In der Dämmerung des Abends, nach einem der bisher schönsten Herbsttage dieses Jahres, wärmte ich meine müden und alten Mauern auf, bis die Sonne dem Mondschein wich. Ich fühlte mich stark und allen Naturgewalten gewachsen, wenn die Wärme des Tages mir an solch kalten und einsamen Abenden, noch lange bis in die Nacht, Trost und Zuversicht spendete.
Soviele Tragödien hatten sich in meinen vier Wänden abgespielt, dass ich mich von Zeit zu Zeit fragte, ob meine Strafe darin bestehen sollte, bis zum endgültigen Zerfall, ungeliebt und vergessen, zu jenem Teil des Rabenwegs zu werden, vor dem die Menschen sich fürchteten. Dabei war nicht ich es, der die Verantwortung trug für all das Leid, das sich zugetragen hatte.
Auch wenn ich den ein oder anderen neugierigen Zeitgenossen aus Langeweile und Spaß am Spiel etwas erschreckt hatte, weil eine Türangel quietschte, sich ein Fensterladen plötzlich aus einer Angel löste, die Kellertüre wegen eines Windzuges mit einem lauten Knall zusprang oder die Treppendielen knarzten und ächzten und der ein oder andere auch einmal mit dem Fuß durch den Holzboden brach, so konnte ich meine Schuld nur darin sehen, dass ich es niemals geschafft hatte, die bösen Dämonen in mir zu vertreiben. Sie waren nicht Teil meiner Natur, sondern hatten mich auserwählt, um ihr Unwesen innerhalb meiner Räume zu treiben.
Lange war es ruhig gewesen, da sich niemand in meine Nähe traute. Im Dorf erzählte man sich Schauergeschichten über mich. Über den Freitod des Grafen von Schirrheim, über eine Familie, die von einem auf den anderen Tag plötzlich verschwunden war, es hatte mehrere Brände gegeben… Für all dies wurde ich verantwortlich gemacht. In mir spukte es und ich brachte nur Unglück. Niemand zog mehr ein. Ich war dem Verfall bis auf die Grundmauern verdammt.
Während ich meinen Gedanken nachging, veränderte sich plötzlich etwas. Ich hörte Stimmengewirr, ein lautes Lachen, dann wieder ein Flüstern und Kichern. Menschen! Sie kamen näher. Ich sah sie mit Laternen auf mich zukommen. Meine anfängliche Freude wich abrupt einer Sorge. Einer Erinnerung. Die Dämonen in mir! Sie würden sie hören und sie mit Angst und Schrecken fortjagen! So sehr ich mir Gesellschaft wünschte, so sehr versuchte ich nun, mit all meiner Kraft, alle Fenster und Türen und Angeln in Bewegung zu setzen, damit sie dem Quietschen und Knarzen weichen und sich entfernen würden.
Doch sie schraken nicht zurück. Im Gegenteil. Zwei große und drei kleine Abenteurer bewegten sich weiter auf mich zu, standen schließlich vor der großen Eichentüre und drückten sie voller Neugierde und mit einem Strahlen in den Augen auf. Wie es mir schien, hatten sie gar keine Angst. Sie standen in der Eingangshalle und hielten ihre Laternen hoch in die Luft, damit sie alles sehen konnten. Sie bestaunten das, was von mir übrig geblieben war und strömten dabei so viel Wärme, Freude und Liebe aus, dass ich gerührt und ganz still da stand und keinen Laut mehr von mir gab.
Ich verharrte und wartete auf ein Unglück. Ich wagte es nicht, auch nur einen Stein zu bewegen, horchte, ob sich einer der Dämonen in mir regte. Doch nichts geschah.
Im Kaminzimmer wurde ein Feuer entfacht, das sofort den Raum mit einem bezaubernden Licht erfüllte. Die Kinder legten eine Decke auf den Boden. Sie hatten Schlafsäcke und Kissen mitgebracht. Die Eltern breiteten einige Leckereien vor den Kindern aus, heißen Tee, belegte Brote und ein paar Süßigkeiten. Die Laternen hatten sie um sich herum gestellt. In mir wurde es warm und ich spürte regelrecht die Energie und Freude dieser Kinder, die auf etwas zu warten schienen.
Der Vater holte ein großes Buch hervor, schlug eine Seite auf und begann den Kindern laut daraus vorzulesen. Währenddessen tranken sie Tee, aßen ihre Brote und lauschten gespannt. In der Geschichte, die erzählt wurde, ging es um ein Haus, vor dem sich stets alle gefürchtet hatten. Es wurde gemieden und wäre zerfallen, wäre da nicht diese eine Familie gewesen, die sich furchtlos und unvoreingenommen dem Gerede entgegengestellt hätte. Sie hörte nicht auf die im Dorf verbreiteten Gerüchte und glaubte nicht an Märchen. Sie glaubte nur das, was sie sah und vertraute stets auf ihre Gefühle.
An diesem Abend hatten sich die Zuversicht und die Hoffnung vereint und sich stark gemacht. Die Dämonen schwiegen. Sie hatten keine Macht diesen Menschen gegenüber. Selbst die Kinder hatten einen derart starken Willen und Glauben daran, dass stets die Liebe das Böse besiegen konnte, dass ich nicht einmal das kleinste Anzeichen von Furcht hatte wahrnehmen können. Da war ein Wohlwollen mir gegenüber, welches ich lange nicht mehr gespürt hatte.
Einige Tage später veränderte sich mein Dasein. In mir arbeitete es und bewegte es sich. Menschen kamen und gingen und nach einigen Wochen fühlte ich mich wie neu geboren. Die Familie zog ein und mit ihr der Frieden.
Nicht immer ist es wohl das, was man sieht, das maßgeblich sein sollte für Entscheidungen, die man trifft. Vielmehr ist es das, was in der Tiefe verborgen liegt und ein Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit auslöst. Die Geschichte birgt immer sowohl Höhen als auch Tiefen. Sie erschüttert oftmals Vertrauen, zerstört die Liebe oder auch Leben. Das gehört zu unserem Dasein dazu. Aber es gibt auch das Glück.
Auch wenn ich in den Augen vieler Menschen verbittert und alt erschien, so lagen diese Liebe und mein Bedürfnis danach, den Bewohnern Geborgenheit zu geben, doch in mir verborgen. Diese eine Familie hatte das erkannt und mir ein neues Leben geschenkt. Sie hatte die Dämonen in mir zum Schweigen gebracht.
Altes Haus
„Ich liebe dich, altes Haus! Am liebsten würde ich für immer bei dir bleiben.“, hat sie zu mir gesagt. Gemütlich habe ich es ihr gemacht. Die Wand, an die sie sich beim Lesen und Träumen gelehnt hat, habe ich an ihren Rücken angepasst. Das Knarzen habe ich ganz heimelig klingen und den Geruch nach Apfelkompott mit Zimt aus längst vergangenen Tagen wiederaufleben lassen. Und dann das?!? Mit diesem Jungen ist sie dahergekommen. Statt mir vorzulesen, haben sie herumgeknutscht. Ohne Anstand, ohne an meine Gefühle zu denken! Aber ich habe dafür gesorgt, dass ihm die Lust herzukommen vergangen ist. Was so ein Sturz über eine Stiege alles bewirkt! Ein Schrei, das Knacken eines Schädelknochens, dann Stille. „Weißes Gesicht auf rotem Blutspiegel“ – ein Meisterkoch hätte das nicht eleganter hinbekommen. SIE hat geschrien, dann den Notruf gewählt, dann großes Tatü-Tata und so viele Leute über meiner Türschwelle, wie schon lange nicht mehr. Die Aufregung hat mir nicht gefallen, aber dann ist es wieder ruhig geworden. Den bin ich los. Und sie kommt sicher bald zurück. … Oder?!?
Vollmond
Kalt leuchtet das Licht des Vollmondes durch die kahlen Äste des Eichenbaumes.
Einzelne Strahlen treffen auf meine Fenster und lassen sie aufleuchten. Gaukeln Schein und Glanz einer vergessen Zeit vor.
So lange bin ich schon allein. Keiner kümmert sich um mich, keiner besucht mich. Man hat mich komplett vergessen.
Die Äste des Baumes knarzen im Wind, meine Fensterläden klappern. Zusammen klagen wir unser Leid. Auch er vermisst die alten Zeiten in denen bei uns viel los war. Gemeinsam erinnern wir uns um nichts zu vergessen und hoffen, das man uns wieder findet.
Was ist das? Da war doch ein Geräusch. Es klang nach Schritten. Angst ergreift mich gepaart mit Hoffnung. Konnte es war sein? Hat man uns gefunden? Ich lauschte weiter in die Nacht hinein. Ich hörte die Mäuse durch das Unterholz huschen, die Jäger des Waldes die zur Jagd aufbrachen. Ansonsten Stille. Keine Geräusche die nicht hierher gehörten. Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Die Einsamkeit macht mir zu schaffen.
Lange werden wir nicht mehr überleben, langsam sterbe ich von innen.
Da! Da, war das Geräusch wieder. Es hört sich wirklich nach Schritten an. Mehrere Schritte! Es sind mindestens zwei Menschen. Der Baum raschelt vor Freude mit seinen Blättern. Er hörte es auch.
Ich öffnete meine Fensterläden um nicht zu gruselig zu erscheinen.
Ein Lichtschein kam näher. Anders als das Licht des Mondes. Heller, aber auch wärmer.
Stimmen sind auch hörbar. Eine Frau und einen Mann. Sie sind fast da. Freude erfüllt mich, endlich kann ich meine Geschichte erzählen.
Sie sind da!
Sie sehen erschöpft, aber auch erfreut aus. Am Rande der Wiese bleiben sie stehen und betrachten ihre Umgebung. Keiner sagt etwas. Alles bleibt still.
Sie machen Fotos. Doch ihr Licht blendet mich und ich schließe meine Läden etwas.
Als sie dies bemerken hörten sie auf. „Du brauchst keine Angst vor uns haben Haus. Wir haben Dich lange gesucht und gefunden. Unsere Vorfahren haben viel über Dich erzählt. Nun sind wir zurückgekommen um Dir wieder auf zu helfen und unser Leben hier zu verbringen.
Deinen Schlüssel haben wir auch. Damit Du uns als wahre Erben erkennst.“ Langsam holte sie einen Schlüssel aus der Jackentasche. Groß und golden. Er sieht gepflegt aus. Nur mein Schloß nicht. Sie kamen mit langsamen Schritten auf mich zu. Ich durchlief eine freudige Erregung. Meine Zeit scheint gekommen zu sein.
Sie haben die Eingangstür erreicht. Mit Bedacht stecken sie den Schlüssel in mein Schloss. Gemeinsam drehen sie den Schlüssel um und öffnen die Tür. Im Moment der Öffnung erstrahlte ein helles Licht und umgab die gesamte Umgebung.
Ich hörte ihr Gedanken und Geschichten und sie sahen meine Geschichte.
Die alte Zeit ist endlich Geschichte. Heute fängt etwas Neues an.
Ein Haus spiegelt die Seele seines Bewohners wider. Hat zumindest mein Erbauer gesagt. 200 Jahre ist es her, dass mein heller Anstrich glänzte und die Dielen gebohnert waren. Die Jahre vergingen und so verging auch meine Schönheit. Nun stehe ich als altes Haus mit blättrigen Farbresten am Ende des Rabenweges.
Unter der ehemals weißen Farbe kommt mein modriger Holzkern zum Vorschein. Die Bretter der Veranda sind wettergegerbt und aufgequollen. Auch um mein Innerstes steht es nicht besser. Von Motten zerfressene Vorhänge. Ratten haben sich über die wenigen verbliebenen Möbel hergemacht.
Nur selten verirrt sich jemand hierher. Umso freudiger die Überraschung, dass sich heute gleich ein ganze Gruppe junger Menschen aufmacht meine Gemäuer zu erkunden.
Mein alter Herr hatte gerne Besuch. Brachte er doch so viel Leben ins Haus.
Langsam tasten sich die Besucher in mein Inneres vor. Ist es doch schon dunkel und meine verstaubten Fenster lassen nur hier und da einen Strahl des Mondlichts durch. Ich spüre wie sie vorsichtig über meine knarzigen Holzbretter hinwegsteigen, als würden sie etwas suchen. Ob sie das finden, was sie sich wünschen?
Nach langer Zeit des Rastens fällt es mir schwer mich fokussieren. Ich rüttle mich leicht. Im Kellergewölbe regnet es Staub von der Decke. Der Deckel des Sarkophags knallt auf den Boden. Ein Hall durchzieht meine Gemäuer. Die jungen Abenteurer schrecken kurz auf, bleiben wie angewurzelt stehen. Sie können der folgenden drückenden Stille nicht standhalten und wollen hastig meine Räumlichkeiten verlassen.
Doch es ist bereits zu spät. Mit einem leisen, aber deutlich wahrnehmbaren „Quietsch, Klack“, fällt die Eingangstüre ins Schloss. Sie wird sich nicht mehr öffnen lassen. Auch nicht, wenn alle unsere Besucher gemeinsam an ihr zerren.
„Unsere Besucher…“
„Meister, erwacht. Unsere Besucher sind bereit. Es ist Leben in Eurem Haus.“
Der Fluch des Herrenhauses
Erste Stufe, knarz, zweite Stufe knarz. Da kommen sie mit ihren Aufnahmekästchen und plappern wie wildgewordene Hühner, als sie eintreten. Es sind drei an der Zahl, blond, brünette und rothaarig. Überschwänglich, mutig und vorsichtig. Panisch leuchten sie mit den Scheinwerfern ihren langgezogenen Zigarettenschachteln im Eingangsbereich herum.
