Seitenwind Woche 1: Gäste im Geisterhaus

Die Diva

Ich warte. Wie jede Nacht. Wie jede Nacht seit etwas mehr als zweihundert Jahren.

Ich warte. Warte darauf, dass er zurückkehrt. Ich warte auf ihn, der mich vor mehr als zweihundert Jahren aus dem nichts, nur mit seinen wunderschönen Händen, seinem freien Geist und totaler Hingabe erschaffen hat. Mein Körper gleicht einem Kunstwerk aus der Antike, anmutig stehe ich da, mit hoch erhobenem Haupt und stolz geschwelter Brust. Ich bin die Schönste. Die gesamte Rabenstrasse blickt zu mir empor. Er hat mich erschaffen, kein Haus, sondern Gestalt gewordene Schönheit.

Um mich zu ehren und meine einzigartige Ausstrahlung zu betonen, spendiert er mir einen prächtigen Park. Die edelsten Rosen, üppige Magnolienbäume und etwas weiter entfernt die Pappeln, alle verneigen sich vor meinem Liebreiz.

Und dann geschieht etwas Unerklärliches. Eine Frau zieht bei ihm ein. Nicht annähernd so elegant wie ich. Ein einfaches Wesen, was findet er nur an ihr. Obwohl sie in keiner Weise mit mir mithalten kann, dulde ich keine Nebenbuhlerin in unserer Nähe. Sie muss weg. Also lockere ich mein Treppengeländer, lasse sie auf dem Teppich ausrutschen. Mit Genugtuung sehe ich, wie sie auf dem Boden der Eingangshalle aufschlägt. Nun gehört er wieder mir.

Seither warte ich. Er ist fort. Noch am gleichen Tag hat er mich verlassen. Aber er wird zurückkommen. Viele junge Männer sind seither vorbeigekommen und wollten sich mit ihren billigen Weibsbildern hier niederlassen. Ich habe sie allesamt entsorgt. Niemand blieb lang, entweder gingen sie freiwillig oder ich habe nachgeholfen.

Ich warte. Da, es kommt jemand. Aber er ist es nicht. Schon wieder Fremde, die mich einfach nehmen wollen, als wäre ich vom käuflichen Gewerbe. Aber ich gehöre nur ihm. Sie sind fünf, drei junge Männer und zwei Frauen. Wenn man sie Frauen nennen kann. Kein Liebreiz, keine Anmut, nichts Weibliches zeichnet sie aus. Enge Hosen, Schlabber-Shirts und kurzes Haar. Nicht wie ich, die sinnliche Muse, erschaffen von einem begnadeten Künstler. Ich werde sie genauso erbarmungslos loswerden, wie alle anderen zuvor. Kommt nur, es wird schnell gehen. Denn ich möchte in Ruhe … warten.

Lichter in der Chester Street

Mir wäre es ehrlich gesagt, egal gewesen, ich hatte mich schon länger mit der Situation arrangiert, aber durch Daisy war ich auf eine Idee gekommen, die ich – je mehr ich darüber nachdachte – sehr interessant fand.
»Charles«, hatte sie lässig gesagt, »Das solltest Du dir wirklich nicht mehr bieten lassen.« Sie rauchte dabei, große Wolken stiegen langsam in den Winterhimmel.
»Richtig!«, pflichtete Gusteau zornig bei, »du musst sie dir gefügig machen!«.
Während ich Daisys Schönheit mit ihren Siebzehn Jahren immer wieder bewunderte - gerade zu dieser Jahreszeit - konnte ich Gusteau nicht auf die Giebel gucken. Trotz seiner einhundertzwanzig Jahren war er immer noch oft unbeherrscht und griesgrämig gelaunt. Das passte zu seinen Körpern, denn die mochte ich ebenfalls nicht.
Aber unabhängig davon, wen ich mochte und wen nicht, die beiden erhellten die Chester Street schon seit Wochen und überfluteten die kalten Winternächte stolz mit herzerwärmendem Licht. Daisy war mit lustigen Tiermotiven und flackernden Lichtern dekoriert. Bei Gusteau war der Ansatz eher klassisch, ein ruhiges Glimmen. Ich beneidete sie. Mich hatte man kalt und dunkel zurückgelassen - wie jedes Jahr.
Ich konnte Daisys Körper hören. Sie feierten in der warmen Stube. Weihnachtsmusik war zu hören, der Kamin brannte. Ich konnte die Behaglichkeit geradezu spüren, während ein kleines bisschen Wärme sogar über die Straße zur mir herüberstrahlte. Obwohl Daisy noch nicht so alt war, schien ihre Dämmung nicht gut zu sein. Aber das hätte ich ihr natürlich niemals gesagt. Ich wollte es mir mit ihr nicht verscherzen, denn mit Nachbarhäusern sollte man immer gut auskommen.
»Du musst sie bestrafen!«, krakeelte Gusteau. Seine Fenster waren dunkel, dort feierte heute niemand mehr. Seine Körper schliefen bereits.
Daisy seufzte: »Nein, natürlich nicht, Charles! Vielleicht solltest Du deine Körper ein bisschen inspirieren. Sorg doch einfach selbst für Behaglichkeit! Sie kommen doch heute zurück – empfange sie mit ein bisschen Wärme!«
Sie hatte gut reden. Ihre Körper fuhren nicht jedes Jahr zu Weihnachten in den Winterurlaub!
Doch vielleicht hatte sie recht. Tatsächlich würde meine Köperfamilie heute zurückkommen, schnatternd, gut gelaunt mit ihrer Skiausrüstung im Gepäck. Und wie immer würden sie nur so aus Spaß sturmklingeln und mich mit großem Hallo betreten, als hätten sie eine großartige Abenteuerreise hinter sich.
Also stand mein Entschluss fest: Ich würde mich dieses mal gut vorbereiten und die Familie so richtig gemütlich empfangen! Und auch Gusteau hatte ein bisschen recht. Deshalb drückte ich hier und da ein wenig auf die Erdleitung, bis nach und nach Gas aus dem Herd strömte.
Und dann freute ich mich auf den Moment, in dem sie klingeln würden. Dann würde ich, dieses eine Mal, das hellste Haus in der ganzen Straße sein.

Der Preis der Neugier

Die Dunkelheit umhüllt eine Gruppe von Wanderern, getrieben von ihrer brennenden Neugier nach Geschichten und Geheimnissen. Sie sind alle aus demselben Grund hier: Die Wahrheit aufzudecken.
Ich kann ihre Nervosität förmlich schmecken, einen metallischen Beigeschmack, der sich in der Luft ausbreitet, während sie dem Eingang näherkommen. Ihre Gesichter sind von angespannter Erwartung verzerrt, und ihre weit aufgerissenen Augen sind aufmerksam. Ich muss mich zurückhalten, ruhig verhalten, aber es fällt mir schwer. Die Zeit des Wartens war endlos, aber jetzt sind sie hier, und ich bebe vor Aufregung. Ganz leicht nur. Ich will nicht auffallen. Noch nicht.

Das Holz knarrt leise unter ihren Schuhsohlen, als sie meine Welt betreten, und ich lasse die Tür langsam hinter ihnen schließen. Dunkelheit umgibt sie und erzeugt den süßlich-scharfen Duft von Angstschweiß, der meine Sinne betört. Die Wanderer tasten sich zaghaft vorwärts, und nur vereinzelte Lichtpunkte werfen flackernde Schatten an die Wand. Ihre Schritte hallen in den Fluren wider, und ich lausche jedem Geräusch, jeder flüsternden Bemerkung.

Ich beginne behutsam, Illusionen zu weben - verführerische Traumwelten, die ihren tiefsten Wünschen und Sehnsüchten entsprechen, und ihnen vorgaukeln, was sie hier erwartet. Ihre Augen weiten sich noch mehr, und ein schüchternes Lächeln huscht über ihre Lippen, während sie die Bilder in ihren Köpfen genießen. Die Realität beginnt zu verblassen, und ihre Schritte werden selbstbewusster, ihre Blicke neugieriger. Ihre Nervosität verwandelt sich in aufgeregte Vorfreude, und ihre Hände zittern nicht mehr vor Angst, sondern vor Erregung. Dieser Moment ist es, den ich so sehr genieße - wenn ihr Geschmack allgegenwärtig ist, so verlockend süßlich.

Ich nehme sie immer tiefer mit meinen Illusionen gefangen, bis sich der Erste an die Wand lehnt, um in seinen Gedanken zu versinken. Die dunkelgrüne Tapete, versehen mit einem filigranen Muster, das sich wie ein undurchdringliches Labyrinth ausbreitet, bedeckt ihn Zentimeter für Zentimeter. Das Muster windet sich um seinen Körper, gleitet über seine Hände und schließlich verhüllt es sein Gesicht.

Seine Gestalt verschmilzt beinahe mit der Wand, seine Konturen verblassen, während die dunklen Ranken des Musters ihn in sich aufzusaugen scheinen. Seine Augen werden von dem Muster verschluckt, und ein letztes leises Keuchen entweicht seinen Lippen.

