Seitenwind Woche 10: Parodie

Kurzgeschichte

Es war frühmorgens als Frau K. die ersten Fußstapfen in den Schnee bis zur Busstation trat und es war spätabends als sie im Bett ihre Gedanken zum flüchtig-freundlichen Lächeln von Herrn B. wandern ließ, der jeden Morgen schon im Wartehäuschen saß und sie die Sehnsucht zuließ, dass eines Tages ihre beiden Fußstapfen gemeinsam den morgendlichen Schnee durchfurchen würden.

Ein Nachweihnachtsmärchen

Eine Woche vor Heiligabend zog eine Mitbewohnerin bei mir ein: Frieda, die fröhliche Fichtin.

Da mein Heim recht winzig ist, musste die Dame gewisse Eigenschaften mitbringen. Kleinwüchsig sollte sie sein, nicht zu üppig im ausladenden Geäst und pflegeleicht. Außerdem war ihr Besuchsrecht in meinem Zuhause temporär begrenzt. Höchstens bis Anfang Januar dürfte sie bleiben, meinte ich.
Ich bot ihr einen Platz in meinem Wohnzimmer an und befreite sie aus ihrem Netzkorsett. Mit einem Seufzen räkelte sie sich erst einmal ordentlich. Ab diesem Moment hatten wir eine Beziehung. Sie versprach mir nicht zu nadeln, und ich verwöhnte sie mit einer funkelnden Lichterkette, Glitzerkugeln und viel Lametta.

Kennengelernt hatten wir uns in einer Schonung. Da stand Frieda inmitten ihres immergrünen Familienrudels und reckte sich als Kleinste keck in die Höhe. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Die oder keine sollte es sein. Das Schlagen des schmalen Stammes war eher ein zartes Pflücken des Bäumchens, und in einer festen, liebevollen Umarmung trug ich Frieda glücksbeseelt zum Auto.

„Ach, ist die niedlich!“, lästerten die Männer, die mit schwerem Gerät bewaffnet in der Schonung angerückt waren und nun keuchend und ächzend meterhohe Nadelgeschöpfe - nach dem Motto „Je größer, je lieber.“ - hinter sich herzerrten und auf die Autodächer ihrer SUV wuchteten.
Auf den Ästen von Norbert, der nervösen Nordmanntanne, Kevin, der kessen Kiefer, und der taffen Tanne Tamara lagen zum Feste der Liebe nun die Lasten von opulentem Christbaumschmuck und jeder Menge familiärer Erwartungen. Ihrer aller Ende ist absehbar: „Alle Jahre wieder!“ oder „The same procedere as every year!“ Abgeschminkt und bar jeder Hoffnung lauert auf die stolzen Kreaturen in Bälde ein kurzes frostiges Dasein am Straßenrand oder ein langes Warten auf das Warten des Osterfeuers.

Für Frieda soll es ein Leben nach dem Fest geben. Sie hat bereits Vorschläge gemacht: zu Ostern mit bunten Plastikeiern geschmückt, im Sommer mit Lampions behängt, als Maibaum-Double, Wäschespinne oder als dreidimensionale Pinnwand. Ich könnte sie behäkeln oder bunt ansprühen. Irgendwas mit Kunst, schwebt ihr vor. Dann bewirbt sich Frieda bei „Deutschland sucht den Superstar“, und falls ihr ein steppender Vierbeiner den Sieg vor der Nase wegschnappt und ihr so quasi an den Stamm pinkelt, bleibt noch immer eine Alternative im Rampenlicht: als Ganzjahreslichtkunstobjekt in einem vielbefahrenen Kreisverkehr.

Heldenreise

Elfen schweben
sanftmütig
im düst’ren Wald.
Glöckchen klingeln
engelsgleich
in dornigen Büschen.
Durchdringende Sonnenstrahlen
glitzern
in der Dunkelheit.
Fröhlichkeit erhellt
wärmend
nachtschwarze Schattenrüschen.

Ein Platsch beendet
grauenhaft
die aufkeimende Magie.
Riesenhaft trampeln
Ogerfüße
vernichtende Pfade.
Ein Donnergrollen
verkündet
böswillig den Krieg.
Elfen blicken
verängstigt
zum Machtgehabe.

Zugleich reisen Retter
planlos
in geschmiedete Fallen.
Lassen Schwerter
glänzen
in tosenden Kämpfen.
Fliegende Pfeile
sirren
auf Feindeskrallen.
Ein glückreicher Sieg
gebiert letztlich
den Helden (in Dämpfen).

Unfreiwillig,
die Seherin verschwieg.

Funkelnde Hoffnung
erblüht folglich
in allen Wesen.
Keiner beachtet
das niedergerockte Feld.
Von Neuem beginnend
erklingen
die Glöckchen erlesen.
Ein Cliffhanger
belächelt
den gefeierten Held.
Ende.
Und Autsch.

Unvergesslich
Heute parodiere ich mich, meine Figuren und meine Texte aus Papyrus:Seitenwind

„Los doch! Du musst einfach etwas schreiben!“ Das süße, knuddelige Gesichtchen strahlt zu mir auf, die runden Knopfaugen strahlen, Lichtpunkte schwimmen darin. „Und das erste, was du schreibst, hat mit Essen zu tun!“ Die drolligen Tatzen des Igelchens trommeln auf seinen plüschigen Ranzen. „Ich liiiebe Essen!“ – „Na, und was isst du gleich wieder gern?“, fragt die Zwiebel neben ihm säuerlich. Sie ist rund und glänzt wie eine Christbaumkugel (keine matte Kugel, Hochglanz!) „Hast natürlich vergessen, wie immer.“
„Macht nichts“, tröste ich den zu Tode betrübten Igel gutmütig. „Ich schreibe dir einen Pilz. Das passt immer.“
„Ach ja?“ Lökk nimmt mich aufs Korn, ein Auge zukneifend. „Auch bei einem ersten Satz?“
Betroffen lese ich die zweite Aufgabe. „Ein erster Satz? Da kann ich euer knuffiges Potential ja gar nicht entfalten!“
„Bitte, gib nicht auf!“, jaulen beide los. Der Igel bricht in Tränen aus und die Zwiebel rollt vor Gram hin und her. „Du schaffst es! Auch ohne Pilz!“ Während ich mir flüssiges Mitgefühl aus dem Gesicht reibe, ploppt bereits die nächste Aufgabenstellung auf. Um die Krise nicht weiter zu steigern, lese ich sie schon gar nicht erst vor. „Was tippst du da?“, greint Igelkott. „Du ziehst ein Gesicht! Du hast ein Geheimnis vor uns!“ Seine Nase, gebogen wie Aladins Schuh, vibriert wie eine Autoantenne im Fahrtwind, als er versucht, meinen Text zu erschnüffeln. So wird er nie hinter mein Geheimnis kommen. Aber der Zwieblerich (ja, er ist männlich. Zwiebeln sind nicht gegendert im Deutschen (und ich hoffe, dass es so bleibt!) daher die Zwiebel im Text) kann lesen und drängelt sich gefährlich nahe an den Bildschirm. Ich kann schon fast meine Tippfehler in ihrem spiegelnden Bauch erkennen! Zum Glück findet Igelkott im letzten Moment meine versteckten Pralinen. So muss ich den beiden nicht erklären, dass sie in Text drei gar nicht vorgekommen sind. Für die vierte Aufgabe kann ich sie wieder miteinbeziehen. „Du sag mal, Kotti, wie habt ihr euch nochmal kennen gelernt?“ Zwei schokoladenverschmierte Schnuten – zum Dahinschmelzen – wenden sich mir zu. In der Folge muss ich nur genau aufschreiben, was passiert. Easy. Next. „Einen verlassenen Ort beschreiben“, grüble ich. Lautes Rascheln lässt mich aufsehen. Als Kugel, etwa groß wie zwei Fäuste, stachelig wie die goldigste Esskastanie, thront Igelkott zusammengerollt auf dem goldenen Plastik meiner Bonboniere. Lökk liegt daneben und hält seine Wurzeln in die Luft, damit ich sie ihm kämme. „Du, Lökky?“, teste ich das Eis, „hättet ihr gerne ein Ferienhaus?“ Lökk versucht einen unmöglichen Sit-Up und rülpst. Es riecht nach Nougat. „Ja?“, antwortet er hoffnungsvoll. „Wenn du mir kurz hilfst, baue ich euch vielleicht eins …“, lüge ich gerissen.
„Ja?“
Next.
Aufgabe sechs, Slo-Mo, fast Forward, Play. Zu Anfang halte ich die Sache für machbar, stelle dann aber fest: An einen Igel im Büro gewöhnt man sich nicht. „Lökk! Sag ihm, er soll in sein Nest gehen! Kaum hab ich ihm alle meine Bücher in den Garten gelegt, will er in meinem Schreibtisch wohnen! Jetzt hilf mir doch mal!“ Habe am Schluss das Thema völlig vergessen, wurde aber so oft unterbrochen, dass das Ergebnis zufällig zur Aufgabe passt.
„Diesmal sind wir brav“, versichert mir Igelkott. Seine Trommelpfötchen wirbeln auf kawaii Art durch die Luft. Lökk dreht sich verschämt hin und her. Ich kneife misstrauisch die Augen zusammen. „Gut“, gebe ich zögerlich nach. „Es geht um einen Alchimisten …“
„Die Elster!“
„Ein Elixier!“
„Wir trinken es!“ – „Oder nicht!“
Mit Igelkott, der mir in das linke Ohr schreit, und Lökk, der in mein rechtes diktiert, klappere ich den Text in die Maschine und klicke auf senden, froh, es hinter mir zu haben. Von der Begeisterung meiner Mitbewohner völlig geplättet, besehe ich mir Aufgabe Acht. „Geht doch mal nach draußen“, schlage ich vor. „Ich hab euch Marzipan in der hohlen Eiche versteckt.“ Man hört sie kaum auf die Tür zurollen, da rufe ich zufrieden Wikipedia auf. Endlich Ruhe. Aber sie sind schon wieder da.
„Da war gar nichts! Ah!“ Mit einem entrüsteten Schrei sehen sie dem gesendeten Sachtext hinterher. Die imposanten Backen aufgeblasen und die geballten Fäuste bzw. die geknüllten Blätter in die (nicht vorhandenen) Hüften gestemmt, drehen sich beide ergrimmt zu mir um. „Upsi“, versuche ich mein Handeln zu entschuldigen.
„Im nächsten Text geht das aber wieder voll um uns“, entscheidet Lökk. Jede meiner Fingerbewegungen überwachend passen sie genau auf, dass ich jedes Wort vorlese, das ich schreibe. „Und halte dich ja ans Thema!“, schreit Igelkott, die irren Schneidezähne gefährlich nahe an meinem linken Ringfinger. „Du lässt uns dastehen wie zwei zänkische Waschweiber!“, regt sich Lökk auf. Es fängt scharf an, nach Zwiebel zu stinken, als er sich vor Wut selbst über ein Blatt rollt. „So sind wir gar nicht!“ „Genau! Zur Strafe schreibst du uns am Schluss einen Pilz! Als Wiedergutmachung!“
„Ist doch die Aufgabe“, jammere ich um Vergebung bettelnd. „Ich kann nichts dafür!“
„Pfah! Aufgabe! Weiter zur Letzten! Und wehe, du zeigst uns da nicht so, wie wir wirklich und in echt sind!“
„Ja, sonst wird es hier ungemütlich“, lässt Lökk mit zu fiesen Schlitzen verengten Augen durchblicken. Eins seiner Blätter, wie ein Knute gewuchtet, knickt den Deckel meiner Stiftebox aus Blech. Schluckend öffne ich Aufgabe zehn. Mit gebleckten Zähnen sehe ich vom einen zum anderen. „Habt ihr auch gerade den Weihnachtsmann auf dem Dach gehört?“, kiekse ich heiser.