Mir juckt es in den Dielen, aber ich muss mich zurückhalten. Ich darf sie nicht verscheuchen. Zu lange warte ich schon. Ich brauche etwas Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen. Ihre Angst wird mich beflügeln. Gleich bekommt ihr einen kleinen Vorgeschmack.
»Das ist so krass hier, meine Follower lieben es jetzt schon! Alles alt und düster und verstaubt. Wie in einem Horrorfilm«, schildert Stacey ihrer Community die Umgebung.
»Ich weiß nicht, ob es so klug ist, dass wir hier sind Stace. Das Absperrband an der Türe sah verdammt echt aus«, erklärte Wendy mit zittriger Stimme.
»Mach dir nicht immer solche Sorgen«, wandte sich Jessica filmend an Wendy. Die Zuschauerzahlen explodieren. Guck Mal hier. Doch als Jessica ihr das Display unter die Nase hielt, hörten sie ein kräftiges metallenes scheppern. Die Mädchen schreckten zusammen.
Oh ja ich spüre es. Diese köstliche Furcht, die in ihnen aufsteigt. Gleichzeitig reden sie immer energischer in ihre Kästchen. Sie scheinen mit jemanden zu sprechen. Das ist erstaunlich.
»Das muss aus der Küche gekommen sein, wahrscheinlich nur ein paar alte Töpfe.«
»Lasst uns bitte gehen«, flehte Wendy.
»Ganz bestimmt nicht! Sollen wir in die Küche gehen?«, fragte Stacy in ihr Handy. Jessica verfolgte gebannt den Live-Chat in der die Community sich nur so mit Zustimmung überschlug.
»Guckt Mal«, sagte Stacey. »Hier bietet uns jemand 50€, wenn wir hineingehen.«
Ihre Freude über diese und weitere mögliche Spenden ließen die beiden Influencerinnen alle Furcht für einen Moment vergessen.
Als Wendy, an Jessica klammernd, die Tür zur Küche passiert hatte, knallte diese mit einer solchen Wucht zu, dass die jungen Frauen einen kräftigen Luftstoß zu spüren bekamen, der sich ihnen die Nackenhaare aufstellen ließ.
»Oh mein Gott«, schrie Jessica.
Wendy weinte vor Sorge und klammerte sich weiter an Jessica.
»Scheiße habt ihr das gesehen«, brüllte Stacey in die Kamera und richtete es danach zitternd auf die Tür.
Oh das hat mich Kraft gekostet, aber das war es wert. Ihre Angst steigt ins Unermessliche. Jetzt nur nicht abhauen.
»Ich werde jetzt sofort verschwinden«, erklärte Wendy, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. Sie nahm allen Mut zusammen und ging entschlossen zur Türe und öffnete sie. »Kommt ihr mit?«
»Warte, Wendy. Das wirst du nicht glauben. Ein Follower bietet uns 1000€, wenn wir hier bleiben.«
»Nein, ich gehe. Mir egal was sie bieten«, konterte Wendy.
»3000€!«
Wendy ging schnellen Schrittes zur Haustür weiter.
»10.000€!«, schrie Stacey aus der Küche und Wendy blieb in der halb aufgeschlossenen Tür stehen.
»Aber nur, wenn wir zu dritt hier bleiben.«
»Ach scheiße«, sprach Wendy leise zu sich selbst und machte kehrt.
»Unsere Live-Streams sind in der letzten Minute auf fünfhunderttausend gestiegen. Ich denke jetzt ist es Zeit!«
»Zeit für was?«, wollte Wendy wissen.
»Für das große Finale.«
Stacey ging zurück in den großzügigen Flur, dicht gefolgt von ihren Freundinnen und öffnete den schweren Eingang, der in den Keller wies. Ein rostiger Handlauf führte in die dunkle Tiefe, deren altes Gemäuer an ein Burgverlies erinnerte.
»Liebe Community, was bietet ihr uns, wenn wir dort hinabsteigen?«
Kleinere Spenden zwischen 50-100€ prasselten nur so herein, doch eine Meldung hob sich von den übrigen ab.
»Der gleiche Kerl der uns die 10.000€ versprochen hat, bietet uns 50.000€, wenn wir den Keller untersuchen. Wow! Das ist irre!«
»Das ist Wahnsinn!«, ergänzte Wendy mehr bestürzt, als euphorisch.
»Lasst uns gehen, bevor ich es mir anders überlege«, mischte sich Jessica ein und ging mutig voran. Doch Stacey drängte sich an ihr vorbei. Zuletzt folgte Wendy.
Vorsichtig und langsamen Schrittes gingen sie tiefer. Ihre Hände fest am alten Handlauf. Der scharfkantige Rost schnitt ihnen in die Finger.
Während Stacey vollkommen auf die Aufnahmen konzentriert war, zischte hinter ihr die Kellertür zu, erschreckte Wendy, sodass diese stolperte und sie und ihre Freundinnen gemeinsam in den Abgrund riss. Die jungen Frauen versuchten, ihren Sturz am Geländer aufzuhalten, doch das vom Rost zerfressene Eisen gab nach und sie fielen ungehindert ihrem Untergang entgegen.
Der Herr der Finsternis erschien im alten Herrenhaus. »Drei weitere Unschuldige Seelen. Wie vereinbart. Dann werde ich deinen Fluch nun lösen. Doch sage mir vorher, wie hast du es geschafft diese jungen Frauen in ihr verderben zu stürzen?«
»Mit Geduld und einem Breitbandinternetanschluss.«
Wir sind das Ächzen des Gemäuers bei Sturm. Wir sind die Stille in der mondlosen Winternacht. Wir sind die Erinnerungen an all jene, die hier ein und aus gingen. Und derer, die blieben. Wir sind Ziegel und Balken und Mörtel. Voller Geschichte. Alt, uralt. Und doch immer im Wandel. Das alte Anwesen am Ende der Straße. Hier hauste einst das Leben. Es gab viel Freude, viel Gutes. Neues Leben kam, altes ging. Es gab auch Trauer und Schmerz und Verlust. Doch alles war richtig, gehörte zusammen. Und nährte uns, füllte, erfüllte uns. Bis es kam. Jetzt sind wir Wächter. Und die Gebeine und Geister derer, die blieben. Es gibt keine neuen Geschichten mehr, nur noch die eine.
Wir halten es hier gefangen. Das Dunkle, die Leere. Tief in unseren Gewölben. Doch wir werden schwächer. Die Erinnerungen, die uns ausmachen, verblassen langsam. Es wird stärker. Reißt uns auseinander und setzt uns wieder zusammen, verschiebt nicht nur unsere Mauern und Türen, sondern unser Innerstes. Es bricht heraus und lockt. Sie hören, nein, fühlen es. Ein Flüstern, ein Wispern im Wind. Es ruft sie. Weckt ihre Neugier und vergiftet ihren Geist. Mit Versprechen von Abenteuern und Geschichten von Schätzen. Es werden immer mehr, die kommen. Und immer mehr, die seinen Hunger stillen. Die ihm dienen und uns bekämpfen. Es kommen immer mehr, aber niemand geht wieder. Niemals. Arme Menschen. Es gibt kein Entkommen. Entweder sie bleiben bei uns, oder sie werden Teil der Dunkelheit, Teil des Wisperns.
Doch vorher kämpfen sie gegen es an. Die meisten bringen mehr Nutzen als Schaden. Also lassen wir sie kommen. Also zeigen wir ihnen Wege in die Tiefe, in das Herz der Finsternis. Zeigen ihnen die Wunder, die sich über all die Jahre angesammelt haben. Wir helfen ihnen, solange wir können, bis wir nicht mehr können. Bis sie entweder verschlungen werden oder sich uns anschließen. Neue Geister, neue Gebeine. Sie sind bereits hier. Hier an der Tür. Arme Seelen, die ihr nicht wisst nicht, dass dies euer letztes Abenteuer sein wird…
Am schlimmsten sind Familien mit Kindern
Heute Morgen war Hadice da. Ich kann nicht anders, als mich zu freuen, wenn sie den granitgepflasterten Weg heraufkommt. Auch, wenn ich weiß, was das bedeutet: Gäste. Niemand dreht den Schaft so liebevoll im Schlüsselhaus wie sie. Es fühlt sich an wie ein sanftes Kratzen genau an der Stelle, die mich gerade juckt. Sie verzichtet auf den Staubsauger, jenes brüllende Ungetüm, das meine weichen Eichendielen zerkratzt. Lieber nimmt sie den Besen. Sie zieht ihn in schwungvollen immergleichen Kurven, zu deren Takt ich mich wiegen möchte. Vorher wedelt sie behutsam den Staub von meinen Spiegelkommoden, Fensterbänken und Kaminsimsen. Manchmal lehnt sie sich an den alten Bauernschrank in der Wohnstube, als bräuchte auch sie einen Freund. Dann verlässt sie mich und wandert an der Landstraße entlang bis zur Bushaltestelle, ohne sich nach mir umzudrehen. Ich verhalte mich ganz still, wenn Hadice da ist. Kaum eine Tür quietscht, kaum eine Diele knarzt. Erst recht, wenn sie die Klappleiter aus der Vorratskammer trägt, um den Kronleuchter abzuwedeln – ein Prachtstück aus vergoldetem Korb und italienischem Kristall, dass ich so gerne zum Zittern bringe. Nicht, wenn Hadice da ist. Niemals möchte ich, dass sie sich vor mir fürchtet.
Bei den Gästen sieht das ganz anders aus. Am schlimmsten sind Familien mit Kindern. Sie poltern mit ihren groben Wanderschuhen über meine Eichenholzdielen, als sei es profanes Laminat. Sie hinterlassen eingespeichelte Milchbrötchenkrumen in meinen Fugen. Die bleiben dort sitzen, säuerlich und klamm, bis Hadice mich von ihnen befreit. Meine einzige Genugtuung ist, dass sich Kinder so wunderbar erschrecken lassen. Herrlich, wenn die polternden Schritte von der Angst eines nach seiner Mutter weinenden Vierjährigen getrieben sind. Am Anfang finden sie noch Trost in den bettschweren Armen der Eltern, die ihnen erklären, dass das alles nur ihrer kindlichen Fantasie entspringt. Die werden sich wundern, wenn plötzliche ihre Schlafzimmertür zuschlägt. Oder ein heulender Wind durch den Flur fährt, obwohl sie doch alle Fenster und Türen wirklich fest verschlossen haben, nachdem sie gesehen haben, wie dunkel der Wald fernab menschlicher Ortschaften sein kann. Wenn nicht Hadice, so ist das wirklich mein größtes Glück: Die unbändige Furcht in aufgerissenen Kinderaugen, die gerade realisieren, dass auch ihren Eltern, ihren sicheren Stützen, ihren Welterklären und Trostspendern, vor Angst die Knie schlottern.
Dass mich jemand so zärtlich pflegt wie Hadice, ist lange, sehr lange her. Und doch erinnere ich mich gut an Anne, die hier Kindsmagd war. Damals, als ich noch bewohnt war und nicht nur an wenigen Tagen im Jahr von taktlosen Wanderern heimgesucht wurde. Auch sie hat den Besen schwungvoll geführt, auch sie hat mich behutsam von Staub befreit. Sie haben sie weggesperrt, sie haben sie mir weggenommen. Dabei war es nicht ihre Schuld, dass das Kind die Treppe hinunter auf meine unbarmherzigen Kalksteinboden fiel. Sie hat sich damals mit der gleichen Hingabe um das Kind gekümmert, wie um mich. Oft ließ sie von mir ab, nur weil das Kind nach ihr rief. Vielleicht hat die oberste Stufe ein wenig nachgeholfen, vielleicht war es auch einfach nur das einfältige Balg ganz allein schuld. Sie haben sie mir weggenommen. Meine Rache war süß.
Das Haus der Gräfin
Langsam schlichen sie die Einfahrt hinauf zu dem alten Haus, das hinter den beiden großen Linden versteckt in einem riesigen, verwilderten Garten lag. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Und während sie versuchten möglichst leise zu sein, kroch die Gänsehaut über ihre Arme und ließ sie vor freudiger Erregung erschauern. Eine Eule rief aus dem Wald, der sich hinter dem Haus wie eine dunkle Decke über die Hügel breitete.
Seit die alte Frau, die hier gelebt hatte und nur die Gräfin genannt wurde, an einem Schlaganfall gestorben war, verfiel das Haus. Die Kletterrosen umrankten die Veranda, die Fensterläden hingen schief in den Angeln und das Dach wurde morsch und undicht.
Der Wirt aus dem Dorf, das am anderen Ende des Rabenweges lag, erzählte jedem, der es hören wollte, dass es in dem Herrenhaus spuke. Die Gräfin, die keine Ruhe fand, solle in dem alten Gemäuer umherirren, weil sie darauf warte, dass ihr geliebter Sohn aus dem Krieg heimkehre.
Die drei jungen Burschen, die nun um das Haus herumschlichen, wussten nicht, worauf sie sich da einließen. Aber sie wollten es mit eigenen Augen sehen, wie das Haus mit den Fensterläden klapperte, die Türen von Geisterhand geöffnet und dann unvermutet hinter einem zugeschlagen wurden. Viele wunderliche Geschichten rankten sich um das Haus, das seit dem Tod der Gräfin niemand bewohnt hatte.