Erst in dem Moment, bevor er gänzlich mit der Wand verschmilzt, eins mit mir wird, löse ich die Illusion. Die Tapete zieht sich wie ein Vorhang von seinem Gesicht zurück, und er erstarrt, als die kalte Realität in sein Bewusstsein zurückkehrt. Wie flüssiges Gold fließen all seine vorherigen Glücksgefühle von ihm und sickern in die Fugen des Bodens. Ich ächze wohlig auf als sich seine Augen vor Entsetzen weiten, und er versucht, sich von der Wand zu lösen. Doch seine Glieder sind bereits mit dem Muster verschmolzen. Er windet sich, während er verzweifelt nach einem Ausweg sucht. Ich genieße seinen Kampf bei dem er mir unbewusst all seine Energie überträgt. Eine Gänsehaut legt sich über ihn, und mit eiskaltem Gewissen bemerkt er, dass es zu spät für ihn ist. Er gehört mir. Vom Keller bis zur Schindel atme ich den letzten Atemzug mit meinem Opfer, während sich die Tapete wieder zuzieht.

Die Umrisse des Mannes verschwinden schnell, bis nur noch seine Energie in meinen Mauern steckt und mich nährt. So gehe ich nach und nach mit jedem Wanderer vor. Keiner verlässt meine Mauern. Die Dunkelheit verbirgt meine Tat.

Ich bin das Anwesen am Ende des Rabenwegs, ein lebendiges Wesen, das auf die nächste Gruppe von Neugierigen wartet. Und ich weiß, dass sie kommen werden.

Für immer einsam…

Ich bin einsam. Schon so lange einsam. Vermutlich haben mich alle vergessen, die mich einmal kannten. Zu viel ist passiert, was ich gerne ungeschehen machen würde. Es stimmt nicht, was man sagt: Die Zeit heilt keine Wunden. Vielleicht hilft sie dabei, den Schmerz zu verdrängen, aber heilen? Nein. Und die Schuld wird auch nicht weniger. Im Gegenteil, sie wächst mit jedem Jahr, das vergeht und wiegt immer schwerer. Ich habe den Moment verpasst, in dem ich etwas wieder hätte gutmachen können. Es ist zu spät. Es ist keiner mehr da außer das Ungeziefer, das sich eingenistet hat. Sie kriechen in die morschen Böden und in die Ritzen der Wände, höhlen sie aus und bauen sich Nester. Genau wie meine Schuldgefühle.

Ich bin einsam. Es ist niemand mehr hier, der Schutz sucht unter meinem Dach. Niemand, der eine Kerze entzündet. Es gibt kein Gespräch, kein Lachen, nicht einmal mehr Streit. Dabei bin ich doch geschaffen als Ort der Geborgenheit. Ein Ort der Gemeinschaft. Ein Zuhause. Aber hier ist niemand mehr. Ich habe es vermutlich verdient. Ich konnte das Leid nicht verhindern. Ich habe versagt. Und ich habe nicht den Mut gehabt, um Vergebung zu bitten. Deshalb bin ich einsam.

Der Wind zerrt an den Fensterläden, die schief in den Angeln hängen. Sie klappern leise, aber ohne Rhythmus. Denn auch Musik gibt es hier schon lange nicht mehr. Die Äste der Trauerweide streifen über die verbliebenen Scheiben und es klingt wie das Kratzen auf einer Tafel. Es schmerzt wie die Einsamkeit.

Wieder ist es Nacht geworden. Ich höre die Kreaturen, die sich nur im Dunkeln heraus trauen. Sie huschen durch den Garten, um sich Nahrung zu suchen. Mehr nicht. Ich erkenne sie nur an den Geräuschen, die sie machen.

Da. Plötzlich. Ich halte inne. Ein fremdes Geräusch. Nein. Nicht fremd, nur ungewohnt. Ein Geräusch aus der Vergangenheit. Der Kies in der Einfahrt knirscht. Das sind Schritte. Ich höre Wispern und Raunen. Das sind Stimmen. Flüsternde Stimmen. Ich halte die Luft an. Wer kommt da? Wer schleicht sich hier durch die Dunkelheit? Im Schein des aufsteigenden Mondes kann ich drei junge Gesichter sehen. Was führen sie im Schilde? Was können sie wollen? Sie schleichen geduckt zu den Fenstern im Erdgeschoss. Sie drücken ihre Gesichter gegen das Glas, um einen Blick hinein werfen zu können, aber es ist viel zu dunkel. Unschlüssig verharren sie einen Augenblick, dann tasten sie sich weiter vor, an der Rosenhecke vorbei. Ich kann hören, wie sich ihre Kleider in den Dornen verheddern. „Au! So eine Sch…!“ Der Aufschrei lässt mich grinsen, dann spüre ich die Traurigkeit. Keiner nähert sich mir ungesehen und ohne Folgen.

Eine Wolke schiebt sich vor die einzige Lichtquelle, aber ich spüre, dass die drei sich nun der Eingangstür nähern. Einen kurzen Moment lang sehe ich Bilder aus der Vergangenheit. Die Türe, die sich öffnet und helles, warmes Licht, das sich in die Dunkelheit ergießt. Ich höre Stimmen. Überraschte Stimmen. Dann Lachen und Begrüßungsworte. Die Erinnerung verblasst wieder, aber sie hinterlässt ein ungewohntes Gefühl. Ich glaube, das Gefühl ist Hoffnung. Doch das Gefühl kommt nicht alleine. Auch das Gefühl hat zwei Begleiter dabei. Ich spüre Angst. Angst vor dem, was ich nicht weiß. Angst vor Täuschung. Angst vor Enttäuschung. Angst vor Ablehnung.

Die Eindringlinge stehen an der Tür. Sie stehen ganz nah beieinander. Unbewegt. Sie scheinen, wie ich, den Atem anzuhalten. Ich frage mich, ob auch sie Angst haben? Ich wüsste gerne, warum sie gekommen sind. Ich wüsste gerne, was sie suchen. Vielleicht sind sie nur neugierig.

Da spüre ich das dritte Gefühl. Es kribbelt angenehm in meinem Innern. Während ich noch versuche, es zu identifizieren, legt einer der drei zögernd seine Hand auf die Klinke. Ich zucke zurück und frage mich, ob er es bemerkt hat. Ich erkenne: Ich muss mich entscheiden. Drei Gefühle, die in mir ringen. Hoffnung, Angst und Neugierde. Vielleicht ist das der Moment, auf den ich so lange gewartet habe. Vielleicht ist das meine letzte Chance. Als der Besucher sich mit seinem Gewicht ganz vorsichtig gegen die Tür lehnt, ist meine Entscheidung gefallen und die Tür gibt nach.

Der kühle Novemberwind zog rasch an mir vorbei, trug tanzende Blätter hinauf zu meinen alten Ziegeln, wo sie sich in einer sanften Geste zitternd auf mir niederließen. Ich spürte, wie die kahlen Büsche an meiner Front kratzten und wie die grünen Fensterläden, deren Kontrolle mir schon längst entglitten war, laut gegen die bröckelnde Fassade schlugen, deren ehemaliger Farbton nun alles andere als hübsch war. Das Quietschen der rostigen Schaukel, welche schon seit so vielen Jahren in meinem Vorgarten thronte, wurde begleitet von den dumpfen Schritten mehrerer Menschen. Ihre Anwesenheit hatte mich aus meiner friedlichen Nachtruhe gerissen und meine Aufmerksamkeit erregt. Es war schon so lange her, seit das letzte Mal jemand zu mir kam, um zu spielen.

Die Erinnerungen an die alten Zeiten, als meine Wände noch vollständig waren und das Beige in voller Pracht erstrahlte, waren schmerzhaft. Das Gefühl von Füßen die durch meine Räume trampelten und das fröhliche Lachen von Kindern. Doch meine Besitzer waren nie geblieben, immer wieder gingen sie und ließen mich in quälender Einsamkeit zurück, ehe sich die nächste Familie in meiner Umarmung niederließ. Doch das war Jahre her. Ich war verfallen und alt geworden aufgrund des Mangels an Pflege. Die Wände in meinem Inneren konnten kaum noch das zweite Stockwerk stützen und die Balken, welche mein Dach stützten, schmerzten von der täglichen Belastung.

Die Anwesenheit der Menschen hatte mir Hoffnung geschenkt, wie die Insekten hatte sie sich in mein Inneres geschlichen und erhellte nun die schier ewige Finsternis welche sich auf jedem Zentimeter meines Selbst niedergelassen hatte. Doch was wenn sie wieder gehen würden? Dann wäre ich erneut alleine mit meinen Gedanken, hätte niemandem, den ich die Tür vor der Nase zuschlagen konnte oder auf den ich einen Dachziegel herabfallen ließ. Die Einsamkeit würde sich erneut in mein Fundament eingraben und dieses mit jedem Tag brüchiger werden lassen bis mein empfindliches Konstrukt schließlich ganz in sich zusammenfiel. Ich durfte das nicht zulassen.

Ich spürte wie die Menschen sich schwerfällig über den vom vergangenen Regen aufgeweichten Boden bewegten und sich der brüchigen Tür näherten, welche einst zu dieser Zeit des Jahres einen prächtigen Kranz getragen hatte. Ich öffnete sie ihnen schwerfällig. Wie lange war es her, seit sie das letzte Mal offenstand?

Ein spitzer Schrei folgte auf mein Tun, der kurz darauf von nervösem Lachen übertönt wurde. Ich hörte ihre Stimmen, doch die gemurmelten Wörter ergaben keinen Sinn für mich. Das Einzige, was zählte, war, dass sie in meine Umarmung kamen. Ich würde ihnen Wärme und Sicherheit geben. Mit ihnen spielen und erneut das menschliche Lachen hören.

