Seitenwind Woche 1: Gäste im Geisterhaus

Missverstanden

Die Nacht ist nicht mehr weit. Seit Minuten streiten die Vögel in der alten Eiche um den besten Schlafplatz. Wenn sie fertig sind, werden sie beieinander sitzen. Kuschelnd werden sie eindösen, sich aneinander wärmen.
Leise seufze ich vor mich hin. Seit zwei Jahrhunderten stehe ich nun hier. Auf gutem Fundament, im Übrigen. Warum mich niemand mag, verstehe ich nicht. Vor Jahren wurden meine Leitungen stillgelegt. Seither kitzelt kein Strom mehr in den Wänden, keine Neuigkeiten kommen durch die Wasserleitungen.
Gerade will ich traurig die Läden schließen, da sehe ich sie. Drei Menschen auf dem Rabenweg. Endlich Besuch! Ich verkneife mir jede Regung. In einer Tour werden meine Bemerkungen als böser Spuk an die große Glocke gehängt. Das ist verletzend. Heute werde ich erst erklären, wenn alle drin sind.
Nacheinander kommen die drei durch die Eingangstür. Schauen sich im Schein ihrer Stirnlampen um. Ich freu mich. Das wird sicher nett. Vielleicht hat jemand eine Zeitung dabei und liest vor. Wenn dann noch wer den Kamin einheizen könnte, wäre das auch sehr nett. Bei dem Gedanken entfährt mir ein vergnügtes Gurgeln.
Huch Gott, jetzt hab ich sie verschreckt. Die drei erstarren in der Eingangshalle. Aufgeregt flüstern sie sich Dinge zu. Ich kann nix verstehen. Moment, ich mach mal die Tür zu.
Was dann geschieht, versteh ich mal wieder nicht. Statt die Ruhe zu genießen, wuseln die los. Nummer eins rennt zurück zur Tür und zerrt da dran. Die hab ich ja gerade zu gemacht – die bleibt jetzt auch zu. Dass diese Nase jetzt durch´s Fenster aussteigt, ist auch nicht sehr freundlich. Macht auch keinen Sinn. Da geht´s tiefer, als man meinen mag. Direkt auf dem abgebrochenen Ast der toten Buche kommt der Körper abrupt zum Stillstand. Der Typ schreit vor sich hin. Trottel.
Nummer zwei und drei kommunizieren nicht. Die rennen. Ich will noch vor der morschen Treppe warnen, da haut´s Nummer zwei direkt in den Keller. Nun denn, das poltert ordentlich. Es schreit auch ordentlich. Nummer drei schafft es immerhin bis in die Küche. Aber nur, um zu versuchen, von der alten Anrichte aus dem Fenster zu klettern. Vorsicht – da liegen Scherben.
Hach Mist, die Anrichte ist halt auch nicht mehr die Frischeste. Da sitzt Nummer drei und guckt zu, wie das Blut rhythmisch aus dem Oberschenkel spritzt. Na wenigstens hält der die Klappe.
Betrübt sehe ich zu, wie die drei Körper sich entleben. Das wird wieder ein Gestank. Und dauern wird das, bis die sich zersetzt haben. Mal sehen, vielleicht kommen wieder ein paar Tiere und holen sich was. Die lesen zwar weder die Zeitung vor, noch heizen sie ein, aber immerhin scheinen sie zu verstehen, dass ich eigentlich ganz nett bin.
Traurig schließe ich die Läden…vorerst.

Unzählige Male sind die Jahreszeiten an mir vorbei gezogen, seit jenem schicksalhaften Tag. Inzwischen sind aus den Setzlingen stattliche Bäume herangewachsen. Und Tag um Tag, Jahr um Jahr verschwand ich immer mehr unter dem unablässig wuchernden Efeu. Wie ein schützender Panzer umgibt mich dieser, nur hier und dort, wo Vogel und Wind am Werke waren, hat er kleine Löcher. Die ersten Jahrzehnte fühlte ich mich wohl darin, ich war froh mich vor den Menschen verstecken zu können und nur den Gesprächen des Waldes zu lauschen. Doch ich bin ihrer müde und überdrüssig geworden.

Ich hatte auch viel Zeit um über das Geschehene nachzudenken. Außer meiner Erbauerin lernte ich nur wenige Menschen kennen und jene auch nur für kurze Zeit. Fast alle liegen sie zu den Füßen der mich umgebenen Bäume. Vielleicht taten die Letzten Recht daran ihr Leben zu retten, indem Sie das des einzigen Menschen, den ich kannte, mit einer List zu beenden. Versucht nicht auch jedes Tier und jede Pflanze alles erdenkliche, um am Leben zu bleiben? Wie oft habe ich über all dieses schon nachgedacht hunderte oder gar tausende Male? Ich bin überdrüssig dieser Gedanken.

Wie sooft liegt der Wald ruhig da, bevor er sich erneut in seinen Winterschlaf begibt.

Habe ich da gerade ein leises Knacken von Unterholz vernommen? Ein zweites nicht weit ab des Weges zu meiner Tür. Jetzt auch noch ein Geflüster?

Es sind tatsächlich Menschen. Nach all der Zeit kommen sie wieder zu mir, doch sind sie deutlich größer als jene, die mich sonst aufgesucht haben. Ist dies der Tag, an dem mein Leiden endlich ein Ende findet? Ja, befreit mich von meinem Panzer. Nehmt ein Stück, traut euch nur.

Sie haben es getan. Sie haben ein Stück aus mir herausgebrochen.

Nach all der Zeit kann ich nun endlich Ruhe finden.

Knuper, knuper, kneischen …

In fremden Gemäuern

„Echt Alter … hier …?! Diese Bruchbude soll es bringen??“ Schnauzte Massimo seinen Kumpel an. „Ja, echt Alter. DAS IST ES! Schau mal genau hin … das musst Du doch sehen!“ Rief Martin enthusiastisch im Dunklen zurück. „Was?! Ich sehe ein Haus, das gleich zusammenfällt. Wer lebt denn hier Alter, die böse Hexe oder was?“ Massimo war enttäuscht und leicht verärgert. Martin kam ein paar Schritte auf seinen besten Freund zu, hauchte bedeutungsschwanger: „Thriller“ und hüpfte mit kindlicher Freude wieder davon. „Das ist der Klassiker und wir drehen heute auch einen Dauerbrenner Alter … der wird durch die Decke gehen … Millionen Follower, Cash und jede Menge Bräute Baby … !“Martin war außer sich und tanzte seine Lieblingsmoves im dunklen Gras. Ein lautes Krachen vereiste die beiden Kumpel. Ihre Brust pochte in der dunklen Stille. Jenny kam mit Anton und Gianni auf sie zu. „Was ist denn mit Euch? Habt ihr schon ein Gespenst gesehen?“ Scherzte sie mit ihren Begleitern. “Booohhh … Boohh“, ahmten die Neuankömmlinge Gespenster nach. „Na, kommt Jungs. Wir haben nicht ewig Zeit! Es sei denn … es sei denn Ihr werdet selbst zu Geistern … hehehe! Dann werden wir die Ghostbuster und das Video wird der Burner!!“ Scherzte Jenny mit Gianni und sie eilten auf das Haus zu.


Ich mag diesen Inspektor mit dem albernen Cowboyhut nicht. Hier im stürmischen Norden gibt es keine Sonne. Er ist so knöchern und groß, so erfahren und schnüffelt in all meinen Dielen herum. Zu lange schon macht er das und er findet immer wieder dasselbe: NICHTS!

Diese jungen Filmemacher vom Samstag. Sie liegen im Vorgarten. Sie drehten das Video ihres Lebens. Sie suchten Ruhm. Den bekommen sie jetzt! Der Große mit den dunklen Haaren war zäh. Dennoch liegt er blass neben seinen verwesenden Freunden. Sie suchen immer nach Geheimnissen und Gespenstern. Für eine Story. Diese Art Wesen gibt es hier aber nicht. Es gibt nur mich.

Diese Vandalen klettern auf meinem Dach, reißen Tapeten herunter und brechen meine Dielen. Sie treten mich mit Füßen. Niemand hält sie auf. Doch seit einiger Zeit ist da jemand. Jemand, der mich beschützt. Ich kenne ihn nicht. Ich bin mir sicher, es ist kein Gespenst.

Was macht der Inspektor jetzt. Eine frische Idee, er nimmt die Treppe in den Keller. Dort findet er, was er immer findet. Trödel, der seit Jahrzehnten vergammelt. Gartenhaken, die mal von Kindern zum Verbuddeln der Regenwürmer genutzt wurden. Körbe, die mal eine Mutter mit Äpfeln von Bäumen gefüllt hat oder das kleine Fahrrad von Victoria. Oh, Victoria, die erwachsen wurde und wegging. Sie war die schönste Freude. Das kleine Mädchen rannte in meinen Gängen herum. Später kletterte sie heimlich aus dem Fenster, um auszugehen. Sie wurde zur jungen Frau und mit ihrem Verlobten reparierte sie so manches. Doch sie entschieden sich wegzugehen und ließen mich zurück. Vor einigen Jahren kam sie vorbei und suchte nach dem kleinen Kästchen mit Postkarten. Sie fand es in der lockeren Wandpaneele, wo es versteckt war. Sie nahm es mit und kam nie wieder. Sie hat mir das Herz herausgerissen. Das kleine rostige rosa Fahrrad entgeht dem Inspektor wieder einmal. …

Meine Meine Tellerkatzen

Morgen kommt Herr Gruz. Er hat mich geerbt von seinem Vater. Davor gehörte ich seinem Opa, davor seinem Uropa, davor seinem Ururopa und sein Urururopa hat mich gebaut. Allen Familien habe ich in den zweihundert Jahren Schutz und Unterkunft gewährt. Jetzt bin ich alt, uralt und keiner will oder kann hier mehr wohnen. Aber Herr Gruz pflegt und beschützt mich. Verkaufen kommt für ihn nicht infrage, obwohl er viele Angebote bekommt. Sie würden mich sofort vernichten, zerschlagen, zerkleinern und mit dem Ergebnis einen nächsten Autobahnabschnitt auskoffern. Mich mit einer dicken Teerdecke übergießen und anschließend würden täglich tausende Fahrzeuge über mich hinwegdonnern. Nein, das will er nicht. So kommt er einmal in der Woche, repariert das Nötigste und beseitigt jedes Mal die Staubdecke, die mein Innerstes überdeckt. Jetzt habe ich eine gute Nachricht für ihn. Ich habe wieder neue Bewohner. Drei Tellerkatzen, die mich bewachen und auch sogar den Staub beseitigen, haben sich hier einquartiert. An ihrem tellergroßen Körper befinden sich jeweils fünf buschige Schwänze, die aussehen, als hätte man sie von Füchsen abgeschnitten. Durch das dichte Fell auf dem Rücken leuchten zwei große Augen, rund wie Glasmurmeln. Durch schnelle Drehungen um ihre Mittelachse können sie sich blitzschnell fortbewegen, sie können meterhoch springen und sich an den Wänden hochschrauben.