Kaum hatten die drei die Stufen zur Veranda erreicht, da tobte eine Windbö um das Haus und wirbelte den Staub vom Boden auf, so dass die Burschen vor Schreck die Augen zukniffen, während ein lautes Heulen ertönte. Kaum hatte sich der Staub gelegt öffnete Paul, der jüngste der drei vorsichtig ein Auge und sah, dass die schwere Eichentür einladend offen stand. „Oh schaut, die Tür ist offen!“ rief er entzückt aus und lief durch die Tür, während die anderen kaum wagten, ihre Augen zu öffnen.
Paul stand in einer prachtvollen Empfangshalle. Direkt vor ihm führte eine riesige geschwungene Holztreppe mit verschnörkelten Sprossen hinauf in den ersten Stock. Rechts davon war ein großer Kamin, in dem ein herrliches Feuer prasselte, und darüber hing ein riesiges Porträt einer jungen Frau in einem hellblauen Abendkleid. So etwas Schönes hatte Paul noch nie gesehen. Er konnte die Augen nicht abwenden und bestaunte die kunstvolle Frisur und die blonden Locken, die das zarte Gesicht umrahmten. Die Frau lächelte ihn mit ihren dunkelblauen Augen an und nickte ihm zu. „Willkommen, junger Master,“ hörte Paul eine Stimme in seinem Kopf, „willkommen zu Hause.“
Während Paul seinerseits die jungen Frau anlächelte, fiel die schwere Eichentür hinter ihm mit einem Knall ins Schloss. Die beiden jungen Burschen, die nun endlich aus ihrer Starre erwachten, stürzten zum Eingang, der ihnen nun verschlossen war, und hämmerten mit ihren Fäusten gegen das dunkle Holz. „Aufmachen!" - „Paul!“ - „Paul, hörst du uns?“ - "Aufmachen!“ - „Paul, mach die Tür auf!“
Doch Paul hörte sie nicht. Er lauschte nur der Stimme der jungen Frau, die nun plötzlich direkt vor ihm stand und seine Hand ergriff. …
Das Geisterhaus
Am Rabenweg sieht‘s öde aus,
ich lieg‘ dort wie allein auf der Welt.
Nur dunkler Wald und ich, Ein Haus,
für ein Doppelhaus fehlte das Geld.
Endlose Dekaden war hier echt was los,
es ging wild Drunter und Drüber,
inzwischen trag‘ ich eine Haut aus Moos
und bin schon fast hinüber.
Nur Ende Oktober, bekomm’ ich zuweilen Besuch,
sie lieben den Thrill und das Grauen.
Die Vier heute kriegen auch nicht genug,
wollen sich gar zur mir rein trauen.
Meine Dielen die knarzen, ja, es quält mich die Gicht
und ich möchte sie damit vertreiben.
Bin heut nicht gut drauf, Besuch möcht‘ ich nicht,
doch die Ignoranten beschließen zu bleiben.
Ich bin nicht nur der Herr im …, sondern selbst das Haus
und bin ich auch wackelig und alt,
ich such‘ mir meine Gäste selber aus:
„Seid ihr nicht willig, dann brauch ich Gewalt!“
Sie hören mein Hauchen, spür‘n im Gebälk das Geknister,
doch wollen noch immer nicht weichen.
Na gut, dann zieh‘ ich and‘re Register,
hier gab‘s schon mehr als vier Leichen!
Ich schieb aus der Decke knirschend den Stein,
lös knarrend an der Treppe die Stiege.
„So dämlich kann man doch gar nicht sein,
ich wette, dass ich sie gleich kriege“.
Doch Halt! Im Dachstuhl ein Gedankenblitzer,
die kommen doch zum Renovieren.
Maler, Architekt und die neuen Besitzer;
ist mir das peinlich, ich muss mich genieren.
Stein wieder rein und Stiege fixiert,
mein Gott, wie hab‘ ich da nur gepennt!
Sowas ist mir ja noch nie passiert,
ich glaub ich werd‘ langsam dement.
Karussell, Karussell, dreht sich so schnell
Vorbei an Dächern und Türmen,
die Straßen und Gassen verschmelzen zu Brei
aus Schreien und Pfiffen, aus Rufen und Kreischen,
bis plötzlich das Karussell die Raserei unterbricht,
und sich seinem Heim zuwendet.
Das, umgeben von Gesträuch und Birken,
sich auf die Seite dreht und…
„Darf ich mich vorstellen? Ich bin das verlassene Haus am Ende des Rabenwegs und meine Wände atmen uralte Geschichten unzähliger Leben. Ich liebe diese dunklen Zeiten, in denen der Wind die letzten Blätter von den Ästen zupft und an meinen Fensterläden zerrt. Und ich habe viele Menschen kommen … aber keine mehr gehen sehen.“
„Ich werde alt und meine Gelenke müde.“, seufzte die Tür und knarzte, vom Winterwind angefeuert, in den Angeln.
„Red’ keinen Unsinn.“, klapperten die Fensterläden. „Wir treiben jetzt schon solange unseren Schabernack mit allen Lebewesen, das darf dir doch mit deiner Routine nichts ausmachen. Selbst die neugierigen Mäuse…“.
„Ach, halt dich geschlossen, du hast ja keine Ahnung. ICH gehe immer auf und zu, bei Tag und bei Nacht. Und du? Maximal, wenn ein Eindringling an den Fensterknauf kommt, öffnen und schließen sich deine Läden.“
„Ich achte eben auf mich und haushalte mit meinen Kräften, im Gegensatz zu dir.“, blafften die Klappläden zurück.
„Aber…“
„Jetzt seid mal beide ruhig.“, mischte sich das Treppengeländer ein und lauschte angestrengt nach draußen. „Ich höre Menschen reden.“
„Das wird wieder ein Vergnügen!“, jauchzte die Treppe und rollte ihre Stufen rauf und runter.
Tatsächlich näherte sich eine Gruppe junger Leute dem Haus, durchschritten verwundert den Garten, dessen Obstbäume, Pflanzen, Büsche und Blumen üppig blühten, obwohl das neue Jahr soeben erst angefangen hatte. Die Silvesterparty hatte bis in den frühen Morgen gedauert, mit der Deutung von Bleigießfiguren geendet und die Gruppe hatte nach dem späten Frühstück gemeinsam angeregt, einen ebenso ausgiebigen Spaziergang zu machen. In kleinen Grüppchen unterhielten sie sich während des Gehens über mystische Begebenheiten aus der Vergangenheit und waren doch verblüfft, so etwas Wunderliches wie den Garten und das in die Jahre gekommene Haus selbst zu erblicken.
„Hier war ich noch nie.“, raunte eine junge Frau leise. „Sind wir denn solange schon unterwegs?“
„3 Stunden sicherlich.“, antwortete ihr einer aus der Gruppe und sah auf seine Uhr. „Nicht mehr lange bis zum Sonnenuntergang.“, stellte er fest.
„Aber einmal ins Haus schauen, müsste noch drin sein, oder?“ Sie sah Beifall heischend in die Runde und erntete neugieriges Nicken.
„Also dann los!“
Die Tapetenfetzen drinnen flatterten vor Freude.
„Sie kommen, sie kommen!“
„Erst Eintreten und rundgehen lassen!“, ermahnten die Wände. Sie vollführten ein paar dynamische Yogaübungen und kamen beim Knarzen der Pforte wieder zur Ruhe. Danach Stille. Nur die schlurfenden Schritte der Menschen auf den ausgetretenen Holzdielen waren jetzt der einzige Laut, der zu vernehmen war, denn sie verstummten ebenfalls, allerdings eher ehrfürchtig. Ein Fenster wurde geöffnet, Läden aufgestoßen. Alle Menschenaugen blickten auf verschlissene Sitzmöbel, angestaubte Kommoden, schief hängende, vergilbte Gemälde.
Wie auf Kommando wandten sie sich nach dem Rundgang durch labyrinthartige Gänge und Räume der Treppe zu, probierten die Trittfestigkeit der Stufen aus. Dann gab es kein Halten mehr. Hinauf ging es in die oberen Gemächer.
Da gab das Haus das Zeichen und alles setzte sich in Bewegung, Skelettierte Hände bohrten sich durch Nischen in die Räume, griffen nach den Menschen, die an die Wände zurückgewichen waren als das Tohuwabohu begann; Augäpfel kullerten wie Murmeln über die auf und ab tanzenden Dielen und starrten in entsetzte Menschengesichter; Jahrhunderte alte Gebisse klapperten und flehten:
„ Erlöst uns, denn wir sind verflucht!“
Die Lebenden Wesen stießen markerschütternde Schreie aus, gab es doch kein Entweichen, die Treppe existierte nicht mehr. Jemand rief: „Ans Fenster, schnell! Raus hier!“ Einer nach dem anderen sprang aus dem einzigen Fenster, das sich öffnen ließ, weil es nur noch lose in den Angeln hing, in die Tiefe. Das baufällige Haus fluchte und winkte dem Baum der Raben zu.
„Ich bin zu alt für solche Spielchen. Ich überlass das mal euch! Und dem Garten.“
Also versammelte sich alle Flora unter dem offenen Fenster, versperrte so den Fluchtweg.
„Es ist vorbei.“, krächzten die Raben runter vom Baum. Mit Eis und Schnee beladen, auch Blitz und Donner im Gepäck, griff der Wind die Worte auf und pfiff ums Haus: „Vorbei, vorbei, doch der immerwährende Reigen beginnt erst jetzt!“
Ausgehungert öffneten alle Pflanzen weit ihre Blütenkelche und das alte Haus verbeugte sich tief und dankbar vor den Naturgewalten.
Karussell, Karussell dreht sich zu schnell,
abrupt die rasche Fahrt unter Geschrei
gestoppt, vorbei ist vorbei, ist vorbei, ist vorbei.
In den Erden des blühenden Gartens
beendet jede Pflanze ihren Anteil am Mahl
verdaut Verspeisung, frisst Knochen kahl.
Das Haus, frisch gestärkt, dreht sich zur Seite.
„Ich bin das verlassene Haus am Ende des Rabenwegs.“
Nur keine Mühe
Ein murmeln lässt mich hochschrecken. Ich bin alt und spüre es schmerzhaft jeden Tag. Ich bin müde. Ich bin einsam. Was waren das für Zeiten als noch Leben in mir war. Und es war viel Leben in mir. Gutes. Schlechtes. Erschreckendes. Wunderbares. Ich habe viel erlebt und alles gesehen.Ich kann kaum noch stehen. Alles schmerzt. Sie kommen näher. Sie blenden mich. Ich höre sie deutlicher.
„…das lässt sich sicher wieder toll herrichten. Das wird dann das Zentrum der Wohnanlage und rundherum dann die 12 neuen Wohnblocks…“ Ich ächze. Etwas Putz bröckelt ab. „Und im Zentrum befinden sich dann Geschäfte, ein Kindergarten und ein Jugendzentrum…“ Die spinnen doch. Ich muss husten. Ein paar Dachziegel poltern herab. „Vielleicht sollten wir das doch nochmal überdenken. Das sieht mir alles schon ziemlich windschief aus. Vielleicht reißen wir doch lieber ab und bauen neu…“
Mich schüttel´s. Die Wände wackeln. Macht euch nur keine Mühe. Ich muss kichern und alle zucken zusammen. Dann stürze ich ein. Mit einem Lächeln…
Ich möchte nicht einsam sterben
Welche unbarmherzige Macht hat mich so elend alt werden lassen? Überall knackt und knirscht es im Gebälk, und ich spüre, wie meine Kraft mit jedem Jahr, jedem Monat, jedem Tag schwindet. Wieder ist es Nacht geworden, und niemand hat sich meiner erbarmt, um mir meinen letzten Wunsch zu erfüllen. Der Wind trägt ein Rascheln, ein Keuchen, hastige Schritte und mit ihnen Hoffnung in meine Richtung. Ich höre Stimmen. Mindestens drei. Zwei Männer, eine Frau. Jemand atmet schwer. Ich lasse meine Lichter erstrahlen, möchte ihnen einen warmen Empfang bereiten.
„Ich hatte recht, es ist jemand daheim!”, höre ich eine Männerstimme rufen. Kommt näher, seid meine Gäste, denke ich und puste etwas Rauch aus den Überresten meines Schornsteins. Schon purzelt ein weiterer Stein in den Kaminschacht. Viele sind nicht mehr übrig.
„Das ist mir unheimlich. Lass uns umkehren.” Die Frau klingt, als fürchte sie sich. Nein, bitte geht nicht! Ich lasse beide Flügel der uralten Haustür knarrend aufschwingen und hoffe, dass sie eintreten.
„Nein, schau doch mal, wir sind eingeladen!” Genau, du hast es verstanden. Macht es euch gemütlich in meinen schwachen Mauern, füllt meine Wände mit Leben. Es ist so lange her. Und niemand ist geblieben.
„Dieses Haus lebt. Es macht mir Angst.”
„Sei nicht dumm. Wir haben so lange kein festes Dach mehr über dem Kopf gehabt, und hier wird uns so schnell niemand finden.” Der Ausdruck ´festes Dach´ lässt mich innerlich auflachen, und ich spüre die Raben im Dachstuhl hin und her flattern. Ich halte der sachten Bewegung kaum stand.
Da kitzelt es auf der untersten Stufe vor dem Eingang. Einer der Männer hat einen Fuß auf die Treppe gesetzt. Er hält die Frau fest an der Hand, zieht sie hinter sich her.