Es schien viel zu lange zu dauern, bis sie endlich die Türschwelle übertraten und mein Inneres betraten. Meine Chance. Mit aller Kraft, die sich noch in mir befand, ließ ich die Tür wieder ins Schloss fallen. Sie würden mir nicht entkommen. Sie würden hierbleiben und mit mir spielen, so wie die Kinder meiner früheren Besitzer es getan hatten. Der süße Gedanke an die Geräusche, die sie machten, wenn ein Dachziegel auf ihren Köpfen landete oder ich plötzlich die Fenstergläser zerspringen ließ, schenkte mir wohlige Wärme und mit dem Gedanken an die kommende Zeit, welche ich mit den neuen Menschen haben würde, wickelte ich mich wieder in den Schleier meiner Ruhe.

Hoffnung

Die Dunkelheit bricht herein, und mit ihr eine beklemmende Stille, die den Rabenweg umhüllt. Der Wind haucht kalte Lieder durch die kahlen Äste meiner alten Bäume. Die Fensterläden klappern wie die Knochen einer vergessenen Leiche.

Wieder eine einsame Nacht …

Doch dann, ein leises Knarren öffnet das verrostete Tor und die Schatten von neugierigen Seelen schleichen sich in meine Hallen!

Das flackernde Licht der Lampen und das kühle Schimmern von seltsamen, kleinen Apparaten beleuchten den Weg durch meine düsteren Eingeweide. Ich spüre den frostigen Atem, höre das nervöse pochen ihrer Herzen.

Ihre Stimmen der Seelen zerreißen das ewige Schweigen:

„Glaubt ihr an die Geschichten, die sie über diesen Ort erzählen?“, fragt eine zögerliche Stimme, während die flackernden Lichter ihrer eckigen Handlampen die Dunkelheit zerschneiden.

„1899, es ist eine lebende Legende.“, murmelt eine andere, die Lampe wild schwingend. „So ein altes Kinderheim hat einfach einen dramatischen Charakter, einen Hang zum theatralischen.“

„Stellt euch vor, was dieses Haus in all den Jahren gesehen haben muss“, sagt eine Dritte. „Das hier ist wie Netflix, aber in echt und gratis!“

„Ich frage mich, ob wir heute Nacht etwas Nützliches finden“, grübelt eine vierte, einen Fuß auf die knarzende Treppe setzend.

„Vielleicht“, antwortet eine fünfte, die Augen über die leere Dunkelheit rollend, „aber es postet nur echt altmodische Spukgeschichten. #VintageVibes.“ Es macht eine Pause und lauscht den Geräuschen des Hauses. „Aber ernsthaft, denkt ihr, wir werden heute Nacht etwas Paranormales erleben?“

Ich antworte: Meine Wände flüstern die Melodien der Vergangenheit, jede Ecke ist erfüllt mit den Echos von lachenden Kindern, die hier nie wieder gesehen wurden.

Meine Treppen stöhnen unter dem Gewicht ihrer Schritte, als ob sie die Last von zwei Jahrhunderten ertragen müssten. Ihre Lichter erleuchten die Muster der alten Tapeten, die Geschichten von Freud und Leid in ihren verblassten Farben tragen. Die modernen Geräte, so fremd in diesen alten Mauern, bilden einen schrillen Kontrast zu meiner morbiden Eleganz.

„Hast du das gehört?“, flüstert eine der neugierigen Seelen, während sie sich langsam durch die Dunkelheit bewegen. „Es sind Geräusche, fast wie Kinderlachen, aber irgendwie… verzerrt, unnatürlich.“

„Ja“, antwortet eine andere Stimme, die Taschenlampe fest umklammert, während ihre Augen hastig die Schatten absuchen.

„Egal, was passiert, das wird definitiv eine Nacht, die wir nie vergessen werden!“ Ertönt es gemeinsam.

Die Seelen zögern … Sie lachen. Lachen?

Ich spüre ihre Neugier, den brennenden Wunsch, die Geheimnisse zu enthüllen, die in meinen Räumen verborgen sind. Soll ich sie in die finsteren Abgründe meiner Geschichte ziehen, sie mit den rastlosen Geistern, die meine Hallen bewohnen, spielen lassen? Oder sollen meine Wände die traurigen Geschichten preisgeben, die sie seit Jahrhunderten bewahren, in der Hoffnung auf Erlösung?

Ein Hauch von Unheil liegt in der Luft. Ich fühle die Anwesenheit der Geister, die in meiner Dunkelheit gefangen sind, rastlos und voller Zorn. Aber in den Herzen dieser Abenteurer spüre ich auch eine seltsame Wärme, einen Funken Hoffnung. Die Schatten scheinen sich vor den grellen Lichtern ihrer Geräte zu ducken. Vielleicht können sie die Geschichten, die in mir verschlossen sind, aufdecken und meinen Geistern Frieden bringen?

Nein.
Ihre Seelen gehören mir. Füttern mich. Nähren mich. Die Verlorenen brauchen neue Spielgefährten …

Das Haus vom Rabenweg

Seit über zwei Jahrhunderten stehe ich an Ort und Stelle. Ich hatte viele Besitzer und Bewohner, viele sind von selbst weitergezogen, anderen musste ich ein wenig nachhelfen. So habe ich mir einen Namen gemacht.
„Das verfluchte Haus vom Rabenweg“ nennt man mich, oder „Haus des Teufels“. Beides unpassend, wie ich finde. Jedoch erfüllen die Namen ihren Zweck und halten mir diese nervenden Menschen fern. Meistens zumindest.

Jedes Jahr Ende Oktober verirren sich ein paar selbsternannte „Abenteurer“ auf mein Grundstück und wollen meine Geheimnisse offenbaren. Als ob ich ihnen diese einfach so kundtun würde…. Pah!
Bisher habe ich es immer geschafft, dieses nervende Pack loszuwerden. Ich habe viele versteckte Räume, aus denen aufgrund meiner Bauart kein Mucks nach außen dringt. Sehr zum Leidwesen der darin eingeschlossenen. Aber immerhin habe ich so meine Ruhe….und ich mag meine Ruhe wirklich sehr!

Doch dieses Jahr ist es anders. Es sind nicht die üblichen Abenteurer, mit denen ich mich sonst herumschlagen muss. Nein, diese Menschen hier sind anders, auf ihren Jacken steht „POLIZEI“. Abenteurer im entfernten Sinne.

Immer zu zweit laufen einige von ihnen durch meinen Garten, andere schauen im maroden Schuppen und im mehr als baufälligen Wintergarten. Die Strahlen ihrer Taschenlampen sind grell und leuchten überall hin. Scheinbar suchen sie etwas…oder jemanden. Vielleicht einige der letzten Abenteurer? Möglich…

Meine Kiesauffahrt ist gesäumt mit ihren Autos. Sie hätten wenigstens diese nervenden Blaulichter auf deren Dächern ausschalten können. Aus jeder Ecke meines Grundstücks höre ich die Polizisten in ihre Funkgeräte sprechen und die krächzenden Antworten. Meine alten, verrosteten Fensterläden knarzen drohend, aber sie scheinen dies gar nicht wahrzunehmen. Oder sie ignorieren es, was mich sogar noch wütender macht als ich ohnehin schon bin. Immer diese nächtlichen Störungen…

Einige der Polizisten spannen nun Bänder mit der Aufschrift „POLIZEIABSPERRUNG“ an die großen Schmiedetore. Noch mehr Autos von ihnen mit Blaulicht und Sirenen (ich HASSE Sirenen) fahren vor und blockieren die Einfahrt vor den Toren.

Ich habe es so satt! Ich will doch nur meine Ruhe! Mit einem knarzenden Seufzen öffne ich meine schweren Eingangstüren. Sollen sie ruhig eintreten.

Je eher habe ich meine Ruhe…

Misanthropisches Mansion

Abertausende glitzernde Staubpartikel tanzten verspielt im fahlen Mondlicht, das durch meine majestätischen Fenster in den großen Ballsaal schien. Sie drehten und wirbelten sich vergnügt zur Musik des Windes, der ungeladen durch die Fugen kroch. Bald würden sie erschöpft zu Boden sinken und sich in einem glitzernden Meer gefallener Sterne zu ihren Brüdern und Schwestern gesellen, die meine Holzdielen in eine warme Decke hüllten.

Silberne Spinnweben zogen sich wie ein filigranes Kunstwerk über meine Wände, hohen Decken und den prunkvollen Kronleuchter, der wie ein König im Mittelpunkt des Saals thronte. Die tropfenförmigen Kristalle des Kronleuchters schwankten sanft klirrend im Rhythmus der Musik.

Es war eine perfekte Nacht.

Doch sie wurde jäh unterbrochen, als laute Stimmen durch die friedliche Idylle drangen. Ein Schaudern ging durch meine Wände, als grobe Hände meine schwere Eingangstür aufstießen und dünne Lichtkegel durch die heimelige Dunkelheit stachen.

„Woah, krass.“

„Jetzt drängel doch nicht so.“

„Lass mich auch mal sehen.“

Menschen. Na das hatte gerade noch gefehlt. Die trugen immer so viel Dreck rein und zerstörten meinen sorgsam kultivierten Sternenboden und die kunstvoll gewebten Spinnenvorhänge. Besonders lästige Exemplare versuchten sogar meine goldenen Kerzenhalter von der Wand zu reißen oder die Löwenstatuen aus dem Foyer zu klauen.

Da waren mir selbst Ratten und Marder lieber, auch wenn die dauernd an den Beinen meines geliebten Ottomans nagten.