Herr Gruz war glücklich, als er sie kennenlernte und versprach, ihnen beim nächsten Besuch Schokolade mitzubringen. Mehrere Tage blieb es ganz friedlich und ruhig, bis dann in der Nacht vor dem nächsten Besuch von Herrn Gruz plötzlich laute Geräusche im Garten zu hören waren. Es wurde gegrölt, heftige Schlaggeräusche und zerklirrendes Glas störten die Nachtruhe. Im fahlen Mondlicht konnte man sie sehen. Drei Männer, wüst, roh, ungepflegt und halbstark. Mit dicken Eichenknüppeln in den Händen kamen immer näher. Auf ihrem Weg zerschlugen sie, was zerschlagen werden konnte. Sträucher, Blumen, junge Bäume und selbst das kleine hölzerne Wegkreuz zerlegten sie zu Staub. Mit einigen heftigen Schlägen zertrümmerten sie die Eingangstür und standen schreiend mitten im Wohnzimmer. Sie verbreiteten Angst und Schrecken und überbrückten ihre eigene Angst mit Gebrüll und indem auf das Mobiliar einschlugen. Jetzt hatten sie etwas gehört. Es raschelte heftig und sie verspürten plötzlich starke Schmerzen. Die Tellerkatzen drehten sich mit hoher Geschwindigkeit um ihre Mittelachse und mit ihren rasiermesserscharfen Schwanzspitzen zerlegten sie die Kleidung der Eindringlinge in kleine Stofffetzen.Die drei Männer erstarrten vor Schreck und da wurden sie auch noch sekundenschnell völlig rasiert. Ihre kahlen Schädel glänzten im schwachen Nachtlicht wie eingeölte Kartoffeln. Ihre rosa schimmernde Haut bekam Falten, wie kleine Ferkel sie nach der Geburt haben. Endlich ging die Tür auf. Die Tellerkatzen versteckten sich in ihren geheimen Höhlen. Herr Gruz war gekommen. Als er die Lage erkannte, setzte er direkt einen Notruf ab und andere Menschen kümmerten sich um die Opfer. Herr Grutz stellte ein großes Warnschild in seinen Vorgarten. Vorsicht. Tellerkatzen! Seitdem habe ich meine Ruhe vor ungebetenen Gästen.

Wenn Sie wissen möchten, wo das Haus steht, müssen Sie die Gegend finden, wo die Schwäne rückwärts fliegen.

Der Reisende

Zuerst spüre ich das leichte Vibrieren, kaum wahrnehmbar aber doch da. Es sind die Kiesel in der Auffahrt, die unter den Reifen nachgeben und aneinander reiben. Der feste Boden trägt das Geräusch herüber zu mir und überträgt es auf die Grundmauern.

Ein angenehmes Gefühl steigt in mir auf, das ich seit fast zehn Jahren nicht mehr verspürt habe. Damals war das Pärchen die Einfahrt herauf gekommen und wollte sich einen romantischen Abend auf der Terrasse machen. Ein wunderbares Gefühl war das. Aber da waren auch die Polizisten, die fast zwei Wochen lang alles auf den Kopf gestellt und in jede Ecke geschaut hatten. Einer hatte sogar neben den Eingang zum Vorratskeller gepinkelt. Na ja, zumindest war das sein letztes Mal.

Das Vibrieren hatte aufgehört, doch nun spüre ich die Schritte von drei Menschen, die ohne zu zögern zum Eingang kommen. Gleich kann ich sie hören, sobald sie die Steinfiguren an der Treppe passieren.

„Meinst du das geht in Ordnung, Tom?“ fragt eine zarte und leicht zitternde Stimme.

„Klar doch, sei kein Schisser“, antwortete eine rauhe, etwas übertrieben sicher klingende Stimme. „Hier ist seit Ewigkeiten keiner mehr gewesen. Das wird lustig.“

„Und wem gehört das Ganze?“ - Eine dritte Stimme, ausgeglichen, wenn auch mit einem Hauch von Unsicherheit.

„Soweit ich weiß, hat hier mal ein Antiquitätenhändler gewohnt. Aber das ist schon ewig her. Vielleicht gehört es den Erben oder so. Wen kümmert’s?“

„Ich weiß nicht so recht“, entgegnete die zarte Stimme, „wir sollten es lassen.“

„Wenn du Angst hast, Alex, dann lass es. Niemand zwingt dich. Ich gehe rein. Kommst du mit, Frank?“

Unruhe überkommt mich, eine prickelnde Vorfreude auf die Begegnung. Ich spüre, wie sich eine Hand - oh ja, was für eine warme Hand - auf die Klinke legt. Zu jeder anderen Zeit wäre die Tür verriegelt und ließe sich nicht öffnen, aber jetzt ist das anders. Es kostet mich nur einen winzigen Gedanken - die Klinke gibt nach und die Tür schwingt auf.

Im Eingangsbereich ist es dunkel. Tom schaltet die Taschenlampe seines Handys an und leuchtet herum. Die Halle ist fast leer, nur ein zerlöcherter Teppich liegt schwer auf dem steinernen Boden vor der großen Treppe, die zum Obergeschoss führt. In dem weißen Licht sieht er fahlgrau aus wie ausgeblichene Knochen. Staub wirbelt bei jedem Schritt auf und schwebt durch den Lichtkegel wie giftige Pilzsporen. Links stehen Schränke und Regale an der Wand, voll mit undefinierbarem Kram. An der Wand gegenüber steht ein Tisch, darauf eine bauchige Vase und darum verteilt vier Stühle. Links und rechts neben der Treppe sieht Tom zwei geschlossenen Türen.

Suchend lässt er den Lichtkegel über die Treppe nach oben wandern und sagt staunend: „Was für ein cooler Ort. Wir sollten nach oben gehen und die Zimmer durchsuchen.“

„Ist euch auch so kalt wie mir?“ fragt Alex. „Mir gefällt das hier gar nicht.“

Doch die anderen beiden ignorieren ihn. Frank schaltet auch sein Handy ein und schaut sich fasziniert um. „Ja“, erwidert er aufgeregt, „wir sollten nach oben gehen.“

Langsam gehen sie zur Treppe hinüber, nur Alex bleibt zurück und überlegt, ob er umkehren soll. Aber wie würde das aussehen? Er wäre für alle Zeit „der Schisser“, der es nicht gewagt hatte, das große alte Herrenhaus am Ende des Rabenweges zu durchsuchen. Das konnte er nicht riskieren.

„He, wartet auf mich“, ruft er und läuft ihnen schnell nach, „wartet doch.“

Tom hat die Treppe bereits erreicht und ist gerade dabei seinen Fuß auf die unterste Stufe zu stellen. Seine rechte Hand liegt auf dem Geländer und krallt sich daran fest. Er wirkt ruhig und sicher, aber kleine Tropfen von kaltem Schweiß hinterlassen Flecken im Staub auf dem Handlauf.

Frank lässt noch einmal das Licht seines Handys herumwandern und will Tom folgen, als ihm die offene Tür auffällt.

„Eh“, ruft er und zieht Tom vorsichtig an seinem Hoodie. „Schau dort.“

Tom schaut in die Richtung von Franks ausgestrecktem Arm und zieht die Augenbrauen hoch.

„Wie kann das sein?“ fragt Alex. Jetzt zittert nicht nur seine Stimme sondern sein ganzer Körper. „Die Türen waren zu, definitiv. Das kann nicht sein!“

„Ach“, wiegelt Tom ab, „vermutlich ein Luftzug vom Eingang. Bei dem Licht hier kann man doch kaum was erkennen. Lasst uns erst mal dort nachschauen.“

Und ohne zu wissen, warum diese Tür nun so viel interessanter sein sollte als das Obergeschoss, steigt er von der Treppe wieder herunter und geht auf sie zu.

Grelles weißes Licht - das ist neu. Nicht das warme gelbliche Licht von vor zehn Jahren. Die Menschen haben Fortschritte gemacht, aber das Verlangen nach dem Haus ist geblieben, ebenso die Sucht nach dem Unbekannten und Unheimlichen.

Ich muss verhindern, dass sie nach oben gehen. Alle meine Gedanken kreisen nun um das Erdgeschoss, erzeugen ein Verlangen nach dem Flur unter der Treppe, schieben geräuschlos den Riegel im Schloss der Tür und lassen sie aufschnappen. Ein leichter Luftzug genügt und das Schicksal kann seinen Lauf nehmen.

Ohne zu zögern gehen die drei Menschen durch die Tür und treten in den Flur mit dem roten Teppich. Sie merken es nicht, aber ich lasse sie kurz entschlossen nach rechts gehen, den Flur hinunter bis zu dem Zimmer mit dem Raben darüber.

Ich merke, wie sie die verborgene Tür auf der linken Seite spüren - dort, wo früher der Durchgang war. Doch der war für das Pärchen damals, diese drei bekommen einen neuen. Sie scheinen zu zögern, aber außer demjenigen, den sie Alex nennen, gehen alle zielsicher weiter. Nur dieser dreht den Kopf, schaut suchend über die Wand, kann aber außer einem unheimlichen Gefühl nichts feststellen. Also schließt er sich den anderen wieder an.

Das prickelnde Gefühl wird immer stärker. Es ist keine Vorfreude mehr, es ist eine Erregung, die sich mit jedem Schritt der drei steigert. Ich weiß es, wenn sie die Tür öffnen und hindurch gehen, wird es Ekstase sein. Ich kann es kaum noch aushalten, aber ich muss aufpassen, noch könnten sie entkommen.

Meine Gefühle geben mir mal wieder Recht. Es war eine lange Reise durch die Kälte und Dunkelheit, eine schier endlos lange, quälende Reise - aber es hat sich gelohnt. Nun schon mehr als zweihundert Jahre mit zahlreichen Momenten der Ekstase haben mich mehr als genug dafür entschädigt, den weiten Weg bis hierher auf mich zu nehmen. Und noch mindestens weitere zweihundert Jahre werde ich haben, ehe ich mich mich wieder auf die Reise begeben muss. Vielleicht bleibe ich sogar noch länger.

Jetzt haben sie die Tür erreicht. Der Rabe auf seinem Podest dicht unter der Decke dreht langsam den Kopf. Seine dunklen bösartigen Augen schauen auf die drei herab. Ich versuche ihn zu beruhigen, doch die Menschen bemerken ihn nicht. Wie gebannt starren sie auf die Tür während einer die Hand auf den Knauf legt.

