Das Dunkel im Inneren
Ich erwache mit der Nacht. Draußen im Wald ist es nun genauso dunkel wie in mir drin. Meine Fensterläden sind verschlossen. Ich habe mich von der Welt abgeschottet, niemand soll mehr in mein Innerstes vordringen, denn darin ist nichts mehr, seit…
Doch so sehr ich es auch möchte, so schaffe ich es nicht ganz, das Leben dort draußen völlig auszuschließen. Immer mehr Spinnen krabbeln durch die Risse in meinem Mauerwerk und die zersplitterten Fensterscheiben im Erdgeschoss, gefolgt von Käfern und sogar Ratten. Doch sie sind mir willkommen, sind sie doch genauso Geschöpfe der Nacht, wie ich es nun bin.
Der Wind weht seufzend durch mein Dachgebälk, als ich mich wehmütig an meine Tage in der Sonne erinnere. Es waren meine Tage mit ihr, meiner Familie. Kurz klappern erregt meine Fensterläden, als ich mich an die freudigen Tage mit lautem Kindergeschrei und lautem Lachen erinnere. Mir wird ein wenig warm im Kamin, doch das aufkeimende Glücksgefühl wird sofort gedämmt, als ich mich an die schrecklichen Ereignisse erinnere. Die Ereignisse, die mich zu dem machten, was ich heute bin, zum Horrorhaus, zur Geistervilla oder wie sie mich noch nennen.
Der Ruf einer Eule ertönt von außen. Ich konzentriere mich vollkommen darauf, um die schlechten Gedanken zu vertreiben. Ich muss mich auf meine Mitte konzentrieren. Ich ziehe den Wind kräftig ein…2….3…4… und wieder aus …2… 3… 4, ein… 2… 3… 4…, aus….
Was ist das? Im Wald ertönen neue Geräusche. Es ist nicht mehr die Eule und auch sonst kein Tier des Waldes. Es sind menschliche Stimmen, die viel zu laut tönen zu dieser nächtlichen Zeit. Das kann nur eines bedeuten: Sie sind auf dem Weg zu mir. Das sind sie immer, wenn sie um diese Zeit unterwegs sind. Nachts ist es gruseliger. Nachts offenbart das grausame Haunted Haus, Schauort eines Mordes an einer ganzen Familie, seine dunkelste Seite. War nicht schließlich auch der Mord in der Nacht passiert? Hat der Vater, nachdem er seinen Job verloren hatte, nicht mitten in der Nacht seine Frau, seine Kinder und dann sich selbst erstochen? Und nun kommen sie wieder, um noch etwas von der Grausamkeit des Verbrechens zu erspüren. Sie wollen die Blutspritzer sehen, die noch immer die Wände der Kinderzimmer beflecken und den verfärbten Boden, der noch nach dem Lebenssaft des Vaters und der Mutter schmeckt. Doch ich werde sie nicht hereinlassen, diesmal nicht.
Schon mehrfach ist es solch schaulustigen Gaffern, die sich selbst für Abenteurer hielten, gelungen, in mein Innerstes vorzudringen. Sie machten Fotos von meiner befleckten Seele. Die Blitze ihrer Smartphones ließen mich erschauern, so dass meine Böden laut knarzten und mein Mauerwerk vor Kummer weiter einriss. Doch statt meinen Kummer zu sehen und den Schmerz, den sie mir zufügten, quiekten und lachten sie nur schrecklich, so dass meine Fensterläden vor Schreck klapperten. Doch auch nun hörten sie nicht auf, sondern erfreuten sich daran, sprachen gar von Geistern, die mich bewohnen sollten. Geister gibt es in diesem Haus wirklich, die der Vergangenheit und meinen eigenen, gebrochenen Geist.
Nein, noch einmal werden sie sich nicht an meinem Leid ergötzen. Es reicht. Ich muss ein Zeichen setzen, damit mich nicht wieder und wieder Abenteurer wie diese heimsuchen.
Mit jedem Meter, den die Stimmen näher kommen, reift in mir ein Plan. Vorsichtig prüfe ich, ob meine Dachziegel noch immer locker sitzen und ob ich sie mit meinem Willen bewegen kann.