Höchste Zeit das Menschen-Abwehrsystem einzuschalten bevor die Nacht ganz ruiniert war.

Ich reckte und streckte mich bis die Böden und Wände unter der Anstrengung zu ächzen begannen. Dann schüttelte ich mich bis die Fenster laut klapperten und die Kronleuchter behäbig von rechts nach links schwankten. Meine Staubsterne schreckten aus ihrem Schlaf und stoben in die Luft.

Schreie wurden laut. Schnelle Schritte, die sich entfernten.

Na, geht doch, dachte ich zufrieden. Auch wenn ich morgen mit Sicherheit einen fiesen Muskelkater haben würde. Ich war halt auch nicht mehr der Jüngste…

Nachts

Reingelassen habe ich sie. Durch die alte schwere Eichentür, sind sie in mein Innerstes gekommen. Ich hab sie eingeschlossen, tief in meinem Bauch. Damit sie mir nicht entkommen. Fünf Fremde, einer davon bist du. Du, der so selbstgefällig tut. Als könnte ihm nichts und niemand etwas anhaben. Du bist stark und mutig. Hast sie hierher geführt, damit du sie abzocken kannst. Ich kenne Menschen wie dich. Erkenne sie schon von weitem, merke, was sie vorhaben. Und genau dann lasse ich sie raus. Meine Freunde. Denn wir sind hungrig.

So lange waren sie allein, weggesperrt, saßen in die Ecken gekauert, tief versponnen im Schlaf. Doch du hast sie geweckt. Mit deinen Schritten, deinem Gehabe. Sie erwachen zum Leben.
Spüren deine Anwesenheit.
Sie bewegen ihre langen behaarten Beine. Zunächst langsam und tastend, aus ihren Trichtern heraus. Bewegen sich vorwärts. Kriechen über den Boden. Krabbeln die Wand herab. Du nimmst sie kaum wahr. Ein schneller Schatten, der die Wand entlang huscht und unter dem nächsten Regal verschwindet. Sie kommen näher. Immer näher. Viele. Spinnen. Sie flitzen heran, flink und schnell. Haarig, mit acht angewinkelten Beinen.

Sie spinnen ihre Netze über deinem Bett. Kriechen unter dein Kopfkissen. Deine Bettdecke, die dir sicheren Schutz für die Nacht bieten sollte. Berühren dich, deinen Körper. Du schläfst, doch sie sind bereit. Ganz langsam krabbelt die Erste auf dein Gesicht. Du wachst auf.

Schweißgebadet. War das ein Traum?

Du versuchst, weiterzuschlafen. Kannst aber nur noch an diese eine Spinne denken, die du vorhin noch in deiner Wohnung gesehen hattest. Und die jetzt womöglich in einer dunklen Ecke unter deinem Bett wartet. Schlaf gut.

Sie kommen im trügerischen Licht des Abends zu mir. Hatten wohl gedacht zu betreten, was sie sehen können. Ha! Oh wie genieße ich das Zwielicht, auf welches Finsternis folgt! Wind belebt meine Mauern, findet Ritzen, in denen meine Bewohner langsam erwachen. Noch schauen sich die Besucher neugierig um, entdecken nichts, was sie umkehren lassen würde. Natürlich nicht, ich lasse mir Zeit. Nur ein kleines Knacken hier und da … aber bei einem so alten Haus …

Sie beginnen zu rufen:“He, ihr Geister wir sind da, wo seid ihr?“ Necken sich gegenseitig mit Gruselgeschichten und „Buh“.

Aahhhh, wie genieße ich diese Ahnungslosigkeit, verharre noch ruhig. Na gut, ein bisschen Klopfen in den Rohren kann ich mir doch nicht verkneifen.

Große Augen. Ein kurzes Erschrecken. Ein nervöses Lachen. Sie beruhigen sich.

Finsternis umfängt mich, breitet sich in mir aus. Ich atme die lächerliche Neugier und die aufsteigende Angst der Besucher tief ein. Aller Staub klammert sich förmlich an mein Gemäuer, meine Dielen. Jetzt ist es egal, ob sie zusammenbleiben oder jeder für sich die Räume durchstreifen. Sie spüren ihn, meinen Atem, ein zarter Lufthauch erst, ein Staubwirbel, es fällt irgendwo etwas zu Boden.

Sie rufen einander, meinen, sich im Treppenhaus wiederfinden zu können. Doch bevor sie es erreichen, splittert im Turm ein Fensterglas. Wie ein wütender Drache brüllt der Luftstoß durch meine Räume, schlägt alle Türen zu. Mein Lachen rumpelt durch die Decken, lässt Sand auf Teppiche rieseln, die sich bei seiner Berührung erschrocken in die Luft werfen.

Lähmung.

Aahhh, wie gut!

Jetzt ist es Zeit für sie – die Schemen derer, die aus mir gemacht haben, was ich bin. Sie formen ihr Abbild aus der Angst, spiegeln sich in Fensterscheiben, in blinden Spiegeln, in Augen anderer. Dann geben sie sich ganz dem hin, was ihnen geblieben ist. „Ihren Gesang“ nenne ich es. Ich verschließe meine Ohren vor ihrem unsäglichen Schreien, ihrer ewigen Verzweiflung. Was für eine Nacht!

Das Mörderhaus

Ich erwache vom Knarzen meiner Tür. Immer wieder kommen sie, immer wieder fordern sie ihr Schicksal heraus, immer wieder ersticken sie an ihrem eigenen Blut.
Drei von ihnen sind es heute, laut, plump, langsam, sie haben von vornherein verloren. Ich verschwende diesmal keine Zeit. Schließe die Türen mit einem Knall, und noch bevor die ersten Schreie verhallt sind, schließe ich auch die Fensterläden.
Sie rennen durch meine Zimmer, rütteln an Klinken, kreischen mit ihren schrillen Stimmen. Ich scheuche sie, werfe ihnen Stühle und vertaubtes Geschirr entgegen, schieße Nägel aus den Wänden, Teppiche bäumen sich auf wie bockende Pferde. Der Blonde schlägt der Länge nach hin, Blut sickert von seiner Schläfe in meine Dielenbretter.
Die Treppe knackt wie trockene Knochen, ich schnappe mit den Stufen nach ihren Knöcheln. Nach oben, immer fein nach oben, da will ich sie haben, da können sie nirgendwo mehr hin.
Ich höre ihr hektisches Atmen. Sie schluchzen, sie rufen irrsinniges Zeug, aber sie wussten doch, wie man mich nennt. Mörderhaus, jemand hat es auf meine Fassade gesprüht. Und trotzdem kommen sie wieder und wieder und wieder.

Plötzlich durchzuckt mich Schmerz, heulend krümme ich meine Rohre zusammen, und bevor ich sie aufhalten kann, springen sie durch mein zertrümmertes Fenster hinüber in den alten Apfelbaum.
Ich schreie auf, schmeiße ihnen Dachziegel nach, treffe die Kleine mit der hohen Stimme, sie fällt, aber die anderen reißen sie hoch, ziehen sie fort, sie rennen in den Wald. Ein Beben zieht sich durch all meine Wände, ich hatte sie doch, ich hatte sie!
Schließlich ergebe ich mich meinem Schicksal. Ich werde ganz still, sehe zu, wie der Staub sich langsam wieder legt. Ich habe versagt.

Es dauert nicht lang.
Als es schließlich kommt, ist es blutbesudelt wie immer, sein Fell schwarz verkrustet, der lippenlose Mund zu einem grausam befriedigten Grinsen verzerrt. Es trägt ihre Leichen, alle drei auf einmal, als würde es ihr Gewicht gar nicht spüren. Vielleicht sind sie auch leichter jetzt, ohne ihr Blut. Es wirft sie achtlos in meine Eingangshalle, der perfekte Ort, niemand wird im Wald nach einem Monster suchen. Wieder einmal konnte ich sie nicht retten. Ich habe versagt. Ich werde wohl auf ewig zu Unrecht meinen Namen behalten.

Guten Abend, der Herr

Guten Abend, der Herr. Ich bin erfreut ihre Bekanntschaft zu machen. Bitte kommen sie herein und legen sie ab.

Ich bin untröstlich, aber die Elektrifizierung der Lampen funktioniert nur eingeschränkt. Die flackernden Lichter sind bisweilen recht enervierend. Ich wage zu hoffen, dass der Umgang mit dieser modernen Technik in den Bereich ihrer Expertise fällt. Der Schaltkasten für die elektrischen Leitungen befindet sich im Kellergeschoss, wenn sie mir bitte folgen wollen.

Nein? Nun, also lieber der Salon. Natürlich, wo bleiben nur meine Manieren, leider kann ich ihnen keine Erfrischung anbieten, aber vielleicht ein Glas Weinbrand?

Bitte, bedienen sie sich.

Mein Herr, mir ist sehr wohl bewusst, dass gewisse Renovierungsarbeiten vonnöten sind, aber dennoch verbitte ich mir solche ungehobelten Kommentare über den Zustand des Mobiliars. Und wenn ich sie darum bitten dürfte ihren Assistenten zurückzurufen, die oberen Räume sind privat.

Ich fürchte er hat sie nicht gehört.

Da ist wieder das Problem mit den elektrischen Leitungen. Einen Moment, ich entzünde ein Feuer im Kamin und eventuell reicht das Öl in der Tischlampe noch aus. Ah, ja.