Die Prüfung

Lennard erwachte, als die Uhr gerade drei schlug. Er spürte das er nicht alleine war und riss die Augen auf. Im spärlichen Dämmerlicht des Mondes erkannte er eine unheimliche Fratze, die ihn mit ihren großen schwarzen Augen anstarrte. Die graue haarlose Haut identifizierte ihn eindeutig, als Wesen von einer anderen Welt.

Lennard war wie erstarrt, während das Wesen seinen Arm erhob und die knochige Hand mit nur drei Fingern zum Vorschein kam. Beschwichtigend hob und senkte das Wesen diesen. In seinen Gedanken formten sich Worte, ohne das er etwas hörte und trotzdem konnte er verstehen. »Hab keine Angst Mensch, wir haben dich paralysiert. Wir werden dich untersuchen und danach zurückbringen. Du wirst dich an nichts erinnern und dir wird kein Leid zugefügt.«

Dann piepte plötzlich Lennards Handy. Er hatte eine E-Mail erhalten und wieder einmal vergessen, sein Smartphone stumm zu schalten. Instinktiv drehte er seinen Kopf zum Nachtisch herüber und bemerkte, dass er sich doch bewegen konnte.
»Moment Mal Herr Alien Außerirdischer Sir, oder sollte ich sagen Außerirdische oder kommt seid ihr doch von hier? Ach verdammt, wie sind eigentlich deine Pronomen?«
»Außerirdischer reicht«, sprach das Alien auf einmal laut aus und antwortete auf direktem Wege.
»Ihr könnt ja sprechen!«
»Verdammt, das gibt es doch nicht«, ärgerte sich der Außerirdische und schlug mit der Faust gegen Lennards Kleiderschrank. »Es ist mir schon wieder passiert. Warum musstest du mich auch so ablenken mit deinem Scheiß Handy. Jeder Depp schaltet das nachts auf lautlos. Dafür gibt es extra eine Funktion. Dann musst du nicht einmal daran denken. Jetzt kann ich die Prüfung wiederholen. Ihr Menschen macht mich fertig.«
»Prüfung?«, fragte Leonard neugierig nach.
»Ja eine Prüfung die mich dazu zertifiziert auch Menschen zu entführen. Ich habe die Kühe wirklich satt. Immer wieder das gleiche gemuhe, nur weil ich einmal eine hab fallen lassen.«
»Das kann ich verstehen. Was macht ihr eigentlich für Untersuchungen?«
»Ach weißt du, wir untersuchen eure Ernährungsgewohnheiten und erstellen dann jedem einen individuellen Plan.«
»Wirklich?«
»Nein, nicht wirklich!«, antwortete das Alien verärgert. »Dafür brauche ich bei dir keine Analyse, friss weniger Chips und Fastfood und beweg dich mehr. Weißt du eigentlich was so ein vollausgestattetes Raumschiff kostet?«
»Ihr habt den Kapitalismus also auch nicht überwunden?«
»Wir sind hochentwickelt ja, also pass jetzt besser auf was du sagst.«
»Ach ja und warum stürzen eure UFOs dann ständig in den USA ab?«
»Das sind nicht unsere gewesen. Das waren die kleinen Grauen«
»Für mich seht ihr alle gleich aus«, entgegnete Lennard.
»Das ist rassistisch«, empörte sich der Außerirdische, was Lennard aber ignorierte und zur nächsten Frage überging.
»Kleben sich bei euch eigentlich die Öko-Aliens an Asteroiden?«

Doch der Außerirdische entgegnete nichts. Er riss den Vergessen-Strahler aus seiner Gürteltasche, zielte auf Lennards Kopf und drückte augenblicklich ab. Danach atmete er lang und tief aus. Trat zurück in eine dunkle Ecke und sprach in Gedanken sich selbst. »Zurück auf Anfang«.

Als plötzlich Lennards Handy klingelte.

Der sechste Sohn

Mit letzter Kraft schwang sich Chtainglorckh der Unaussprechliche nach oben über die Felskante und landete hart auf dem Plateau. Die Fläche auf der Spitze des Schicksalsgrates war kreisrund und maß nicht mehr als fünf Schritte von einem Rand zum anderen. Der Boden glänzte glatt wie ein Spiegel, schwarz wie Obsidian.

In einer tausendfach geübten, geschmeidigen Bewegung rollte sich der Zwei-Meter-Hüne um seine Achse, kam auf ein Knie und richtete sich zu seiner vollen imposanten Größe auf. Dabei zog er Planetenspalter, das zweihändige Breitschwert, aus der Scheide und reckte es triumphierend gen Himmel. Die Strahlen der untergehenden Sonne ließen seinen muskelbepackten Oberkörper glänzen. Stürmische Böen fuhren ungestüm durch das blonde Haar des Recken. Über ihm jagten rastlos bleigraue Wolken dahin.

„Hört mich an, ihr Götter!“, hob er volltönend an, das Schwert nach wie vor emporgereckt, den Blick gen Westen gerichtet. „Hier steht Chtainglorckh der Unaussprechliche, sechster Sohn des achten Sohns von Kransjaqums, dem Weltenschieber. Ich …“

„Schrei doch nicht so!“, ließ sich eine körperlose Stimme vernehmen, eine Richtung war nicht auszumachen. „Was willst du, Chtango … ?“

Der Held geriet durch die unerwartete Unterbrechung aus dem Konzept. „Chtainglorckh der Unaussprechliche ist mein Name.“

„Unaussprechlich, da ist was dran.“ Ein unterdrücktes Kichern begleitete die Worte.

Chtainglorckh warf sich in die Brust, das erhobene Schwert wankte ein wenig. „Um hierher zu gelangen, habe ich den Unendlichen Kontinent durchquert, die myrrhischen Schwestern überlistet, das silberne Ei des Basilisken geraubt, den Drachen besiegt, die Todes-Mücken-Blutegel-Sumpfwasser-Modder-Moore durchwandert …“

„Ist ja gut!“, unterbrach ihn die Stimme ungehalten. „Warum so kompliziert? Du hättest auch die Südstraße nehmen können, dann wäre es schneller gegangen. Da gibt es auch ganz gute Gasthäuser, wo du hättest dich waschen können. Du riechst ein bisschen.“

„Äh …“

„Was soll das außerdem? Wenn der Kontinent unendlich wäre, dann stündest du sicher nicht hier. Und wieso klaust du dem Basilisken sein Ei? Hast du dir wenigstens ein feines Omelett draus gemacht? Wieso bist du denn nun also hier, sag schon!“

„Ich bin ausgezogen, um die sagenumwobene Sternenaura der höchsten Göttin zu empfangen und fürderhin weise und ewig dieses Land als König zu regieren.“ Chtainglorckh setzte sein gewinnendstes Heldenlächeln auf und stieß noch einmal sein Schwert in die Höhe.

Ein Blitz fuhr gleißend aus den Wolken in dessen Spitze und ließ die Waffe in zehntausend Splitter zerspringen. Chtainglorckh riss die Hand an sich. „Autsch! Warum habt Ihr das getan?“

„Du bist der sechste Sohn eines achten Sohns“, erklärte die körperlose Stimme sachlich. „Ich kann mir vorstellen, wie es bei euch daheim aussieht: überall dreckige Klamotten, keiner räumt auf, und am Tisch überbietet ihr euch damit, wer am lautesten rülpsen kann.“

„Ja, und?“

„So jemand regiert besser nicht. Geh lieber heim und schick deine kleine Schwester.“