Ein lauter Knall bestätigt mir, dass ich in der Lage bin, mich zu verteidigen.
„Was war das?“, ertönt eine ängstliche Frauenstimme. „Kam das von dem Geisterhaus?“
Vielleicht habe ich Glück, vielleicht reicht der Lärm schon, um mir die Menschen vom Gemäuer zu halten. Vielleicht muss ich nicht mit noch mehr Blutgeruch leben. Doch meine Hoffnung erfüllt sich nicht.
„Die Geister heißen uns willkommen“, lacht eine tiefe Männerstimme. „Du hast doch nicht etwa Angst?“
„Angst, ich?“, antwortet die Frau. „Niemals. Lass uns ein paar Geister jagen.“
Sie ahnt ja nicht, dass Angst auch etwas Gutes sein kann. Hätte die Mutter meiner früheren Familie auf die Angst gehört, die sie mehr und mehr ergriffen hatte, als ihr Mann nach seiner Kündigung immer tiefer und tiefer in seiner Depression versank, dann könnten sie alle noch leben, sie, die Kinder und vielleicht sogar er, an den ich nicht mehr denken kann, ohne zu erschauern.
„War das gerade ein Erdbeben?“, überkommt die Frau nun wieder die Angst. „Wir sollten nicht in ein so altes Haus gehen, wenn die Erde bebt, findest du nicht?“
„Seit wann gibt es denn hier Erdbeben? Das sind nur deine Beine, die Zittern vor Angst, nicht wahr? Aber keine Sorge, ich pass schon auf dich auf.“
Damit besiegelt der Mann ihrer beider Tod, denn mein Entschluss steht genauso fest, wie meine Mauern es nach über 10 Jahren ohne Besitzer, die sich um mich kümmern, mich renovieren, heizen und bewohnen, noch tun. Was sind schon Risse im Gemäuer, solange die Steine noch aufeinander sitzen. Doch vielleicht kann ich irgendwann ja auch diese Stück für Stück von mir werfen, so wie ich es nun mit den Dachziegeln tun werde.
Der Mann und die Frau stehen vor meiner Tür. Sie scheinen ein Paar zu sein, denn sie halten sich an der Hand. Dann löst der Mann die Hand von der Frau und greift nach meinem Türgriff. Ich heule auf vor ekel. Ich will keine Fremden in mir drin. Niemand darf mehr über die Pforte in mein Inneres dringen. Ich muss jetzt handeln. Vielleicht gelingt es mir ja, nur den Mann unter meinen Ziegeln zu begraben. Dann wird die Frau sicherlich verschwinden.
Ich strenge mich an die richtigen Dachziegel zu erfühlen. Ja, direkt über dem riesigen Kerl sind gleich mehrere Ziegel lose. Mit viel Glück, fallen alle gleichzeitig auf ihn hinab und begraben ihn unter sich. Ob viel Blut spritzen wird? Wieder überkommen mich die Erinnerungen. Ich heule nicht nur auf, nein, ich jaule. Ich möchte diese Bilder nicht mehr vor Augen haben, den Schmerz nicht mehr spüren. Ich will doch einfach nur alleine sein in der Dunkelheit, die Schwärze genießen, die das Rot aus meinen Gedanken wischt.
Plötzlich fühle ich noch eine Hand auf mir. Sie ist zart und sie scheint mich zu streicheln. Mein Jaulen verstummt, so überrascht bin ich.
„Wow, du bist ja eine Gespensterbändigerin, wie mir scheint“, lacht der Mann über die Frau, die meine Fassade streichelt, denn auch er hat wahrgenommen, das mit der Berührung alle für ihn so schaurig klingenden Geräusche, die doch nur Ausdruck meiner inneren Qual sind, verstummt sind.
„Ich glaube nicht, dass es hier Gespenster gibt“, spricht die Frau zu ihm und klingt dabei viel ruhiger. „Es ist das Haus selbst, es leidet.“
Ein kleiner Funke glimmt in meinem Kamin auf. Kann es sein, dass sie mich versteht? Das sie meine Gefühle kennt?
