Rettung
Ich betrete ein Restaurant, sitze am Tisch, bestelle ein Glas Wasser. Unterhalte mich mit der jungen Frau, sehe ihr nach, höre das Quietschen der Reifen, den Aufprall. Stehe vor ihrem toten Körper. Ich betrete das Restaurant, sehe sie vor mir am Tisch, stehe vor dem Restaurant, zögere.
“Versuche es”, sagt meine Mentorin. Ich sitze am Tisch, bestelle das Wasser. Die junge Frau fragt, ob noch ein Platz frei ist. Stellt ihren orangen Rucksack ab, setzt sich, ich stehe vor ihrem Leichnam. Ich muss es verhindern und betrete das Restaurant.
“Sie erinnern sich an die Zukunft?”, fragt sie und lächelt. Ein ungläubiges Lächeln, dennoch amüsiert.
“In etwa”, antworte ich. Greife zu meinem Glas, sehe meine schlanken Finger. Seltsam filigran diese Menschen. Waren sie. Sind sie.
“Wie funktioniert das?”, will sie wissen.
Ich überlege einen Augenblick, muss sie davon abhalten, aufzustehen und zu gehen. “Stellen Sie sich zwei Bilder vor. Mein Glas Wasser auf dem Tisch. Und mein Glas Wasser auf dem Boden, ausgelaufen und zerbrochen. Welches Bild ist das erste Bild, welches das zweite?"
Sie zögert. “Bevor sie ihr Glas Wasser absichtlich ausschütten, geben Sie es mir. Ich verdurste, die Bedienung hier ist lausig.”
“Welches ist das erste, welches das zweite Bild?”, wiederhole ich und hoffe, dass sie versteht. Oder wenigstens lange genug zuhört. Sie verlässt das Restaurant, das Auto bremst, erfasst sie. Sie betritt das Restaurant, setzt sich zu mir. Stellt ihren orangen Rucksack ab. Ich sperre die Bilder aus, konzentriere mich auf einen Zeitpunkt. Jetzt. Sie sitzt vor mir.
“Das Wasser auf dem Tisch muss das erste Bild sein. Das Glas kann nur auf dem Boden zerbrechen, wenn es vorher auf dem Tisch gestanden hat.” Sie klingt ungeduldig, das ist schlecht.
“Für euch Menschen gibt es eine Zeitrichtung“, sage ich. “Das eine folgt dem anderen.”
“Kausalität”, sagt sie. Sie ist intelligent, intelligenter als die meisten ihrer Spezies. Deshalb will ich sie retten.
“Kausalität ist zwangsläufig”, sage ich. “Zeitrichtungen sind es nicht. Für mich und meine Art gibt es keine. Das Glas liegt zerbrochen am Boden und steht auf dem Tisch. Für mich gibt es keinen Unterschied.”
“Das”, sagt sie langsam, doch sie beendet den Satz nicht. Der Kellner kommt zu unserem Tisch, stolpert, stößt das Glas an. Ich fange es nicht auf, es fällt hinunter. Zerbricht, das Wasser spritzt auf den Boden.
Der Kellner entschuldigt sich, selbst für meine Wahrnehmung ungelenk. Die junge Frau blickt erst ungläubig drein, dann verärgert.
“Das ist ein Trick. Oder Zufall.” Sie sieht sich um. Der ungeschickte Kellner ist verschwunden. Es wird zehn Minuten dauern, bis er zurückkommt. Zu einem leeren Tisch. Sie greift nach ihrem orangen Rucksack. “Sieht nicht so aus als würde ich hier bedient. Es war”, sie zögert, sucht nach höflichen Worten, “interessant mit ihnen zu plaudern.” Dann steht sie auf und will gehen.
“Vor dem Restaurant wird ein Metallgefährt die roten Lichter übersehen und Sie töten.” Ich bin gleichfalls aufgestanden, will sie festhalten, kriege sie nicht zu fassen. Die Maske fällt, sie hat Angst, Angst vor mir, stürmt hinaus. Ich höre das Quietschen der Reifen, den Aufprall. Stehe vor ihrem toten Körper, der orange Rucksack liegt daneben.
“Versuche es”, sagt meine Mentorin neben mir. Wir stehen vor dem Restaurant.
“Ich scheitere. Das verstehe ich nicht. Ich sage ihr, was geschehen wird. Trotzdem geht sie.”
Meine Mentorin nickt. Sie ist schon lange unter den Menschen, hat ihre Eigenarten studiert.
“Sie lassen sich nicht retten”, sagt sie. “Nicht vor ihrem eigenen Untergang.”
Wir stehen am Rand der Unfallstelle. “Ich werde es trotzdem versuchen.” Sage ich, gehe ins Restaurant, setze mich an den Tisch und bestelle ein Glas Wasser.