Mein Herr, wo wollen sie denn so eilig hin?

Das Klemmen der Türen ist leider auch so ein dringliches Thema, gerade die Haustür verzieht sich bei diesem Herbstwetter fürchterlich. Bis auf die Kellertür, die funktioniert immer einwandfrei. Merkwürdig, nicht wahr?

Ich fürchte er hat sie nicht gehört.

Vielleicht sollten sie in Betracht ziehen einen anderen jungen Mann einzustellen, einen mit besserem Gehör. Und besseren Manieren.

Ich sehe, sie haben es eilig die Inspektion fortzuführen. Die Küche leidet leider bisweilen unter verstopften Rohren, insbesondere der Siphon ist ein Nadelöhr, in dem immer wieder Schädlinge verenden. Ich muss mich entschuldigen, der Geruch ist wahrlich unangenehm. Ich lasse in solchen Fällen immer das Wasser laufen, bis genug Feuchtigkeit den Pfropf aufgeweicht hat und dann hilft nur ein Ruck, um das Ganze herauszubefördern. Wenn ich das mal demonstrieren dürfte. Sagen sie, gibt es da eventuell eine elegantere Lös… Mein Herr?

Ich muss sagen für einen Mann vom Fach wirken sie zwar flink, aber ein wenig mimosenhaft. Könnten sie bitte ihre Stimme senken und mit ihrer Arbeit fortfahren?

Ich fürchte er hat sie nicht gehört.

Mein Herr, das Betreten der oberen Stockwerke ist, wie bereits erwähnt, nicht gestattet. Aber da sie gerade auf der Treppe sind, möchte ich ihre Aufmerksamkeit auf die abgenutzten Stufen und das morsche Geländer lenken. Gehören Zimmermannsarbeiten zu ihrem Repertoire?

Oh, offensichtlich nicht. Dann hätten sie vermutlich bedacht, dass das Geländer ihr Gewicht nicht abstützen kann. Wie bedauerlich.

Ich fürchte er hat sie immer noch nicht gehört.

Mein Herr, ich bin untröstlich bezüglich ihrer Verletzung, aber wäre es möglich, dass sie den Flur bereinigen? Getrocknetes Blut lässt sich so schlecht aus den Dielenritzen entfernen. Einen Eimer sowie einen Wischmopp finden sie im Kellergeschoss. Wie bitte? Ja, auch eine weitere Tür nach draußen befindet sich dort.

Mein Herr, ihr Verhalten ist, gelinde ausgedrückt, bizarr. Es lässt mich ernsthaft an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln. Der Schlüssel zu der Hintertür ist verloren gegangen und ich bestehe darauf, dass sie aufhören wie ein Dieb den Keller zu durchsuchen!

Sagen sie mir jetzt sofort, was sind ihre Absichten?

Ich fürchte er wird sie nicht mehr hören können.

Die goldenen Jahre

Der Wind bahnt sich seinen Weg durch die kalte Winternacht. Dunkel scheinen die Wolken auf dich herab, mühselig gelingt es ihnen, das helle Mondlicht von dir fernzuhalten. Was bleibt, ist das sanfte Pfeifen der Schneeflocken, die dein verlassenes Äußeres, deine alte, bröckelige Fassade umgarnen, als sähen sie den alten Glanz deiner Mauern. Als sähen sie die prächtigen Fensterrahmen aus Gold und Marmor. Als sähen sie dich, wie du dich siehst.

Die Nacht ist still. Wie jede Nacht. Beinahe. Heute ist wieder eine jener Nächte. Du hörst sie noch nicht, doch du weißt, sie kommen. Du spürst ihre Anwesenheit. Spürst, wie ihre Präsenz immer näher kommt. Du kannst deine Vorfreude kaum verbergen. Dein Tor erbebt, es knarzt und knattert. Sie kommen auf dich zu. Es fällt dir nicht schwer, aufzufallen. Sie werden dich finden.

Dann hörst du sie.

„Ich wusste doch, dass es eine schlechte Idee war. Ausgerechnet heute, bei diesem Wetter.“

„Niemand hat gesagt, du sollst mit uns kommen.“

„Lass sie in Ruhe. Ich glaube, wir sind gleich da.“

Und dann siehst du sie.

Der Größte sieht auf ein kleines Kästchen in seiner Hand. Es taucht das jugendliche Gesicht in bläuliches Licht. Wie ein kleiner Mond, denkst du.

Der andere tritt aus den dunklen Ranken hervor und erblickt dich sofort. Das Leuchten in seinen Augen strahlt dir entgegen. Ohne dich aus den Augen zu lassen kneift er den Arm seines Freundes.

„Wir sind da.“, hauchte er.

Dann kommt die Dritte dazu. Sie ist jünger als die beiden Suchenden. Fünfzehn Jahre maximal. Sie reibt sich die Oberarme, die weiße Mütze ist ihr bis über die Brauen gerutscht. Sie stellte sich dicht neben den Größeren.

„Oh, bitte. Wenn Mama das wüsste. Lass uns wieder gehen.“

Flehend blickt sie hoch, doch er schüttelt den Kopf.

„Jetzt sind wir schon hier, jetzt müssen wir auch einen kurzen Blick hinein werfen. Du weißt doch, was die Leute erzählen.“

Und damit ist es entschieden. Du beobachtest das Schauspiel vor dir. Du siehst die missbilligenden Blicke des Größeren. Und du siehst die Angst in den Augen des Mädchens. Genauso siehst du, wie der andere den Arm um seine Schwester legt, um ihr Halt zu geben. Und du siehst vertraute Seelen, die sich kennen, seit sie denken können. Du siehst beste Freunde, die sich aus den Augen verloren haben und nun durch ein gemeinsam ein Abenteuer wieder zueinanderfinden wollen.

Dann öffnen sie deine Tore und treten ein. Wie durch einen tiefen Atemzug nimmst du sie in dir auf und erfreust dich an dem neuen Leben, das du in dir spürst.

Mit einem Schmunzeln beobachtest du, wie sie mit offenen Mündern in deiner Lobby stehen. Die unendliche Dunkelheit ersetzt durch das gleißend goldene Licht deines Empfangsbereiches. Ihre Augen zusammengekniffen, versuchen sie, zu verstehen, was sie vor sich sehen.

Sie ist die Erste, die ihre Stimme findet.

„Was ist hier los?“, sie reibt ihre Augen, ehe sie bemerkt, dass ihre Hände nun mit weißen Seidenhandschuhen, anstatt mit dicken Winter-Fäustlingen bekleidet sind. Sie sieht langsam an sich herab und erblickt den blau-schimmernden Stoff des Abendkleides, das sie trägt.

Auch die jungen Männer bemerken ihre eigene, festliche Kleidung. Im Frack, mit Fliege und Einstecktuch erkennen sie einander kaum wieder.

Der eine streckt seinem Freund den Arm hin.

„Bitte zwick mich. Ich glaube, ich träume.“

„Willkommen, im Rabenhof. Meine Herren, meine Dame. Ich darf Sie herzlich begrüßen und in ihre Suite führen. Wir haben Sie bereits erwartet.“

Der Hotelier führte sie durch die prächtige Eingangshalle. Du bist dir sicher: Die Magie kann beginnen.

Es dauert nicht lange, bis alle drei vergessen haben, was sie heute Abend nicht wissen müssen. Ohne Kenntnis darüber, wer sie sind, woher sie kommen und warum sie hier sind, genießen sie den Abend in vollen Zügen. Sie lauschen den bezaubernden Stimme der zwei Schwestern auf der Bühne. Sie tanzen und lachen miteinander. Der Alkohol fließt, die Zigarren werden umhergereicht und der Reiz des Verbotenen entfaltet seine volle Wirkung.

Wie sehr hast du sie geliebt. Den Duft, den Klang, das Gefühl der goldenen Jahre. Eine Zeit voller Freude, voller elektrisierender Erlebnisse. Eine Zeit, in der jeder wusste, dass alles passieren konnte. Wie sehr liebst du sie immer noch. Natürlich war es deine Entscheidung, die Zeit genau hier einzufangen. Das Leben von damals in dir einzufrieren und zu erhalten. Und allen voran, dieses Gefühl denjenigen zu schenken, die die Mühe auf sich genommen haben, dich zu finden.

Der Abend ist schneller vorbei, als deine Gäste gehofft haben. Doch sie durften nicht zu lange bei dir bleiben. Zu groß die Gefahr, sie würden niemals wieder gehen.

Und so führst du sie beim ersten Sonnenstrahl wieder nach draußen. Eingehüllt in ihren warmen Winterjacken, blicken sie fragend um sich. Natürlich kannst du ihnen die Erinnerungen an diesen Abend nicht lassen. Aber was du mit Freude geben kannst, ist das wohlig, warme Gefühl von Freundschaft. Das Gefühl, eines gemeinsamen Abenteuers.

Und zufrieden stellst du fest, dass du genau dieses Geschenk wieder geben konntest.

Frieden und Wonne

Ich bin alt. Sehr alt. Eines der betagtesten Häuser im Ort. Meine direkte Nachbarin ein altes Dominikanerinnenkloster.

Zu meinen Füßen ein Fluss. Mein Antlitz fügt sich ein in eine malerische Landschaft, bin ich umgeben von sanften Waldhängen und Feldern.