Die Welt um mich herum scheint zu verschwimmen. Die Realität löst sich auf, verzerrte Formen drängen von irgendwo her in meine Wahrnehmung. Meine Emotionen kochen über, ich lasse die Pforte aufspringen. Die drei gehen über die Schwelle und ich höre, wie sie anfangen zu schreien, wie das Entsetzen und die Todesangst sie packen und sie verzweifelt versuchen umzukehren. Doch das ist unmöglich - wer den Durchgang einmal passiert hat, kann nicht zurück.

Wieder ist da ein leichtes Vibrieren in meinen Mauern, aber diesmal sind es nicht die Kiesel - die Menschen würden es vielleicht Lachen nennen.

Spukhaus in Pension

Ich sehe sie schon von weitem. Mit ihren Handys, modernen Outfits und lässigen Sprüchen kommen sie auf mich zu. Die Jugend von heute. Früher hatte sie zumindest noch richtige Laternen mit. Einer reißt mit seinen schwitzigen Patschehändchen an meiner Tür. Uff. Kann man sich nicht zumindest die Hände waschen, wenn man schon diesen weiten Weg zu mir auf sich nimmt? Ich bin nicht umsonst so weit von der Stadt weggezogen. Als Misanthrop hat man es heutzutage wirklich nicht leicht.

Ich verdrehe die Augen. Das dabei alle meine Fensterläden klappern ist normal, doch das finden diese Jungspunde offensichtlich nur noch interessanter. Noch nie ein genervtes Haus gesehen, was?

Meine Dielen knacken, als die Gruppe sich langsam in mein Inneres wagt. Jaaa, seht euch nur um. Da zerbrochene Fenster, dort schimmlige Wände. Ich bin alt, in Ordnung? Es ist wirklich unhöflich über Alter zu lachen oder sich davor zu gruseln. Findet ihr meine antiken Möbel etwa abstoßend? Mögt ihr die rostigen Abflüsse nicht? Ja ja, immer das Gleiche mit euch.

„Ich bin in Pension, verdammt. PENSION, verstanden? Könnt ihr nicht zum Spukschloss nebenan gehen? Ich habe alle Geister und Dämonen schon vor Jahren dorthin geschickt, weil es ihnen bei mir zu unfreundlich war. Sie meinten, dass nicht einmal RTL 2 funktioniert. Ich kenn mich mit so modernem Zeugs zwar nicht aus, aber es scheint ein schlagkräftiges Argument zu sein“, fahre ich die Menschengruppe an. Statt Worten beginnt, gemäß meines Arguments, der Fernseher laut zu rauschen. Schon lange bekomme ich kein richtiges Signal mehr. Irgendwo brennt eine Sicherung durch. Diese ganze Aufregung tut mir nicht gut. Beruhige dich, flüstere ich mir selbst als Mantra immer wieder zu.

In diesem Moment schreit mir eines der Mädchen direkt ins Ohr und ich zucke zusammen. Mein schönes Mantra. Einen Moment später merke ich, dass ich einen meiner Holzbalken vor lauter innerer Unruhe fallenlassen habe. Genau davor hat mich mein Physiotherapeut gewarnt. Dass dasselbe Mädchen von ebenjenem Holzbalken durchbohrt wurde, dafür gebe ich mir allerdings keine Schuld. Der Holzbalken war immerhin ein Versehen, ihr Schrei vorhin bestimmt nicht.

Ich kann aber zugeben, dass der Anblick nicht schön ist. Verständlich, dass meine restlichen Besucher jetzt etwas … aufgewühlt wirken. Ich öffne meine Türe von selbst.
„War schön mit euch. Und jetzt verschwindet endlich. Ich will schlafen“, krächze ich. Panische Körper trampeln über meinen morschen Holzboden. Nein warte, nicht dorthin. Mein wunder Punkt. Ein Licht im langen, schmalen Gang flackert auf, als jemand genau dorthin steigt, wo ich es gar nicht gebrauchen kann. Etwas knackt. Ich glaube, einer der Jungen hat mir was gebrochen. Dort wo gerade noch halbwegs intaktes Holz war, steckt jetzt ein Fuß. Der Junge schreit. Bitte nicht schon wieder, denke ich mir. Ich habe auch Schmerzen, siehst du nicht, was du angerichtet hast? Das Holz bricht weiter. Das habe ich befürchtet, du Tollpatsch. Der Junge fällt. Tief. Er müsste irgendwo im Keller gelandet sein. Lebt er noch? Die Schreie der anderen werden lauter und ich seufze erneut. Ich bin wirklich zu alt für sowas.

Langsam erkenne ich, warum alle meine früheren Bewohner zum Spukschloss nebenan gezogen sind. Bestimmt wollten sie ihre Ruhe. Die Ruhe, die ich vermutlich nie bekommen werde. Ich sollte wirklich umziehen, grummle ich vor mich hin. Ich bebe beim Versuch mich schwerfällig aus meinen jahrhundertealten Verankerungen zu reißen, nur um dann festzustellen, dass ich wirklich schon zu gebrechlich bin, um auch nur einen Schritt zu gehen. Ich löse meine Anstrengungen. Irgendwo schreien die noch lebenden Jugendlichen, die sich vor einer halben Stunde noch mutig gefühlt haben. Ich kann nicht mehr sagen, wo. Ich habe den Überblick verloren, aber ehrlich gesagt will ich es auch gar nicht mehr wissen. Es hat keinen Sinn. Ich werde hierbleiben und wohl oder übel eine Gruppe nach der anderen ertragen müssen.
„Ach tut doch was ihr wollt“, fluche ich vor mich hin. Erst jetzt merke ich, dass es endlich wieder still ist. Totenstill. Sind die restlichen Jugendlichen gegangen? Ich bin nicht sicher. Irgendetwas Dickflüssiges sickert zwischen meine noch intakten Holzdielen. Ich schüttle mir vor lauter Ekel. Mich so verunstaltet zurückzulassen war wirklich unhöflich…

„Rabenweg“

Niemand weiß heute noch, woher der Weg, an dessen Ende ich stehe, seinen Namen hat, von mir! Auf meinem Dach, in meinem Garten, in hohen Pappeln, sitzen sie, meine Raben. Schwarz und glänzend wie die Nacht, lautlos, gleitend, schimpfend und warnend. Sie leben hier seit Generationen.
Heute Nacht, neue Wesen, neugierig und den Kopf voller Geschichten über mich. Nun gut, tretet ein, aber gebt Acht!
Sie scherzen, leuchten mit ihren Lampen. Anspannung liegt in der Luft.
Eine der vier fällt auf. Sie ist ruhiger, wacher. Da höre ich jemand ihren Namen rufen: „Hey, Rose kommst du?“ Sie antwortet: „Alles ok, bin da.“
Die Raben haben ihren Auftritt, kreischen im Garten um die Wette. Sie kennen das Spiel, helfen mit, damit die Menschenwesen sich fürchten und verschwinden.
Rose scheint etwas wahrzunehmen, keine Angst zu haben. Ein Gefühl der Vertrautheit stellt sich bei mir ein. Vielleicht ist sie es, die mich, das alte Haus versteht.
Seit Jahren erzählt man im Dorf ich sei unheimlich, gefährlich. Es wäre besser, diese Mauern verschwinden. Aber was wissen sie…
Es ist der alte John, der hier spukt. Er ist es, von ihm geht so viel dunkle Energie aus. In meinem Holz und Stein aber sitzt sie fest. Seine Worte, Gedanken, seine Gewalt, in mir gefangen. Schon 80 Jahre tot, …aber er bleibt hier! Und damit das Elend.
„Rose, was ist?“ fragt einer im Dunkeln.
„Irgendwas ist hier, jemand, mir wird ganz kalt!“ Dann erscheint plötzlich John, schwebt quer durch den Raum, knapp an Rose vorbei. So nahe kam er Eindringlingen noch nie, das ist neu! Rose zittert vor Kälte wie Espenlaub. „Sollen wir verschwinden?“ ruft jemand.
John hat es sich neben Rose schwebend gemütlich gemacht und schaut sie an.
Sie erinnert ihn an jemanden, aus lange vergangener Zeit.
Lynn, …sie es ist es, die er da sieht! John wird nervös, nervös wie ein Geist eben sein kann! Er ruft: “Lynn, meine Liebe! Lynn!“ Doch kein Laut ist hörbar. John ist entsetzt.
Er fängt er an zu poltern, wirft etwas um, stürmt durch die Wand, kommt zurück, Bücher fallen zu Boden.
Die Freunde und Rose erschrecken sich zu Tode, schreien und rennen los bis sie die Lichter der Hauptstraße sehen. John aber schwebt zur Haustür, langsam, in den Garten zu den Pappeln, wartet. Was macht er?! Seine Gestalt hält inne, beginnt sich aufzulösen, geht als Dunstschleier zu den Kronen der Pappeln, und verschwindet wie Rauch im Wind in den Nachthimmel. Hundert Raben fliegen auf…Mach es gut alter Freund!

Wer nicht lesen kann muss fühlen

Vor Jahrzehnten wurde es mir hier im Museum gemütlich gemacht.
Doch wohl fühle ich mich nicht. Die Zeit verstreicht hier extrem langsam, in der Stille des Museums, in dem ich verharre.
Ein neuer Tag beginnt und ich hoffe so sehr, dass heute ein paar Menschen kommen, die nicht ganz senil sind.
Doch die meisten Menschen, die an mir vorbeigehen, wirken gelangweilt und desinteressiert. Nur ein paar Senioren verharren kurz bei mir, während sie in Erinnerungen schwelgen, Kinder werfen einen flüchtigen Blick auf mich und schenken mir einen Bruchteil ihrer Aufmerksamkeitsspanne.
Aber das bin ich bereits gewohnt.
Wer weiß schon noch eine alte Pracht, wie ich es bin, zu schätzen?
Ich bin ja nur ein uraltes - unscheinbares - Puppenhaus - langweilig. Wenn sie wüssten …

Die Dunkelheit des anfänglichen Herbsts senkt sich über das Anwesen am Ende des Rabenwegs und ich lauere ruhig, aber gespannt. Die Menschen, die mich besuchen, sind nur vorübergehende Erscheinungen in meiner ansonsten unveränderten Existenz. Sie sehen mich, doch sie verstehen nicht, was in mir vorgeht.
Ein Schild vor mir trägt die dringende Warnung: „Bitte nicht berühren“. Doch immer wieder sind es die neugierigen, patschigen Hände der Kleinen, die sich nicht zurückhalten können. Somit ignorieren sie nicht nur das Schild, welches vor Berührung warnt, sondern sie ignorieren mich, die Warnung vor mir! Diejenigen, die mich berühren, wissen nichts von den Dramen, die sich in meinem Inneren abspielen. Sie wissen nicht, dass ich ein Gefängnis der Seelen bin, ein Ort voller Freude und Verzweiflung.

