Die Stille am Ende des Rabenwegs
Die Stille am Ende des Rabenwegs
Das Rascheln von Kies unter Stiefelsohlen weckt mich aus langem Schlaf. Langsam kehrt mein Bewusstsein in diese Welt zurück. Ich höre das Kreischen der Raben. Auch nach zwei Jahrhunderten ist auf die geflügelten Wächter Verlass. Was sich für die Menschen nur nach schrillem Geschrei anhören mag, ist für mich bedeutende Information: »Sie kommen, Meister!«
Sie.
Die Eindringlinge.
Früher bewohnten sie mich, füllten meine kalten Mauern mit Wärme. Und mit Lärm. Doch diese Zeiten sind schon lange vorüber. Stille regiert nun endlich den Rabenweg. Eine dreistimmige Stille.
Die Erste mag für jedermann zu vernehmen sein: Außer dem Rascheln der Blätter in den alten Eichen dulde ich hier keine Unruhe.
Die zweite Stille hält sich eher im Verborgenen: Das Schweigen, das sich in der gesamten Stadt über meine bloße Existenz verbreitet hat, seitdem immer wieder Menschen nicht mehr von ihren Erkundungen meiner Gemäuer zurückkehrten.
»Dieses Haus ist verflucht!«, hörte ich schon manchen Spaziergänger wispern, bevor sie alle stets umkehrten und den Rabenweg fluchtartig wieder verließen.
Doch die dritte Stille ist die tiefste. Und niemanden werde ich mein Geheimnis ergründen lassen.
Deshalb müssen diese Eindringlinge fliehen. Sie werden fliehen … oder sterben.
Die dreistimmige Stille wird weiter über den Rabenweg herrschen.
Das Knirschen des Kieses wird lauter. Fast haben sie die lange Einfahrt zurückgelegt. Obwohl sie leise sprechen, beinahe flüstern, kann ich ihre Worte schon deutlich vernehmen:
»Ob das eine gute Idee war, herzukommen?«, fragt eine von ihnen mit kratziger Stimme.
»Na hör mal« antwortet ein anderer und schwenkt seine Taschenlampe zu ihr. Ihr rotblonden Haare stehen in seltsamem Kontrast zu ihrem schwarzen Spitzenkleid. In meiner Zeit wäre das ein passendes Gewand gewesen. Heutzutage hebt sie sich damit deutlich von der modernen Kleidung der anderen ab. Ich glaube, man nennt diesen Stil heute »Gothic«.
Aufgrund der plötzlichen Helligkeit kneift sie ihre sonderbar blassblauen Augen zusammen.
»… es ist Freitag, der dreizehnte Oktober. Das ist doch wie gemacht für einen kleinen Ausflug ins Gruselhaus.«, setzt er seinen Satz fort.
Die anderen zwei Jungs aus der Gruppe lachen laut. Sie scheinen keine Angst vor mir zu haben, doch das wird sich bald wandeln.
»Nichts für ungut, Lilly« versucht das zweite Mädchen, eine zierliche Blondine, die Rothaarige aufzumuntern. Offenbar widerwillig folgt sie schließlich den anderen, und zu fünft gehen sie meine geschwungene Eingangstreppe hinauf.
Vor dem schweren Eichenholzportal angekommen, versuchen zwei der Jungs, es zu öffnen. Ich spüre, wie sie sich mit all ihrer mickrigen Kraft dagegen stemmen. Doch auch nach all den Jahren hält meine Eingangstür jedem Unbefugten stand. Es sei denn, ich will, dass sie eintreten.
»Sie ist verschlossen. Zeit, wieder heimzugehen« höre ich die kratzige Stimme erneut.
»Auf keinen Fall« presst ein anderer Junge vor Anstrengung hervor.
»Aber ihr seht doch, sie lässt sich nicht öffnen« protestiert die Rothaarige. »Vielleicht … vielleicht will das Haus nicht, dass wir es betreten« sagt sie ehrfürchtig.
Sie hat ihr Bestes versucht, ihre Freunde zu retten, das muss man ihr lassen.
Doch ich will, dass sie eintreten. Drinnen beginnt erst der ganze Spaß.
Mit einem lauten Quietschen öffne ich das Portal, und die beiden Jungen, die sich dagegen lehnten, fallen beinahe herein.
»Na, wer sagt’s denn?«, sagt einer von ihnen überheblich, nachdem er sein Gleichgewicht wieder gefunden hat.
»Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren« würde ich ihnen am liebsten als gut gemeinten Rat mitgeben, wenn ich sprechen könnte. Sie könnten ihn gebrauchen, denn hinaus werden sie nie wieder kommen.