Einst ward ich erbaut und genutzt als Nebengebäude des Klosters.
Ich habe sie alle kommen und gehen sehen.
Meine Wände hörten ihre Geheimnisse. Ich kenne ihre sehnlichsten Wünsche, kein menschlicher Abgrund, aber auch kein edles Gemüt konnte sich vor mir verbergen.
Lange wurden mir keine neuen Geheimnisse mehr anvertraut.
Versteht mich nicht falsch, jedes Geheimnis hütete ich, wie es sich für ein altes Gemäuer gehört. Ich schloss sie alle tief in meinen Putz, in jede Ritze der alten Holzdielen ein.

Nie sah ich weg, oder verschloss meine Augen.
Weder vor Leid, noch vor Freude. Doch wer lange einsam steht, nur dem Gesang der Vögel lauscht, dem Wispern der Blätter, dem Säuseln des Windes, den überkommt mit Verlaub, nach all den Jahrhunderten der Wunsch, Eindrückliches zu teilen und altem Ballast Frieden zu geben. Sodass auch ich wieder Frieden finde.

So stehe ich und warte auf die Gelegenheit, den Moment zweier unschuldigen Seelen die da irren in meinen Gemäuern, die letzte Ruhe zu geben.
Der Vollmond steht hoch und spiegelt sich in meinen Fenstern. Sein Antlitz spiegelt sich im plätschernden Wasser des Flusses. Es ist wie früher.

Eine Dominikanerin, ihr Schoß trägt ein Kind. Sie will es nicht, nein, sie darf es nicht behalten. Sie sucht in einer Nacht wie dieser meine schützenden Wände.

Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander. Ich sehe ihre vergangenen Seelen.

Es jährt sich die Niederkunft mit dem Eintreffen der Besucher. Der Regen setzt ein. Wie früher. Er prasselt auf mein altes Dach. Klopft an die Fensterscheiben.

Ich winke ihnen einladend. Alte Gardinen, zerfetzt flüstern ihnen im Winde zu. Hier entlang. Sie folgen den alten Pflastersteinen!

Endlich, meine langersehnten Gäste!
Sie kommen. Sie lachen. Die schwere Eichentür. Ich helfe ihnen. Tretet ein und verweilt. Sehet und erlöset, die Frau und das Kind. Aber auch mich!

Die Dielen knarzen unter der ungewohnten Last und ächzen.
Meine Gäste wollen etwas erleben. Sind mutig.
Ich lenke das Licht in ihren Händen.

Ich zeige ihnen den Weg, den die Nonne nimmt.

Die Dominikanerin ist außer Atem. Wehen zwingen Sie innezuhalten in ihrem Schritt. Wie die Besucher mit ihren Lichtern zögert sie. Lauscht. Blut rinnt ihre Schenkel herab. Panik. Es ist noch zu früh für das kleine Wesen. Es wird geboren werden lange vor seiner Geburtsreife.

„In den Felsenkeller“, wispere ich ihnen zu. Und lass die alte Türe wie zur Einladung leicht aufschwingen.

Sie folgen meiner Bitte, die da ist eine Aufforderung.

Steigen hinab die behauenen Stufen aus Stein. Halten sich verkrampft am eisernen Geländer, mit der einen und leuchten mit der freien Hand. Die Luft hier unten ist kalt und feucht.
Der Mond wirft sein silbernes Licht zaghaft aber entschlossen, durch das kleine Fenster hinein.

Das Blut der Dominikanerin. Entsetzen auf ihren Gesichtern. Ich raune ihnen flehend zu: „Bitte geht weiter!“

Die Nonne wird auf die Knie geworfen. Mit zunehmender Angst, steigert sich auch die Intensität der Wehen. Sie jault markerschütternd auf. Kniend, wie vor einen Altar, entlässt ihr Schoß das winzig anmutende, aber doch vollkommene Kind.

Sie legt es behutsam unter einen von ihr zuvor gelockerten Stein im Boden des Kellers. Es ist der letzte Stein an der rechten Wand. Ich setzte das Blut so in Szene, dass meine Gäste mühelos die Spur sehen können.

Mit einer Mischung aus Furcht und Neugierde bergen sie den Stein und finden darunter das Loch, das den kleinen Leib all die Jahrhunderte barg.
Es ist vollbracht. Ihre Seelen erlöst, sind sie nicht mehr gezwungen dieses Jubiläum weiterhin zu zelebrieren.

Ihre Seelen mit Danksagung erfüllt, Mutter und Kind erlöst.

Und Frieden in mir.

Das Böse kehrt zurück

An manchen Tagen bin müde, so unendlich müde. Mehr als das, ich bin lebensmüde und darf ich das nicht sein, nach immerhin 200 Jahren?
Oben sickert der Regen durch das Dach in das obere Geschoss, von unten zieht die Feuchtigkeit die Wände hoch und das Efeu hat in feindlicher Übernahme die gesamte Fassade erklommen. Die hölzernen Fensterläden schlagen wild mit den Flügeln während der aufkommenden Herbststürme und ich rate jedem Besucher, auf Abstand zu gehen, denn für die Dachziegel, die sich lösen, kann ich nicht garantieren. Mein innerer Zustand ist ebenfalls bedauernswert, aber auf Mitleid kann ich verzichten. Denn ich habe großartige Zeiten hinter mir und die Erinnerung ist wie ein Feuer, an dem ich mich wärmen kann.

Ich bin das Haus. Nicht irgendein Haus, sondern das Haus.
Bekannt und beliebt bei außergewöhnlichen Menschen mit einer Neigung zu außergewöhnlichen Zuständen und paranormalen Erscheinungen. Es waren Persönlichkeiten, die Geschichte schrieben, die sich nicht mit dem schnöden Alltag zufriedengaben, sondern ihrem Sinn für die Welt hinter der Welt frönten und hinter jeden Spiegel schauten, wenn Sie wissen, was ich meine.
Mary Shelly experimentierte jahrelang in den Kellerräumen, die sie als Operationssäle hergerichtet hatte. Eine herrlich eigensinnige Person voller Schaffenskraft! Tage und Nächte arbeitete sie mit ihren Apparaturen und ich werde nie den erregenden Moment vergessen, als ich Zeuge war, wie ihre Kreatur die ersten Schritte machte.
Auf einer Rückreise von Transsylvanien logierte Bram Stoker im Südflügel und ließ seine kleinen Vampire im Dachboden einziehen. Wie kunstvoll und romantisch sahen ihre Flugkünste des nachts aus, wie sehr liebte ich den Lufthauch an den Wänden, wenn sie vorbeistrichen! Richtiggehend gestreichelt und liebkost fühlte ich mich.

Ich war stets wohlwollend und stellte mich in den Dienst der Bewohner. Selbst als Van Helsing diverse Brandschäden verursachte, als er Hostien auf die Stirn von Probanden platzierte, die einfach nicht stillhalten konnten. Und erst die Knoblauchschwaden, die sich in den wallenden Gardinen einnisteten! Nach Geisterstunden und Seáncen war an Ruhe nicht zu denken, aber wenn Sie mich fragen, was meine Abneigung fand, muss ich gestehen, es waren nur die Schreie der Opfer der Exorzisten im Erdgeschoss.
Obwohl ich keine direkten Nachbarn beklagen muss, so war ich doch weithin als Spukhaus verschrien.

Man sagt, das Böse kehre alle 28 Jahre zurück. Davon merke ich leider seit langem gar nichts und mir ist so fad, dass ich zerbröseln möchte.
Aber: psst. Seien Sie doch still. Ich höre Stimmen vor der Eingangstür. Zwei junge Männer haben sich hierher verirrt. Sie stolpern durch den verwilderten Garten und mit ihren modernen Lampen streichen sie taghell durch die Empfangshalle und die untere Etage, soweit die fast blinden Fensterscheiben das zulassen.
Sie telefonieren.
„Mr King? Wir haben die Location gefunden! Genau das richtige für Teil 2! „Es“ kann wiederkommen! Beginn der Dreharbeiten, wir schätzen mal: in einem Monat.“
Ich atme durch. Noch lebe ich. Das Spiel kann beginnen!

Einsame Mauern

Ich habe mich an vieles gewöhnt über die Jahrhunderte. Die Pflanzen, die mich umarmen als wären sie alte Freunde. Die kleinen Tiere, die hektisch in meinen Räumen umherhuschen und vor dem Licht des Tages in meine dunkelsten Winkel flüchten. An die Vögel, die ihre Nester unter meinem Dach bauen. Nur an eins kann ich mich nicht gewöhnen: Die Einsamkeit. Als damals meine Erbauer von hier fortgingen, kam sie und wurde immer größer.
Lange Zeit war ich allein hier am Ende des Weges. Bis eines Tages doch wieder Menschen auftauchten. Ein Geheimnis wohne in mir, sagten sie. Ergründen wollten sie es. Ich liebte das Gefühl, sie hier zu haben. Das Gefühl, ihnen zuzusehen, wie sie suchten. Ich wollte es für immer bewahren. Dass das nicht möglich ist, weiß ich jetzt. Irgendwann verblasst jeder Besuch zu einer Erinnerung, wird immer durchscheinender und verschwindet letztendlich.
Endlich. Eine Gruppe Menschen. Bestimmt hatten auch sie von meinem Geheimnis gehört. Ich werde ihre Gesellschaft genießen. Ihre Gespräche hören und ihre Gefühle in mich aufnehmen. Es fühlt sich gut an, wie sie durch die Zimmer streifen. Wie sie meine Wände berühren und ihre Geschichten in ihnen hinterlassen.
Gleich werden sie den Raum finden. Sie riechen ihn schon. Ich kann es ihnen ansehen. Sie werden mit vor Entsetzen geweiteten Augen meine Sammlung betrachten. Sie werden dahinterkommen, warum niemand, der in mein Inneres vordringt es je wieder verlässt. Wenn sie es verstanden haben werde ich die Türen schließen, damit das Wissen mit ihnen zusammen hierbleibt. So werden irgendwann Neue kommen. Ich kann es kaum erwarten.