Schließlich bemerken sie die schmerzlichen Schreie der Seelen, die ich tief in mir gefangen halte, nicht. Sie bleiben ungehört, verloren in der Menge der Besucher. Ich zwinge die Seelen zur Unbeweglichkeit, und sie verharren in ihrem Schmerz, unfähig, sich zu befreien, halte sie fest in ihrem Schicksal. Sie wirken wie Puppen, Puppen, die es vor über 200 Jahren gegeben hat.

Mir nähern sich zwei kleine Wesen, eines blond bezopft und eines mit einer Cappy verdeckt. Wie ich es gewohnt bin, sind auch sie scheinbar nicht in der Lage, Schilder zu lesen oder fremdes Eigentum respektvoll zu behandeln. Sie erreichen mich und ahnen nicht, was sie geweckt haben. Selbst schuld!
Die Konsequenzen sind unvermeidlich. Als die neugierigen Hände der Kinder mich berühren, spüre ich, wie die Energie der Seelen in mich hineinströmt. Ichund ich bin bereit, meine übliche Rolle zu spielen - den gefangenen Seelen eine neue Heimat zu bieten.
Ein kleiner Schrei, ein Moment des Schreckens und die Mutter zieht zwei plötzlich völlig apathische Kinder weg. Die Seelen der Kinder sind in mir gefangen. Das Sprichwort „Wer nicht hören kann, muss fühlen“ trifft hier wahrlich zu.
Und so beginnt meine Suche nach einer passenden Hülle für die gefangenen Seelen. Ich durchstreife die winzigen, detailreichen Zimmer meines Inneren und finde schließlich zwei Puppen, die sich perfekt als Behälter eignen…
Sobald das Licht des Museums erlischt und sich die Türen schließen, erwachen meine Bewohner*innen zum Leben. Die Neuankömmlinge beginnen ihre Welt um sich herum wahrzunehmen und die Augen beginnen zu strahlen. Denn sie sehen die anderen Einwohner, welche glücklich spielen. Sie lernen im ‘realen’ Leben mit anderen Kindern zu spielen - ganz ohne Technik und Virtualität.

Ich frage mich, ob die Eltern jemals begreifen werden, dass Kinder sich verändern. Frühere haben sie das mit Sicherheit, aber heutzutage machen die Kinder auch ohne meinen Einfluss einen apathischen Eindruck auf mich. Beziehungsweise wird es wahrscheinlich keinen der Erziehungsberechtigten auffallen. Schließlich macht es mir nicht mehr den Eindruck, als kümmert man sich noch groß um sein Fleisch und Blut. Elektronik scheint heutzutage das A und O zu sein und das Leben zu dominieren.

In diesem Moment erfüllt mich ein zwiegespaltener Schauer. Die Seelen, die ich gefangen halte, haben eine Chance auf ein neues Leben gefunden, aber ich bin verflucht, sie von ihren Wurzeln zu trennen. Wobei ich mich frage, ob sie bei mir nicht besser aufgehoben sind. Ich bin ein Gefängnis für sie und das Wissen, dass ich ihr Kerker bin, zerreißt mein unsichtbares Herz. Aber erfüllt mich auch mit Freude, wenn ich nun das Kichern von Kinderstimmen in mir klingen höre, welches den Ohren der eigenen Eltern schon lange verstummt blieb. Und so beginnt ein weiterer Tag, geprägt von den stummen Schreien der Seelen, die in mir gefangen sind, die ich festhalte, quäle, sie von ihrer Familie abschirme und ihnen meiner Meinung nach ein neues Leben schenke, welche es kaum erwarten können, bis die Nacht anbricht.
Die Dunkelheit wurde zu meiner Verbündeten, als die Seelen endlich die Freude des gemeinsamen Spielens wiederentdecken, die Einwohner*innen ihre schillernden Erinnerungen der Vergangenheit mit den Neuen teilen, ja dann finde ich Trost. Die Dunkelheit lässt die Erinnerungen an die gute alte Zeit wieder aufleben, als die Kinder noch zusammen spielten und nicht von Bildschirmen getrennt waren. Sie enthüllt die Erinnerungen, die im Licht der modernen Technologie verblasst sind.

Die Verlorenen

Dunkelheit verschlang die Welt, als diese kümmerlichen Wichte den Rabenweg entlangschlichen und vor meinem verwitterten Mauern stehen blieben. Mich in meiner Ruhe störten! Ihre Neugier trieb sie voran. Die Gerüchte über meine düstere Vergangenheit überwältigten ihre Angst. Ein Fehler.

Die knarrenden Türen schlossen sich hinter ihnen. Die Kerzen flackerten unheilvoll. Flüsternde Stimmen hallten aus den Wänden. Schatten lauerten in den Ecken. Ihre Angst nährte meine Macht!

Fluchtversuche führten sie tiefer in ein endloses Labyrinth von Korridoren und Räumen. Kinderschritte. Schauriges Lachen. Wehklagen hallten durch die Gänge. Geisterhafte Erscheinungen umtanzten diese armseligen Kreaturen. Die Schreie der Gefangenen Seelen in den Wänden zerrten an ihren Nerven.

Ich strafte sie für ihre Neugier. Stunden dehnten sich in die Ewigkeit. Dunkelheit verschlang ihre Hoffnung.

Was nach dieser Nacht geschah, bleibt im Dunkel der Geschichte verborgen.
Die Unglückseligen blieben verschollen. Das unheilverheißende Anwesen am Rabenweg verharrte in Stille, als wäre nie jemand dort gewesen.

Eine letzte Warnung wird mit dem Wind davongetragen, als der Morgen anbrach: »Halte dich von meinen Mauern fern, wenn du nicht so enden willst wie diejenigen, die vor ihnen kamen. Die Dunkelheit verschlingt die Unvorsichtigen, und meine Rache ist ewig!«

Sancti Spiritus

Nur langsam kamen sie zu später Stunde voran, Ägidius mit dem flackernden Licht der geweihten Kerze. Zwar windgeschützt, aber das heilige Licht musste trotzdem sehr sorgsam getragen werden, damit das Wachs die Flamme nicht verlosch. Sie war symbolisch für das innere Licht, das jeder in sich selbst besitzt. Einer der anderen Bruder schwenkte den duftenden Weihrauchkessel.

Mühselig setzte der Älteste kleine Schritte vor einander. Der lange einsame, Rabenweg genannte, Pfad führte durch abgeerntete Felder auf den finsteren Wald und mich zu. Düstere bedrohliche Wolken verdeckten häufig das schwache Licht des abnehmenden Mondes.

Sie murmelten leise vor sich, Gebete wechselten sich ab mit gregorianischen Gesängen. Fast jedes Jahr zum Lichterfest und der Wintersonnenwende kamen sie zum Danken, Beten, zum Bitten.

Sie waren meine einzigen Besucher und unterbrachen meine quälende Einsamkeit, das Gefühl, von allen verlassen worden zu sein. Andere Menschen mieden mich. Wer sonst sollte sich auch auf den beschwerlichen Weg, der undurchdringlich und geheimnisvoll war, machen, um sich von mir, dem ruinösen Gemäuer, erschlagen lassen zu wollen?

Mein mit eingemeißelten Symbolen verzierter Grundstein wurde in der Zeit der erwachenden Natur anno 1823 verewigt im Fundament durch den großen Meister sowie der Bruderschaft des Hochlöblichen Ordens. Ein Kloster als Mittelpunkt der geistigen Welt, ich entwickelte mit den Jahren zu einer wahren Institution, geachtet, geschätzt, bekannt.

Meine dicken starken Mauern schützten Geheimnisse und Brüder, lichte Fenster zeigten freundlich nach draußen, ich hatte nadelschlanke Türmchen und Kapellen-Erker. In mir vereinten sich die Geheimnisse des spirituellen Klosterbaus und machten mich in den entsprechenden Kreisen weltberühmt.

Große anerkannte Denker mit Weltruhm hatten wichtige und wegweisende Anschauungen unter meinem schützenden Dach über Jahre ersonnen. Wenn ich zurückdenke, stellte ich fest, früher waren die Menschen klüger und menschlicher, sie kannten noch Mitgefühl, Erbarmen, Mitleid, und das Teilen, sie arbeiteten mit den Jahreszeiten im Garten, im Haus, im Glauben. Hier bei mir wurde philosophiert, Sinn, Ordnung und Glauben diskutiert und neu erschaffen.

In meiner Kindheit pflanzte man wichtige und symbolische Bäume. Die alten starken Riesen wurden mit der Zeit von Orkanen und Unwettern wirr in sich zusammengestürzt und bilden bis heute einen Schutzwall um mich und den vernachlässigten Totenacker mit den zerschlagenen Grabsteinen. Spürst du den eiskalten Wind, der durch die dürren Blätter weht? Wie ein Todesgesang.

Cholera und Kriege und der Lauf der Zeit haben die wirklich großen Geister vertrieben.

Mich, das alte Kloster, brandschatzten sie fast bis auf die Ursprungsmauern. Aus meinen Dielenbrettern wurden lodernde Feuer errichtet, um geraubte Ochsen von unziemlichen Barbaren am Spieß zu braten. Man entriss mir meine Sandsteine, baute in umliegenden Dörfern daraus neue Häuser. Dutzende von heftigen Stürmen und des Winters Schneelast ließen meine roten Ziegeldächer einstürzen.

Und doch, den wahrhaften Schatz, den trag ich noch immer treu und still in mir geborgen.

In dieser magischen Nacht haben die Brüder mittlerweile meine Ruine erreicht. Ägidius strich mir mit dem stets gleichen Ritual über meinen Grundstein. Das Streicheln, es war nicht so innig und zärtlich wie in den Jahren davor, oder bildete ich mir das nur ein? Was hatte sich verändert? Welche Absichten lauerten in diesem klugen Kopf? Trotzdem erschauere ich wohlig und freue mich auf das Kommende und die lieben Brüder.

Ägidius zeigte mir mit dieser Geste seinen respektierlichem Dank für die stete Obhut des Schatzes.

Der geheime Zugang zum Grabgewölbe des vorangegangenen Meister lässt sich nur mit einem winzigen knopfgroßen Stein, versteckt in einem Hohlraum neben dem heiligen Grundstein, öffnen. Nötig war sodann hier eine passgenaue und vorgeschriebene Drehung. Wenn diese stimmte, durfte ich mit großer Vorfreude öffnen und unter lautem knarren und quietschen einlassen. Der Durchgang war voller Spinnfäden, so lies ich Ägidius und seine Gefolgsleute herein in den finsteren Gang.

Feierlich entzündeten sie die altertümlichen Fackeln an der Gruft des vorangegangenen Meisters. Ich fühlte mich wieder mal sehr heilig bei all den Sakramenten und Riten, die jetzt folgten.

