Die goldenen Jahre
Der Wind bahnt sich seinen Weg durch die kalte Winternacht. Dunkel scheinen die Wolken auf dich herab, mühselig gelingt es ihnen, das helle Mondlicht von dir fernzuhalten. Was bleibt, ist das sanfte Pfeifen der Schneeflocken, die dein verlassenes Äußeres, deine alte, bröckelige Fassade umgarnen, als sähen sie den alten Glanz deiner Mauern. Als sähen sie die prächtigen Fensterrahmen aus Gold und Marmor. Als sähen sie dich, wie du dich siehst.
Die Nacht ist still. Wie jede Nacht. Beinahe. Heute ist wieder eine jener Nächte. Du hörst sie noch nicht, doch du weißt, sie kommen. Du spürst ihre Anwesenheit. Spürst, wie ihre Präsenz immer näher kommt. Du kannst deine Vorfreude kaum verbergen. Dein Tor erbebt, es knarzt und knattert. Sie kommen auf dich zu. Es fällt dir nicht schwer, aufzufallen. Sie werden dich finden.
Dann hörst du sie.
„Ich wusste doch, dass es eine schlechte Idee war. Ausgerechnet heute, bei diesem Wetter.“
„Niemand hat gesagt, du sollst mit uns kommen.“
„Lass sie in Ruhe. Ich glaube, wir sind gleich da.“
Und dann siehst du sie.
Der Größte sieht auf ein kleines Kästchen in seiner Hand. Es taucht das jugendliche Gesicht in bläuliches Licht. Wie ein kleiner Mond, denkst du.
Der andere tritt aus den dunklen Ranken hervor und erblickt dich sofort. Das Leuchten in seinen Augen strahlt dir entgegen. Ohne dich aus den Augen zu lassen kneift er den Arm seines Freundes.
„Wir sind da.“, hauchte er.
Dann kommt die Dritte dazu. Sie ist jünger als die beiden Suchenden. Fünfzehn Jahre maximal. Sie reibt sich die Oberarme, die weiße Mütze ist ihr bis über die Brauen gerutscht. Sie stellte sich dicht neben den Größeren.
„Oh, bitte. Wenn Mama das wüsste. Lass uns wieder gehen.“
Flehend blickt sie hoch, doch er schüttelt den Kopf.
„Jetzt sind wir schon hier, jetzt müssen wir auch einen kurzen Blick hinein werfen. Du weißt doch, was die Leute erzählen.“
Und damit ist es entschieden. Du beobachtest das Schauspiel vor dir. Du siehst die missbilligenden Blicke des Größeren. Und du siehst die Angst in den Augen des Mädchens. Genauso siehst du, wie der andere den Arm um seine Schwester legt, um ihr Halt zu geben. Und du siehst vertraute Seelen, die sich kennen, seit sie denken können. Du siehst beste Freunde, die sich aus den Augen verloren haben und nun durch ein gemeinsam ein Abenteuer wieder zueinanderfinden wollen.
Dann öffnen sie deine Tore und treten ein. Wie durch einen tiefen Atemzug nimmst du sie in dir auf und erfreust dich an dem neuen Leben, das du in dir spürst.
Mit einem Schmunzeln beobachtest du, wie sie mit offenen Mündern in deiner Lobby stehen. Die unendliche Dunkelheit ersetzt durch das gleißend goldene Licht deines Empfangsbereiches. Ihre Augen zusammengekniffen, versuchen sie, zu verstehen, was sie vor sich sehen.
Sie ist die Erste, die ihre Stimme findet.
„Was ist hier los?“, sie reibt ihre Augen, ehe sie bemerkt, dass ihre Hände nun mit weißen Seidenhandschuhen, anstatt mit dicken Winter-Fäustlingen bekleidet sind. Sie sieht langsam an sich herab und erblickt den blau-schimmernden Stoff des Abendkleides, das sie trägt.
Auch die jungen Männer bemerken ihre eigene, festliche Kleidung. Im Frack, mit Fliege und Einstecktuch erkennen sie einander kaum wieder.
Der eine streckt seinem Freund den Arm hin.
„Bitte zwick mich. Ich glaube, ich träume.“
„Willkommen, im Rabenhof. Meine Herren, meine Dame. Ich darf Sie herzlich begrüßen und in ihre Suite führen. Wir haben Sie bereits erwartet.“
Der Hotelier führte sie durch die prächtige Eingangshalle. Du bist dir sicher: Die Magie kann beginnen.
Es dauert nicht lange, bis alle drei vergessen haben, was sie heute Abend nicht wissen müssen. Ohne Kenntnis darüber, wer sie sind, woher sie kommen und warum sie hier sind, genießen sie den Abend in vollen Zügen. Sie lauschen den bezaubernden Stimme der zwei Schwestern auf der Bühne. Sie tanzen und lachen miteinander. Der Alkohol fließt, die Zigarren werden umhergereicht und der Reiz des Verbotenen entfaltet seine volle Wirkung.
Wie sehr hast du sie geliebt. Den Duft, den Klang, das Gefühl der goldenen Jahre. Eine Zeit voller Freude, voller elektrisierender Erlebnisse. Eine Zeit, in der jeder wusste, dass alles passieren konnte. Wie sehr liebst du sie immer noch. Natürlich war es deine Entscheidung, die Zeit genau hier einzufangen. Das Leben von damals in dir einzufrieren und zu erhalten. Und allen voran, dieses Gefühl denjenigen zu schenken, die die Mühe auf sich genommen haben, dich zu finden.
Der Abend ist schneller vorbei, als deine Gäste gehofft haben. Doch sie durften nicht zu lange bei dir bleiben. Zu groß die Gefahr, sie würden niemals wieder gehen.
Und so führst du sie beim ersten Sonnenstrahl wieder nach draußen. Eingehüllt in ihren warmen Winterjacken, blicken sie fragend um sich. Natürlich kannst du ihnen die Erinnerungen an diesen Abend nicht lassen. Aber was du mit Freude geben kannst, ist das wohlig, warme Gefühl von Freundschaft. Das Gefühl, eines gemeinsamen Abenteuers.
Und zufrieden stellst du fest, dass du genau dieses Geschenk wieder geben konntest.