»Woah« höre ich einen anderen Jungen staunen, während er den Lichtkegel seiner Taschenlampe durch den Eingangsbereich schweifen lässt. Ja, der war einmal beeindruckend. In den alten Zeiten, als meine Hausherrin hier große Empfänge veranstaltete. Zwei geschwungene Marmortreppen bewegen sich in Halbkreisen hinauf in den ersten Stock. Dazwischen hängt ein vergoldeter Kristallleuchter. Doch längst schon ist der Stein matt geworden, und der Kronleuchter beeindruckt allenfalls noch die Königin der Spinnen, die darin ihre feinen Netze ausbreiten.
Die Rothaarige zupft sich mit spitzen Fingern ein braunes Blatt von ihren schwarzen Lederstiefeln. Es ist durchweicht vom wispernden Herbstregen da draußen.
Mit einem dumpfen Knall lasse ich die Tür hinter ihnen wieder zufallen. Doch zu meiner Enttäuschung scheint sie dies nicht einmal zu beängstigen. Zu hypnotisiert scheinen sie von den Wegen, die weiter in mein Inneres führen. Auch die Rothaarige schweigt, scheinbar hat sie sich ja mit ihrem Aufenthaltsort abgefunden.
»Was sollen wir zuerst erkunden?«, fragt die Blonde.
»Ich finde ja, wir sollten mal eine dieser Treppen hier hochgehen« erwidert einer der Jungen, er ist breitschultrig und hat kurz geschorene schwarze Haare. Mit seiner Taschenlampe leuchtet er zurück zu der Gruppe, denn er steht bereits auf der dritten Stufe. Er scheint der Anführer sein zu wollen. Das kann er haben. Seine Freunde wirken etwas unentschlossen, aber schließlich folgen sie ihm. Es wäre ein leichtes, die alten Stufen brechen zu lassen, und ihre Knochen, bestenfalls ihre Genicke, gleich mit. Aber das wäre ja zu simpel. Nein, ich hatte schon so lange keine lebenden Menschen mehr als Gesellschaft, da möchte ich etwas Spaß haben. Daher heiße ich sie willkommen in meinen inneren Gemächern.
Sie gehen durch verwinkelte Gänge. Mal biegen sie links ab, mal rechts. Ob sie am Ende wohl noch wissen werden, wo sie sind? Ich bezweifle es. Doch obwohl sie sich so wirr hin und her bewegen, fast wie kleine Ameisen, gelangen sie irgendwann gefährlich nah an mein Innerstes. An das Geheimnis meiner Stille.
Sie betreten das Gemach meiner alten Hausherrin. Obwohl dort alles zu gesponnen und unter einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt ist, bewundern sie die einstige Pracht. Die Blonde stellt sich vor einen riesigen Wandspiegel mit verschnörkeltem Rokoko-Rahmen, doch er ist schon lange blind geworden. Flegelhaft wirft sich einer der Jungen auf ein altes Sofa. Durch den aufgewirbelten Staub muss er husten, was mich vor Schadenfreude mit den Fensterläden klappern lässt.
»Boah Leute, es ist so gruselig hier drin« sagt die Rothaarige. »Ihr seid doch echt Freaks, hier drin herumzulaufen. Und das auch noch nachts.«
Sie versucht doch tatsächlich immer noch, die anderen hier heraus zu bekommen. Doch dafür ist es schon längst zu spät. Ich werde sie nicht mehr gehen lassen. Sie haben bereits zu viel gesehen. Ich muss mein Geheimnis schützen.
»Tagsüber macht es doch keinen Spaß« protestiert der Anführer.
Ich beschließe, ihn als Erstes zu töten.
Er bewegt sich auf einen alten Flügel zu, der in einer Ecke des Raums steht.
»Sieh mal Lilly« sagt er zu der Rothaarigen, »Wie es aussieht, hat die Gräfin damals auch Klavier gespielt, genau wie du. Da müsstest du dich doch heimisch fühlen.«
Sie verzieht das Gesicht zu einer abfälligen Grimasse. Er tritt an das Instrument, klappt den Tastenschutz auf und beginnt, wahllos auf den Tasten herumzuhämmern. Eine Kakophonie stört meine Stille. Damit besiegelt er sein Schicksal.
Ich lasse einer der hohen Seiten reißen. Mit einem letzten, unangenehmen Ton schneidet sie ihm unsichtbar die Kehle auf. Das Klavier verstummt endlich wieder, und er auch. Leise gurgelnd bricht er schließlich zusammen.
