hervor und entnimmt ihm buntes Papier und kleine runde Scheiben. Bezahlen nennen sie das. Die Kasse klingelt und zeigt Ziffern an. Am Ende wird etwas zurückgeben.
Was jetzt? Ich habe weder einen Korb noch etwas genommen. Bezahlen könnte ich mit der Karte. Plötzlich werde ich angestoßen und ein Erdling drängelt sich an mir und der Kasse vorbei. Nichts wie hinterher, denke ich. Er tritt durch die sich automatisch öffnende Tür hinaus. Wie ich dort ankomme, setzt ein grell pfeifendes Signal ein. Ich erschrecke, höre eine Stimme laut rufen: „Halt, stehen bleiben“.
Gilt das mir? Warum? Ich beame mich schnell weg. Sie dürfen mich nicht in ihre Fänge bekommen. Mir ist eingeschärft worden, ja keinen Anlass zu geben, dass sie mich greifen.
Jemand ruft: „Haben sie das gesehen“.
„Was?“
„Nein, ein Kerl der einfach davon saust.“
Es tu mir leid, ich habe nur den Alarm gehört.“
„He, ﴾﴿ 18.9.19.5.21.18. , melde mich von meinem Ausflug zurück“.
„Ich sah, dich kommen, habe dich am Monitor begleitet. Was war das am Schluss, als du flohst?“
„Es wurde so laut und Leute waren aufgebracht“.
„Ah, es sieht so aus, die Applikation weist Mängel auf. Sie reagiert auf bestimmte Strahlung. Die Erdlinge haben offenbar schon mehr Wissen, als es uns bekannt ist. Gut, dass das aufgedeckt wurde. Das muss nachgebessert werden. Wie war sonst dein Ausflug?“
„Alles sehr merkwürdig. Wusstest du, dass manche ihre Haare als Perücke tragen und sie auswechseln können, weil sie darunter einen Kahlkopf verstecken? Jetzt so, nachher so. Dann kann man dieselbe Person nicht mehr so einfach erkennen.
Mein Abenteuer war energieverzehrend. Ich will aufladen, um für den nächsten Ausflug wieder fit zu sein.“
„Speichere dich voll. Aufgeladen kannst du dich zu Neuem aufmachen. Später musst du ausführlich uns über deine Beobachtungen und Erlebnisse berichten. Wir müssen die Verhaltensmuster der Erdlinge kennen lernen. Deine Ausflugsdaten sind in der Box gespeichert.
„Die studiere ich nach dem Aufladen intensiv.“
© Willi Volk