Lange knieten Ägidius und die anderen Brüder vor den Gebeinen des vorangegangenen Meisters. Ich nahm genussvoll ihre endlos gemurmelten Psalmen und Liturgien in meinen dicken Wänden auf.

Es war nur noch wenig Zeit bis zur Mitternacht. Im zittrigen Licht der brennenden Fackeln sah Ägidius den Brüdern ins Gesicht und wartete auf das stumme Nicken, das folgte. So begann er mit zittriger Stimme die himmlischen Mächte und den vorangegangenen Meister anzurufen:

„Ihr niemals irrenden großen Mächte, wir sind heute zu euch gekommen. Wir, die Bruderschaft des Hochlöblichen Ordens, erbitten euch um die große Gnade, die geweihten sakralen Schriftrollen und die Gebeine des vorangegangenen Meisters umbetten zu dürfen. In unser neues heiliges Zentrum. Hier sollen die wahrhaften Geheimnisse manifestiert werden auf ewig, zu eurer Ehre. Das Geheimnis wird weiterhin im Schutz der Brüder gewahrt. Heilige Mächte, lasst eure Segnungen auf unserem Vorhaben sein, zu eurer großen Ästimation und damit eure ewigen Wahrheiten anerkannt bleiben.“

Schweigen, Grabesstille. Gruseliges Nichts. Die Fackeln verloschen. Dunkelheit.

Oh, ich hörte wohl nicht richtig, war das der Dank dafür, das ich mit meinem Leib alles über Jahrhunderte verborgen und geschützt hatte, alle mir zugefügten Schmerzen demütig ertrug? Der vorangegangene Meister bestimmte, dass ich die Geheimnisse und die Schriftrollen sowie ihn selbst bis in alle Ewigkeiten zu hüten hatte und alles mit meinem Leben verteidigen sollte!

Ich stöhnte auf, lass meinen letzten Fensterladen erzittern und laut klappern, bis er abfällt. Mir ist der Schreck gehörig ins Gebälk gefahren, meine Mauern bekommen Risse, immer mehr und größere Risse. Die letzten Außenmauern und Dachbalken stürzen herunter mit lautem Krachen und Getöse und begraben alle und alles unter sich. Ich bewarf die Brüder mit den riesigen Steinen, blind vor Erbitterung, rasend vor Zorn, jeden wollte ich treffen. Das Durcheinander kam einem Erdbeben gleich. Ich wollte nicht aufhören, konnte nicht aufhören.

Die Zeit verrann, Mitternacht war vorbei.

Wie arme Seelen im Fegefeuer Heulten und Schrien die von mir zum Tode Verurteilten dumpf aus der Gruft, die Luft war verschmutzt und voller Staub der Jahrhunderte. Sie röchelten, vielstimmig, atemlos, aussichtslos. Ewige Verdammnis sei ihnen beschieden! Sie flehten um Gnade und um ihr jämmerliches verwirktes Leben.

Voller Wut versperrte ich ihnen mit meinen letzten Balken den rettenden Ausweg, diese Frevler, diese Zweifler! Diese Ungläubigen, diese Verräter des einzigen heiligen Schatzes.

Nein, die Mächte und ich sind nicht gnädig. Ruhet in Frieden!

Schrill schrien die Raben der Finsternis auf.

Sie nennen mich Geisterhaus.

So viele Geschichten rühmen sich um meine Wenigkeit. Gerüchte, Lügen, Märchen.
Immer wieder treibt es Neugierige in meine Nähe. Nur die Wenigsten wagen sich durch die Tür.
Dabei schätze ich Besuch. Ich liebe den Geruch von Leben. Viel zu lange schon herrscht hier die Einsamkeit. Der langsame, aber stetige Zerfall meiner Wände birgt Gefahren und hält die Menschen fern.
Doch diese Gruppe, die gerade um meinen Erker herumschleicht, scheint das nicht zu stören. Sie stacheln sich gegenseitig an, fordern einander auf, mich zu berühren. Ich kann ihre Angst spüren, sie beinahe riechen. Sie sind kurz davor abzubrechen.
„Na, los ihr Weicheier. Wir gehen rein!“, ruft eine männliche Stimme.
Ich glaube, es sind vier Personen. Es ist nicht so leicht, sie auseinanderzuhalten, bei den vielen Berührungen und dem Gemurmel.
Erst zögern sie, dann treten sie der Reihe nach ein. Das Gewicht ihrer Körper tut gut. Ich fühle mich für einen Moment belebt. Könnte ich vor Glück weinen, würde ich es tun. Stattdessen pfeift der Wind durch die zerbrochenen Fenster und ein Heulen ertönt. Meine Gäste erschrecken so sehr, dass sie fluchtartig meine Räumlichkeiten verlassen. Ihre Schreie verhallen in der Ferne und ich bleibe einsam zurück.

Ich denke oft an den Tag, an dem ich zum Geisterhaus wurde. Vor über 200 Jahren wurde ich von einem Mann mit einem Fluch belegt. Er gab mir, einem einfachen Haus am Ende des Rabenweges, die Schuld für das Scheitern seiner Ehe. Davon überzeugt, dass mein Bau seine Frau vertrieben hatte, erzählte er aller Welt von Dämonen und Geistern, die in mir spukten.
Ich habe nach ihnen gesucht, sie wären mir willkommen. Nichts ist unerträglicher als die Einsamkeit.
Doch es waren Lügen, die für die Menschen im Dorf zur Wahrheit wurden. Niemand hat mir je wieder eine Chance gegeben. Dabei wollte ich nichts sehnlicher, als einer Familie ein sicheres Heim bieten.
Die Worte eines Einzelnen haben über mein Schicksal bestimmt.
Seither friste ich mein Dasein als Geisterhaus und bemerke Tag für Tag meinen Zerfall.

@Katharina Ferihumer

Das Festmahl

„Ich schlage dir einen Deal vor“, krächzt Melchior in meinem großen Wohnraum.
„Was springt für mich dabei heraus?“
„Wir halten dein Dach frei von Blättern und Geäst, dann faulen deine Schindeln nicht so schnell.“
„Hmm, das macht der Wind auch gelegentlich und das ist kostenlos.“
„Na gut, und was willst du?“
„Ein dünnes Federknäul aus deiner Gruppe mit nur einer Kralle kackt mir ständig aufs Dach, haltet ihn fern von mir.“
Melchior hüpft ein paar mal auf meinem alten Holzboden umher und krächzt bei jedem Sprung. Seine Krallen kitzeln auf meinen Dielen.
„Leo werde ich ein wenig die Flügel stutzen, geht klar“, verspricht er schließlich.
„Und ihr beseitigt alles restlos, was ich euch bringe.“
„Alles?“
„Es liegen immer noch unappetitliche Reste hinten vor dem Kamin. Da könnt ihr direkt mal loslegen.“

Ein Festmahl so hat es Melchior das letzte Mal genannt und ich wusste das sie sich nach dem Nächsten sehnen. Lange warten müssen sie nicht. Mit ungelenken Schritten bahnen sie sich den Weg durch den Wald. Ausgelassene Stimmung. Ich schätze die Gruppe Abenteurer auf vier oder fünf Personen, die den Rabenweg entlang kommen, an dessen Namesfindung Melchior sicherlich nicht ganz unschuldig ist. Kurze Zeit später stehen sie vor meiner Tür. Offene Münder. Ungläubig etwas Wildes und Unberührtes gefunden zu haben. Angst und Ehrfurcht vor dem Unbekannten, doch niemand lässt sich etwas anmerken. Der Größte der Gruppe stürmt hervor und drückt die Tür auf. Leicht offenstehend, keine Herausforderung, aber eine Verlockung. Meine Fensterläden besonders weit geöffnet, lassen das abendliche Licht hinein. Als der Hüne mit einen Fuß ins Innere tritt, besänftigt das Knarzen seiner Schritte auf meinem Holzboden die Gruppe. Nacheinander fallen sie ein und bewunderen mich, das alte Holz und die rohe Natürlichkeit. Schnell legen sie ihre Rücksäcke und Jacken ab, um es sich gemütlich zu machen. Der Kamin lodert nach kurzer Zeit und der große Kessel über dem Feuer wird befüllt. Ein Relikt aus Tagen, in denen ich jung und mein Holz hell war.
Mit den letzten Sonnenstrahlen, die sich zwischen den Bäumen hindurch pressen, lasse ich die Fensterläden zuschlagen. Die Gruppe schreckt nach oben. Der aufkommende Wind drückt sich heulend durch die Tür in den großen Wohnraum und füllt die Dämmerung mit Kälte. Das Feuer im Kamin lodert und Mitgebrachtes blubbert im Kessel, während sich meine Gäste unsicher anschauen. Der Zugang zum Keller wurde vor Ewigkeiten verschüttet. Als ich die alte verborgene Kellertür unter den Dielen einmal mit Schwung ins Schloss schlagen lasse, trägt sich die Vibration durchs ganze Haus. Ein spitzer Schrei begleitet meine nächste Kombination aus schlagender Kellertür und Eingangstür, die sich langsam aber stetig mit quietschenden Scharnieren schließt. Ein weiterer Schrei und die Gruppe löst sich vom wärmenden Feuer. Bei der Flucht ins Freie, gerät der Kessel ins Wanken und fällt. Heißes Gekochtes ergießt sich über meine Holzplanken, bevor die Tür mit einem letzten Knall ins Schloss fällt.
Ich lasse meine Gäste noch ein wenig Zappeln. Der Hüne reißt an der Tür und fängt an wild zu grunzen. Bevor die Balken reißen, lasse ich los und die Gruppe stürmt ins Freie. Die Dunkelheit empängt sie und ihre Schatten stehen unschlüssig vor meiner Veranda.
Das Krächzen der Raben aus den umliegenden Bäumen gibt ihnen den Rest. Melchior hat alle versammelt und das Stakkato aus ihren Schnäbeln begleitet das Schreien der Fliehenden.

„Kommt herein“, rufe ich und öffne die Fensterläden.
Melchior landet vor dem Kamin und begutachtet im Schein des Kaminfeuers den Kesselinhalt, der sich über die Dielen rings um den Kamin verteilt hat. Hinter ihm versammeln sich die Hungrigen.
„Es ist angerichtet“, verkünde ich.