„Soso, das Haus leidet“, nimmt der unsympathische Kerl sie kein bisschen ernst. „Ist das jetzt deine Ausrede, warum du nicht rein willst? Mir kannst du doch sagen, wenn du Angst hast.“
„Sie dir doch die Mauern an, sie haben Risse. Die Fenster, sie sind kaputt und die Dachziegel da oben erscheinen mir mehr als lose“, sagt die Frau und zieht ihren Begleiter ein paar Schritte zurück. Ich versuche zwar noch schnell, einen Ziegel abzuwerfen, aber die nutzlosen Dinger klappern nur ein wenig.
„Das Haus ächzt unter seinem Zustand und vielleicht auch unter dem, was es erleben musste. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was es gesehen und gehört und hat“, fährt die Frau fort.
„Du tust gerade so, als hätte das Haus Gefühle“, meint der Mann zu ihr.
„Ich weiß nicht, ob es Gefühle hat“, lächelt die Frau nun. „Aber es hat Charakter. Sieh dir nur diese Mauern an, das ist noch echte Handwerkskunst. Der Putz muss einst wunderschön gewesen sein und für so grazil verzierte Holzfensterläden wie diese, würdest du heute ein Vermögen zahlen. Das Haus hier ist noch immer wunderschön, auch wenn die Zeit und die Menschen ihm so zugesetzt haben.“
Ich spüre, wie der Funke in meinem Kamin zu einer Flamme wird. Sie versteht nicht nur meine Emotionen. Sie findet mich schön. Dieses warme Gefühl das mich nun umgibt, hatte ich seit einem Jahrzehnt nicht mehr.
„Schatz, ich könnte mir wirklich vorstellen, dass wir das Haus kaufen und rennovieren. Wir könnten unsere Kinder darin großziehen. Ihnen würde es hier im Wald bestimmt gefallen. Ich kann mir richtig vorstellen, wie sie hier lachend durch das Haus rennen, wie sie im Garten spielen, wie wir alle hier glücklich sind.“
Kann das wirklich sein? Werde ich eine neue Familie bekommen? Werde ich wieder spüren, wie Kinderfüße über meine Böden trippeln? Wird wieder unschuldiges Lachen von meinen Wänden hallen?
Mein Kamin lodert nun vor Freude. Ich kann mein Glück kaum fassen. Meine ach so kalten Gemäuer, sie erwärmen sich nach all den Jahren wieder. In mir ist es auch nicht mehr dunkel. Es wird heller und heller. Das Licht des in mir entfachten Feuers, es ist, als würde es sich nun vom Wohnzimmer aus auch auf die anderen Räume in mir ausbreiten. Wärme und Licht sind nun überall in mir, sie ergreifen Besitz von mir.
Ich spüre wie die Spinnen, Käfer und Ratten aus meinen Gemäuern flüchten, denn ich bin nun kein Geschöpf der Dunkelheit mehr. Ich bin das pure Licht, die pure Wärme, die pure Liebe. All die Schatten der Vergangenheit werden regelrecht ausgebrannt aus mir.
Das Blut an den Wänden und auf dem Boden verbrennt genauso wie die Erinnerungen an alles. Die Frau und der Mann, sie weichen von mir und starren mich ungläubig an. Das Licht in mir flackert nun auch in ihren Augen. Als ich merke, dass ich mit meinem Licht auch sie erhellen kann, dringen die Wärme und das Licht aus mir heraus. Ich möchte dieses Gefühl mit allen teilen.
Mir ist klar, dass ich verbrenne. Ich bin zwar nur ein Haus, aber ich spüre, wie das Feuer meine Substanz frisst. Und dennoch ist es für mich pures Glück. Nach all den Jahren im Dunkeln, allein mit der Grausamkeit der Erinnerungen, darf ich nun gehen. Und ich gehe mit Wärme und Licht. Mein Feuer wird um sich greifen und auch den anderen Wesen der Nacht in diesem Wald Licht spenden. Nichts wird mehr an diesen Ort und seine Schatten erinnern. Es werde Licht.