Der Wettlauf beginnt
Die Nacht kennt keine Schatten. Wenn die Dunkelheit alles bedeckt, umhüllt und verschwinden lässt, dann heißt es Abschied nehmen. Immer dann, wenn das letzte Licht verloschen ist, dann bricht sie an, die unheimliche Zeit. So auch jetzt, wieder einmal.
Mein Blick fällt auf das offenstehende Fenster und das Flattern der Gardine im Wind. Mutter ist noch nicht zurück, um das Fenster wieder zu schließen. Wie soll ich da einschlafen können. Niemals. Ich wage es nicht mich zu bewegen, habe meine Bettdecke bis zur Nasenspitze hochgezogen. Mein Atem geht flach und schnell.
Am Nachmittag haben sie es auf allen Kanälen gebracht. Jeder Radiosender berichtete darüber, und noch immer liegen mir die Worte des Sprechers in meinen Ohren.
Wie die Polizei von Skywalk County heute berichtete, kam es in der vergangenen Nacht zu mehreren Sichtungen von Unbekannten Flug Objekten, sogenannten UFOs. Mehrere Augenzeugen seien Beobachter von etwas Unerklärlichem gewesen, wie Deputy Miller uns in einem Interview mitteilte. Angeblich gebe es Vermisste. Wir halten sie natürlich auf dem Laufenden … Jetzt spielen wir erst einmal Werbung.
Mutter kommt nicht. Vorsichtig nehme ich meine Armbanduhr vom Nachttisch. Sie hätte schon längst wieder zurück sein müssen, um das Fenster zu schließen und mir einen Gute Nacht Kuss zu geben. Eine halbe Stunde ist vergangen, seit sie das Zimmer verlassen hat. Ich frage mich, ob ich aufstehen und nachsehen soll. Ich habe Angst. Was, wenn sie verschwunden ist? So wie die anderen.
“Er muss oben sein!”, höre ich plötzlich wie aus dem Nichts eine Männerstimme von unten. Schritte poltern die Treppenstufen hoch. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. In Gedanken rufe ich laut ihren Namen, doch sie kommt nicht. Wie auch? Wie gelähmt liege ich auf meinem Bett und wage es kaum zu atmen.
“Geh weiter hoch, ich nehme die Räume hier. Er muss irgendwo stecken. Los!”
“Warte, gib mir auch eine Spritze … Ich werde den Bengel schon erwischen.”
“Hier, nimm. Aber ramm dir das Zeug nicht schon wieder versehentlich selbst ins Bein. Ich hab keine Lust dich wieder zu tragen, hörst du?”
“Geht klar. Adrian? Adrian, mein Lieber, wo steckst du? Nah komm schon zu uns. Wir werden dir auch nicht weh tun.”
Ich erinnere mich an Dads Worte. Er sagte sie jeden Abend zu mir, bis er … er von seinem Einsatz nicht mehr zurück kam. Wenn es um dich herum finster wird, dann entzünde ein Licht in dir. Ich reiße die Bettdecke zur Seite und springe aus meinem Bett, rüber zum Stuhl. In Windeseile zwänge ich mich in meine Jeans, ziehe den Pullover über und springe in meine Schuhe.
“Adrian, wir kommen jetzt zu dir. Möchtest du nicht deinen Dad wiedersehen? Na, was denkst du, Adrian?”
Ich habe keine Ahnung was hier vor sich geht, wer diese Männer sind und was sie wollen. Alles, was ich weiß, ist, dass ich schnellstens weg muss. Das Fenster. Ich spüre, wie das Licht meines Dads in mir brennt, mir Kraft gibt. Alles andere zählt jetzt nicht. Wenn ich jetzt hier nicht rauskomme, dann würde ich Mutter nie wieder sehen. Alles andere wage ich nicht zu denken. Ich schiebe das Fenster hoch und klettere hinaus in die kalte Nacht.
Das Haus der Shattners liegt zweihundert Meter von dem unseren entfernt. Bis hierher höre ich das Bellen von Chep, dem Husky Rüden. Ich habe keine Zeit mir Gedanken darum zu machen, warum er ausgerechnet jetzt bellt. Ich muss weiter, klettere weiter nach links, Richtung Garagendach. Von dort würde ich leicht herunterspringen können. Über das Feld wäre es mir möglich in fünf Minuten Chep und die Shattners zu erreichen.
Als ich das Garagendach erreiche, durchbricht das fahle Mondlicht die Wolkendecke und macht die Sicht auf die Einfahrt frei.
“Nein! Nein … bitte nicht! Mutter! Oh Gott, Mutter …" schreie ich voller Entsetzen auf. Tränen schießen mir in die Augen. Mein Kopf droht zu zerspringen und mein Herz pocht wie verrückt. Nur wenige Meter vor dem Garagentor liegt sie regungslos am Boden. Ist sie tot?
“Er ist draußen, Joe. Der verdammte Bengel ist draußen!”, höre ich zeitgleich einen der beiden Männer aus meinem Kinderzimmer rufen.
“Warte, ich gehe runter und schneide ihm den Weg ab!”
Panisch springe ich vom Garagendach hinunter und lande knapp neben meiner Mutter, auf allen Vieren. Meine Hände fühlen sich an, als hätte ich sie in Öl getaucht. Sie sind schmierig, wie mit einem Gel überzogen. Es ist Blut. Das Blut meiner Mutter. Der Boden ist voll davon und in ihrem Schädel klafft ein großes Loch. Leblos liegt sie da. Sie ist tot.
Ich wage es nicht zu schreien. Instinktiv laufe ich los. Dads Licht ist immer noch in mir, ich spüre es. Ich muss es bis zu den Shattners schaffen. Chep, mein Junge, ich komme. Hörst du, ich komme. Gleich bin ich in Sicherheit. Als ich links Richtung Veranda abbiege rammt mich ein Körper und reißt mich zu Boden. Wir liegen beide am Boden und er hält mich am Hosenbein fest. Ich wirbele herum und trete so fest zu, wie ich nur kann. Wild schreiend fast er sich in die Magengrube und krümmt sich vor Schmerz.
“Warte, du Kröte. Wenn ich dich kriege, dann lege ich dich persönlich neben deine tote Mutter.”
Er lacht laut auf, doch das Lachen erstickt in einem schmerzerfüllten Krächzen. Er torkelt leicht, fasst sich immer wieder an den Bauch, spuckt und schreit erneut auf.
Ich drehe mich um und laufe so schnell ich kann. Zwanzig Meter … fünfzig Meter habe ich schon geschafft. Ich komme den Shattners immer näher. Nochmals drehe ich mich um und sehe den zweiten Widersacher aus dem Haus kommen.
“Bleib stehen, du Missgeburt! Hörst du, bleib stehen oder willst du, dass ich dir eine Kugel durch dein Spatzenhirn jage?”
Ich laufe unbeirrt weiter.
“Du hast es nicht anders gewollt!”, höre ich sie beide wie im Kanon rufen. Ich renne.
Plötzlich durchdringt ein gleißendes Licht die Wolkendecke, genau über mir. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, stolpere und gehe zu Boden. Ein Schuss ist das Letzte, das ich höre, dann verliere ich das Bewusstsein und tauche ein in einen seltsamen Traum.
Wie die Polizei von Skywalk County heute berichtete, kam es in der vergangenen Nacht zu mehreren Sichtungen von Unbekannten Flug Objekten, sogenannten UFOs. Mehrere Augenzeugen seien Beobachter von etwas Unerklärlichem gewesen, wie Deputy Miller uns in einem Interview mitteilte. Angeblich gebe es Vermisste. Wir halten sie natürlich auf dem Laufenden …