Seelenfänger

Meine Dielen knarzen unter dem Stiefel des spitzorhigen Wesens. Alle zehn Jahre kommen sie um meinen Fluch zu brechen. Sterbliche Seelen auf der Suche nach Ruhm und Anerkennung der Ihren.
Verschwendetes Talent, wie bedauerlich.
Nun stehen sie also in meiner Empfangshalle, unwissend welchen Weg sie einschlagen sollen.
Meine Flügeltreppen hinauf in den ersten Stock?
Nicht sehr ratsam. Meine Stufen sind morsch und der Fall in den Keller tief. Ich erinnere mich an das vorletzte Jahrzehnt. Der Fleck im Keller ist immer noch zu sehen.
Womöglich den direkten Weg nach unten? Alles Böse befindet sich doch unten. Im Keller, im Unterreich, in den Höllen.
Verschwendete Zeit. Meine Pilzsporen an den Kellerwänden werden dafür sorgen, dass sie bald schlafen…tief…ewig.
Doch was ist das?
Ein Mensch mit leuchtenden Händen bestimmt der Gruppe durch die Türe in der Mitte der Treppen zu gehen. In mein innerstes.
Der Echsenmann umklammert einen Talisman, als er die Tür öffnet.
Er möchte sich dadurch stark fühlen, geschützt, doch ich spüre seine Klauen zittern, als er meine Klinke berührt.
Sie kommen in die große Küche. Ein vorgehen, welches ich seit nahezu einem Jahrhundert nicht mehr zu spüren bekommen habe.
Sie sind hier um mich zu retten. Meine Seele zu befreien.
Törichte Narren sind sie. Mich befreien? Ich bin ewig und ewig bin ich!
Langsam schiebe ich die erste Schublade auf, als die Wesen meinen Leib untersuchen.
Ihre Seele wird meine Lebensdauer um weitere Jahre verlängern, denke ich mir, als ich das erste Messer werfe…

Das alte Haus

Ich habe schon unzählige Oktobermonate erlebt. Fragt mich nicht wie viele. Doch dieser ist bisher der mit den schlimmsten Stürmen, die jemals an meinem morschen Gebälk gezerrt haben. Mit großen Mühen halte ich die Stromleitung auf dem Dach fest. Der Mast ist seit dem Frühling durch einen Blitzeinschlag angebrochen. Er wird bald abbrechen, wenn kein Wunder geschieht.

Mathilde lebt schon ihr ganzes Leben hier. Ich erinnere mich, dass ihre Mutter laut geschrien hatte, als sie auf die Welt kam. Die Schreie bei den Geburten sind markerschütternd.

Immer nachdem ein anderer Bewohner bei mir einzog, kamen winzige weitere Lebewesen aus den Frauen heraus. So war es wenigstens früher alle paar Jahre. Erst waren die Bewohner klein und dann wurden sie größer. Sie brachten später neue Menschen mit, zogen aus oder blieben mit diesen zusammen bei mir wohnen und das Ganze begann von vorne.

Bis zu Mathilde. Sie ist die Letzte der Familie, die hier wohnt. Sie ist schon alt. Es kommt mir vor, als wäre es erst voriges Jahr, da sehe ich sie die Treppe hinunterlaufen, mit einem Schulranzen auf dem Rücken. Sie schlug immer die Haustür zu, so kräftig, dass sogar einmal das Glas darin zerbrach. Ihr Vater Max rief den Glaser an, der brachte das wieder in Ordnung.

Wenn Mathilde heute die lange Treppe hinunter in den Flur kommt, erinnere ich mich, dass ihr Ehemann Frank vor einigen Jahren über den Teppich gestolpert ist. Er polterte die Stufen herunter und blieb unten auf den Steinfliesen liegen. Er gab keinen Mucks mehr von sich. Bis dahin hatte er jeden Tag geschrien. Nicht weil aus ihm ein Kind herausgekommen wäre, er schrie Mathilde immer an und schlug sie mit seiner großen Hand ins Gesicht.

Mathilde stand damals oben an der Treppe und hielt sich die Hände vor den Mund. Sie schien entsetzt, dass ihr Mann sich nicht mehr bewegte. Sie schrie nicht. Frank wurde von zwei Sanitätern abgeholt und kam nicht zurück. Nach dem Unfall lächelte sie endlich wieder.

Mathildes Vater Max war hingegen ein netter Zeitgenosse. Er lebte auch sein ganzes Leben in meinen Räumen, seitdem er aus seiner Mutter Charlotte herausgekommen war. Als er älter war, tat er alles, was Charlotte ihm sagte. Er kümmerte sich um den Garten, räumte den Keller auf und spülte das Geschirr ab.

Max heiratete dreißig Jahre später die Mathildes Mutter. Die war nicht so nett. Sie schrie oft und schimpfte täglich mit Max.

Er sah danach traurig aus und die kleine Mathilde tröstete ihn. Mathildes Mutter hatte oft Kopfweh und blieb häufig ein paar Tage im Bett. Max brachte ihr dann heißen Tee. An einem Oktobertag, ein stürmischer wie heute, war Max noch auf der Arbeit. Diesmal brachte ihr die kleine Mathilde den Tee. Nachdem sie den Tee getrunken hatte zuckte und schüttelte sich die Mutter kräftig. Schaum trat aus ihrem Mund heraus. Mathilde lief die Treppe hinunter und rief den Hausarzt an. Der kam schnell. Sanitäter kamen und trugen die Mutter auf einer Trage aus dem Haus.

Sie kam auch nicht wieder. Dafür einige Herren von der Polizei und die fragten die kleine Mathilde, warum sie ein Pulver aus dem Garten in den Tee hineingetan hätte. Die kleine Mathilde konnte dazu nichts sagen, sie weinte und sagte immer wieder, dass ihre Mutter so gerne Zucker im Tee getrunken hätte. Ihr Vater Max tröstete sie damals. Dann lächelte sie.

Mathildes Haar war nun grau und zu einem Dutt gesteckt. Stöhnend hielt sie sich am Geländer fest, um sich die geschwungene knarzende Holztreppe vom ersten Stock hinunter in die Wohnstube zu schleppen.

Ich wünschte, der Glaser würde noch einmal kommen, er hätte genug zu tun. Einige Fenster könnten repariert werden. Ich kann das Wasser nicht mehr mit den Wänden aufsaugen, so feucht sind die schon.

Mathilde saß abends am Kamin, den sie mühevoll mit Holz anheizt. Seit einigen Jahren ist sie blind. Deshalb sieht sie den schmutzigen Boden nicht mehr.

Ein paar merkwürdige Gestalten schlichen im Garten umher. Ich hatte Angst um Mathilde, hoffentlich wollten sie ihr nichts Böses antun.

Die Lichter der Taschenlampen streiften wirr durch das Gebüsch. Einer der Fremden leuchtete in das Wohnzimmer, indem Mathilde saß.

»Hey da wohnt noch jemand, krass. Vielleicht ist da was zu holen. Die Alte dort wohnt allein hier, glaube ich.«

»Komm lass uns verschwinden Tommy,« rief eine weibliche Stimme.

Mathilde hörte die nächtlichen Besucher, stand auf und schlurfte zur Eingangstür. Sie öffnete die quietschende Tür. »Hallo?«

Tommy ergriff das Wort. »Hey, es ist spät und der letzte Bus ist uns vor der Nase weggefahren. Können wir uns bei ihnen etwas aufwärmen? Der Sturm wird immer heftiger.«

»Aber ja, junger Mann kommen sie rein. Sind noch andere bei Ihnen? Wissen sie ich kann nicht mehr so gut sehen.«

»Ja meine Freundin Betty und mein Freund Fritz.«

Mathilde führte die drei in die Küche. »Wollen sie etwas warmes zu Trinken? Ich mache ihnen einen Tee.«

»Nicht nötig danke.«

»Doch doch, das mache ich.«

Ich sah, dass Tommy seinem Freund ein Zeichen gab, dass er sich im Haus umsehen sollte. Betty schüttelte heftig den Kopf.

»Kann ich mal auf die Toilette gehen?«, fragte Fritz und stieg schon die Treppe hinauf.

»Die Toilette ist hier unten, junger Mann.« Mathilde griff sich die Nudelrolle aus der Schublade.

Fritz scherte sich nicht darum und sprang die Treppe hinauf.

Tommy bewegte seine Hand zu Betty und zeigte ihr damit an, Mathilde mit einem Gespräch abzulenken. Betty schüttelte den Kopf und wandte sich dann aber trotzdem Mathilde zu. »Ein Tee wäre gut. Mir ist total kalt. Kann ich ihnen helfen.«

Mathilde erklärte ihr, wo das Geschirr und der Wasserkocher stand und stakste zum Dielenschrank.

»Ich hole nur noch den Zucker, die Zuckerdose ist leer.«

Tommy nutzte die Gelegenheit, um in das Wohnzimmer zu schlüpfen und dort alle Schranktüren zu öffnen.

»Was macht ihr Freund in der Stube? Das Geschirr und die Teelöffel habe ich hier.«

»Tommy, kommst Du?«

»Ich lege nur etwas Holz im Kamin nach. Sie haben es wirklich schön gemütlich hier.« Mit lautem Getue warf ein paar Scheite ins Feuer und schob mit dem Feuerhaken das Brennholz zurecht.

Der Wasserkessel pfiff und Betty schüttete das heiße Wasser in die Teekanne. Mittlerweile kam auch Fritz wieder von oben herunter und zeigte den anderen eine Schatulle mit Mathildes Perlenketten und Ringen.

»So der Tee ist fertig. Im Schrank müssten auch noch ein paar Plätzchen sein. Betty schauen sie doch mal nach.«

Alle setzten sich an den Tisch. Fritz machte sich über die Plätzchen her und Betty schenkte allen eine Tasse Tee ein. »Möchten sie auch Zucker in ihren Tee haben?«, fragte sie Mathilde.

»Nein, danke, mein Kind.« Mathilde hielt ihre faltige Hand über die Tasse.

Betty gab in jede der anderen Tasse zwei Löffel der Kristalle und rührte kräftig um.

Fritz trank seinen Tee mit einem Zug aus, öffnete seinen Rucksack und verstaute die Schmuckschatulle. Tommy kippte ebenfalls seinem Tee hinunter und goss sich eine weitere Tasse ein. Er zeigte den anderen die goldene Taschenuhr von Mathildes Vater Max, die er im Wohnzimmerschrank gefunden hatte.

Plötzlich griff er sich an den Hals, auch Fritz beugte sich nach vorn.

Tommys Hand krampfte sich in die Tischdecke und riss diese mitsamt dem Geschirr auf den gefliesten Boden. Das Porzellan zersprang mit einem lauten Geschepper in tausend Einzelteile.

»Tommy?« Betty schaute zuerst zu ihrem Freund, dann zu Fritz und zuletzt in die leere Tasse in ihrer Hand.

Fritz zuckte und zappelte. Schaum quoll aus seinem Mund. Tommy lag auf dem Boden und seine Glieder streckten sich mit einem Mal schlaff aus.

»Fritz? Tommy, was ist los?« Betty schaute Mathilde mit weit aufgerissenen Augen an. »Was …« Mehr kam nicht über ihre Lippen, bevor sie zusammenbrach.

Mathilde zog ein Mobiltelefon aus ihrer Jacke und drückte eine Taste.