„Hallo?!”, ruft er. Herzlich willkommen möchte ich meinen Gästen zuraunen, aber mein altes Gemäuer bringt nur ein unheilschwangeres Ächzen zustande. Zu dritt erkunden sie vorsichtig das Erdgeschoss, bestaunen die teilweise zersprungenen Fliesen im Flur, bleiben am Ofen im Wohnzimmer stehen. Alle drei halten sich an den Händen. So leise, wie es mir möglich ist, lasse ich die Haustür wieder zufallen.
„Hier ist niemand”, höre ich einen der Männer sagen. Doch, ich. Ich bin hier. Ich möchte ein Zuhause für euch sein. Einmal noch. Das ist mein Daseinszweck, das kann mir keiner verübeln.
„Ich will hier weg!” Die Frau dreht sich um. Schaut in die Diele. „Die Tür!”, schreit sie. Sekunden später rütteln sie mit aller Gewalt an dem schweren Holz. Schmerz durchfährt meine Mauern. Putz rieselt von den Wänden, Steine lösen sich. Ich kann mich kaum noch halten. Ich weiß, dass mein letztes Stündlein geschlagen hat und lasse mich zusammenfallen. Unter Schutt und Staub vergrabe ich meine letzten Bewohner. Sie werden bleiben.
Nachts
Nachts! Sie kommen immer nur nachts! Warum?
Zugegeben, ich habe bessere Zeiten gesehen. Und ich rede hier nicht von damals, als mein Mörtel noch feucht war und die Farben noch glänzten. Wir alle sahen in unserer Jugend besser aus. Frischer, knackiger, einladender. Ich meine auch nicht damals nach dem Krieg. Welcher Krieg, fragen sie? Den letzten, vorletzten, drittletzten? Verzeihen sie, man wird vergesslich im Alter. Es ist schon lange her, die Erinnerungen verblassen. So wie die Farben. Alles wird grau, undeutlich. Es ist nicht leicht wenn man alt wird. Die Balken knarren, die Fensterläden klappern, die Stiegen werden morsch. Sie kennen das…
Aber auch alte Gemäuer haben ihren Reiz, nicht wahr? Ich mag wie das Efeu durch die zerborstenen Scheiben im Erdgeschoß wächst. Oder wie die Schatten mit den halbverfaulten Möbeln spielen, wenn die Sonne tief im Westen steht. Auch Mama Waschbär mit ihren Jungen im ersten Stock ist süß. Na gut, sie könnte etwas reinlicher sein. Aber ich bin zu alt, um mich über ein paar feuchte Pfützen auf dem Boden aufzuregen. Es ist eigentlich auch egal, sie verstehen auch so was ich meine. Ich habe nichts gegen Besucher, warum auch? Sie kommen, sie gehen wieder. Sie wispern und raunen, wenn sie mich betreten. Manche haben komische Geräte dabei, sie posieren vor dem Kamin oder im alten Herrenzimmer und kichern dann, wenn sie danach in das Gerät schauen. So etwas gab es nicht in meiner Jugend. Die Welt scheint sich zu ändern, ich habe schon lange keine Pferde und Kutschen mehr gesehen. Aber egal, es ist spannend. Sie glauben nicht wie langweilig das Leben sein kann, so alleine hier draußen. Nur der Wind kommt manchmal vorbei und erzählt mir sein Leid. Also warum sollte ich mich nicht über Besucher freuen? Weil diese hier nachts kommen…
Nachts kommen keine Besucher! Nachts kommen Diebe und Einbrecher! Gesindel allesamt. Das war schon immer so. Früher kamen sie mit abgedunkelten Laternen, heute… keine Ahnung, mit was sie heute kommen. Aber es sind Diebe. Sie steigen über die Balken der alten Deckenvertäfelung auf dem Fußboden. Als würde es ihnen nicht sagen, dass sie hier nicht willkommen sind. Schauen in die Küche, in das Schlafzimmer der Herrin, in die Kinderzimmer. Sie brechen Fliesen von den Wänden, durchstöbern die Schubladen in der verfaulten Kommode. Sie suchen den Schatz! Aber nur ich weiß, wo der Schatz ist. Sie werden ihn hier drin nicht finden. Sie hat ihn draußen vergraben. Die letzte Herrin. Sie weinte, als sie hinaus ging mit dem Spaten. Und sie weinte, als sie wieder zurückkam. Ich konnte sie nicht trösten. Aber ich kann den Schatz beschützen. So wie ich es all die Jahre getan habe…
Die Balken im Keller knarren, wenn jemand im Erdgeschoß durch die Diele läuft. Es klingt so schön schaurig. Ich liebe den Klang. Man sollte meinen, dass es den Menschen Angst macht. So bei Nacht und so. Würden sie nicht schreiend davonrennen, wenn sie bei Nacht in einem verlassenen Haus die Balken unter sich knarzen hören? Aber wissen sie was, Diebe rennen nicht weg. Leider! Sie sind neugierig. Aber Neugierde ist ein zweischneidiges Schwert. Das hat der alte Herr immer gesagt. Ich habe ihn damals nicht verstanden. Aber jetzt tue ich es. Da ist es wieder. Mmmmh, das Geräusch geht einem durch Mark und Bein. Und wie immer hat es den gewünschten Effekt. Da kommen sie. Es sind drei. Zwei Männer und eine Frau. Sie gehen langsam und vorsichtig die Steintreppe hinunter. Vielleicht ist der Schatz ja im Keller, nicht wahr? Ich meine, so ein Keller ist für die Ewigkeit gebaut. Der ideale Ort für einen Schatz. Sie nähern sich der schweren Eichentür zum Keller. Ich muss dem alten Herrn mal Danke sagen, wenn ich ihn wiedersehe. Es gab nicht viel, was die Zeit überdauert hat. Aber dicke Bohlen aus deutscher Eiche tun es. Sie drücken auf die verrostete Klinke. Sie quietscht. Leider! Kein schönes Geräusch, zu schrill. Es tut mir weh. Einer der Männer drückt mit der Schulter gegen die Tür. Sie wehrt sich. Ja, ich bin schief geworden über die Jahre. Ich glaube, mein vorderes Fundament ist etwas abgesackt. Das Gewicht der Tür will sie zuhalten. Aber so ein richtiger Dieb, der lässt sich von so etwas nicht aufhalten. Sie hebeln die Tür auf, schlüpfen hindurch. Gleich werden sie es sehen. Die Gebeine, die vermoderten Kleider… der Tod!
Ich höre den Schrei der Frau. Und dann den dumpfen Schlag der Tür. Es funktioniert immer wieder. Sie lassen die Türe los, wenn sie die Leichen sehen. Die schwere Türe, deren schiefer Rahmen nach außen hängt. Die Türe, deren Klinke innen abgebrochen ist. Sie werden den Keller nicht mehr verlassen. So wie all die anderen Diebe zuvor. Ich werde sie heulen hören, ihre heiseren Schreie werden mich ein paar Tage verfolgen. Aber irgendwann wird Ruhe sein. Bis die nächsten Diebe kommen. Auf der Suche nach dem Schatz.
Aber die Herrin hat ihn draußen vergraben. Ihren geliebten, kleinen Hund.
Rabenfutter
Wie sie sehen, steht in dieser Straße nur noch ein einziges Haus. Als ich vor zweihundert Jahren errichtet wurde, waren wir viele. Alter Landhausstil würde man heute wohl dazu sagen. Schöne Häuser. Unsere Erbauer waren stolz auf ihre Arbeit. Konnten sie auch sein, sehen sie mich nur an. Okay gut, zweihundert Jahre gehen auch an mir nicht spurlos vorbei. Und die Zeit war lang. Da wird einem als Haus auch mal langweilig. Da braucht man Abwechslung. Hier rutscht mal jemand in Dusche aus und schlägt sich den Kopf an der Wand auf. Ein fürchterliches knacken, wenn so ein Schädel patzt. Aber witzig.
Generell lassen sich im Bad die schönsten Unfälle kreieren. Da ist es oft nass und wenn man dort ausrutscht, verdächtigt eben niemand das Haus. Da fällt man in den Duschvorhang und erstickt, weil dieser sich mysteriös um einen herum wickelt. Aber wer verdächtigt da schon das Haus.
Und was glauben sie, was hier los war, als die Elektrizität Einkehr hielt. Fantastisch. Allein die Installation von Lampen hat über die Jahre vier Bewohner gegrillt. Ja, gegrillt. Ich weiß, normal fliegt man bei einem Stromschlag direkt durch die Luft. Ich fand es aber viel lustiger, die Leute am Kabel zu »halten«. Dieser Geruch, herrlich. Der ging tagelang nicht aus den Wänden. Aber wer verdächtigt schon das Haus.
In der Küche hatte ich auch immer meinen Spaß. Ich kann gar nicht sagen, wie viele Finger hier verloren gingen, wenn ich, während jemand am Gemüse schneiden war, Schranktüren übermäßig laut habe zu knallen lassen. Die Leute bekamen einen Schrecken, das glauben sie nicht. Zack, war der Finger ab. Einmal sogar eine ganze Hand. Das war ein Schussel.
Irgendwann bekamen die anderen Häuser mit, was bei mir so los war. Sie fanden das gar nicht gut. Sprachen von Respekt vor den Menschen und tuschelten untereinander. Papperlapapp, wenn sie mich fragen. Vor fünfzig Jahren hatte sich die Sache mit der üblen Nachrede aber auch erledigt. Ein großes Feuer löschte die gesamte Straße aus. Die Polizei ging von unbekannten Brandstiftern aus. Die Feuerwehr war froh, immerhin mich gerettet zu haben. Als hätte das was mit denen zu tun gehabt. Der Teufel passt schon auf seine Schäfchen auf. Das von mir manipulierte Stromkabel, das ich aus dem Dachfenster an die trockene Birke des Nachbarhauses gehalten habe, bemerkten sie nicht.
Seitdem kommt immer mal wieder jemand her. Mal alleine, mal kleine Gruppen, die sich ein wenig gruseln wollen. Scheinbar redet man noch immer über mich. Aber jeder, der mich betritt, wird vergessen.
Die Haustür ist immer einen spalt offen, damit sie sich willkommen fühlen. Und hinten raus schicke ich sie als Futter für die Raben.
Respekt vor den Menschen, das ich nicht lache.
Die schaffen es ja nicht mal, die Fußmatte richtig zu benutzen.
Niedere Gründe möchten sie sagen? Als scheren sich Menschen um niedere Gründe.
Und jetzt möchte ich sie bitten, den Fuß da schön in den Müll Zerkleinerer zu stellen. Was? Wie sie da auf die Arbeitsplatte gekommen sind? Ist nicht wichtig. Machen sie sich keine Sorgen, der geht elektrisch. Das Fleischermesser in ihrer Hand? Das bitte zwischen fünfte und sechste Rippe schieben. Ja, das muss so. Keine Sorge, sie fallen dann direkt auf das Rollbrett, das fährt sie dann hinten raus. Danke.
Ich bin zu alt für den Scheiß. Der erste Zug wird begleitet von einem Husten, Qualm wabert durch den Kamin im Salon. Ahhh. Ich weiß, in meinem Alter sollte man weiß Gott nicht mehr rauchen. Aber es sieht ja keiner, seit Jahrzehnten ist hier niemand mehr gewesen, und es ist einfach so befriedigend. Rauchen, der Sex des Alters. Gierig sauge ich Rauchkringel durch den Schlot. Mein Seufzen manifestiert sich als wohliges Knarzen in Wänden, Decken, und Fensterläden, die sich nach dem ersten Hauch CO2 für einen Augenblick genüsslich schließen. So könnte es ewig bleiben.
Viel zu schnell ist die Glut erloschen. Das waren die Reste des Feuerholzes, niemand da, der nachlegen würde. Kalte Asche weht auf den Boden im Salon. Draußen wirbelt der Herbstwind das Laub an meine Mauern. Ich will mich schon wieder zurücksinken lassen in die Gemütlichkeit des Oktobersturms, als plötzlich das Geräusch von Schritten meinen meditativen Zustand durchbricht. Schritte? Was sag ich, ein Getrampel ist das! Fühlt sich an wie 1942, als die dreckigen Nazis mit ihren Stiefeln im Stechschritt hier durch sind, plündernd, voller großer Sprüche, aber zu dumm zum Brot schneiden.
Ich zähle 8 Füße auf meiner Veranda, drei Männer, eine Frau. Die Frau tritt genauso fest auf wie ihre Begleiter, vom Schuhwerk her unterscheiden sich die alle nicht. Sind das Stahlkappen?
„Ich hab gehört, dass die ehemaligen Besitzer hier noch spuken sollen.“ Einer der Männer, von der Stimme her eher ein Bub, so jung wie der klingt. Was weiß der von den ehemaligen Besitzern?
„Ja, eine ganze Adelsfamilie, abgeschlachtet von den Nazis!“ Ein anderer Bub, tiefere Stimme als der erste.
„Ben, pass auf! Die Bretter sehen ziemlich morsch aus.“ Das Mädchen. Pfft, so wie die stampfen, das hält doch kein Brett aus, egal wie alt. Jetzt latschen sie durch die Tür, mitten rein in den Salon. Ein Knarzen entweicht mir, verdammte Flatulenzen, in meinem Alter kommen die ohne Ankündigung. Die Kinder quieken vor Schreck.
„Alter, was war das?“ ruft der vierte. Der scheint der jüngste zu sein. Seine Stimme ist zu hoch um älter als 17 zu sein.
„Bestimmt einer der massakrierten Adligen!“ kichert das Mädchen.
„Safe!“ fügt der, den sie Ben genannt hat, hinzu.