Ein Tod, meiner Stille würdig.
Doch nun erhebt sich wieder Geschrei. Das Geschrei der anderen, fassungslos, was gerade geschehen ist.
»Oh mein Gott, Ben!«, ruft die Blondine und stürzt zu ihm. Auch die anderen Jungs rennen sofort los, doch niemand wird ihm mehr helfen können. Wenigstens die Rothaarige weiß das, sie wendet nur in Abscheu das Gesicht von ihm ab.
Die Jungen scheinen sich in Schockstarre zu befinden, ihre Haut hat die Farbe meines ausgeblichenen Putzes angenommen. Typisch. Erst markieren sie die Starken, brechen in verlassene Anwesen ein und stiften Unfrieden, und sobald dann einer von ihnen den Kopf verliert, erstarren sie wie kleine Schneeflöckchen.
Doch die Blonde schafft es, sie durch ihr Geschrei wieder zum Leben zu erwecken. »Wir müssen hier raus!«, kreischt sie, dass ich Angst habe, meine Fensterscheiben würden bersten. Wie kopflose Hühner (kopflos – ja, das werden sie bald sein) rennen die jungen Leute nun durcheinander. Jetzt wird es sich rächen, dass sie lange kreuz und quer durch meine Gänge gelaufen sind.
»Was machen wir nur mit ihm?«, fragt einer der Jungen.
»Wir müssen ihn hier zurücklassen« antwortet der andere. »Wir rufen die Polizei, die werden ihn schon rausholen.« Er zückt sein Handy, doch stellt schnell fest, dass er hier drin keinen Empfang hat. Wofür ich natürlich gesorgt habe. Ich will nicht, dass dieser neumodische Kram meine Hallen entweiht.
»Dann müssen wir eben erst hier raus, draußen wird man ja wohl Netz haben.«
»Bist du sicher, dass es so eine gute Idee ist, die Polizei zu rufen? Immerhin sind wir hier eingebrochen.«
»Aber wenn sie ihn suchen und irgendwann finden, kriegen sie uns vielleicht wegen Mordes dran. So können wir wenigstens noch glaubhaft machen, dass es ein Unfall war.«
»Du hast recht« sagt der andere nach kurzem Zögern. Die beiden wollen sich auf den Weg machen, doch in dem Moment bemerken sie erst, dass die Mädchen weg sind.
»Scheiße, wo sind die hin?«, fragt der eine.
»Die sind bestimmt schon vorgelaufen. Los, nehmen wir den Weg, auf dem wir hergekommen sind.«
Doch das ist leichter gesagt als getan. Vor ihnen liegen zwei Türen.
»Und durch welche der beiden sind wir gekommen? Links oder rechts?«
»Links … nein rechts … verdammt, warum sehen die denn auch so gleich aus?«
Hätten die beiden mal besser aufgepasst. Sie entscheiden sich für die rechte Tür. Aber das ist egal, denn ich lasse sie nicht entkommen. Immer weiter folgen sie dem dunklen Gang. Sie kommen an vielen Türen vorbei. Manche sind spartanisch, andere mit Messing beschlagen oder fein ziseliert. Aber aus irgendeinem Grund trauen die beiden sich in keinen der Räume mehr hinein. Schade – wir hätten in jedem von ihnen so viel Spaß haben können.
Letztendlich erreichen die beiden das Ende des Korridors. Sie stehen vor einem doppeltürigen Holzportal. Es ist schwarz lackiert.
»Hier sind wir aber nicht dran vorbeigekommen« konstatiert einer das Offensichtliche.
»Vielleicht ist es ja aber eine Art … Hinterausgang« äußert der andere seine Hoffnung.
»Ich weiß ja nicht, irgendwas stimmt mit dieser Tür nicht.«
Womit er recht hat. Sie stehen vor der Tür zu meinem Allerheiligsten.
Zurückzugehen scheint den beiden keine Option zu sein, und so öffnen sie die Tür. Im Raum dahinter sehen sie sich erst einmal vorsichtig um. Vor ihnen führt eine breite Treppe hinab. Die Handläufe sind ebenso schwarz lackiert wie die Tür. Darunter erstreckt sich ein Ballsaal. Obwohl hier alles zu gesponnen und verstaubt ist, können sie sich doch bestimmt die prächtigen Feste vorstellen, die einst hier gefeiert wurden. Ich für meinen Teil kann mich genau daran erinnern, an die Musik, an das Klirren der Gläser, und an das Lachen. Das war, bevor die Stille über den Rabenweg kam.