»Kommen sie schnell, hier ist etwas passiert.«

Sie nannte ihren Namen und Adresse und kurze Zeit später klingelten Sanitäter an der Haustür. Mathilde öffnete ihnen.

Der Notarzt untersuchte die Jugentlichen. »Es tut mir leid, aber alle drei sind tot.«

Mathilde unterdrückte einen Schrei und hielt sich die Hände vor den Mund. Die Sanitäter bemerkten, dass Mathilde blind war und riefen für sie eine Sozialarbeiterin an, die am selben Abend vorbeikam. Heide Keller hieß sie und kümmerte sich rührend um die arme Mathilde.

Später kam noch ein Mann zu Besuch, der sich als Kommissar Breuer vorstellte. »Es tut mir leid, aber ich muss ihnen noch ein paar Fragen stellen. Es stellte sich im Krankenhaus heraus, dass die Jugentlichen sich vergiftet haben.«

»Du lieber Gott, wie konnte das nur passieren?«

»Sie müssen Rattengift zu sich genommen haben. Es war wohl in der Zuckerdose. In ihren Rucksäcken fand sich auch Schmuck, der wahrscheinlich ihnen gehört.«

Mathilde war außer sich. Sie wiederholte immer wieder: »Oh mein Gott, oh mein Gott…«

»Bitte, sie sehen doch, das bringt nichts, lassen sie die Arme doch in Ruhe.«

Heide Keller schob den Kommissar aus der Küche.

»Sie ist blind und alt. Warum nehmen sie keine Rücksicht?«, fauchte sie den Beamten an.

»Ja, ich denke, wir müssen das als Unfall deklarieren. Wie auch immer das geschehen ist, wir werden es wohl nicht mehr herausfinden.«

Heide brachte Mathilde die Treppen hoch und half ihr ins Bett.

»Nun nehmen sie diese Tabletten, damit sie diese Nacht gut schlafen können. Morgen werde ich wieder nach ihnen sehen. Ich werde auch die Handwerker anrufen. Die Fenster sind kaputt.«

»Vielen Dank Frau Keller, sie sind ein Schatz.«

Heide verließ das Zimmer. Mathilde lächelte.

Ob Du an böse oder gute Geister glaubst Du hast immer Recht

Es war eine kühle Sommernacht, eine der seltenen Nächte in der warmen Jahreszeit in denen sich Nebel bildete und sich ein Hauch von Herbst über die Niederungen, Straßen und Gassen in der Nähe des Flusses legte. Anfangs hörte ich nur ihre Stimmen durch den Nebel dringen, dann erschienen auch ihre Schatten im fahlen nebelgedämpften Licht der Straßenlampen. Nico, Lena, Franzi und Benjamin den alle nur Benni nannten hatten in der Gastwirtschaf „Zur Goldperle“ die am Flussufer lag gemeinsam am monatlich stattfindenden „All you can eat“ Abend teilgenommen und dabei ungewöhnlich tief ins Glas geschaut. Ich kannte sie alle, auf dem Dorf kannte ohnehin jeder jeden und ich allen voran. Ich stand seit zweihundert Jahren hier an diesem Ort und hatte Jahr für Jahr, tagein, tagaus nicht besseres zu tun, als durch den verwilderten Garten hinweg auf die Straße zu schauen. Ich kannte die Vier schon von Geburt an, als ihre Mütter sie mit den Kinderwägen an mir vorbei schoben und sah sie ein paar Jahre später auf dem täglichen Schulweg, der sie über die Brücke auf die andere Seite des Flusses führte, später folgte der Konfirmandenunterricht in der Kirche, die nur einen Steinwurf von der Schule entfernt lag. Seither waren Jahre vergangen und aus den Vier waren junge Erwachsene geworden, die vermutlich selbst bald Familien gründen würden, wenn das Schicksal nicht anderes mit Ihnen vorhat.

Nico und Lena, deren Eltern seit Jahrzenten befreundet waren, sind praktisch gemeinsam aufgewachsen woraus sich eine Sandkastenliebe entwickelt hatte, Franzi und Benny hatten erst in der Pubertät während der Konfirmandenfreizeit bei einer Nachtwanderung durch den Wald, bei der man sich verlaufen hatte ihre Zuneigung zueinander entdeckt und waren seither ein Paar.

Ich sah, wie immer hinaus über den nächtlichen Vorgarten der leicht im Nebel lag und wie die vier Freunde über die Kreuzung direkt auf mich zuliefen und würden wie in den letzten zwanzig Jahren auch heute an mir vorbeilaufen. Ich konnte es auch irgendwie verstehen, ich war alt, hässlich und unheimlich, die Menschen im Dorf hatten Angst, auch wenn sie es nicht zugaben, Angst ich könnte ihnen etwas antun, nur wie sollte ich, ich war ein altes Haus ich hatte weder Arme noch Bein, auch nicht die Seelen derer die in den letzten vierhundert Jahren hier gewohnt, geborgen und gestorben waren konnten zupacken.

Die vier Freunde kamen immer näher, Nico öffnete das nur noch an einem Scharnier hängende Gartentor, das den schmalen mit Unkraut überwucherten Weg zur Haustür freigab.

Nico ging zur Haustüre, mit etwas Abstand gefolgt von Lena Benny und Franzi. Nico ging die vier Stufen der steinernen Treppe mit den ausgetretenen Stufen hinauf zur Haustüre. Er drückte den Türdrücker nach unten, aber ich hielt meine Tür fest geschlossen, nicht mit Absicht vielmehr waren Rost am Schloss und den Scharnieren dafür verantwortlich. Das heiße Wetter der letzten Wochen hatte zudem das Holz austrocken lassen so das meine Tür nun klemmte. Eine gewisse Traurigkeit überkam mich, dass die ersten Besucher seit Jahren nun nicht eintreten konnten.

Während Lana mit etwas ängstlich klingender Stimme zu Nico sagte, hör auf und lass uns gehen, stemmte er sich ein letztes Mal mit aller Kraft gegen die Tür während ich in Gedanken so etwas wie ausatmen versuchte um zu helfen. In diesem Moment öffnete sich die alte schwere Eichentür nach innen und gab im Schein der Straßenlaterne den Blick auf den Hausflur und die Treppe frei. Nico schaltete die Taschenlampenfunktion seines Mobiltelefons und trat ein und seine drei Begleiter taten es ihm nach.

Benny drehte sich einmal um die eigene Achse und leuchtet mit der Taschenlampe seines Mobiltelefons die Diele aus. Links führte eine Steintreppe in den Keller, der von einer Holztür mir schwerem eisernen Rigel verschlossen war, gerade aus und rechts befanden sich Türen die in die Zimmer führten und links über der Kellertreppe ging eine Holztreppe ins obere Stockwerk. Nico öffnete meine Zimmertüren und sah in die leeren Räume und ging zur Treppe nach oben. Lena protestierte lauthals und sagte sie möchte jetzt gehen, auch Benny schloss sich Lenas Meinung an. Franzi hingegen folgte Nico auf meiner alten knarrenden Treppe nach oben, in einem Raum stand die Türe einen Spalt offen und Nico und Franzi gingen hindurch in das Zimmer. Franzi die bei Eintreten in den Raum die Zimmertür berührt hatte, schrie laut auf und warf sich Nico an den Hals als hinter ihr die Tür mit einem lauten Knall zuschlug. Nico leuchtet zur Tür und sah was passiert war, eine alte ausgehängte Schranktür, die an der Zimmertür gelehnt hatte, war umgefallen und hatte dabei die Zimmertür mit einem lauten Knall zufallen lassen.

Nico der selbst einen heftigen Schrecken bekommen hatte nahm Franzi ebenfalls in den Arm die ihn immer noch fest umklammerte, um sie zu beruhigen, er roch ihre Haut und ihre Haare und irgendetwas tat sich in ihm, er wollte sie loslassen, konnte aber nicht und Franzi schien es ebenso zu gehen, bis ein lautes Rufen aus der Diele „alles OK bei Euch?!“ sie aus ihrer Umarmung riss.

Sieben Jahre später

Ich das alte Haus hatte mir gewünscht es möge wieder Leben in meine Wände und unter mein Dach einziehen und es war Leben eingezogen. Nico und Lena aber auch Fanzi und Benni hatten sie wenige Wochen nach dem nächtlichen Besuch in meinen Wänden getrennt. Benny hatte einen Job im Westen angenommen und lebte immer noch allein, Lena war verheiratet und hatte zwei Kinder und schien zumindest nach außen eine glückliche und harmonische Ehe zu führen.

Nico und Franzi waren nach jenem Abend in meinen Räumen nicht mehr voneinander losgekommen und hatte mich für kleines Geld vom Besitzer gekauft und in jahrelanger Kleinarbeit vom Schandfleck zum Schmuckstück im Dorf gemacht.

Ich stand da, so schön und fröhlich, wie nie zuvor, Rosen, Stockrosen und Hortensien und Geranien schmückten die Front, das Gartentor hatte wieder zwei Scharniere und glitt sanft ins Schloss. An der alten Kastanie im Garten hin an langen Seilen eine Schaukel, auf der eine kleines Mädchen mit lockigen Haaren saß und die Schmetterlinge beobachtet, die um die Blumen am Gartenzaun umherflattern.

Alles hat eine Seele auch ein altes Haus und ob diese Seele gut oder böse ist, entscheidet jeder für sich selbst.

Der Besuch
Es hatte schon den ganzen Tag nach Regen ausgesehen, aber jetzt schoben sich dunkle Wolken Schicht für Schicht übereinander und es wurde so finster, dass Elin beschloss, Licht zu machen. Nur im Wohnzimmer, um Einbrecher abzuschrecken und Strom zu sparen.
Wenn Elin ehrlich zu sich selbst war, dann wusste sie, dass schon sehr lange niemand mehr versucht hatte, durch eins der zerbrochenen Fenster einzusteigen, um sich nach Wertvollem umzusehen. Sie fühlte sich heute müde und uninspiriert und war froh, dass die Traumabfuhr so zeitig morgens gekommen war, um ihre Träume abzuholen. Schwer und zäh waren sie diesmal und voll düsterer Vorahnungen. Sie hatte sie gleich nach dem Aufwachen, raus vor die Tür gestellt und beobachtet, wie kurz darauf, mit rasanter Geschwindigkeit, die mit tausend Lichtern besteckte, silberne Kugel, vorbeischwirrte, den metallenen Mund aufriss und ihre Träume verschluckte. Elin dachte oft darüber nach, wo die Träume blieben und sprach auch mit Madame Poulet, ihrem Hausgeist darüber. Ob sie in großen Containern aufbewahrt, von Mercurio in die Sternenbücherei gebracht wurden oder vielleicht sogar eingefroren wurden, falls die Träumenden, sie zurückhaben wollten.