Safe? Woher wissen die von meinem Safe? Der wurde doch erst kurz vor der Besetzung dieser dreckigen Nazis hier eingebaut, schön hinter dem Gemälde vom Alten Fritz. Hab vergessen, ob da noch was drin ist, aber falls ja, diese Grünschnäbel kriegen es sicher nicht. Das wäre ja noch schöner. Hier in Stahlkappen reinpoltern und eine alte Dame ausrauben? Ich denke nicht.
„Hey, lass uns rausfinden, was die Adligen so getrieben haben in der Hütte hier.“ Ein Ärmel wischt über den Spiegel im Flur. Es kitzelt. Erschrocken quietscht meine Dachluke.
„Mann Marlon was machst Du denn da?“ fragt dieser Ben. Marlon äugt in den Spiegel. Aha, so siehst Du aus, Bürschchen. Braune Haare, aber nur oben lang, ab Augenbrauen abwärts hat er raspelkurze Stoppeln. Ein Unfall? Mir fällt kein Grund ein, wieso man sonst nur die Hälfte der Haare abrasieren sollte. Was sagen bloß die Eltern dazu? Vielleicht ein Heimkind. Schmal genug ist er ja.
„Guckt mal, ein Kamin!“ ruft das Mädchen. „Kann einer von Euch Feuer machen? Ey, Pümmi, Du warst doch mal bei den Pfadfindern.“
Pümmi, der Jüngste, ist offenbar auch der Schwerste. Watschelnd nähert er sich dem Kamin. Es rumpelt im Holzkorb und nach wenigen Minuten brennt das erste Holzscheit.
„Woah“, entfährt es Pümmi, „keine Ahnung wie lange das Holz hier schon lag, aber das brennt geil!“
Ich weiß, ich sollte nicht. Die zweite Fluppe innerhalb eines Tages? Nach Jahrzehnten der Abstinenz? Aber hey, einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul! Ich sauge am Kamin, die Flamme faucht den Schornstein hoch. Ahhh. Und doch, es war zu viel. Ich muss husten. Dicke Rauchwolken pumpen aus dem Kamin ins Zimmer.
„Was hast Du gemacht!“ kreischt das Mädchen. „Willst Du, dass wir hier ersticken?“
„Ich hab Feuer gemacht, so wie Du gesagt hast!“ verteidigt sich der Dicke. „Keine Ahnung was los ist“, jetzt muss er auch husten, „wahrscheinlich ist die Abluft verstopft, oder glaubst Du, hier war vor kurzem noch der Schornsteinfeger?!“
Ach, Kinder, es hat keinen Zweck. Mit einem letzten Pusten blase ich das Feuer aus.
Die zwei anderen haben von der ganzen Aufregung nichts mitbekommen, sie sind schon weiter gegangen ins Wohnzimmer. Hier sind alle Möbel mit weißen Tüchern abgedeckt. Ben hebt eines an und schüttelt es probehalber. Gott! Dieser Staub! Ich muss niesen. Eine Windböe fährt durchs Haus, und direkt hinter dem Dicken kracht der Fußboden ein. Jetzt schreien alle vier. Der, den sie Pümmi nennen, kauert sich in eine Ecke. Ich spüre, wie er zittert. Guter Gott, das Kind wiegt bestimmt 150kg. Kein Zweifel, die Kriegsjahre sind vorbei.
„Das war ich.“ Seine Stimme zittert. „Wegen mir ist der Boden eingebrochen. Nina hat’s gesagt, die Dielen sind morsch, und… und ich bin nicht gerade ein Leichtgewicht. Können wir bitte gehen?“ Eine Träne tropft auf meinen Dielenboden.
„Ach Pümmi!“ Nina geht zu ihm hin und kniet sich neben ihn. „Dieser alte Boden wäre wahrscheinlich bei jedem von uns eingebrochen. Mach Dir nichts draus!“
„Ja, jetzt wo wir schon mal hier sind, will ich auch alles sehen!“ ruft Marlon begeistert. „Ich hab’s nicht geglaubt, aber hier spukt es wirklich, Leute!“ Ich muss unwillkürlich gähnen. Die Haustür öffnet sich langsam quietschend. Also deshalb sind sie hier. Immer diese sensationsgeilen Spuktouristen. Alle paar Jahre kommen die hier vorbei, meistens an Halloween. Halt, ist etwa Halloween? Ich stöhne. Im ersten Stock knarrt der Boden. Wie konnte ich das vergessen? Jetzt stehe ich schon so lange leer, dass ich nicht mal mehr weiß, wann welcher Tag ist. Naja, wer kann’s mir verdenken. Werdet doch erstmal so alt wie ich.
Die Bande hat sich gefangen, selbst das Moppelchen steht tapfer wieder auf und folgt den anderen in die Bibliothek.
„Kraaass!“ ruft Marlon. Ausdrücke hat der drauf, da schlackern mir die Läden. Heimkind eben. Und schon grapscht er mit seinen Pfoten auf das Gemälde vom Alten Fritz und hat dabei mehr Glück als Verstand. Das Bild schwingt zur Seite und legt den Safe frei.
„Woah“, sagt Ben.
„Ist das ein Safe?“ fragt Nina. Ist wohl nicht die hellste Kerze aufm Kuchen. Wonach sieht’s denn aus?! Mit einem Knall schlage ich die Tür zur Küche zu. Nina zuckt zusammen und stellt sich näher an Marlon. Hach, macht irgendwie Spaß, die Grünschnäbel das Fürchten zu lehren.
„Mach schon auf!“ Pümmi kommt keuchend näher. „Was glaubt ihr, was da drin ist?“
„Vielleicht altes Diebesgut von den Nazis!“ frohlockt Ben. Was daran so erfreulich sein soll, frage ich mich. Und außerdem, die dreckigen Stechschrittstiefler haben alles von Wert mitgenommen.
Was im Safe ist, weiß ich aber auch nicht mehr. Verflucht! Man wird doch vergesslich. Jetzt will ich es auch wissen.
Einige Zeit fummeln die Kinder an der Kombination herum. Ohne Erfolg. Hätte mich auch gewundert. Was bleibt mir anderes übrig. Selbst ist die Frau. Mit etwas mehr Mühe, als ich mir eingestehen will, ruckele ich den Safe aus der Wand. Die Kinder weichen zurück.
„Das ist jetzt echt gruselig“, muss selbst Marlon mit dünner Stimme gestehen. Als der schwere Kasten endlich aus der Wand fällt, schreien alle und wollen davonlaufen. Stop! So nicht. Schnell verrammele ich alle Fenster und Türen.
„Was passiert hier?!“ quiekt Nina.
„D-das Haus…“ stammelt Ben, „es… es will…, d-dass wir bleiben und d-den Safe öffnen!“ Kluges Kerlchen.
„Was? Aber wir kennen doch die Kombination nicht!“ Marlon rüttelt an der Tür der Bibliothek. Ich halte dagegen. Er hat natürlich recht, mit der Kombination. Aber dafür ist mir auch schon was eingefallen. Zum Glück hat auch die Bibliothek einen Kamin. Ich schicke eine starke Bö hindurch. Aber der Ständer mit dem Schürhaken bewegt sich keinen Millimeter. Stattdessen entweicht dem jungen Pümmi ein erschreckter Furz. Die anderen lachen nervös. Marlon schlägt ihn auf den Rücken. „Ehrenmann!“
Was faseln die da bloß? Ich versuche es nochmal, Wind fährt durch den Schornstein, dieses Mal schaukelt zumindest das eiserne Kehrblech sanft an seinem Haken. Wieder ist es Ben, der am schnellsten schaltet, und den Schürhaken vom Halter nimmt.
„Vielleicht geht es damit“, sagt er zweifelnd. Er geht zum Safe und setzt den Schürhaken an.
„Nicht!“ schreit Nina. „Damit machst Du doch nur alles kaputt. Die Mechanik verzieht sich und dann kriegen wir den Safe nie auf.“ Hm. Ist was dran.
„Ich sage Euch, wir müssen die Kombination finden. Anders geht es nicht.“ Und so machen sie sich auf die Suche. Ich helfe, wo ich kann, öffne Schränke und Schubfächer, nur die Türen bleiben zu. Am Ende ist es das Mädchen, das die Zahlen findet.
„Hier!“ ruft sie triumphierend. „Auf der Innenseite des Rahmens, an dem die Leinwand von dem Gemälde hier festgemacht ist.“
Sie gibt die Zahlen über den Drehregler ein. Die Safetür schwingt auf. Sie ist dick genug, dass ich froh bin, es nicht mit dem Feuerhaken versucht zu haben.
„Gott, was für ein Gestank!“ Etwas poltert auf den Boden. Die Kinder weichen zurück. Pümmi erbricht sich in eine Kupfervase. Widerlich.
„Sind das… Knochen?“ fragt Marlon. Seiner Stimme ist nicht anzumerken, ob er angewidert oder fasziniert ist.
Beim Wort „Knochen“ fällt der Groschen. Jetzt erinnere ich mich. Die Nazis. Einer blieb zurück. Und wie im Märchen von den kleinen Geißlein, blieb auch ein Mitglied der Adelsfamilie zurück, in die große Standuhr gepresst. Er wartete, bis der Soldat eingeschlafen war, kroch aus der Standuhr, und schnitt ihm die Kehle durch. Das Blut ging nie wieder raus aus dem Perserteppich, wirklich eine Schande. Irgendwo musste der Typ hin, bevor die SS anfing, Fragen zu stellen… also ersann man eine kreative Lösung, die Schweinefutter für die nächsten Wochen beinhaltete und dementsprechend fette Koteletts für die Hausbewohner. Die Knochen, ordentlich ausgekocht, verstauten sie im Safe. Ich weiß noch, wie ich schmunzeln musste über so viel Kreativität. Was besseres, als die Schweine damit zu füttern, wäre mir für die Dreckslappen auch nicht eingefallen. So haben sie immerhin noch dem Vaterland gedient, war ihnen doch so wichtig.
„Wir sollten“, Nina schluckte, „wir sollten die Polizei rufen.“ Was? Und dann trampeln hier noch mehr Füße durch?! Für so einen schäbigen Zivilversager in Pumphosen? Nein. Ganz eindeutig. Nein. Drohend klappere ich mit allem, was da ist: Fensterläden, Türen, Vitrinenschränken, Dachluken.
Es scheint nicht zu wirken.
„Nina hat recht“, meint das Heimkind. Ben brummt seine Zustimmung.
„Das ist zu groß, Leute“, sagt Pümmi.
Sie gehen zur Tür. Ich mache nicht auf. Ben legt die Hand auf die Klinke und sagt leise: „Bitte, lass uns gehen.“
Ich seufze. Die Tür geht mit einem Knarren auf. Ich habe keine Lust mehr auf diese Spielchen. Es ist Herbst. Ich will bloß meine Ruhe.
Kurz bevor die Kinder die Haustür erreichen, ist ein leises Quietschen zu hören. Sie haben es eilig, und so bemerkt keiner, wie der alte Teppich in der Diele leicht in sich zusammensinkt. Es ist ein Läufer, mehrere Meter lang, aus Persien. Gute Qualität. Marlon ist der erste an der Tür, Pümmi gleich dahinter. Später denke ich oft, dass es wohl das Gewicht des Moppelchens war, das den Perser mit Karacho durch die Falltür gezogen hat. Sie verlieren das Gleichgewicht, schreiend sausen sie hinab in die Grube, viele Meter unter dem Bombenkeller. Unten angekommen ist endlich Ruhe. Die Grube ist ausgestattet mit spitzen, mannshohen Eisenpfeilern. Marlons Herz wird durchbohrt, Pümmi erleidet eine fatale Durchtrennung der Bauchschlagader. Nina hat sich schon auf dem Weg nach unten das Genick gebrochen. Auch Ben stirbt nicht durch die Eisenstangen, sondern durch einen simplen Herzinfarkt. Und das in dem Alter. Kinder, esst nicht so viel Fast Food, sag ich immer.
Jetzt weiß ich auch wieder, wo damals der Rest der Stechschrittstiefler geblieben war.
Ich-das alte Haus
Ich altes Haus stehe hier und rühr mich nicht vom Fleck, wie auch. Verlassen von den Einwohnern verkomme ich langsam, verfalle, denn was nicht genutzt wird, geht unter. Seit vielen Jahren ist das so, warum, ich höre immer, es gibt keinen Wohnraum. Ich habe mindestens 10 Zimmer, warum will die keiner.
Gewiss, einige Fenster sind kaputt, eingeschmissen von Blagen, die Langeweile haben. Dann wird allerdings um mich herum geblasen, mit höllischem Lärm, irgendwer pustet das Laub weg, was von den Bäumen um mich herum fällt, auch wenn es nass ist, geregnet hat, bläst der Typ mit höllischem Lärm das Laub weg. Schlimmer aber noch ist, wenn die Horde junger Leute kommt, Brüllgeräte dabei, die quietschenden, brüllenden Lärm ausspeien, allerdings wummert da immer irgendein Takt mit. Dann stinkt es nach Hanf, die ziehen sich weiße Fäden und letzens war sogar die Polizei hier, da hatte es einer nicht geschafft, wieder aufzuwachen. Hin und wieder kommt ein Penner vorbei, so sagen die Mensch, ich sehe einen alten Mann, gebeugt, gebückt vom Leben gezeichnet, wie mein Mauerwerk und mein Dach, das teilweise eingestürzt ist. Der sucht sich eine Ecke und kauert sich nieder. Der stört nicht, könnte ja bei mir wohnen bleiben, aber immer wieder kommt dann so eine verzogene Göre und scheucht den mit üblen Worten weg wie Penner, Nichtsnutz, hättest ja arbeiten können, ganz üble Sachen. Ich kann mich ja nicht bewegen, aber den hätte ich gerne einen Balken auf die Birne geschüttelt.