Bewegter Besuch im alten Anwesen

Ach, ich bin so müde. Was wollen diese Leute nur immer von mir? Da stehen sie mit ihren Handykameras und Selfiesticks und posieren vor mir als sei es besonders mutig, ein Foto vor meinem verfallenden Gemäuer zu machen. Ich würde ja lächeln und meine herabhängenden Fensterläden ein wenig anheben aber das wollen sie gar nicht. Sie tun lieber so, als ob ich jeden Moment einstürzen und sie alle unter meinen bröckelnden Steinen begraben würde.

Dabei ist noch so viel Leben in mir!

Meine Fassade bröckelt zwar, aber ich bin immer noch stark und aufrecht. Zumindest so aufrecht wie ein Haus nach über 200 Jahren eben sein kann.

Sie deuten auf meine trüben Fenster und die vom Zahn der Zeit angenagte Eingangstür, die die Besucher im Luftstrom knarrend hereinzuwinken scheint. Offenbar überlegen sie noch, ob sie sich in meine düstere Umarmung wagen wollen.

Verständlich, schließlich bekommen sogar die Spinnen zwischen meinen dunklen Mauern Alpträume. Trotz meiner Erschöpfung muss ich kichern und meine alten Dielen knarzen bedrohlich von der leichten Bewegung. Aber das scheint die Meute nicht zu verschrecken. Flüsternd und mit erwartungsvoll gespannten Gesichtern betreten sie meine finsteren Hallen.

Also gut, dann sollen sie ihren Grusel bekommen. Ich atme tief durch, für meine Besucher als eisiger Luftstrom spürbar. Ich höre jemanden aufschreien, dabei geht es gerade erst los. Ein tiefes Stöhnen und das Erscheinen einer mysteriösen Tür machen den Auftakt. Die Tür verschwindet und hinterlässt ein klaffendes Loch zu einem tiefschwarzen Tunnel. Dichte Spinnweben und ein geisterhaftes Wispern begleiten meine aufgeregt flüsternden Besucher ins ehemalige Speisezimmer. Ich lasse die Lichter flackern und das Geschirr klappern. Ich gebe zu, das ist ein wenig klischeehaft, aber es funktioniert jedes Mal.

Gleich betreten sie das Ankleidezimmer, meine Lieblingsstelle. Der alte Spiegel an dem Kleiderschrank zeigt nicht die Gesichter der Besucher, sondern Szenen eines längst vergangenen Festes. Während die Besucher fasziniert das Treiben beobachten, tanzen Schatten um sie herum und gespenstische Melodien erwecken den Raum zum Leben. Dann komme ich zum Höhepunkt und lasse wie aus dem Nichts für eine halbe Sekunde eine schreiende Fratze im Spiegel erscheinen.

Das darauffolgende Kreischen der Besucher lässt mich jedes Mal kichern und erweckt in mir eine längst vergessene Lebendigkeit.

Ziemlich eilig erreichen meine Gäste den Ausgang, wo grelle Lichter sie in die Realität zurückkatapultieren.

„Wow, war das gruselig“, höre ich einen der Besucher lachend rufen.

„Absolut jeden Euro wert“, fügt ein anderer hinzu. „Besonders der Teil als das Haus zu kichern schien, war echt gruselig. Ich habe immer noch Gänsehaut“.

„Sollen wir noch eine zweite Runde in der Geisterbahn drehen?“ erkundigt sich der Erste.

„Nein, nach dem Adrenalinschub brauche ich jetzt etwas ruhiges. Kommt mit, da hinten kann man Lose ziehen.“

Die Besucher wenden sich wieder dem Festplatz zu und es ist ein freudiges Seufzen der Erleichterung zu vernehmen – auf beiden Seiten.

Alte Schönheit

Die riesigen Eichen hinter dem rostbehafteten Metalltor bemerken zuerst die nahenden Besucher. Sie schütteln die Krähen aus ihren Baumkronen und verraten mir so die Entdeckung. Im Zwielicht des Abends sehe ich den Vogelschwarm krächzend in den kobaldfarbenen Himmel aufsteigen. Die Gäste kommen immer mit der Dunkelheit. Warum tun sie das? Ich bin bereit und kann es kaum erwarten, ihnen meine Schönheit zu offenbaren. Auch wenn die künstlichen Lichtstrahlen, die sie in den Händen halten, leider niemals meine ganze Pracht enthüllen können.

Angespannt und unsicher bewegen sich meine Besucher den mit Efeu überwucherten Weg entlang. Blicken nicht zur Seite zu den imposanten Obstbäumen, die jedes Jahr trotz ihres Alters die schönsten Früchte tragen. Nehmen die steinernen Beeteinfassungen nicht wahr, die zwar brüchig sind, aber dafür vielen Insekten Schutz bieten. Bedauerlicherweise würdigen sie auch meiner Fassade kaum eines Blickes. Wären sie bei Tag gekommen, hätten sie gesehen, wie schön Sonnenlicht die blutroten Blätter der Weinranken zum Strahlen bringen kann. Aber wenn ich ihnen gefalle, kommen sie vielleicht wieder. Hastig leuchten sie an meiner Tür empor bis zum Stuckgesims. Ihre Kunststrahlen reichen nicht weit. Sie huschen so schnell über mich hinweg, dass sie nichts von dem erkennen können, was ich ihnen zu bieten habe. Vielleicht werden sie mein Inneres zu würdigen wissen.

»Also gehen wir rein?«, fragt einer der Menschen zu meiner Freude.
Einstimmig beschließen sie das Vorhaben und setzen es sogleich in die Tat um.
Meine Tür quietscht und knarrt. Berichtet den Besuchern von den vielen Jahren, in denen sie treue Dienste geleistet hat. So oft wurde sie schon von so vielen Menschen geöffnet und geschlossen. Gewiss wird sie dieser Gedanke beeindrucken. Tatsächlich verharren sie einige Momente hinter der Schwelle. Ist es Ehrfurcht, die ich spüre?

»Diese Bruchbude kann man doch nur abreißen«, sagt eine enttäuschte Stimme. »Gruselig ist hier nur der Dreck.«
Ich bin entsetzt. Unter dem ›Dreck‹ wie sie die Spuren meiner Einsamkeit und meines erhabenen Alters nennen, sind Dielen, die nach einem Schliff und mit etwas Öl noch so viele Jahre fortbestehen können.

Unbemerkt von meinen Besuchern verriegele ich die Tür hinter ihnen. Noch habe ich Hoffnung, doch auch mein Argwohn ist geweckt. Sie schreiten voran durch den Flur und mustern die Bilder an meinen Wänden. Portraits meiner Besitzer, deren Familien und Freunde, die mich geliebt haben. So wie ich bin.

»Auf diesen Bildern ist einer hässlicher als der andere«, sagt einer der Gäste und lacht.
Ich schluchze, was meine Besucher hören. Sie fahren zusammen.
»Huuu«, stößt der Mensch aus, der meine schönen Bilder nicht mag und leuchtet sich mit dem Kunstlicht ins Gesicht. Ich verstehe das nicht.
»Also ich finde es hier gar nicht schlecht«, sagt eine helle Stimme und lässt Hoffnung in mir erwachen. Mit der Lampe leuchtet der Mensch in ein dunkles Zimmer. »Für geschenkt nehme ich es. Mein Vater ist Ingenieur. Ich würde alles rausschmeißen und mit seiner Hilfe das Gebäude entkernen. Nicht tragende Wände werden weggerissen, moderne Einrichtung rein, mehr Licht, Decken weiß machen, dann sähe das hier alles anders aus.«

Ich schluchze. Die Gäste lachen. Warum wollen sie meine stabilen Wände zerstören? Meine hübschen vertäfelten Decken in langweiliges Weiß verwandeln? Ich mag keine moderne Einrichtung. Ich liebe meine alten Schränke, die so viel erlebt haben und so stabil sind, dass sie noch lange Zeit überdauern können. Hier gibt es so viel Platz, wieso stellen sie ihre modernen Schränke nicht dazu? Warum das Alte, was noch gut ist, zerstören? Etwas bunte Farbe, Wasser und frische Tapeten würden in den meisten Fällen genügen, damit sich meine Gäste wohlfühlen und bleiben wollen. Dessen bin ich mir sicher. Wenn sie nur erkennen würden, was ich zu bieten habe!

»Also ich finde es super, wie es ist«, höre ich den einzigen Besucher sprechen, der noch nichts gesagt hat.
Ich erzittere vor Freude. Er erkennt mein Potential, er wird mir zu neuem Glanz verhelfen, er wird …
»Daraus könnten wir eine ganze Gruselreihe machen. Wir werden uns vor Klicks nicht retten können«, zerschlägt er meine Begeisterung.