Kölner Dom

Es scheppert im verbeulten Blechkasten, von den Jahrzehnten des Gebrauchs heftig ausgebeult und angestoßen. Wieder ein Anstoß, und noch einer. Ein Gottesruf. Weihrauch, Segensbildchen, Heiligenfiguren, golden verbrämt und im Gestus erstarrt vor Jahrhunderten. Das ist alles nicht so alt, wie es tut, und es erstickt im rätselhaften Ritual.
Paraffingeruch verbreitet eine Anmutung von Präsenz, eine kleine wärmende Flamme im großen, kalten Erhabenen. Und erhaben ist der Raum, das golden Verbrämte ist nur schmückendes Beiwerk. Schwindelnd hoch türmen sich Wände, Säulen, ja Säulchen noch empor, verbergen konvex, konkav, die wuchtigen Ungetüme der gewaltigen Pfeiler, die das Deckengebirge tragen, als trügen sie die Welt. Zarteste Kapitellchen wagen sich weit droben aus dem Mauerwerk, als seien sie unwichtig, Vorsprünge, Lisenen und Gesimse schweifen ab von der klaren Linie des Gemeinten, verbergen Sinnhaftigkeit, kaschieren Statik. Alles drängt empor, empor. Weißlich schimmert droben schließlich das Kreuzgewölbe, wie eine dunkle Gemme rafft das Medaillon in der Vierung schützend die Kreuzrippen zusammen. Schützt vor dem Unsichtbaren? Vor dem, was nicht gesehen werden darf? Schützt davor, das der Blick aufwärts sich verliert? Seltsame Welten existieren dort droben im Halbdunkel. Orgelstalagmiten, Fischgräten aus Stein, Arkadengänge, Lauben. Wie eine Stadt in den Lüften. Hängt unter dem Himmelsgewölbe ein Gewölke aus Weihrauch, das den Blick zusätzlich verschleiert? Fast scheint es, als müsste ein Luftzug um die lichteren Höhen streifen.
Ein Tempel. Eine Annäherung an das Göttliche. Soli Gloria Dei. Ein Versammlungsort staunender Menschen. Aber jeder staunt und schweigt für sich. Der Hall schweigt nie unter dem Gewölbe, leise treten Turnschuhe auf den blankgeschliffenen Steinplatten auf, wandeln umher.
Scheppern im Blechkasten, immer wieder. Die Sonne scheint von Süden, erreicht die bunten Glasfenster weit oben in der Wand. Engel, Heiligenscheine, Wappen, Gewandfalten, Fahnen, Schilde, Ranken, Rosetten, gotische Spitzbögen. Üppig, hybrid, sich selbst überhöhend.
Glocken läuten, von hier, von da, von irgendwo im Hall, bedeutungsvoll macht sich jeder einzelne Schlag wichtig.
Dann unvermittelt: Die Orgel setzt ein, in nicht enden wollendem Dröhnen und Brausen. Mehr und mehr Umherwandler halten inne in ihren Betrachtungen der Himmelshöhen, senken den Blick, setzen sich, lauschen. Eine Tonsuppe aus Klängen, dissonant, übergehend in Harmonien, zwingt sie nieder. Welche Macht Metallröhren haben, durch die ein Luftzug pfeift … Als ob der Himmel dröhnend herabfiele wie eine schwere Daunendecke, einlullend, sättigend, invasiv. Versinkt in den Ohren, im Herzen. Da ist schließlich nur noch Klang, in dem jedes menschliche Maß versinkt und aufgeht. Schwillt beständig an, über jeden Horizont hinaus, und vereinigt sich endlich in einem einzigen Klang voll überwältigender Klarheit.
Wie viel Wucht erträgt ein Mensch?
Oh, heißt es nicht: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr, wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben? Hier, unter den verstummt in den Bänken sitzenden Menschlein, ist keiner mehr allein. Nicht im Hause Gottes. Und wer nicht beten gelernt hat, wird es nun nimmermehr lernen, nicht wahr … Die Menschenfänger unter den Purpurgekleideten wandeln im Kirchenschiff. Lange zieht der letzte Akkord noch mit ihnen zwischen den Pfeilern umher, als suche er neue Opfer.

Kiki Uranshine

Gänsehaut von Seite 1 bis 9577. Lia Newhouse hat eine Welt erschaffen, die man sich vor Corona nicht hätte ausmalen können. (New World Times)

Gehe mit Kiylijanaa Uranshine auf eine dystopische Reise. Die Welt, wie wir sie kennen existiert nicht mehr. Kurz bevor sie durch einen Atomkrieg ausgelöscht wurde, haben die besten Hacker der NSA eine Kopie der Erde erstellt: New World. Dort herrschen Machtspiele von bösen Reichen, die nicht genug von ihrer KI-Mutter geliebt wurden, gegen die guten Armen.

Kiylijanaa Uranshine lebt, seit die roten Truppen des weißen Regenten ihre Eltern, ihren Onkel dritten Grades, ihren Stiefbruder, ihre Zwillingsschwester und ihre Klassenkameradin ermordet haben, mit den anderen Ausgestoßenen in den Bergschächten von Darktown. Ihre Angehörigen hatten gegen das Regime rebelliert, deshalb muss Kiylijanaa von morgens bis nachts Kohle für die Bonzen in Ringfire, der Hauptstadt von New World, abbauen. Die Bonzen leben in Saus und Braus, weil sie die Kohle zu Diamanten pressen. Den Rest der Menschheit unterdrücken sie mit Gehirnchips und überwachen sie mit Drohnen. Da Kiylijanaas Eltern kluge Professoren waren, ist sie die Einzige in den Schächten, die lesen und schreiben kann. Doch das behält sie für sich. Kiylijanaa, die Wangen immer voller Ruß, die Fingernägel pechschwarz, ist so abgemagert, dass ihr der Jutesack ständig von der Sanduhr-Taille rutscht. Tagein und tagaus gibt es nur Hafersuppe zum Frühstück. Trotzdem ist sie das schönste Mädchen von Darktown, hat strahlend weiße Zähne und nirgends Haare, außer die glänzende Mähne auf ihrem Haupt. So rabenschwarz, wie die Kohle, die sich täglich schaufelt. Und ihre blauen Manga-Augen sind so tief wie der Ozean, den sie nur aus den Geschichten ihrer Großmutter kennt. Kiki, wie ihre Familie sie nannte, ist anders als andere Mädchen. Alle sehen es, nur sie selbst nicht, weil es in Darktown keine Spiegel gibt. Nur in den giftigen Pfützen der Abwasserkanäle sieht sie manchmal ihr verschwommenes Antlitz und versteht nicht, warum alle Jungen sie anhimmeln. Sogar der arrogante Ryijan, der Mädchenschwarm der Schächte, hat nur Augen für sie. Für Kiya, wie er sie neckt, würde er sterben … und töten. Aber das weiß sie nicht, denn er redete kaum mit ihr. Er passt heimlich auf sie auf, indem er sie stalkt. Nebenbei trainiert er seinen Oberkörper, indem er sich mit Kohlestaub Schattierungen als Muskeln aufmalt. Kiylijanaas platonischer Freund Lukis hingegen, braucht keinen Fake-Sixpack. Er hat Humor und bringt sie 80 Kapitel lang zum Lachen, ist immer für sie da und schaut keine andere an. Sogar nicht, als Kiki sich vor seinen Augen von Ryijan verführen lässt. Zum Glück findet Lukis heraus, dass Ryijan der uneheliche Sohn des roten Regenten ist und sich auf die düstere Seite der Macht stellen wird, sobald Kiya ihn heiratet. In letzter Sekunde verhindert Lukis die Hochzeit. Zusammen töten sie den roten Regenten und machen aus New World ein Paradies für alle. Als sie nach den ganzen Strapazen endlich heiraten wollen – Kiylijanaa schläft nur mit Bad Boys, Good Guys müssen auf die Hochzeitsnacht warten – stellen sie durch ihre Geburtsurkunden fest, dass Lukis, ihr als Säugling verschollener Bruder ist und leben weiter platonisch miteinander. Doch dann taucht Ryijan wieder auf, er hat eingesehen, dass die dunkle Seite der Macht nicht das Richtige für ihn ist und gesteht Kiya seine ewig flammende Liebe.

Privatermittler für spezielle Fälle

Was für ein Tag im Kampf gegen Verbrechen und Vergehen versank mit den letzten Sonnenstrahlen am Horizont! Phil schob den Ärmelhalter höher. Er hob die Sonnenbrille und linste träge auf seine Armbanduhr. „Kurz nach 10 pm“, murmelte er heiser. Phil legte die Füße auf den Arbeitstisch. Das Krokodilleder seiner Stiefel knarrte.
„Zeit für ein Zigarillo ist noch.“ Das Zippo klackte, ratschte, flackerte. Schatten huschten die Wände entlang. Die Neige im Whiskyglas verwandelte sich in einen goldenen See. Vor Phils Nase kringelte Rauch in die Höhe und vermischte sich mit dem Qualm im Zimmer, der so dicht war, wie Nebel über der San Francisco-Bay an einem Herbstmorgen. Phil wippte auf seinem Stuhl, legte den Kopf zurück. Sein Blick folgte der Zigarillowolke.
Das zaghafte Pochen zerbrechlicher Damenfinger an der Tür ließ Phil die Füße vom Tisch nehmen. Er räusperte sich und stellte seine Stimme auf Bariton.
„Es ist offen!“
Die Tür wurde geöffnet. Das Pappschild mit der Aufschrift „Philip Seaside, Private Ermittlungen“ schaukelte und schabte über das Türblatt. Phil hatte es mittels des Gummis eines Einweckglases und einer Heftzwecke befestigt. Es tat seinen Dienst, wer Hilfe benötigte, fand ihn.
Eine Dame tänzelte mit den schwerelosen Schritten einer Ballerina in den Raum. Der Duft von Chanel No.5 folgte dem Klicken ihrer Absätze. Ihr luftiges, geblümtes Kleid eröffnete mehr als eine Ahnung von dem, was der Seidenstoff umschmeichelte. Sie bändigte ihr weizenfarbenes Haar im Nacken mit der linken Hand, mit der rechten fächerte sie sich Luft zu. Phil strengte seine Augen an. Doch, ja, sie trug spitzenbesetzte Sommerhandschuhe!
„Mr. Seaside persönlich, nehme ich an? Mein Name ist Elisabeth Belvedere.“ Ihre Stimme säuselte wie ein Windhauch in frischem Espenlaub.
„Phil Seaside, ihr Mann für spezielle Fälle. Seaside lehnte sich zurück und schob die Daumen unter den Rand seiner Weste.“ Er wies mit dem Kinn auf den freien Stuhl.
„Ja, der Fall ist speziell. Delikat, möchte ich sagen.“ Mrs. Belvedere schlug die Beine übereinander. Ihr Kleid raschelte.
„Meine Erfahrung sagt mir, es betrifft einen Mann. Ihren Gatten.“ Phil beugte sich vor und langte nach seinem Notizbuch, einem Werbgeschenk des in einer staubigen Seitenstraße des Highway No.1 gelegenen Seaside-Motels. Phil hatte das Wort „Motel“ mit einem Post-it verdeckt.
„Ja. Und es handelt sich um ein Abenteuer.“ Eine sanfte Röte erblühte auf Elisabeths Wangen. Sie heftete den Blick auf die Tischplatte. Phil war dankbar, denn er fürchtete, vom Blau ihrer Augen verschlungen zu werden.
„Mrs. Belvedere, ich werde ihnen helfen.“ Phils Nasenwurzel wurde feucht, die Brille rutschte zwei oder drei Millimeter.
„Ich habe es gehofft. Am besten sofort!“
„Lisa! Hier? Jetzt? In der Küche?“
„Ja Philip. Jetzt, hier und sofort. Dieses Rollenspiel ist so aufregend!“
Philip Schönesicht riss sich die Sonnenbrille von der Nase.