Warum muss das denn alles sein, kann das nicht ein Ende haben?
Und doch, eines Tages sah ich zur Straße hin einen Lkw, ein riesen Ding auf mich zu zurasen. Der Fahrer lag auf dem Lenkrad und das Geschoß kam direkt auf mich zu und krach, wumm, bang, die vordere Mauer fiel und da sie tragend war, stürzte ich ein.
Das war das Ende, nun würde ich meine Ruhe haben.
Frank Maranius 2023
Eine Seele von Haus
Es gab eine Zeit, in der noch ein jedes Haus eine Seele besaß.
Häuser gebaut aus Stein, Lehm und Holz. Mit Wänden, die sich wohlig in der Wärme der Sonne oder eines knisternden Kaminfeuers ausdehnten und sich an den kalten Wintertagen zusammenzogen, um möglichst viel Wärme im Inneren zu bewahren.
Eine Zeit, in der es niemand befremdlich fand, den Atem eines Hauses zu hören oder zu spüren. Im Gegenteil, man war sogar stolz auf den Geist des Hauses, der in seinen alten Gemäuern all die Geschichten verwahrte, die sich hier im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte zugetragen hatten.
Doch das ist lange her. Sehr lange. Die Welt hat sich verändert.
Stein, Lehm und Holz mussten Stahl und Beton weichen. Einem toten und kaltem Material, das auch die Bewohner der damit errichteten Wände, mehr und mehr erkalten und erstarren ließ und lässt. Wände, hinter denen Dinge geschahen und geschehen, über die niemand mehr erzählen oder hören möchte.
Unbewohnbar für jede Hausseele.
Man machte die Menschen Glauben, dass es genau das Wohnen sei, nachdem sie streben sollten. Moderner, Neuer, Schöner, Heller, Steriler, Teurer.
Begann damit die ersten alten Häuser abzureißen, um Platz für neue Gerüste aus Stahl und Beton zu bauen.
Begann damit uns „Hausseelen“ in die umliegenden Wälder zu vertreiben.
Natürlich war und ist nicht jeder Mensch sofort bereit, das alte, geliebte Haus dem Abriss frei zu geben.
Da verbreitete man Geschichten von bösen Geistern die in den alten Gemäuern hocken und nur darauf warteten die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Man gründete eine neue Berufsgruppe. Die der Geisterjäger.
Ich hörte, dass man nun auch „mein“ Haus ins Visier genommen hatte. Kein besonders schmuckes Haus, wie eines dieser Herrenhäuser am Rande der Stadt, mit großem Park. „Mein“ Haus erzählt die Geschichten einfacher Bauersleute, die sich und seine Familie mehr schlecht als recht durchs Leben gebracht haben. Doch neben der Armut erzählt es Geschichten von einem hingebungsvollem Miteinander, kleinen Aufmerksamkeiten, lautem Lachen, glänzenden Kinderaugen, Trost, Verständnis, Dankbarkeit und Liebe.
Die Alten hatte man nicht überzeugen können das Haus zu verkaufen, doch die Kinder, die sich immer benachteiligt zu anderen Kindern gefühlt haben, ließen sich wohl von dem Gerede über Erfolg und Reichtum locken, und willigten einem Besuch von Geisterjägern in den nächsten Tagen ein. „Pah, Geisterjäger! Man sollte sie Angsteinflussjäger rufen, denn genau das waren sie!“.
Sie jagten den Menschen eine so große Angst ein, dass sie ihr Haus schnellstmöglich verkaufen wollten, und dies auch noch zu einem Spottpreis.
Ich hatte von Ihren Machenschaften gehört, doch soviel ich wusste, hatte sich bisher noch kein Hausgeist dagegen gewehrt.
„Mit mir nicht!“, dachte ich.
So kam es, dass ich zum ersten Mal seit über 200 Jahren die Gemäuer meines Hauses verließ und in die Wälder ging, um nach vertriebenen Seelen Ausschau zu halten.
Ich fand sie in lebensunwürdigen Behausungen, eng zusammen gerollt in Felsspalten und Baumlöchern. Ich erzählte Ihnen, dass mich das gleiche Schicksal erwarten würde, wenn ich mich nicht zur Wehr setze. Bat um ihre Unterstützung.
Doch die Hausgeister hatten sich über die letzten Jahre aufgegeben und winkten müde ab. Niemand wollte in eine Stadt zurück, in der kein Platz mehr für sie war.
Ich wollte mich gerade auf den Heimweg machen, als ein Hausgeist von hinten rief: „Warte, ich komme mit!“
Dankbar drehte ich mich um. Und plötzlich hörte ich von überall weitere Stimmen, die riefen: „Warte, ich komme auch!, ich bin dabei!, ich auch!“
Gemeinsam setzten wir uns in meinem Haus auf die Lauer. Sechs Hausseelen, die zum Kampf bereit waren. Wir wussten, Sie würden kommen. Sie würden Tonbandgeräte im ganzen Haus aufstellen, die irgendwelche Geräusche abspielen. Sie würden kleinere Gegenstände mit unsichtbaren Fäden an kleine Motoren binden und bewegen, Sie würden Tag und Nacht das Telefon klingen lassen, und die Alten in Geisterstimme auffordern zu gehen!
Doch wir würden ihnen das Fürchten beibringen.
Sie kamen zu dritt. Ihre Anzüge grau und glatt gebügelt.
Frech schubsten sie die Alten, die Ihnen freundlich geöffnet hatten, zur Seite und erklärten: Sie kämen auf Amtsbefehl, man hätte den Verdacht, das Geister dieses Haus bewohnen. Sie wollten gerade ihre Gerätschaften auspacken, als auch schon ein Kochlöffel durch die Luft jagte und den Ersten hart am Kopf traf.
Dem zweiten schlug zeitgleich ein Besen in den Magen, während der dritte über den Dielenboden rutschte und sich den Kopf am Dielenschrank anstieß. „Was geht hier vor!“, schrien sie als auch schon zwei Topfdeckel durch die Luft flogen und direkt am Ohr des ersten schallend zusammen schlugen. Der zweite wollte zur Tür laufen, wurde jedoch von etwas Unbekanntem am Gürtel festgehalten und zappelte wild mit den Beinen in der Luft, ehe er unsanft auf dem Boden aufschlug. Gleichzeitig ergoss sich eine Schüssel Wasser über den Dritten. „Raus hier!“,schrie der Erste, und rannte zur Tür, die ihm freundlicherweise vom Alten geöffnet wurde, der mit seiner Frau immer noch an der Eingangstür stand und sich das Spektakel anschaute. Es traf ihn ein harter Tritt im Rücken sodass es eher ein Rausfliegen, als ein Rausrennen war und mit einem harten Aufprall auf der Straße endete. Unmittelbar danach schien der Zweite von unbekannter Kraft rechts und links an den Seiten genommen zu werden und hinterherzufliegen. Er landete direkt auf dem Ersten, der ein weiteres Mal schmerzhaft aufschrie.
Der dritte wirkte, als hätte ihn ein unsichtbares Seil an den Füßen aufgehängt. So flog er langsam kopfüber aus der Haustür heraus und krachte direkt dahinter zu Boden. Die Haustür schloss sich leise, so als hätte man sich von einem netten Gast verabschiedet. Doch man konnte die Männer noch lange fluchen und jammern hören.
Die Alten kicherten, als hätten sie genau verstanden, was da gerade passiert war.
Wir hatten sie in die Flucht geschlagen!
Ich weiß, dass der Tag kommen wird, an dem die Alten versterben, und die Jungen verkaufen werden. Ich weiß, dass man dann auch „mein“ Haus dem Erdboden gleich machen wird und mir meinen Wohnsitz raubt. Doch bis dahin werde ich mit meiner Gruppe bleiben und anderen Hausgeistern helfen „ihre“ Häuser, zu verteidigen.
Wenn ein Haus zu Leben erwacht
Wenn unbelebte Gegenstände 100 Jahre alt werden, erwachen sie zu Leben. So auch Häuser. Und so auch die altehrwürdige Villa am Ende des Rabenweges. Aber das ihr neu geschenkte Leben gefiel ihr keineswegs. Ständig bröckelte etwas von der Fassade oder den Wänden ab, die Holztreppe in der Eingangshalle war brüchig und die Dielen durch zahlreiche Wasserschäden hochgewellt. Die dereinst schönen Brokat-Vorhänge an den Fenstern im Wohnraum hingen in Fetzen und flatterten durch die eingeschlagenen Scheiben im Wind umher. Das oberste Stockwerk war nur noch zu Teilen begehbar, nachdem im letzten Winter die Schneelast derart auf das marode Dachgebälk gedrückt hatte, dass schließlich die Hälfte des Daches eingestürzt war. Aber am Schlimmsten für die Villa waren immer noch die unerhört lauten Stelldicheins der Mäuse zur nächtlichen Stunde. Die Standuhr und der Chandelier hatten erzählt, dass Menschen von Zeit zu Zeit alte Häuser aufkauften und sie renovierten. Der Gedanke gefiel der alten Villa. Auch sie wollte bald wieder in neuem Glanz erscheinen! Und wie es der Zufall so wollte, war gerade eine kleine Gruppe von Menschen durch das rostige Eisentor in den Vorgarten getreten. Der Zeitpunkt, es war Mitternacht und der Mond wolkenverhangen, erschien der Villa recht unpassend gewählt, da die Elektrizität im Haus schon vor einer halben Ewigkeit abgestellt worden war, und sich die Villa nun fragen musste, wie sie sich bei Dunkelheit ihren >Kaufinteressenten< präsentieren sollte. Aber glücklicherweise zückte ein Mensch etwas, das aussah, wie ein kleines transportables Licht in Tubenform und mit welchem er einen recht großen Lichtkegel in die jeweilige Zeigerichtung werfen konnte. Das gefiel der Villa. Sie beauftragte die gesamte Hauseinrichtung parat zu stehen. Die Standuhr sollte bei Eintritt der Besucherschaft ihren Gong erschallen lassen, der Chandelier sollte seine zahlreichen Kristalltropfen und -perlen klirren lassen, das Kaminfeuer im Wohnraum sollte angehen und Ohrensessel und Chaiselongue sollten sich höflich als Sitzgelegenheit anbieten. Von den Mäusen verlangte die Villa, dass sie in den Zwischenräumen des Gemäuers still abwarteten. Aber horch, die Menschen mussten bereits an der Villentür sein! Und tatsächlich waren ihre Silhouetten deutlich durch den Glaseinsatz mit seinen floralen Jugendstilelementen zu erkennen. Es war ein heimliches Kichern zu hören und dazu die aufgebrachten Warnrufe des Eulenpaares, das im knorrigen Baum direkt neben der Villa nistete. Die Villa dachte, dass es unhöflich sei, die Gäste dem Wind ausgesetzt vor der Tür stehen zu lassen und schwang daher seine Eingangstüren weit offen. Die Menschen erschraken sich fast zu Tode und blickten aus ängstlichen Augen in das Hausinnere. Die Reaktion der Menschen traf die Villa unerwartet und so befahl sie dem Mobiliar rasch, sich einladend zu verhalten. Also gongte die Standuhr, klirrte der Chandelier, begann das Holzfeuerchen im Ofen zu knistern, ruckten sich polternd Ohrensesel und Chaiselongue zurecht. Das Hirschgeweih über dem Kamin wollte mithelfen und versuchte auf sein prachtvolles Aussehen aufmerksam zu machen, indem es an seinem Haken ruckelte und zuckelte, solange bis dieser unerwartet aus dem Mauerwerk brach und das Geweih krachend und unsanft zu Boden fiel. Dazwischen das Kreischen der Eulen. Vom Grauen gepackt stieß einer der Menschen einen Angstschrei aus, was bei den anderen Menschen als Signal zur Flucht gedeutet wurde, und worauf sie alle zusammen so schnell wie nur möglich stolpernd und strauchelnd den kurzen Weg durch den Vorgarten nahmen und aus dem Villentor stürzten. Die wundersame lichtwerfende Tube rollte noch leise am Dielenboden hin und her. Dann versiegte der Lichtstrahl. Da haben wir wohl etwas falsch gemacht, gestand sich die Villa ein und seufzte innerlich. Aber von da an zeigten sich deutlich mehr >Kaufinteressenten< auf dem Grundstück, wenn auch stets zu unsittlichen Zeiten, und die Villa war sich sicher, irgendwann einen geeigneten Käufer zu finden!
Die Wut der Seelen
Kletterrosen überwuchern mich in Kaskaden, ihre Verzweigungen beranken meine grauen Mauern, schlängeln sich bis zu meinem alten, baufälligen Dach, durchwinden an manchen Stellen die Regenrinne oder halten sie sogar fest. Sie schmücken mich mit einem tiefen, leuchtenden Rot, geben mir die Geborgenheit des Schutzes vor Eindringlingen.
Und ich erfreue mich an dem flirrenden Leben der tausende von Insekten, die mit ihren durchsichtigen Flügeln wie kleine Elfen, in der warmen Jahreszeit um mich herum schwirren. Wie ich das Brechen der Sonnenstrahlen durch die vielen Rosenblätter liebe, das geschäftige Flirren und Summen der kleinen Lebewesen, das mich umringt wie ein Gespinst aus Sonne und Liebe.