Mir wird klar, dass auch er kein Interesse an mir hat. Er hat nur Interesse an sich und seinem Ruhm, wenn man das so nennen kann.
Meine Traurigkeit verwandelt sich in Zorn. Diese Gäste sind nicht willkommen. Ich bin nicht bereit, meine Erinnerungen mit ihnen zu teilen, ihnen Schutz zu bieten und will nicht, dass mich einer von ihnen ein Zuhause nennt. Ich öffne meine Kellertür und lasse meine nicht irdischen Bewohner frei, die ich nur um meiner Gäste willen dort eingesperrt habe. Keiner der Besucher wird mich lebend verlassen. Nach ihrem Tod werden sie an mich gebunden sein und in mir hausen, ohne mir gefährlich werden zu können. Dort sind sie alle: jene, die mich immer schon liebten und mich nicht mal nach ihrem Tod verlassen wollten. Und jene, wie diese Gäste hier, deren Leben ich beendete, ehe sie mir etwas antun konnten. In der Ewigkeit haben sie genug Zeit, meine Schönheit zu erkennen. Sie alle werden meine Geister. Und als Geister lieben sie mich alle irgendwann.

Mein Ende

Spätnachmittags sind zwei gekommen. Sie sind anders. Sie trägt Jeans und weisse Bluse und wirkt etwas schüchtern, doch ihre Augen strahlen hell wie der Morgenstern. Er zieht sie an der Hand durch mein altes Gartentor. Durch den verwilderten Rosengarten. Zumindest lässt sie ihn meinen, er müsse sie ziehen. Meine zerbrochene Türe steht offen. „Meine Schwester kannte den Ort“, sagt sie. „Sie ist nicht da“, haucht er beschwichtigend. „Denke etwas Schönes.“ Im Salon zeichnen die letzten Sonnenstrahlen goldenes Licht. Sie küsst ihn. Die Faszination in seinen Augen, als sie er sie fotographiert, erinnert mich an meine jungen Tage. Wo sich die Menschen noch liebten. Seine Fotos werden gut. Nicht die ersten der Art in mir. Aber richtig gut. Ihr Strahlen zieht ihn in den Bann und weckt Eifersucht in mir. Ich habe die Liebe nie verstanden. Doch ich wurde ihretwegen gebaut. Ich weiss, wenn zwei am richtigen Ort sind. Auf der Luftmatratze, mitten im grossen Zimmer im ersten Stock, ist das jetzt so. Einen Moment lang fühle ich mich jung.

Es ist schon finster, als die Clique kommt. Sie sind oft hier. Abgeturnt. Mit billigem Bier und geil auf Angst. Ihr liebloser Umgang zeigt mir, wie alt und wertlos ich bin. Ich hasse sie. Zum Glück bleiben sie meist draussen im Garten, an der Feuerstelle. Der lange Hagere schleppt seine Flamme rein. „Das Zeugs wirkt“, haucht sie. „Lass es uns schnell tun. Vielleicht bin ich bald zu high.“ „Du bist grob!“, schreit sie kurz darauf. „Lass mich los!“ Panisch stürmt sie die Treppe hinauf und versteckt sich hinter einer Türe. Sie dreht sich um. Vor ihr liegt, im fahlen Mondlicht, eine Frau, die aussieht wie sie selbst. Nackt, regungslos, mit weit aufgerissenen Augen und Mund. Die Geflüchtete schreit laut auf, rennt nach unten, packt einen Stock im Feuer, rennt nach drinnen.

Ich bin sehr alt. Die Flammen breiten sich schnell aus. Es schmerzt. Es wird mein Ende sein. Danke, dass ich die zwei Liebenden noch erleben durfte. Im Licht des lodernden Feuers sehe ich sie nochmals. Hinter dem Nussbaum. Sie haben es noch raus geschafft. Kamera und Kleider nicht. Schreck ist in ihren Augen. Schreck und Liebe. Doch die Liebe ist stärker.

Der schöne Schein

Die Dunkelheit macht sich langsam breit und der Mond steht hell erleuchtet am Himmel.
Normalerweise verirrt sich zu dieser späten Stunde niemand mehr in diese Gegend.
Ihr müsst wissen , ich stehe schon sehr lange an diesem Ort. Ich war einmal ein sehr schöner Ort für viele Menschen. Jeder Besucher war fasziniert von meiner Ausstrahlung und auch meinen inneren Werten, denn auf diese kommt es im Leben immer an habe ich schon sehr oft von Menschen gehört. Egal in welchen Lebenslagen. Der Schein kann trügen.
Meine äußere Fassade ist mittlerweile sehr in die Jahre gekommen, und auch das Innere meiner dicken Mauern ist mit Staub bedeckt und was einst als Traumhaus betitelt wurde ist heute nur noch eine verblassende Erinnerung.
Ihr müsst wissen, ich stehe schon sehr lange leer, in mir will niemand mehr wohnen. Niemand sieht mich als sein „Zuhause“.
Mittlerweile habe ich einen sehr schlechten Ruf in meinem Dorf, in dem ich einst mit Stolz und Pracht erbaut wurde.
Man erzählt sich schreckliche Geschichten über mich. Ich bin das Geisterhaus, in dem niemand Frieden und Glück finden kann, sondern in dem Unheil droht.

Und was soll ich sagen, die Leute haben Recht. In meinen Mauern sind grauenvolle Dinge geschehen, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Dabei hat alles so schön angefangen, immer wieder.
Ich wurde von jungen Leuten bezogen, eine junge Frau und ihr Gemahl. Sie waren so stolz mich gekauft zu haben und die junge Dame hat mich mit jedem Tag an dem Sie in mir wohnte schöner gemacht. Sie hat mich liebevoll eingerichtet und wunderschöne Akzente gesetzt. Auch hat Sie das Haus mit Leben gefüllt, hat jeden Tag frisch gekocht, der Duft von frischem Quittenmus liegt mir immer noch in der Nase. Jeder Besucher war verzaubert von meiner Schönheit und Gemütlichkeit. Ein richtiger Wohlfühlort.
Aber der schöne Schein hielt nicht lange an. Mit der Zeit begann sich das Leben der Beiden immer mehr zu verändern. Sie brachte eine Tochter zur Welt, in meinen Räumen. Ach war ich Stolz, ein Leben hatte in meinen Mauern begonnen. Das schönste was einem Haus passieren kann. Unvergesslich magisch.
Doch ihr Mann veränderte sich leider sehr zum Schlechten. Erst fing es ganz harmlos an. Er trank nach der Arbeit mal ein Glas Bier, jedoch wurden es mit den Jahren immer mehr Gläser und je mehr er trank umso weniger nett wurde er zu seiner Frau.
Sie sass oft stundenlang weinend im Schlafzimmer, hatte Angst nach unten zu gehen, wo ihr Mann sich aufhielt.
Er fing an ihr wehzutun. Auf abscheuliche Weise Wehtun. Mir tat Sie in meinem Herzen leid und ich wollte Ihn vertreiben. Sie hatte ein solches Monster nicht verdient. Und so nahm das Schicksal ihren Lauf… Ich sorgte dafür, dass die Treppe zum Keller, wo er seine Flaschen aufbewahrte eines Abends unter ihm verbrach. Er flog die ganze Treppe herunter und stand nie wieder auf. Nun dachte ich könnte die Frau endlich in meinen Mauern Glücklich werden mit ihrer kleinen Tochter, aber Sie verließ mich. Sie drehte sich noch nicht einmal mehr nach mir um als Sie wegfuhr mit dem nötigsten Gepäck.

Seither wollte niemand mehr in mir wohnen. Ich galt als Unglücksbringer, dabei wollte ich doch nur das Unheil von meiner lieben Herrin abwenden.
Ich sehne mich noch heute nach der Liebe, die Sie in mich gebracht hat. Diese wohlige Wärme. Aber die Jahre brachten nur Einsamkeit, Stille und eine Menge Staub in meinem Inneren. Die Sehnsucht ist aber geblieben.
Doch heute ist irgendetwas anders als sonst. Ich sehe ein Licht, dass nicht vom Mondschein stammt. Es bewegt sich auf mich zu und wird heller. Ich höre Stimmen. Sie werden lauter.
Plötzlich erkenne ich auf dem verwachsenen Weg eine Gruppe junger Menschen. Ich höre, dass mindestens eine Frau dabei ist.
Ich werde aufmerksamer. Die verborgene Hoffnung tief in mir keimt nochmal auf. Vielleicht ist jemand auf der Suche nach einem Zuhause und hat den Mut in mir eines zu finden. Ich hätte so viel zu erzählen und so viel zu geben.
Aber ich werde Niemandem mehr blind vertrauen. Ich werde die Menschen prüfen, die in mir wohnen sollen. Nur wer reinen Herzens ist, wird es auf Dauer in mir aushalten. Das Böse werde ich vertreiben. Immer und immer wieder.

Die Gruppe junger Leute ist inzwischen bei mir angekommen. Es sind 2 junge Burschen und eine junge langhaarige Frau.Sie wirkt verträumt und fasziniert von dem was Sie von mir in der Dunkelheit erkennen kann.
„Hier hat also mein Leben begonnen“ , hörte ich Sie ganz leise flüstern. Mein Herz fängt an zu klopfen und ich kann mein Glück kaum fassen. Das kleine Baby das vor langer Zeit seinen ersten Atemzug in meinen Mauern getan hatte ist nun als wunderschöne Frau zu mir zurückgekehrt.
Geh nicht wieder weg, würde ich Ihr gerne zurufen. Aber alles was ich tun kann, ist ihr die Haustür aufzustoßen und zu hoffen, dass Sie den Mut hat einzutreten…