Nachts im Park

Lady Violet hastete durch den dunklen Garten, doch die Schritte hinter ihr kamen immer näher. Spitze Steinchen bohrten sich durch ihre Tanzschuhe und sorgten dafür, dass sie die Zähne zusammenbiss. Nein, sie würde nicht schreien. Sie würde weiter rennen, so schnell es das rosa Ballkleid, das sich immer wieder um ihre schlanken Beine wickeln wollte, zuließ. Sie lief um eine Kurve des Weges und stieß nun doch einen verzweifelten Schmerzensschrei aus. Ihre goldenen Haare hatten sich in einem überhängenden Rosenbusch verfangen. Violet versuchte sich loszureißen, aber die Dornen stachen unbarmherzig. Warum hatte sie sich auch zu dieser fürchterlich aufwändigen Frisur überreden lassen? Dieses Ungetüm wurde ihr jetzt zum Verhängnis.

Ein großer Schatten verdunkelte die Aussicht auf den hell erleuchteten Ballsaal. „Na, was haben wir denn da für ein Vögelchen gefangen?“ Seine Stimme klang rauchig und fuhr wie ein Messer in ihren Leib. Sie zitterte und keuchte voller Entsetzen. Was wollte dieser Mann, der sie den ganzen Abend mit glühenden Augen angesehen hatte, von ihr? Wo immer sie sich in dem Ballsaal aufgehalten hatte, war ihr sein Blick gefolgt.

Irgendwann war ihr das ständige hasserfüllte Starren zu viel geworden und sie beschloss, auf der Terrasse ein wenig Luft zu schnappen. Sie war nur wenige Minuten draußen gewesen, als sich die Tür öffnete und er heraustrat. Voller Panik war sie in den Garten gelaufen. Und er hinterher. Jetzt hatte er sie eingeholt und stand mit seiner drohenden Präsenz vor ihr.

„Was wollt Ihr von mir?“, flüsterte sie leise und voller Angst. Vorsichtig versuchte sie weiterhin, ihr Haar aus dem Rosengestrüpp zu befreien.

Er hatte sich inzwischen so hingestellt, dass sie sein Gesicht sehen konnte. Die eisblauen Augen blickten sie voller Härte und Verachtung an. Sein energisches Kinn deutete auf einen festen Willen und große Entschlossenheit hin. Man hätte ihn schön nennen können, wenn da nicht der zynische Ausdruck um seinen Mund gewesen wäre. Seine Züge waren edel und die Adlernase versprach … Was war das nur gleich mit der Nase des Mannes? Violet schüttelte den Kopf über sich. Wieder einmal war ihre Fantasie mir ihr durchgegangen. Sie hatte wahrlich andere Sorgen.

Erstaunt sah sie, wie er eine elegante Verbeugung vollführte und sich formvollendet vorstellte. „Viscount Seelight.“ Er musterte sie von oben bis unten. Die Dornen der Rose hatten sich nicht nur an ihrer Frisur zu schaffen gemacht, sondern auch ihr Kleid beschädigt. Eine ihrer Schultern war entblößt und schimmerte wie weißer Marmor im hellen Mondlicht. Sein Blick wanderte zu ihrem Busen, der vom schnellen Lauf noch immer bebte. Auch hier hatte die Pflanze ganze Arbeit geleistet und das Dekolleté mehr als schicklich zerrissen. Die entzückenden Rundungen der Alabasterbrüste, die sich seinen Augen darboten, sorgten dafür, dass er die Luft scharf einsog. Schnell wandte er seinen Blick ab. An ihrem sanft gebogenen Hals pochte unruhig eine Ader. Sicher zitterte ihr Herz wie ein gefangenes Tier im Käfig. Fast tat sie ihm leid, wie sie ihn mit angsterfüllten Augen anstarrte. Ihre Pupillen waren vor Furcht geweitet. Erstaunt bemerkte er, dass sie grün waren, wie der Waldsee in dem er schwimmen gelernt hatte. Er widerstand der Versuchung sich in den Tiefen ihres Blickes zu verlieren. Eine einzelne Träne lief über ihre schreckensbleichen Wangen. Wenn er sie abwischen würde, dann könnte er sicher spüren, dass ihre Haut so weich wie ein Pfirsich war. Bei dem vergeblichen Versuch, sich aus den Fängen der Rose zu befreien, hatte sie es geschafft, dass sie über und über mit dunkelroten Blütenblättern bedeckt war. Sie sah aus wie eine zerzauste Braut aus dem Feenreich.

„Was wollt Ihr von mir?“, fragte sie noch einmal.

„Ich bin gekommen, um Euch zu ruinieren, Lady Violet.“ Er zog die Augenbrauen zusammen und trat einen Schritt näher an sie heran. „Ganz so, wie es Euer Bruder mit meiner geliebten Schwester gemacht hat.“

Ehe sie etwas erwidern konnte, war er so nah an sie herangetreten, dass sie nicht mehr ein noch aus wusste. Hinter ihr war das Dornengestrüpp und vor ihr dieser riesige Unhold. Er umfasste mit fester Hand ihren Nacken und drückte seine harten, heißen Lippen auf die ihren. Als sie einen protestierenden Laut von sich gab, schnellte die Zunge aus seinem Mund und begann sie zu erkunden. Violet war früher schon einmal geküsst worden. Aber nichts hatte sie auf dieses Gefühl vorbereitet. Ihre Knie wurden weich, sie krallte die Hände in seine Jacke und vergaß Raum und Zeit. Die Angst war weg und der einzige Gedanke, der sie beherrschte, war: Ich will, dass das nie aufhört.

Plötzlich war es, als ob jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über sie geschüttet hätte. Eine hämische Stimme ertönte: „Na, wen haben wir denn hier?“ Lady Warrington, die größte Schwätzerin des ton, kam hohnlächelnd in Sicht. Violet keuchte, als Seelight ihren Mund freigab. Sie war ruiniert!

Es gab nur noch eines für sie zu tun, bevor das Leben, wie sie es kannte zu Ende war. Sie hob ihr Knie und rammte es ihm voller Wucht in die Eingeweide. Er brach mit einem Schmerzensschrei zusammen und fiel vor ihr nieder, wobei er sich mit einer Hand an ihren Röcken festhielt. Violet verkündete mit lauter Stimme: „Viscount Seelight, ich nehme Euren Antrag an.“.

Weihnachtswunde(r)

Ich hasste Weihnachten und alles, was damit zusammenhing. Leider wohnte ich im coolen und doch super romantischen New York, das sich wie jedes Jahr in ein glitzerndes Winterwunderland verwandelt hatte. Ich schaute mich in meinem riesigen Apartment mit Blick auf die New Yorker Skyline um, das ich mir trotz meines schlecht bezahlten Jobs als Fotografin locker leisten konnte, und fasste einen Entschluss. Ich würde dieses Jahr einfach dem ganzen Trubel entfliehen und mit meinem Verlobten irgendwo hinfliegen, wo es überhaupt nicht weihnachtlich war.
Gesagt, getan. Schon winkte ich ein typisches New Yorker Taxi heran und düste zu Johns Loft. Ich klingelte, doch es machte niemand auf. Kein Problem, schließlich hatte ich einen Schlüssel und konnte mich selbst reinlassen.
Mit zwei Flugtickets wedelnd, die ich auf magische Weise unterwegs erworben hatte, trat ich ein und lächelte mein strahlendstes Lächeln. Zumindest, bis ich den auf und ab wippenden nackten Hintern meines Verlobten und das rhythmische Stöhnen seiner Sekretärin auf dem Sofa wahrnahm.
»Schatz, es ist nicht so, wie es aussieht!«, rief John noch, aber ich war schon wieder draußen und rief meine Mum an.
»Komm doch über Weihnachten zu uns aufs Land!«, schlug diese vor und ich sagte tränenüberströmt zu.

Zurück in der alten Heimat tauchte ich in die längst vergessene Welt der gemütlichen Holzhäuser, überladener Deko und hässlicher Weihnachtspullover ein. Ich saß verheult auf dem Sofa, während Mum in der Küche Kekse backte und Dad draußen Holz für den Kamin hackte, als plötzlich Timothy in der Tür stand. Ich war mit ihm hier aufgewachsen, doch dann war ich nach New York gezogen und wir hatten uns aus den Augen verloren. Natürlich sah er jetzt superheiß aus, mit seinem karierten Holzfällerhemd, den breiten Schultern und dem Zahnpastawerbungslächeln.
»Hi«, sagte er schüchtern. »Ich war immer verliebt in dich und todtraurig, als du weggegangen bist. Aber ich habe deinen Wunsch respektiert, als emanzipierte Frau deinen Träumen nachzujagen.«
»Oh«, sagte ich errötend, »Ich hatte ja keine Ahnung. Aber keine Sorge, damit ist jetzt Schluss. Ich werde noch eine Weile so tun, als würde ich nach New York zurückwollen, doch am Ende werde ich deinem Charme erliegen und zurück in diese beschauliche Kleinstadt ziehen.«
Timothy strahlte. Dann wurde er plötzlich ernst.
»Aber was ist mit Weihnachten? Das hast du immer gehasst! Und ich liebe Weihnachten.«
Ich winkte ab.
»Kein Problem. Nach ein paar Tagen voller Romantik mit dir werde ich Weihnachten auch lieben!«
Timothy strahlte.
»Klasse! Du, dann mache ich mich direkt wieder auf den Weg. Nachdem du damals weg warst, habe ich aus Frust eine gemeinsame Freundin von uns aus der Schule geheiratet. Wir müssen uns dringend noch ein bisschen auseinanderleben, bevor ich dann mit ihr Schluss machen und mich nach einer ausreichenden Wartezeit für dich entscheiden kann.«
Ich nickte und wedelte mit meiner Kleenexpackung.
»Kein Stress! Mein Ex wird hier sowieso noch aufkreuzen und versuchen, mich zurückzuerobern. Können wir einfach parallel erledigen.«
Timothy strahlte.
»Okay super! Kriegen wir doch locker hin bis Weihnachten!«
»Oh wie schön!«, rief Mum, die verzückt lächelnd in der Tür stand und die bemehlten Hände faltete. »Wirst du dich denn dann auch mit deinem Vater aussprechen?«
Ich lächelte und hielt ihr meine Kakaotasse hin.
»Na klar, Mum. Aber nur, wenn du mich zwingst, ein paar kitschige Weihnachtstraditionen mitzumachen, die mir vor Augen führen, dass es bei der Familie doch immer noch am schönsten ist.«
»Kein Problem, Darling! Soll ich lieber mit Schuldgefühlen arbeiten oder deine Einwände einfach übergehen?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Ist mir egal. Hauptsache, es gibt genug Lametta!«