In der Nacht sind es die Schwärmer, Spanner, Spinner und Eulenfalter, die der toten, rauen Fassade Leben einhauchen und mit dem Morgentau entfalten die Bienen Ihre Flügel, die Goldammer stimmt ihr Lied an und ich stehe einfach nur da im Zauber dieses Geschehen. Wärme mich an dem pulsierenden Leben um meine Mauern, lausche dem Wispern und Flüstern der Kreaturen.
Bis zum Herbst eines jeden Jahres.
Denn dann fällt mit den letzten Rosenblättern auch das pulsierende Leben aus meinen Mauern. Ich friere, warte lauschend auf ihr Flüstern, dass mich in den warmen Tagen heimelig umgab. Der raue Putz bröckelt mit jedem Sturm und das Gebälk streckt ächzend seine Arme aus nach der Wärme.
Meine Seele verlässt mich.
Meine Finsternis kommt zum Vorschein, gleich den Rosenranken die jetzt kahl und dunkel, einem Skelett ähnelnd, die langen Finger mit den letzten Dornen, meinen Mantel aus Stein umfassen.
Ich hungere nach Leben und ich weiß was mir Linderung verschafft. Ich brauche eine Seele, ein klitze kleines Seelchen nur und wie jedes Jahr seit dieser langen Zeit, der Jahrhunderte zwei, lege ich meine letzte Kraft, meiner Energie darauf aus, dass sie kommen. Es muss ein reiner Mensch sein, bar gegenüber allem Dämonischen, Schlechten und negativen Schwingungen.
Ich baue auf die Neugier der jungen Menschen, die den Nervenkitzel und den schaurigen Charakter eines alten verlassenen Hauses anzieht. Wenn sie nur wüssten, wie sehr ich verlassen bin.
Meine Dachgauben schweifen in die Ferne. Sie durchbrechen die Allee aus Bäumen am Rand des Rabenweges, der zu mir führt. Das Mondlicht lässt die vom Herbstwind bereits gebeutelten Birken wie gebleichte Knochen erscheinen. Warum sollte es ihnen anders ergehen wie mir.
Dann höre ich sie.
Und sie tauchen in meinem Blickfeld auf. Spiegeln sich in den fast blinden Scheiben meiner Gauben Fenster.
Grölend und mit der lärmenden Kakophonie ihrer Worte, ungeachtet der tiefen Nachtruhe, schubsen sie sich gegenseitig hin und her, mit der unbeschwerten Arroganz der Jugend.
Kommt nur. Kommt nur zu mir, labt euch an meiner Verlassenheit und ich danke demjenigen der mir seine Seele schenkt. Es sind vier junge Menschen, drei junge Männer und eine junge Frau. Sie sehen noch nicht alt aus. Sie tragen Flaschen in den Händen, deren Inhalt sie genüsslich in Ihren Körper gießen, sie hüpfen freudig einer vor dem anderen, erzählen sich schaurige Geschichten um anschließend ungläubig darüber zu lachen. Ein Licht schwenkt ständig etwas unkontrolliert zwischen ihnen hin und her. Es gleicht den Lampen, die einst meine Räume erhellten, als noch viele Seelen mich bewohnten und rauschende Feste in mir gefeiert wurden.
Der etwas Größere der jungen Männer, stark und schön scheint etwas weniger arrogant. Ruhiger und besonnener, schaut er sich, fast respektvoll in meinem Territorium um. Sicherlich bewundert er den weißen Sandstein, der als Torbogen meinen Eingang flankiert. Hat er gesehen, dass sich die knarzenden Äste des Rosenstocks nach ihm streckten? Zu gerne würde ich Ihn berühren, seine warme Haut, durch das dunkele Haar fahren und ihn an mich drücken, in meine Mauern zwängen und ihn mit meinen Balken aus Ebenholz umarmen. Sein Blut soll meine Dielen benetzen und sich in jede Faser, meines Daseins füllen.
Doch ich muss mich gedulden und lausche ihrem Gespräch.
„Du willst es wirklich tun?“ fragt die junge Frau etwas überdreht und wendet sich an die ausgeprägte Schönheit. Sie muss zu ihm aufschauen und ihre grünen Augen, im starken Kontrast stehend zu ihren braunen, gelockten Haaren, betrachten ihn auflauernd. Er schaut sie nicht mal an sondern starrt forschend gerade aus, zu meinen Toreingang, dessen Flügeltüren leicht geöffnet, einladend wirken sollen.
„Da kannst du sicher sein“, entgegnet er störrisch. „Du glaubst, es ist dann zu Ende?“ ruft sie durch das alberne Lachen Ihrer Begleiter.
Die beiden anderen Jungs tanzen leicht schwankend, weiter um das Paar herum. Sie brüsten sich mit seichten Abenteuern die sie sich lachend erzählen und weiterhin Unmengen aus den mitgeführten Flaschen in sich ergießen. Während die junge Frau auf Blickkontakt besteht und den Arm des großen jungen Mannes packt, damit er sich ihr zuwendet.
„Lass mich, Kathrin!“ wehrt er ihre Hand ab. Er hebt den Kopf zu meinen Fenstern. Seine dunklen Augen funkeln, sein Gesichtsausdruck nun verzerrt und hasserfüllt.
Ein Ruck durchfährt mich, seitens seines Anblicks. Jetzt erkenne ich ihn. Das darf nicht sein!
Der Schreck durchzieht meine Balken, das darauffolgende Knarzen des Holzes schmerzt. Mit einem Aufschrei lasse ich die geöffneten Tore ins Schloss fallen. Der Hall schallt wie Donner durch die Luft, Staub wirbelt über dem Steinfußboden vor meinem Eingang auf und hüllt ihn in Nebel gleich.
Warum bin ich dazu verdammt, in diesem Boden fest verwachsen zu sein, einbetoniert ohne Möglichkeit zu entkommen?
Ein Stöhnen entfährt mir, meine Steine beben, Dachziegel lösen sich um zersprungen auf dem Pflasterstein vor meiner Fassade zu landen.
Die Menschen springen zurück, erschrocken. Starren mich an, verharren in der Bewegung.
„Was passiert hier?“ ruft einer der eben noch grölenden Jungs.
Den, den ich erkannte, reckt weiterhin sein Haupt und ein spöttisches Grinsen verbreitet sich auf seinem Gesicht. „Es hat Angst“, triumphiert er. Nun sehe ich, dass auch er eine Flasche in der Hand hält, gefüllt mit einer stark ätzend riechenden Flüssigkeit und einem rausringenden Tuch. Ich höre das Klicken eines Feuerzeuges und beobachte mit meinen starren Fenstern wie er die offene Flamme an den Lappen hält. Ich will schreien, will davon rennen. Aber ich bin gefesselt an meinen Beton.
Ich spüre wie die Flasche samt brennendem Inhalt durch meine Fenster fliegt, nachdem dieser starke, schöne Mann sie weit ausholend in meine Richtung geworfen hat. In Windeseile ergießt sich die Hitze über mir, Flammen lecken an meinem Holz, meinen Mauern.
„Oh Neiiin“, heule ich durch das Feuer, verzweifelt, im Gedanken auf der Suche nach einem Ausweg. „Ich wollte leben, nicht sterben, nicht durch Menschenhand. Ich werde nicht gehen ohne Euch mitzunehmen, in die dämonische Welt des Todes“.
Meine lodernden Sparren dehnen sich in Richtung der Menschen. Sie beugen sich auf, in der Macht der Hitze, kämpfen gegen das Feuer. Nägel springen aus den verzapften Holzbalken. Die mitlerweile verdorrten Rosenranken hallen mit ein, in mein Schmerzgeschrei. Alles ächzt und stöhnt auch sie möchten nicht ohne Wiederstand gehen, verbrennen um zu Asche werden. Ihre knorrigen Wurzeln ragen aus der Erde bei dem Versuch zu entfliehen, klammern sich an die sich windenden Menschen, umranken ihre Gliedmaßen und ziehen an ihnen. „Oh ja“, lechze ich. „Bringt sie zu mir!“
Ein tosendes Geräusch baut sich immer lauter werdend in mir auf, alles zerspringt, die Schmerzen so unerträglich, versuche ich ein letztes Aufbäumen bevor ich, alles verbrennend, unter mir begrabe.
Epilog:
SZ Tageszeitung 01. November, 2022
Die Feuerwehr Dresden wurde gegen Mitternacht zu einem Großbrand gerufen. Die schon sehr lange verlassene, alleinstehende Villa am Rabenweg ist laut aktuellen Ermittlungen, Brandstiftung zum Opfer gefallen. In der Vergangenheit zog das alte Gebäude des öfteren Lost Place Anhänger an oder Jugendliche, die unerlaubte Partys in dem Gebäude feierten. Dabei kam es immer wieder zu Vermisstenmeldungen im Zusammenhang mit diesen Zusammenkünften. Vier Studenten der Musikhochschule Dresden, wollen angeblich in der Nähe des Tatortes von einem späten Waldspaziergänger gesehen worden sein. Dabei handelt es sich um die Zwillingsbrüder Jona und Sebastian B., deren Kommilitonin Kathrin F. und ihren Freund Niklas M. dessen Bruder vor einigen Jahren hier ebenfalls spurlos verschwunden sein soll. Die Studenten gelten ebenso immer noch als vermisst. In den Überesten der Villa fand man bisher keinen Spuren die darauf hinweisen, dass die jungen Leute sich beim Brand, im Gebäude befanden.
Die Stille am Ende des Rabenwegs
Die Stille am Ende des Rabenwegs
Das Rascheln von Kies unter Stiefelsohlen weckt mich aus langem Schlaf. Langsam kehrt mein Bewusstsein in diese Welt zurück. Ich höre das Kreischen der Raben. Auch nach zwei Jahrhunderten ist auf die geflügelten Wächter Verlass. Was sich für die Menschen nur nach schrillem Geschrei anhören mag, ist für mich bedeutende Information: »Sie kommen, Meister!«
Sie.
Die Eindringlinge.
Früher bewohnten sie mich, füllten meine kalten Mauern mit Wärme. Und mit Lärm. Doch diese Zeiten sind schon lange vorüber. Stille regiert nun endlich den Rabenweg. Eine dreistimmige Stille.
Die Erste mag für jedermann zu vernehmen sein: Außer dem Rascheln der Blätter in den alten Eichen dulde ich hier keine Unruhe.
Die zweite Stille hält sich eher im Verborgenen: Das Schweigen, das sich in der gesamten Stadt über meine bloße Existenz verbreitet hat, seitdem immer wieder Menschen nicht mehr von ihren Erkundungen meiner Gemäuer zurückkehrten.
»Dieses Haus ist verflucht!«, hörte ich schon manchen Spaziergänger wispern, bevor sie alle stets umkehrten und den Rabenweg fluchtartig wieder verließen.
Doch die dritte Stille ist die tiefste. Und niemanden werde ich mein Geheimnis ergründen lassen.
Deshalb müssen diese Eindringlinge fliehen. Sie werden fliehen … oder sterben.
Die dreistimmige Stille wird weiter über den Rabenweg herrschen.
Das Knirschen des Kieses wird lauter. Fast haben sie die lange Einfahrt zurückgelegt. Obwohl sie leise sprechen, beinahe flüstern, kann ich ihre Worte schon deutlich vernehmen:
»Ob das eine gute Idee war, herzukommen?«, fragt eine von ihnen mit kratziger Stimme.
»Na hör mal« antwortet ein anderer und schwenkt seine Taschenlampe zu ihr. Ihr rotblonden Haare stehen in seltsamem Kontrast zu ihrem schwarzen Spitzenkleid. In meiner Zeit wäre das ein passendes Gewand gewesen. Heutzutage hebt sie sich damit deutlich von der modernen Kleidung der anderen ab. Ich glaube, man nennt diesen Stil heute »Gothic«.
Aufgrund der plötzlichen Helligkeit kneift sie ihre sonderbar blassblauen Augen zusammen.
»… es ist Freitag, der dreizehnte Oktober. Das ist doch wie gemacht für einen kleinen Ausflug ins Gruselhaus.«, setzt er seinen Satz fort.
Die anderen zwei Jungs aus der Gruppe lachen laut. Sie scheinen keine Angst vor mir zu haben, doch das wird sich bald wandeln.
»Nichts für ungut, Lilly« versucht das zweite Mädchen, eine zierliche Blondine, die Rothaarige aufzumuntern. Offenbar widerwillig folgt sie schließlich den anderen, und zu fünft gehen sie meine geschwungene Eingangstreppe hinauf.
Vor dem schweren Eichenholzportal angekommen, versuchen zwei der Jungs, es zu öffnen. Ich spüre, wie sie sich mit all ihrer mickrigen Kraft dagegen stemmen. Doch auch nach all den Jahren hält meine Eingangstür jedem Unbefugten stand. Es sei denn, ich will, dass sie eintreten.
»Sie ist verschlossen. Zeit, wieder heimzugehen« höre ich die kratzige Stimme erneut.
»Auf keinen Fall« presst ein anderer Junge vor Anstrengung hervor.
»Aber ihr seht doch, sie lässt sich nicht öffnen« protestiert die Rothaarige. »Vielleicht … vielleicht will das Haus nicht, dass wir es betreten« sagt sie ehrfürchtig.
Sie hat ihr Bestes versucht, ihre Freunde zu retten, das muss man ihr lassen.
Doch ich will, dass sie eintreten. Drinnen beginnt erst der ganze Spaß.
Mit einem lauten Quietschen öffne ich das Portal, und die beiden Jungen, die sich dagegen lehnten, fallen beinahe herein.
»Na, wer sagt’s denn?«, sagt einer von ihnen überheblich, nachdem er sein Gleichgewicht wieder gefunden hat.
»Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren« würde ich ihnen am liebsten als gut gemeinten Rat mitgeben, wenn ich sprechen könnte. Sie könnten ihn gebrauchen, denn hinaus werden sie nie wieder kommen.
»Woah« höre ich einen anderen Jungen staunen, während er den Lichtkegel seiner Taschenlampe durch den Eingangsbereich schweifen lässt. Ja, der war einmal beeindruckend. In den alten Zeiten, als meine Hausherrin hier große Empfänge veranstaltete. Zwei geschwungene Marmortreppen bewegen sich in Halbkreisen hinauf in den ersten Stock. Dazwischen hängt ein vergoldeter Kristallleuchter. Doch längst schon ist der Stein matt geworden, und der Kronleuchter beeindruckt allenfalls noch die Königin der Spinnen, die darin ihre feinen Netze ausbreiten.
Die Rothaarige zupft sich mit spitzen Fingern ein braunes Blatt von ihren schwarzen Lederstiefeln. Es ist durchweicht vom wispernden Herbstregen da draußen.
Mit einem dumpfen Knall lasse ich die Tür hinter ihnen wieder zufallen. Doch zu meiner Enttäuschung scheint sie dies nicht einmal zu beängstigen. Zu hypnotisiert scheinen sie von den Wegen, die weiter in mein Inneres führen. Auch die Rothaarige schweigt, scheinbar hat sie sich ja mit ihrem Aufenthaltsort abgefunden.
»Was sollen wir zuerst erkunden?«, fragt die Blonde.
»Ich finde ja, wir sollten mal eine dieser Treppen hier hochgehen« erwidert einer der Jungen, er ist breitschultrig und hat kurz geschorene schwarze Haare. Mit seiner Taschenlampe leuchtet er zurück zu der Gruppe, denn er steht bereits auf der dritten Stufe. Er scheint der Anführer sein zu wollen. Das kann er haben. Seine Freunde wirken etwas unentschlossen, aber schließlich folgen sie ihm. Es wäre ein leichtes, die alten Stufen brechen zu lassen, und ihre Knochen, bestenfalls ihre Genicke, gleich mit. Aber das wäre ja zu simpel. Nein, ich hatte schon so lange keine lebenden Menschen mehr als Gesellschaft, da möchte ich etwas Spaß haben. Daher heiße ich sie willkommen in meinen inneren Gemächern.
Sie gehen durch verwinkelte Gänge. Mal biegen sie links ab, mal rechts. Ob sie am Ende wohl noch wissen werden, wo sie sind? Ich bezweifle es. Doch obwohl sie sich so wirr hin und her bewegen, fast wie kleine Ameisen, gelangen sie irgendwann gefährlich nah an mein Innerstes. An das Geheimnis meiner Stille.
Sie betreten das Gemach meiner alten Hausherrin. Obwohl dort alles zu gesponnen und unter einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt ist, bewundern sie die einstige Pracht. Die Blonde stellt sich vor einen riesigen Wandspiegel mit verschnörkeltem Rokoko-Rahmen, doch er ist schon lange blind geworden. Flegelhaft wirft sich einer der Jungen auf ein altes Sofa. Durch den aufgewirbelten Staub muss er husten, was mich vor Schadenfreude mit den Fensterläden klappern lässt.
»Boah Leute, es ist so gruselig hier drin« sagt die Rothaarige. »Ihr seid doch echt Freaks, hier drin herumzulaufen. Und das auch noch nachts.«
Sie versucht doch tatsächlich immer noch, die anderen hier heraus zu bekommen. Doch dafür ist es schon längst zu spät. Ich werde sie nicht mehr gehen lassen. Sie haben bereits zu viel gesehen. Ich muss mein Geheimnis schützen.
»Tagsüber macht es doch keinen Spaß« protestiert der Anführer.
Ich beschließe, ihn als Erstes zu töten.
Er bewegt sich auf einen alten Flügel zu, der in einer Ecke des Raums steht.
»Sieh mal Lilly« sagt er zu der Rothaarigen, »Wie es aussieht, hat die Gräfin damals auch Klavier gespielt, genau wie du. Da müsstest du dich doch heimisch fühlen.«
Sie verzieht das Gesicht zu einer abfälligen Grimasse. Er tritt an das Instrument, klappt den Tastenschutz auf und beginnt, wahllos auf den Tasten herumzuhämmern. Eine Kakophonie stört meine Stille. Damit besiegelt er sein Schicksal.
Ich lasse einer der hohen Seiten reißen. Mit einem letzten, unangenehmen Ton schneidet sie ihm unsichtbar die Kehle auf. Das Klavier verstummt endlich wieder, und er auch. Leise gurgelnd bricht er schließlich zusammen.
Ein Tod, meiner Stille würdig.
Doch nun erhebt sich wieder Geschrei. Das Geschrei der anderen, fassungslos, was gerade geschehen ist.
»Oh mein Gott, Ben!«, ruft die Blondine und stürzt zu ihm. Auch die anderen Jungs rennen sofort los, doch niemand wird ihm mehr helfen können. Wenigstens die Rothaarige weiß das, sie wendet nur in Abscheu das Gesicht von ihm ab.
Die Jungen scheinen sich in Schockstarre zu befinden, ihre Haut hat die Farbe meines ausgeblichenen Putzes angenommen. Typisch. Erst markieren sie die Starken, brechen in verlassene Anwesen ein und stiften Unfrieden, und sobald dann einer von ihnen den Kopf verliert, erstarren sie wie kleine Schneeflöckchen.
Doch die Blonde schafft es, sie durch ihr Geschrei wieder zum Leben zu erwecken. »Wir müssen hier raus!«, kreischt sie, dass ich Angst habe, meine Fensterscheiben würden bersten. Wie kopflose Hühner (kopflos – ja, das werden sie bald sein) rennen die jungen Leute nun durcheinander. Jetzt wird es sich rächen, dass sie lange kreuz und quer durch meine Gänge gelaufen sind.
»Was machen wir nur mit ihm?«, fragt einer der Jungen.
»Wir müssen ihn hier zurücklassen« antwortet der andere. »Wir rufen die Polizei, die werden ihn schon rausholen.« Er zückt sein Handy, doch stellt schnell fest, dass er hier drin keinen Empfang hat. Wofür ich natürlich gesorgt habe. Ich will nicht, dass dieser neumodische Kram meine Hallen entweiht.
»Dann müssen wir eben erst hier raus, draußen wird man ja wohl Netz haben.«
»Bist du sicher, dass es so eine gute Idee ist, die Polizei zu rufen? Immerhin sind wir hier eingebrochen.«
»Aber wenn sie ihn suchen und irgendwann finden, kriegen sie uns vielleicht wegen Mordes dran. So können wir wenigstens noch glaubhaft machen, dass es ein Unfall war.«
»Du hast recht« sagt der andere nach kurzem Zögern. Die beiden wollen sich auf den Weg machen, doch in dem Moment bemerken sie erst, dass die Mädchen weg sind.
»Scheiße, wo sind die hin?«, fragt der eine.
»Die sind bestimmt schon vorgelaufen. Los, nehmen wir den Weg, auf dem wir hergekommen sind.«
Doch das ist leichter gesagt als getan. Vor ihnen liegen zwei Türen.
»Und durch welche der beiden sind wir gekommen? Links oder rechts?«
»Links … nein rechts … verdammt, warum sehen die denn auch so gleich aus?«
Hätten die beiden mal besser aufgepasst. Sie entscheiden sich für die rechte Tür. Aber das ist egal, denn ich lasse sie nicht entkommen. Immer weiter folgen sie dem dunklen Gang. Sie kommen an vielen Türen vorbei. Manche sind spartanisch, andere mit Messing beschlagen oder fein ziseliert. Aber aus irgendeinem Grund trauen die beiden sich in keinen der Räume mehr hinein. Schade – wir hätten in jedem von ihnen so viel Spaß haben können.
Letztendlich erreichen die beiden das Ende des Korridors. Sie stehen vor einem doppeltürigen Holzportal. Es ist schwarz lackiert.
»Hier sind wir aber nicht dran vorbeigekommen« konstatiert einer das Offensichtliche.
»Vielleicht ist es ja aber eine Art … Hinterausgang« äußert der andere seine Hoffnung.
»Ich weiß ja nicht, irgendwas stimmt mit dieser Tür nicht.«
Womit er recht hat. Sie stehen vor der Tür zu meinem Allerheiligsten.
Zurückzugehen scheint den beiden keine Option zu sein, und so öffnen sie die Tür. Im Raum dahinter sehen sie sich erst einmal vorsichtig um. Vor ihnen führt eine breite Treppe hinab. Die Handläufe sind ebenso schwarz lackiert wie die Tür. Darunter erstreckt sich ein Ballsaal. Obwohl hier alles zu gesponnen und verstaubt ist, können sie sich doch bestimmt die prächtigen Feste vorstellen, die einst hier gefeiert wurden. Ich für meinen Teil kann mich genau daran erinnern, an die Musik, an das Klirren der Gläser, und an das Lachen. Das war, bevor die Stille über den Rabenweg kam.
Die beiden gehen langsam die Treppe hinab, bedacht, jede Trittfläche erst auf ihre Belastbarkeit zu überprüfen, bevor sie ihr gesamtes Gewicht darauf verlagern. Schlaue Burschen.
Als sie an der letzten Stufe ankommen, hält einer den anderen zurück.
»Siehst du das auch?«, fragt er und deutet mit dem Schein seiner Taschenlampe auf den staubbedeckten Parkettboden.
»Was zum …?« Sie entdecken Fußspuren im Staub. Sie sind frisch.
»Irgendjemand muss schon hier gewesen sein.«
»Vielleicht eine der Mädels?«
»Aber die müssten doch zu zweit unterwegs gewesen sein. Außerdem waren im Korridor, der uns hergeführt hat, auch keine Spuren.«
Er folgt den Fußspuren mit dem Licht. Wie vom Blitz getroffen lässt er die Taschenlampe fallen, als er sieht, dass sie aus dem Nichts an einer Wand beginnen.
»Wie ist das möglich? Die können doch nicht durch Wände gehen, oder?«
Der Zweite hebt die Taschenlampe auf und betrachtet die Stelle einmal genauer.
»Die Wand … siehst du das auch?«
»Ja. Sieht aus, als wäre sie neuer als die anderen. Und sie ist auch nicht verputzt oder tapeziert. Als hätte sie jemand in aller Eile dort hin gemauert.«
»Also meinst du, da war vor kurzem jemand, der einen Ausgang zugemauert hat?«
»Das wäre schon möglich und würde die frischen Fußspuren erklären. Vielleicht wollte ja jemand, dass wir hier nicht mehr heraus finden?«
»Du meinst, wir wurden in eine Falle gelockt?«
Panik breitet sich unter den beiden aus. Sie rennen wieder die Treppe hinauf – diesmal weniger achtsam wie zuvor. Als sie oben ankommen, lasse ich sie in sich zusammenbrechen. Die jungen Menschen werden unter Holz und Stein begraben. Sie sind nun ein Teil meiner Stille. Mit ihrer Vermutung lagen sie ohnehin nur zur Hälfte. Ja, sie wurden in eine Falle gelockt. Aber es war keineswegs ein Ausgang, der hier zugemauert worden war. Vielmehr war es mein Herz, der Ursprung der Stille.
Unterdessen hatten die beiden Mädchen den richtigen Korridor genommen und erreichten die Eingangshalle. Atemlos wollte die Blonde gerade zur Tür hinaus stürzen – meinen Respekt, dass sie sich anscheinend keinen Deut um die Jungs scherte – als sie etwas sieht. Ein kleines Detail nur, doch es lässt sie innehalten und ein paar Schritte zurück machen. Mit scheinbar wachsendem Entsetzen betrachtet sie ein antikes Gemälde, es war ihnen, als sie eintraten, nicht aufgefallen.
Ein Porträt meiner alten Hausherrin.
Völlig entgeistert wandert ihr Blick zwischen der Rothaarigen und dem Bild hin und her.
»Du!«, ist das einzige Wort, das sie über die Lippen bringt. Immer wieder nur »Du!«
Dann macht sie auf dem Absatz kehrt und stürmt zur Tür hinaus. Als Einzige flieht sie aus meinen Mauern. Doch das werde ich nicht zulassen. Ein Dachziegel löst sich an der richtigen Stelle. Ein weiterer Unfall im Rabenweg. Er wird zu meinem Ruf beitragen. Dem Ruf des verfluchten Anwesens. Dieser Ruf wird die dreistimmige Stille weiter aufrecht erhalten. Wird mein Geheimnis bewahren.
Unser Geheimnis.
Langsam schreitet die Rothaarige meine ausladende Eingangstreppe hinunter. Sie betrachtet die Erschlagene im Kies und streichelt mir dabei sanft über das Treppengeländer, wie sie es schon seit zweihundert Jahren tut.
»Das hast du gut gemacht, alter Freund« ertönt ihre kratzige Stimme ein letztes Mal in dieser Nacht. Zur Antwort lasse ich die Balken knarren wie das Schnurren einer Katze.
Gräfin Liliana.
Meine Hausherrin.
Seit zweihundert Jahren bewahre ich ihre Knochen. Sie selbst mauerte sich damals ein. Alles hatte sie verloren, ihren Reichtum, ihr Personal, ihren Ruf. Doch mich, ihr geliebtes Haus, konnte sich nicht auch noch verlieren. Nun ist sie auf ewig ein Teil von mir. Ein Teil der Stille am Ende des Rabenwegs.