Die beiden gehen langsam die Treppe hinab, bedacht, jede Trittfläche erst auf ihre Belastbarkeit zu überprüfen, bevor sie ihr gesamtes Gewicht darauf verlagern. Schlaue Burschen.
Als sie an der letzten Stufe ankommen, hält einer den anderen zurück.
»Siehst du das auch?«, fragt er und deutet mit dem Schein seiner Taschenlampe auf den staubbedeckten Parkettboden.
»Was zum …?« Sie entdecken Fußspuren im Staub. Sie sind frisch.
»Irgendjemand muss schon hier gewesen sein.«
»Vielleicht eine der Mädels?«
»Aber die müssten doch zu zweit unterwegs gewesen sein. Außerdem waren im Korridor, der uns hergeführt hat, auch keine Spuren.«
Er folgt den Fußspuren mit dem Licht. Wie vom Blitz getroffen lässt er die Taschenlampe fallen, als er sieht, dass sie aus dem Nichts an einer Wand beginnen.
»Wie ist das möglich? Die können doch nicht durch Wände gehen, oder?«
Der Zweite hebt die Taschenlampe auf und betrachtet die Stelle einmal genauer.
»Die Wand … siehst du das auch?«
»Ja. Sieht aus, als wäre sie neuer als die anderen. Und sie ist auch nicht verputzt oder tapeziert. Als hätte sie jemand in aller Eile dort hin gemauert.«
»Also meinst du, da war vor kurzem jemand, der einen Ausgang zugemauert hat?«
»Das wäre schon möglich und würde die frischen Fußspuren erklären. Vielleicht wollte ja jemand, dass wir hier nicht mehr heraus finden?«
»Du meinst, wir wurden in eine Falle gelockt?«
Panik breitet sich unter den beiden aus. Sie rennen wieder die Treppe hinauf – diesmal weniger achtsam wie zuvor. Als sie oben ankommen, lasse ich sie in sich zusammenbrechen. Die jungen Menschen werden unter Holz und Stein begraben. Sie sind nun ein Teil meiner Stille. Mit ihrer Vermutung lagen sie ohnehin nur zur Hälfte. Ja, sie wurden in eine Falle gelockt. Aber es war keineswegs ein Ausgang, der hier zugemauert worden war. Vielmehr war es mein Herz, der Ursprung der Stille.
Unterdessen hatten die beiden Mädchen den richtigen Korridor genommen und erreichten die Eingangshalle. Atemlos wollte die Blonde gerade zur Tür hinaus stürzen – meinen Respekt, dass sie sich anscheinend keinen Deut um die Jungs scherte – als sie etwas sieht. Ein kleines Detail nur, doch es lässt sie innehalten und ein paar Schritte zurück machen. Mit scheinbar wachsendem Entsetzen betrachtet sie ein antikes Gemälde, es war ihnen, als sie eintraten, nicht aufgefallen.
Ein Porträt meiner alten Hausherrin.
Völlig entgeistert wandert ihr Blick zwischen der Rothaarigen und dem Bild hin und her.
»Du!«, ist das einzige Wort, das sie über die Lippen bringt. Immer wieder nur »Du!«
Dann macht sie auf dem Absatz kehrt und stürmt zur Tür hinaus. Als Einzige flieht sie aus meinen Mauern. Doch das werde ich nicht zulassen. Ein Dachziegel löst sich an der richtigen Stelle. Ein weiterer Unfall im Rabenweg. Er wird zu meinem Ruf beitragen. Dem Ruf des verfluchten Anwesens. Dieser Ruf wird die dreistimmige Stille weiter aufrecht erhalten. Wird mein Geheimnis bewahren.
Unser Geheimnis.
Langsam schreitet die Rothaarige meine ausladende Eingangstreppe hinunter. Sie betrachtet die Erschlagene im Kies und streichelt mir dabei sanft über das Treppengeländer, wie sie es schon seit zweihundert Jahren tut.
»Das hast du gut gemacht, alter Freund« ertönt ihre kratzige Stimme ein letztes Mal in dieser Nacht. Zur Antwort lasse ich die Balken knarren wie das Schnurren einer Katze.
Gräfin Liliana.
Meine Hausherrin.
Seit zweihundert Jahren bewahre ich ihre Knochen. Sie selbst mauerte sich damals ein. Alles hatte sie verloren, ihren Reichtum, ihr Personal, ihren Ruf. Doch mich, ihr geliebtes Haus, konnte sich nicht auch noch verlieren. Nun ist sie auf ewig ein Teil von mir. Ein Teil der Stille am Ende des Rabenwegs.