IT

Programmierer + Kaffee = Software
So entstehen all die großen und die kleinen Programme, die wichtigen und die unnützen, die unsere Computer bevölkern. Na gut, ein bisschen Nachdenken und Stress sind auch dabei, sonst könnte es ja jeder.
Hannes kann es. Er entwickelt Software. Leider nur hat er in letzter Zeit etwas viel von den Zutaten konsumiert: Stress entsteht beim Nachdenken über die beste Lösung und ohne Kaffee läuft sein Motor nicht und er kommt nicht auf die 20 Arbeitsstunden am Tag, ohne die man nicht in den inneren Kreis der Nerds in der Firma aufsteigt.
Jetzt sitzt er in diesem weißen Raum. Die Nummer, die er vorhin gezogen hat, um zu einem der Schalter treten zu können, ruht als verknittertes Papier in seiner Hand.
Untätigkeit macht ihn nervös. Er könnte seine kargen sozialen Kontakte pflegen – natürlich per App. Da sind ein paar Chats, die auf Futter warten. Er hat sie verhungern lassen, denn unter Leute zu gehen ist nicht so sein Ding.
Ruhelos schielt er auf die Anzeige mit der aktuellen Nummer. Die arbeiten effizient hier. Die Zahl schnellt nach oben. Wie viele Schalter haben die wohl? Hannes hört nach 10 auf zu zählen.
Seine Nummer ist dran! Er eilt zum Schalter 38.
Eine Dame im vorgerückten Alter empfängt ihn. „Setzen Sie sich doch!“, bietet sie ihm einen Platz an ihrem Schreibtisch an. Sie greift einen Scanner und liest den QR-Code an Hannes‘ Hemd ein. Hannes hat es vorhin bestaunt, es ist ein edles Geschenk. Er achtet sonst nicht so auf sein Aussehen. Mit einer flüchtigen Handbewegung bändigt er die schmalzige Locke, die ihm über die Stirn ins Gesicht fällt.
„Herr Hannes Köhler?“, fragt die Dame.
„Ja.“
„Programmierer?“
Er nickt.
„Sehr gut, solche Leute können wir gebrauchen! Leider kommen zu wenige davon hier oben an. Viele Vertreter Ihres Berufsstandes verfallen der Online-Spielsucht und landen eine Etage tiefer.“
Hannes fühlt sich geschmeichelt.
„Schade trotzdem, die Sache mit dem Herzinfarkt“, bemitleidet sie ihn.
Hannes winkt lässig ab. „Kann ja mal passieren.“
Sie lächelt kurz und zieht danach das Tempo wieder an: „Ich versetze Sie in die Abteilung für Informationstechnologie.“
„Äh, IT? Keine Harfen, frohlocken und so?“, wundert sich Hannes.
„Was denken Sie denn, woher ich das alles weiß: Programmierer, Kaffee, Herzinfarkt?“ Sie zeigt auf ihren Bildschirm, dessen Inhalt Hannes nicht sehen kann, wahrscheinlich auch nicht sehen darf, der Datenschutz lässt grüßen.
Ruhig fügt sie hinzu: „Der Himmel des 21. Jahrhunderts lässt sich nicht ohne IT organisieren – heutzutage, wo alles in die Cloud verfrachtet sind. Sehen Sie nur den vollen Warteraum und all die Schalter hier. Wir brauchen Sie bei der Datenmigration! Also gehen Sie ans Werk!“

Mangold Schmitt

Und sein erstes Abenteuer

Mangold Schmitt war ein völlig durchschnittlicher, unauffällig kleiner Kerl mit hagerem Gesicht und riesigen blaugrüngelben Funkelaugen, welche sich hinter einer kaputten Rundglasbrille versteckten. Er sah seiner Mutter – die leider längst nicht mehr lebte – zum Verwechseln ähnlich, wie ihm ständig mitgeteilt wurde. Sie trugen denselben Topfschnitt, dank seiner Tante.
Das Leben von Mangold war auch ansonsten schwer. Sehr schwer.
Durch den frühen Tod seiner Eltern kam er nicht umhin, bei seinen schauderhaften Verwandten zu leben.
Ein grässlicher Haufen.
Er bestand aus Onkel Klaus, Tante Primel und seinem ätzenden Cousin Paddy. Letzterer lebte für Mobbing, obwohl er nicht einmal imstande war, drei Worte in einem Satz aneinanderzureihen.
Seine Tante Primel hingegen liebte es, den Nachbarn hinterherzuspionieren. Sie zwang Mangold dazu, die ausgeleierten und verwaschenen Klamotten seines verfressenen Cousins zu tragen, wodurch er Ähnlichkeiten mit einem Bettler aufwies. Aber scherte sich ja niemand um den Ruf in so einem Vorstadtkaff.
Und dann war da sein Onkel Klaus. Außer der Zeitung, Grunzen und fiesen Kommentaren unternahm dieser reichlich wenig, solange es nicht darum ging, Mangold das halbe Leben zu verbieten. Wenigstens ein- und ausatmen waren erlaubt. Hurra.

Doch dann, an seinem elf einhalbsten Geburtstag geschah es, dass sich sein gesamtes Leben veränderte. Ein winziger Kerl – kaum größer, als eine Stecknadel - suchte ihn auf. Dieser erzählte ihm, dass er einer waschechten Zaubererfamilie entstammte.
Zauberer!
Seine Eltern waren überhaupt nicht überfahren worden (wie man ihm jahrelang einredete), sondern durch einen bösen Zauber ermordet!
Indes sich Mangold also auf den Weg zu Gleis fünfeinhalbvorzwei begab – so hatte es ihm die Stecknadel befohlen – schwor er bittere Rache.
Zu diesem Zeitpunkt wusste er ja noch nicht, dass er ein ausgewählter Erretter sein musste, damit kein Erwachsener gezwungen war, einen Krieg in der Zauberwelt zu führen. Was für einen Krieg? Na, jenen Krieg, welcher in der Zukunft vor der Tür stand. Dazu mehr in einem anderen Kapitel.
Mangold fand nach einiger Sucherei, über diverse Tage hinweg, endlich das vermaledeite Gleis und folgte einem schmatzenden Jungen mit knallroten Haaren. Jener schien mindestens fünfzehn Geschwister zu haben.
Seltsam.
Aber so völlig ohne Freunde, beschloss er, sich wenigstens mit dem Rotschopf anzufreunden.
„Ich bin Mangold Schmitt“, stellte er sich etwas unbeholfen vor, nachdem sie sich gegenüber im Zug saßen. „Und ich habe gerade erst heute erfahren, dass ich super reich bin, weil meine Eltern ein krass großes Verlies mit Goldstücken besessen haben. Wenn du mich fragst, hätte ich ja alles auf ein Girokonto eingezahlt, aber na ja, Zauberer, was?“ Ja, Mangold versuchte, verkrampft witzig zu sein. War er nur leider nicht.
Sein Gegenüber glotzte verdattert drein, nickte dann aber mit einem hohlen Lächeln, während er sich eine Handvoll Sahnebonbons in den Mund schob. „Schreut mich! If bin Schroman Wiefel“, sabberte er mehr, denn zu sprechen.
Ekel kroch in Mangold hoch, dennoch umfasste er die klebrige Hand.
„J-ja, mich auch.“
Hoffentlich war das kein Fehler. Der andere wirkte so, als bestünde die Möglichkeit, er könne ihm später vieles an neiden und aus Prinzip alles falsch verstehen. Aber was wusste er schon? Seine Menschenkenntnis existierte faktisch nicht.

„Tag auch! Ich bin Herolde Gustavs und ich suche einen weggelaufenen Toaster. Habt ihr ihn gesehen? Und natürlich ist es nicht seltsam, dass ich hier aufdringlich in euer Abteil hineinplatze.“
Ein Mädchen mit wirrem Blick, wildem Haar und riesigen Hasenzähnen stand in der Tür des Zugabteils und starrte erst Mangold und danach Schroman abschätzig an.
„Ach du liebe Güte!“, schrie sie plötzlich dermaßen laut, dass Mangold um ein Haar an einem Infarkt gestorben wäre. War die bekloppt? „Du bist doch Mangold Schmitt!“
Hä?
Häää?
Woher kannte diese verrückte Hexe seinen Namen? Und wieso setzte sie sich jetzt neben ihn, um ihm die Hand zu tatschen? Durfte die das?
„Schwatsch! Wenn dasch Mangolsch Schmidtsch wäre, hättsch dasch doch bemerscht!“, schmatzte Schroman mit verklebten Mund.
Herolde und Mangold schenkten ihm einen Moment denselben Blick, ehe Herolde sich wieder an Mangold wandte.
„In der Zauberwelt bist du berühmt!“
„Wieso das denn?“ Da war Mangold jetzt aber echt baff.
„Na wegen deiner coolen Narbe! Und weil du so nen langweiligen Fluch überlebt hast! Aber vor allem wegen der Narbe!“
Die geriet ja richtig ins Schwärmen. Aber irgendwie gefiel es Mangold. Er war nie cool oder was Besonderes gewesen. Das war klasse! Zu seinem Glück wusste er bis dato nichts von all dem Kummer und Verlust, die er in Zukunft ertragen musste, ausgelöst durch einen wahnsinnigen Kerl, über siebzig, der jahrelang versuchen würde ihn zu töten. Wenigstens bekam er in dieser Zeit aber auch eine unnötige Lovestory.

Ohne andere Optionen, befreundete sich Mangold, während der endlosen Zugfahrt von fünfzig Minuten, mit Roman Wiesel (der hieß gar nicht Schroman Wiefel, die Sahnebonbons hatten ihm bloß den Mund verklebt).
Als die Zugfahrt endete, sprang Mangold hoch, wie vom Werwolf gebissen. Um ihn herum lagen Unmengen an Süßigkeiten, die sie zu zweit verputzt hatten. Sein Bauch schmerzte deshalb etwas. Mangold schüttelte sich und verschwand aus dieser süßen Hölle, indem er sich den anderen unauffällig kleinen Jungs und Mädchen anschloss, die offenbar wie er zum ersten Mal das baufällige Schloss ‚Wankelstein‘ sahen.
Um ihn herum ertönten zumindest viele „Oh“s und „Ah“s. Im Hintergrund fielen einige hohle Steine aus dem Gemäuer in den schwarzen See.
Neben ihm blieb ein Junge stehen, der einen abschätzigen Ton von sich gab. Aus dem Off brüllte ein Mädchen mit nerviger Quietschstimme dessen Namen.
Damien Rucola!“
Der Name erschien ebenso einfallslos, wie dieses unverschämt glänzende, platinblonde Haar, welches weich und unnatürlich geschmeidig, auf dem runden Kopf klebte.
„Bist du nicht Mangold Schmitt?“, schnarrte er fast schon freundlich.
Mangold sah ihn angewidert an: „Was gehts dich an?“, blaffte er aus unerfindlichen Gründen.
Damien löste etwas in ihm aus.
„Du solltest dich nicht mit solchem Abschaum abgeben“, sagte der Junge, mit dem silbrig glitzernden Sternenhaar, wobei Mangold auffiel, wie sturmgrau dessen wunderschöne, leere Augen waren und von welch dichtem Wimpernkranz umrahmt.
„Danke, aber ich entscheide selbst, mit wem ich mich anfreunde!“, schnappte Mangold aufgebracht. Im Hintergrund half Roman Herolde aus dem Zug, wobei sie sich so tief in die Augen sahen, dass seine verputzte Schokospinne um ein Haar wieder ‚Hallo‘ sagte.
Bäh.
Spätestens im fast erwachsenen Teenageralter und nach tausend unnötigen Dramen, fielen sie garantiert wie zwei wilde Karnickel übereinander her.
Mangold verdrehte die Augen seine Entscheidung, mit diesen beiden all die kommenden Abenteuer zu durchleben, sollte er wohl nochmal überdenken. Damien allerdings stapfte bereits eingeschnappt weg.
Und endlich erkannte Mangold, was ihn so an dem Kerl reizte.
Süßer Knackpo!‘, dachte er sich mit einem Grinsen.
Natürlich konnte er diesen auch unter dem wehenden Umhang bestens erkennen.
Die nächsten Jahre sollten lustig werden und gespickt sein mit gewiss absolut zufälligen und nicht provozierten Begegnungen. Mit Mengen an Körperkontakt.
Bei Kämpfen.
Verstand sich von selbst.


Ja, ich weiß, ich weiß, aber als absolute Potterhead, die selbst nur Fantasyzeugs liest und schreibt, ist es leider doch Harry Potter geworden. Shame on me. Mit einem Hauch von Fanfiktion. Cheers :smiley:

Einen im Tee

Ich hasse WGs, dachte Mira, als sie merkte, wie leicht sich die Kaffeedose anfühlte, als sie sie aus dem Küchenregal nahm. Vielleicht einmal einen Tee trinken? Mit Morgenschlaf in den Augen betrachtete sie das Dutzend Teebeutel-Packungen. „Glückstee“, „Zufriedenheit“, „Gelassenheit“, las sie. Die schmecken doch alle nach Heu und Pappe, wusste sie aus Erfahrung. „Wahrhaftigkeit“, echt jetzt? Na, was solls, ein heißes Getränk wäre schön. Mira brühte sich also diesen Tee auf und schaltete das Radio ein, um sich ein bisschen von ihrem WG-Frust abzulenken.

„Berlin
Aktivisten der Protestbewegung Letzte Generation haben verlauten lassen, dass die Gruppe sich aus Gründen einer positiveren Öffentlichkeitsarbeit in „The Next Generation“ umbenennen wird. Gerüchte, die Gruppe hätte ein Klebstoff-Attentat zur Vereitelung des 2023 geplanten Raketenstarts der Ariane 6 durch Festkleben am Erdboden vorbereitet, wurden dementiert. Die bei einer Razzia am Morgen im Berliner Stadtteil Lichtenberg gefundenen Klebstoffkanister seien für lokale Aktionen friedlichen Protestes für Baumaktionen im Berliner Stadtwald gedacht gewesen.

Nancy Faser
Nancy Faser bestätigte die Behauptungen, sie sei ein Trekkie und hieße mit bürgerlichem Namen Natalie Müller. „Ich hatte immer schon eine Vorliebe für Science Fiction Serien, Laserkanonen und Weltraumkreuzer“,„…das hält mich aber nicht davon ab, in der realen Welt das Waffenrecht schärfer unter die Lupe zu nehmen“, sagte sie im Hinblick auf die aktuellen Pläne, das Waffenrecht zu verschärfen.

Moskau
Russlands Präsident Putin ließ in eine Pressekonferenz verlauten, dass er im Nachhinein den Angriffskrieg gegen die Ukraine für einen großen Fehler halte. „Wir können nicht mehr zurück, wir werden da jetzt weiter machen müssen, sonst werden die zu erwartenden hohen Reparationskosten unserer maroden Wirtschaft den Rest geben“.

Bildungsministerium
Die Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger sprach sich für eine neue Digitalisierungsoffensive aus. „Wenn in den Kultusministerien digitale Dinosaurier das Sagen haben, kann keine wirkliche Digitalisierung in den Schulen stattfinden“. Die Bildungsministerin schlug vor, als Voraussetzung für eine staatliche Stellen-Neubesetzung im Bildungsbereich eine Prüfung digitaler Kompetenzen einzuführen. Man könne zum Beispiel messen, wie lange Bewerbende benötigten, den Klingelton ihres Handys zu wechseln.

Brüssel
Nach der Ankündigung einer Amnestie für Mitglieder europäischer Behörden, die wegen Korruption Selbstanzeige erstatten, musste heute die gesamte Arbeit des Parlamentes eingestellt werden. „Unsere Zweigstellen sind rund um die Uhr geöffnet“, so verlautbarte der Brüsseler Polizeipräsident, „um dem Ansturm gerecht zu werden“. Wann der reguläre Geschäftsbetrieb wieder aufgenommen werden kann, steht noch nicht fest.

Na, dachte sich Mira und blickte auf den Teebeutel mit der Aufschrift „Wahrhaftigkeit“, dieser Tee hat‘s ja in sich. Ich brauche jetzt erst mal einen sehr starken Kaffee.

Neue Woche, neues Glück!

Oh ne, es ist ja die letzte Woche der Seitenwind-Aktion – und Glück? Na ja.
Wer denkt sich denn nur so ein beknacktes Thema aus? Da weiß ich doch jetzt schon, dass es wieder nichts wird mit dem Olymp.

Kaum sag ich es, sehe ich schon wieder die üblichen Verdächtigen an der Spitze der Likes. Wie kann man denn am zweiten Tag schon an die 50 Likes haben? Da wird doch bestimmt gekungelt. Oder bezahlt. Oder die sind alle miteinander verwandt. Bestimmt.

Da müht man sich Woche für Woche ab, schreibt Texte, die einem richtig gut gefallen und am Ende werden es dann 5 Likes. Traurig. Und dann die Kommentare der Anderen. Wie sie sich auskotzen über den Text. Wie sie versehentliche Fehlerchen monieren. Man sieht förmlich den erhobenen Zeigefinger „Das ‚das‘ wird hier aber mit doppeltem ‚s‘ geschrieben!“ Ja, ja. Könnt mich alle mal gernhaben. Als wenn ich das nicht selbst wüsste. Aber passiert. Machste nix dran.

Und dann liest du die anderen Texte. Okay, nicht alle. Wie oft denke ich dann: Thema verfehlt. Komplett an der Aufgabe vorbeigeschrieben, ‚s‘ und ‚ss‘ vertauscht, Interpunktions- und Rechtschreibfehler ohne Ende – aber: ZIG LIKES! Da wirst du doch verrückt!

Ich mache irgendwas falsch. Vielleicht sollte ich vom toten Hamster in der Salatschleuder schreiben. Vielleicht über eine Fußnagelsammlung referieren. Gibt bestimmt alles mehr Likes, egal wie das Thema lautet. Ich like die Likes. Aber die liken mich nicht.

Ihr könnt mich doch mal.

Papyrus 11 habe ich eh‘ schon. Benötige den Gewinn gar nicht. Ätsch!

So, bin fertig. Sozusagen am Ende. Like ich gar nicht.

Was soll schon passieren

Serienmörder gelingt Flucht. Zieht euch das rein!“, las Jeremy begeistert vor, „Gestern gelang dem Serienmörder Ken Killermen- Alter, was für ein Name – die Flucht aus dem Gefängnis – bla bla – zuletzt gesehen in Darkville…“

Nelly kreischte auf. „Hier bei uns?“

„Ja! Mega abgefahren! Das passt doch perfekt zu unserem Ausflug heute!“ Jeremy war immer noch begeistert. Nelly nicht. Ron fand es auch super und gab Jeremy die Faust. „Geil, man!“

Nelly saß genervt und kaugummikauend hinten im Wagen. Sie fand nach wie vor, dass es eine schlechte Idee war, die Nacht in einer weit abgelegenen Waldhütte zu verbringen, während draußen ein Serienmörder herumlief. Aber die Idee war auch nicht so schlecht, um einfach Zuhause zu bleiben. Oder jemandem davon zu erzählen. Ron und Jeremy saßen aufgeregt vorne im Wagen, Jeremy am Steuer. Sie fanden ihr Vorhaben nach wie vor geil. Was sollte schon passieren.

Jeremy fuhr los. Eigentlich raste er ziemlich. Bog vom Asphalt auf einen Schotterweg in den dunklen Wald ab. Der Weg wurde immer unsanfter zum Wagen. Der Wald wurde immer dunkler. Als es richtig stockdunkel war, tauchte vor ihnen die Hütte auf. Jeremy parkte das Auto, dann traten sie ein.

Die Hütte hatte zwei Stockwerke, die Betten waren oben. Dort lagen die drei jetzt zusammengekuschelt, angetrunken, müde. Dann hörten sie ein Scheppern von Draußen und schreckten hoch. Nelly entfuhr ein Schrei. „Was war das?!“, sprach Ron den Gedanken von allen aus. „Keine Ahnung. Am besten, ich schau mal nach. Ihr bleibt hier“, entschied Jeremy. Ron nickte. „Okay. Das ist schlau.“

Jeremy ließ das Licht aus und stieg die Treppe hinunter. Ron und Nelly lauschten seinen Schritten. Sie hörten ein Schaben, als er die schwere Holztür öffnete und seine Stimme, als er laut „Wer ist da?“ in die dunkle Nacht rief. Stille. Dann ein Schrei.

Nelly keuchte auf. Ron auch. „Scheiße“, entfuhr ihm noch. „Okay. Irgendwas stimmt nicht. Ich geh nachsehen“, beschloss Ron nach einer kurzen Schockstille. Nelly atmete panisch und beobachtete, wie Ron, ebenfalls im Dunkeln, nach unten ging. Diesmal hörte sie Geräusche, die nach einem Kampf klangen. Aber kurz. Dann Stille. Danach ein Kreischen von Nelly. Sie rutschte hilflos ans Bettende, zog sich die Decke bis zum Kinn. Ließ die Luke offen. Ließ ihr Handy unbenutzt. Und wartete.

Sie hörte Schritte die Treppe hochkommen. Langsam. Nelly schluchzte auf.

Zwei Köpfe tauchten auf.

„Nelly man, wir sind´s!“, lachten Ron und Jeremy. „Du dachtest doch nicht, wir tappen in so eine Teenie-Horrorfilm-Falle, wo wir in den Wald fahren, trotz Serienmörder, jeder alleine nach dem Mörder sucht, keiner das Handy benutzt, wir alle nacheinander sterben und bla…“

Nelly starrte die beiden fassungslos an. Gerade, als sie zu einer gepfefferten Beleidigung ansetzen wollte, hörten sie Draußen ein lautes Scheppern.

Das magische Portal

„Ich kann unmöglich der Auserwählte sein, von dem eure Prophezeiung spricht!“, stammelte ich und raufte durch mein ohnehin schon wirres Haar, „Seht mich doch an, ich bin nur ein hageres Bürschlein aus Queens, das durch eine Wand gestolpert ist, die sich als Portal in eine magische Welt mit sprechenden Tieren entpuppt hat. Außerdem schreibe ich morgen einen Mathetest, für den ich noch nicht vorbereitet bin. Ich muss zurück nach Hause!“
Aufgeregt sprang die braune Maus hoch und fuchtelte mit ihrem Hut wild in der Luft herum. „Aber das hier ist dein Zuhause! Deine Eltern gaben ihr Leben, um diesen Ort zu verteidigen und dich in deiner Welt in Sicherheit zu bringen. Nur du kannst die Prinzessin retten und den Fluch des Hexenkönigs stoppen! Sonst werden sich die Portale auf ewig schließen und unsere Welt wird zu Stein erstarren!“
„Na schön“, seufzte ich urplötzlich davon überzeugt, dass mir das Schicksal dieser Welt am Herzen lag, „Was sollte ich über den Hexenkönig wissen?“
„Oh er ist ganz furchtbar!“, schluchzte die weiße Maus.
„Furchtbar hässlich obendrein!“, rümpfte die Fee die Nase und schüttelte sich, wobei sich feiner Glitzerstaub aus ihren Flügeln befreite.
„Und er hat dieses grässliche Lachen“, ereiferte sich die braune Maus.
Nachdenklich rückte ich meine Brille zurecht. Ein hässlicher, furchtbarer Hexenkönig mit einem fiesen Schurkenlachen? Klingt machbar, das kannte ich aus Büchern. „Wie viel Zeit bleibt mir, um die Welt zu retten?“, stellte ich daher die nächste Frage, wobei mir schon dämmerte, dass mir aberwitzig wenig Zeit bleiben würde.
„Siehst du den Baum dort hinten?“, fragte die weiße Maus und deutete auf eine knorrige Eiche, von der just ein Blatt zu Boden segelte, „Wenn er all sein Laub verloren hat, ist deine Zeit vorbei und der Fluch ist nicht mehr zu brechen.“
„Dir bleiben noch drei Tage“, brummte der Bär missmutig, „Geh ruhig zu deinem Test, wir sind eh alle verloren.“
„Und welche Rolle spielst du?“, überging ich diese Aussage und wandte mich an den alten Mann, der mich nach meiner Ankunft in der magischen Welt empfangen und in diese verschrobene Waldhütte gebracht hatte.
„Ich bin ein Zauberer, das ist doch offensichtlich“, verärgert stampfte er mit seinem Stock auf den Boden, „Oder denkst du, ich trage diese Robe und den spitzen Hut zum Spaß? Ganz zu schweigen von diesem unsäglichen Bart! Außerdem bin ich dein Mentor. Ich werde dir bei dieser Reise mit Rat und Tat – nein, eigentlich nur mit Rat – zur Seite stehen. Aber das ist noch nicht alles. Ich bin zwar unglaublich weise, aber ich will dir nicht die ganze Arbeit abnehmen. Daher werde ich mich ausschließlich in vagen Rätseln ausdrücken. Hast du noch Fragen?“
„Ja, einige!“, sprudelten die Worte aus meinem Mund, „Wie soll ich…“
„Fantastisch!“, unterbrach der alte Mann mich und paffte genüsslich an seiner Pfeife, „Die werde ich dir ein anderes Mal beantworten!“
Betröppelt sah ich auf die heroische Runde vor mir, die mich erwartungsvoll anblickte. Ein alter Zauberer, zwei schwertschwingende Mäuse, eine eitle Fee, ein depressiver Bär und ein Hund. Was konnte der Hund überhaupt Besonderes?
„Was ist mit dir?“, fragte ich den zotteligen Kläffer, der mich aus runden Knopfaugen ansah und noch kein Wort gesprochen hatte, „Wie heißt du?“
„Was tut er da?“, hörte ich die weiße Maus piepsen.
„Ich glaube, er ist übergeschnappt!“, ergänzte die braune Maus hinter vorgehaltenem Hut.
„Sei nicht albern!“, fuhr mich der Zauberer an, „Das ist ein Hund, Hunde können nicht sprechen!“

Teddy in der Finsternis

Wir standen vor der schweren Eichentür einer Burg, während Nieselregen uns in die Wangen zwickte. Lange waren wir gewandert und hatten uns verschätzt. Die Leberwurstbrote waren längst verspeist, unsere Handyakkus zeigten eine Warnung bei unter 10%. Die schwarzen, offenbar verkohlten Stämme alter Ahornbäume schienen warnend ihre Äste auszustrecken. Als ob sie schreien wollten. „Flieht ihr Narren!“
So standen wir vor dem Haupteingang der kleinen Burg, deren Mauern verwittert und deren Fenster verlassen und leer aussahen.
Mit dem Quietschen der Tür holte mich Ben, mein Begleiter, in die Gegenwart zurück. „Schau nur“, rief er. „Es ist offen.“
Ein eisiger Windhauch strich uns durchs Haar, als hätte er im Inneren gelauert. Säuselnd spielte der Wind mit der offenen Tür, es klang wie das Wimmern eines Kindes.
„Wir sollten vielleicht weiter ziehen“, meine ich vorsichtig.
„Draußen frieren ist keine Option.“ Ben schritt beherzt in die Eingangshalle. „Lass uns den Regen abwarten.“
Seufzend folge ich ihm in die Burg. Eine Treppe führte links hinab. Grob behauende Felsen säumten den Abgang. Ein anderer Weg führte geradeaus durch eine breite Tür in einen Saal.
„Weißt du was?“, meinte Ben. „Wir sollten uns trennen. Du gehst geradeaus, ich gehe in den Keller.“
„Wieso sollten wir das tun?“
„Vielleicht gibts ja Wein? Außerdem will ich nicht von Tieren überrascht werden.“
Ich nickte wie automatisch und sinnierte, ob es eine gute Idee war, Ben weggehen zu lassen. Aber, was sollte schon passieren?
„Schau mal, ein Teddy!“. Ben hielt das zerfledderte Plüschtier hoch. Rote Knöpfe als Augen. Unheimlich. Ein kleiner blauer Stern entflammte, als ich mein Handylicht aktivierte und ihm entgegen leuchtete. „Beeile dich einfach!“, verabschiedete ich ihn. Dann ging ich weiter und beleuchtete den Saal. Es gab einen langen Speisetisch aus Eiche, sowie zwölf Stühle. Eine kleine, bizarre Tür fand sich in der Außenmauer. Sie war klein, wie für ein Kind und mit Scharten im Holz übersäht. Sie sah unendlich alt aus und irgendetwas an ihr wirkte falsch. Ein feiner Spalt war zu sehen. Ich senkte mein Handy, ging zu dieser Tür und spähte durch den Spalt. Ich sah auf etwas Rotes. Wie rotes Glühen, aber ich konnte mir keinen Reim daraus machen.
Mein Handy vibrierte, Textnachricht von Ben.
Hey Scherzlise. Höre auf, an die Gitter zu schlagen. Ich komm ja schon zu dir.
Von was sprach er?
Ich wählte anrufen, aber die Mischung aus Handylicht und Anruf quälte den Akku lautlos zu Tode.
Der Bildschirm wurde schwarz. Verdammt!
Unwirsch wandte ich mich zurück zum Eingang. Ohne das Handy fiel mir ein schwacher Lichtstrahl auf, der offenbar durch ein Loch in der Decke auf den Speisetisch leuchtete. Ein monströser Rabe wartete dort, zog und fledderte an einem Buch herum.
„Ksch!“, verscheuchte ich den großen Vogel, der krächzend nur etwas Abstand auf einer Stuhllehne suchte. Wenn ich es nicht besser wüsste, wirkten seine Augen auf unheimliche Weise intelligent.
Ben, rief ich mir ins Gedächtnis. Ich musste zu Ben.
Aber die beschriebenen Seiten des halbgeöffneten Buchs, weckten meine Neugier. Nur einen kurzen Blick hineinwerfen!
Es war offenbar eine Art Tagebuch. Die Einträge setzten manchmal monatelang aus. Die Schrift wirkte sehr ordentlich, wie von einem Adeligen. Ich blättere ungeduldig zur letzten Seite.
... Ich traue ihr nicht mehr. Irgendwas hat sie verändert. Sie beobachtet mich, wenn ich am Esstisch sitze. Ich hätte sie nicht den Zigeunern wegnehmen dürfen. Ich spüre ihren Blick tief in meine Seele brennen. Sie darf den Schlüssel nicht bekommen. Sie hat einen wilden Raben gezähmt, der für sie Essen stielt. Letztens hat er versucht, die Tür zu öffnen. Ich kann ihn ihr aber nicht wegnehmen. Ihre Augen beobachten mich immer, ihre Augen. So rot.
Erschrocken lasse ich das Buch fallen, als der Rabe krächzt. Ich ahne es mehr, als ich es sehe. Die kleine Tür zur Kammer stand jetzt offen.
Und hinter mir?
Griff etwas meine Hand.

„Raus hier, wir müssen hier weg! Sofort“ Nathans Stimme überschlug sich. Der Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte, fiel polternd auf die hellgrünen Marmorfliesen, die seine Mutter, Gott hab sie selig, eigens über die katalanischen Grenzen geschmuggelt hatte. „Marietta, ich flehe dich an“! Seiner Schwester stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Starr vor Angst klammerte sie sich an den Tisch, der bereits bedrohlich zitterte wie ein Eichhörnchen im eisigen Wind. Mit einem kräftigen Satz war Nathan bei ihr, riss Marietta mit so viel Schwung an sich, dass ihr blondes Haar wild um sie herumflatterte. Dann zerrte er sie zur Tür. Hektisch drückte er die Klinke herunter, doch sie klemmte. „Was jetzt Bruder?“ Marietta hatte ihr Gesicht an die Brust ihres älteren Bruders gedrückt. Die Augen fest verschlossen, als könne sie den Anblick von dem verhindern, was sich dort draußen anbahnte. Nathan fühlte, wie eine unbändige Kraft in ihm aufstieg. Er würde sie beschützen, dass hatte er ihrer Mutter versprochen, als sie wegen des anhaltenden Marmorschmuggels zum Tode verurteilt worden war. Jetzt war es an der Zeit, den Schwur einzulösen. Fest zog er das zarte blonde Mädchen an sich. „Wir müssen nach oben, das ist unsere einzige Chance.“ Marietta mit sich ziehend, fasste er die Treppe fest ins Auge. Aus dem Zittern des Tisches war mittlerweile ein Beben geworden. Das löste ein unangenehmes Kribbeln an den Fußsohlen aus. Fest griff Nathan das Treppengeländer. Schritt für Schritt kämpften sich die Geschwister in die obere Etage. Hier lag alles durcheinander. Das Bild von Mimau, der Katze ihrer Kindheit, war von der Wand gefallen. Die Splitter des Glases zeichneten ein bizarres Muster auf den hellgrünen Boden. „Wie eine Eislandschaft“, entfuhr es Marietta. Offenbar hatte sie kurz die Augen geöffnet. Einer der Flurschränke lag zerschmettert in dem großzügigen Flur, den sie als kleine Kinder für Fangspiele genutzt hatten. Mühsam stieg Marietta über die Holzbretter. Sorgsam bemüht, mit ihrem Kleidchen nicht an den herausstehenden Nägeln hängenzubleiben. Nathans besorgter Blick zurück verhieß nichts Gutes. Angsterfüllt sah sie ihn an. „Wir müssen in Vaters Zimmer““ Er klang bestimmt und selbstbewusster als er sich fühlte. „Du meinst“, das Mädchen riss die Augen entsetzt auf. „Ja“. Es war Zeit, sich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen. Energisch öffnete er die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters. Nie wieder hatten sie es betreten. Seit damals. Doch Nathan wusste. Es gab kein Entrinnen. Entschlossen riss er den Waffenschrank auf. Da stand sie. Die alte Flinte. Die sagenumwobene Waffe, mit der schon der Urgroßvater die Familie gegen tatsächliche und mutmaßliche Feinde verteidigt hatte. Eigentlich hatte Nathan sie traditionsgemäß mit seinem 16. Lebensjahr mit einer Mutprobe, vor der er furchtbare Angst gehabt hatte, bekommen und damit die Verantwortung zum Schutz der Familie übernehmen sollen. Doch dann war die dumme Sache mit der Mutter dazwischengekommen. Jetzt war sein Moment. Nathan griff die Waffe, riss die Schublade des Schreibtisches aus. Erleichtert atmete er auf. Die Munition war da. Marietta riss die Hände vors Gesicht und schluchzte, als ihr Bruder mit weißem Gesicht und zusammengebissenen Zähnen zum Fenster stürzte. Auf die zarte Blumengardine konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Brutal riss er sie zur Seite, dass die feinen Muster zerrissen und die zarten Fädchen hilflos in dem zunehmenden Wind davonsegelten. Der Himmel hatte sich verdunkelt und das Donnern war unerträglich geworden. Sie mussten nah sein. Verdammt nah.
„Versteck dich“! Nathans Brüllen wurde von einem ohrenbetäubenden Kollern übertönt. Er riss die Waffe hoch. Da sah er sie, wie sie mit ihren hochroten Mäulern näherkamen. Es waren Hunderte. Nein Tausende. Nathan drückte ab und schloss. Fleischfetzen flogen in alle Richtungen. Alles färbte sich rot und wurde von einer zuckrigen Masse überflutet. Die ersten Leichen behinderten die nachfolgenden daran, weiter zu rollen. Sie wurden langsamer, einige sahen zu ihm hoch, mit ihren furchteinflößenden Grimassen. Nathan ließ die Waffe sinken. Die Killermelonen zogen sich zurück. Er hatte es geschafft. Erleichtert näherte sich Marietta und drückte sich wieder eng an ihn. „Wir hätten nie von der Schweinezucht abrücken sollen“, hörte sie Nathan leise flüstern. „Dieses verdammte Obst“.

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Wer schreibt heute noch über Freude und Weh?
Es ist der Schreiber mit seiner Idee.
Die beiden genießen gemeinsame Zeit,
doch der Weg zur Vollendung, zum Text, ist noch weit.

Die Idee schaut er fast schon mit Misstrauen an.
„Klischee hat sie viel, leider nichts von Roman.
Ich sollte sie bergen vor den zu strengen Blicken.
Sonst wird man den Thema-verfehlt-Alarm drücken.“

Und so sitzt der Schreiber vor seinem Problem:
Soll diese Idee je das Tageslicht seh’n?
Es ist dazu wahrlich noch lang‘ nicht die Zeit
und so hält er sie lieber in Verborgenheit.

Die Idee scheint fast krank und gering an Gewicht.
„Ach!“, seufzt der Poet. „Bitte sterbe mir nicht!
Bitte sage mir schnell und ganz deutlich, woran
eine schöne Idee, so wie du, sterben kann.“

„Mein Schreiber, mein Schreiber! Sieh in dich hinein!
Dein Stolz ist so groß und ich bin so klein.
Wo soll ich mich in deinem Geiste nur finden
und an welches Leben soll ich mich binden?“

„Oh hör‘ nur, Idee, das sind alles die andern.
Kein Mensch kann alleine das Leben durchwandern.
Wir brauchen des Zuspruchs ermunternden Blick.
Nur durch ihn wachsen wir und auch du mal ein Stück.“

„Ich flehe, mein Schreiber, schick‘ diesen Blick fort,
wo er ist, da werde ich niemals zum Wort.
Er trifft mich und brennt in mir wie heißes Blei.“
„Ich bitt‘ dich! Es ist nur die Rechtschreibpolizei!

Die ist niemals wirklich an dir interessiert.
Sie will nur, dass man hier richtig orthographiert.
Sie ist ebenso stolz und will in dieser Welt
etwas gelten, auch wenn dir das jetzt nicht gefällt.“

„Oh Schreiber! Mein Schreiber! Wer diesen Spruch glaubt,
der fühlt nicht mit mir, denn ich bin hier nicht erlaubt.
Mancher wirft mit Gewalt mich hinaus auf die Straße,
weil er meint, dass ich hier grad zum Thema nicht passe

und er schaut mich ganz bös‘ wie ein Schulmeister an,
der auch nach dem Geschäft noch nicht abschalten kann.
Dabei bin ich doch nur ein ganz unschuldig‘ Ding,
`ne Idee halt, weshalb ich nur ganz leise sing‘.

Verstehst du die Not nicht, die mich hier beschwert?
Ist dein Ansehen wirklich dir so viel mehr wert?
Ich fürchte, am Ende ist’s grad dieses Streben,
mit dem ich nicht lange kann bleiben und leben.“

„Du liebe Idee! Bist das du, die da spricht?
Derart selbstbewusst ist deinesgleichen sonst nicht.
Ist diese Idee hier vielleicht doch nicht so scheu?“
„Schleich ich mich vielleicht am Stolz doch noch vorbei?

Find ich vielleicht noch diesen Schalter in dir,
diesen kleinen Moment zwischen Mensch oder Tier,
wo mich keine Orthographiesoldaten finden,
keine Schulmeister mich ins Ideenkorsett binden,

wo die Lust meinen Schreiber sogar daran hindert,
mich weiter in langweilige Paarreime zu spannen.
Während er schlecht geschminkte Hohlphrasen betindert,
schleich‘ ich mich und mach‘ mich alsbald mal von dannen.“

Wie es scheint, hat die Idee selber eine Idee.
Sie fällt aus dem Schreiber so leise wie Schnee.
Und dort, wo sie schwebend die Linie berührt,
ist’s, als ob eine Ahnung den Schreiber sanft führt.

Der Schreiber erblickt jäh dann den Text und wird rot.
„Wie konnte die kranke Idee das bloß schaffen?!
Sie macht mich mit solch schrägen Worten zum Affen!“
Und in seiner alles verschlingenden Not
haut er am PC auf den Alles-Ausschalter.
„Die verrückte Idee, wie es scheint, endlich tot?“

„Nein, du irrst dich gewiss. Ich war schneller, mein Alter!“