Die Träume von heute Nacht konnten Elin jedenfalls gestohlen bleiben. Besonders der, den sie immer wieder träumte:
Ein strahlend schöner Morgen, die ersten Knospen am alten Apfelbaum öffnen sich, der Tau glitzert und funkelt in der Frühlingssonne, es ist so friedlich, dass Elin seufzt über so viel Daseinsfreude, als plötzlich ein Geräusch die Stille durchbricht. Zuerst nur nervtötend schrill, dann ein Schlag so erbarmungslos, dass Elin ihn im ganzen Körper spürt, der nächste kurz darauf, heftiger als zuvor. Elin zwingt sich ruhig zu bleiben und schaut mit zusammen gekniffenen Fensteraugen nach draußen. Ein riesiger Kran hat sich vor ihrem Gartenzaun aufgebaut, an dessen Spitze schwingt eine Abrissbirne, wie ein gigantischer Morgenstern, holt aus und kommt nun immer schneller auf sie zu. Sie weiß der nächste Schlag wird sie zerstören, sie wird in Stücke zerspringen, zerbersten, untergehen.
Jemand drückt auf die Stopptaste, der Traum hält an und Elin schreckt mit einem Schrei hoch.

Elin, den Namen hatten ihr die letzten Mieter gegeben. Eine schwedische Familie, die einige Jahre hier lebte. Und obwohl sie all diese Erinnerungen beherzt in alte Einmachgläser verbannt hatte, die ordentlich aufgereiht und beschriftet in ihrem Keller standen, schlüpfte doch immer wieder eine heraus, schlich sich die dunklen Stufen zum Erdgeschoss hoch und sprang Elin ohne Vorwarnung von hinten an. Meist waren es die bitter-süßen, schon fast vergorenen Erinnerungen, wie diese:
Es war kurz vor Weihnachten. Die Kinder schmückten das Wohnzimmer, hingen Lichterketten auf und zündeten Kerzen an, als ihre Mutter ins Zimmer kam und begeistert ausrief: “Jedes Haus sollte einen Namen haben und unseres heißt Elin, die Lichtvolle“.
Das war einer der glücklichsten Momente in Elins Leben.
Jetzt war ihr von dem Glück nur noch der Name geblieben, die Familie schon lange ausgezogen und die einzige Abwechslung lange, oft ermüdende Gespräche mit Madame Poulet, die vor zweihundert Jahren in einem Schloss in der Provence als Köchin gearbeitet hatte und am liebsten über Rezepte sprach. Alles in einem sehr altmodischen Französisch, einer Sprache die Elin nur rudimentär verstehen konnte.
“Ein Haus sollte mehr als einen Geist beherbergen“, dache Elin traurig als sie im gleichen Moment ein merkwürdiges Klirren und Kratzen aus der Küche hörte.

Das Haus des Das Haus des Zauberers

Der Reiter, der an diesem schönen Herbsttag vor meinem Tor hielt, war alt und machte einen müden Eindruck. Er rutschte aus dem Sattel, blinzelte und las den Spruch, der über dem Eingang stand. Er murmelte zu seinem Pferd:

«Ein jeder Reisender, der meiner Villa Respekt erweist, sei für eine Nacht willkommen. Seltsam, aber wir sind müde, nicht wahr?»

Er führte das Tier in den Stall, versorgte es und klopfte. Als niemand antwortete, trat er ein. Ein Feuer brannte im Kamin, Kerzen erhellten die große Halle. Ich erwies ihm das versprochene Willkommen. Der Alte stellte sein Gepäck ab und musterte die Bilder an den Wänden. Vor meinem Meister blieb er stehen.

«Raldano, Zauberer und Heiler, Lord der magischen Gilde», buchstabierte er mühsam. «Das erklärt den schlechten Ruf der Rabenvilla. Doch irgendwer muss dies alte Gemäuer doch pflegen.»

Ich nutzte die Gelegenheit, es zu erklären. Die Augen des Mannes weiteten sich, als das Porträt anfing zu sprechen:

«Es ist ein Zauber, der über meinen Tod hinaus hier wirkt. Die Zimmer sind sauber, der Keller ist mit Vorräten gefüllt, das Wasser ist sauber. Ich war ein Mensch, der sich gerne mit Reisenden unterhielt. Also genieße die eine Nacht. Doch länger verweilen darf nur, wer das Einverständnis des Hauses erlangt. Hole dir einen guten Wein aus dem Keller und erzähle von deinem Leben!»

Harte Dauerwürste, ein vorzüglicher Käse und auch frische, süße Weintrauben barg der Vorrat. Der Alte stand vor dem Weinregal, überlegte und nahm sich eine einzige Flasche. Er aß und genoss den edlen Tropfen. Dabei murmelte er vor sich hin:

«Aus meinem Leben erzählen? Da gibt es wenig. Ich komme aus dem Norden und habe über dreißig Jahre im Süden als Söldner gekämpft. Was hat es mir gebracht? Narben, kaum genug Gold für den Lebensabend und schreckliche Alpträume. Ich glaube nicht, Raldano, dass meine Träume für einen Zauberer von Interesse sind.»

Damit hatte er natürlich Recht. Meinen Meister hätten sie höchstens gelangweilt.

Der alte Söldner schulterte seinen Packen und öffnete die Tür. Zwei Männer und eine Frau standen vor dem Eingang.

«Du bist der Diener in dieser, äh, altertümlichen Villa?»

«Nein, nur der Gast für eine Nacht, der nun weiterreisen will.»

Die Drei wechselten einen Blick.

«Oh, nein. Du bleibst hier, bis wir wissen, was es mit der Rabenvilla auf sich hat.»

«Warum? Ich kann für nichts …»

«Widersprich nicht, Alter. Schon einmal von uns gehört? Wir sind die tödlichen Drei. Ich bin Lugos, der Anführer. Das sind Mirinda, die Heilerin und Boris, der Bulle. Der kürzlich verstorbene Graf hat dieses Herrenhaus sich selbst überlassen, sein Sohn will es verpachten oder verkaufen. Daher hat er uns angeheuert, es zu, äh, säubern. Von allem, was seinen Profit schmälern würde.»

«Schön für euch, ich würde gerne …»

«Du bleibst. Bis wir die ganze Sache geklärt haben. Außerdem muss uns irgendwer bedienen.»

Lugos stand vor den Bildern und spottete:

«Was für komische Gesichter. Und dieser angebliche Zauberer sieht aus wie ein aufgeblasener Pfaffe.»

«Komisch? Der Maler hat ihre Eigenschaften festgehalten. Dort Gier, dort Wollust und Habgier. Was wird es bei dir sein? Arroganz?»

«Schweige, Alter. Bereite uns ein Abendmahl. Wir durchsuchen inzwischen das Haus.»

Zwei Stunden später setzten sie sich zu Tisch.

«Wir haben das Obergeschoss gefilzt und Erdgeschoss bis auf den Raum mit der Aufschrift ALCHEMIE. Auch den Keller sparen wir uns für morgen auf. Du hältst die Zimmer in gutem Zustand, Alter.»

«Ich war ein Söldner und verstehe nichts von Hauswirtschaft. Ich will hier weg, denn die Gerüchte sagen, man darf nur eine Nacht unter diesem Dach verbringen. So hat der Zauberer es festgelegt.»

«Der Kerl auch dem Bild, du spinnst, Alter!»

«Dort, der thronartige Stuhl trägt seinen Namen!», warf Mirinda ein.

«Huh! Der mächtige Zauberer war ja nur ein Gnom, nach dem Sitz zu urteilen. Und lange tot ist er auch schon.» Lugos stand auf und urinierte auf das Holz.

«Das Haus verlangt Respekt und du …»

«Schweige, Alter und räume ab!»

Die drei Abenteurer zogen sich in die nobeln Zimmer des Obergeschosses zurück. Der Alte räumte auf und ging vor die Tür. Noch waren die Sterne zu sehen, doch vom Norden näherten sich dunkle Wolken, aus denen einzelne Blitze zuckten. Er seufzte, trat in die Halle und griff zu einem Eimer, um den Stuhl zu reinigen. Das gefiel mir.

«Nein! Ihr bekommt mich nicht! Nein! Weg von mir! Weg!» Lugos schrie in Panik. Er torkelte auf den Gang und fuchtelte wild mit seiner Klinge durch die Luft. Brüllend taumelte er Richtung Treppe, von etwas verfolgt, das niemand sehen konnte. Mirinda und Boris stürzten aus ihren Zimmern und sahen, wie Lugos vor unsichtbarem Grauen floh, gegen die Brüstung krachten, über das Geländer fiel und in der Tiefe verschwand. Sein Schädel zerplatzte auf den Fliesen.

«Dieser verdammte Säufer! Und jetzt bildet er sich auch noch Gespenster ein. Hast du eine Bedrohung gesehen, Boris?»

«Nee.»

Mirinda beugte sich über die Brüstung und rief:

«Alter! Beseitige den Schandfleck bis morgen. Und wehe, du nimmst eine seiner Waffen!»

Der ehemalige Söldner nickte und stand nachdenklich in der Halle. Sorgfältig legte er das erstklassige Schwert zur Seite, platzierte die kleine Wurfaxt und den Dolch daneben. Ich sorgte dafür, dass ein Leuchter aufflackerte. Er hielt inne und betrachte die zahlreichen Waffen und Schilde, die an der Wand hingen.

«Eine kleine Sax! So eine habe ich als Jugendlicher besessen. Als ich noch von Ruhm und Ehre träumte.»

«Sie gehört dir», versicherte ich ihm durch das Porträt.

«Danke, vielen Dank.» So gehörte es sich nach einem Geschenk, hatte der Meister mich gelehrt.

«Die Tür zum Laboratorium ist verschlossen und ich finde keinen Schlüssel. Also öffne sie, Boris!»

«Mirinda, du hast gesehen, was geschehen ist, als Lugos das Haus beleidigt hat. Ich halte es für keine gute Idee, die Tür mit Gewalt zu öffnen.»

«Das Haus? Es ist nicht einmal halb so unheimlich, wie man uns beschrieben hat. Draußen stürmt und regnet es und hier drinnen ist kaum etwas zu merken. Schöne, dicke Mauern. Genug Geistermärchen! Boris!»

Die gewaltige Doppelaxt, die der Kraftmensch bevorzugte, zersplitterte das Holz um das Schloss mit wenigen Schlägen.

Sie fanden, was nach der Aufschrift ALCHEMIE zu erwarten war. Phiolen, Gläser, Kräuter, Salze und geheimnisvolle Substanzen standen herum. Doch Mirinda starrte fasziniert auf ein Fläschchen mit der Bezeichnung Universalantidoton.

«Ein Gegengift gegen alle bekannten Substanzen? Was für ein Schatz! Ich liebe es mit Gift zu arbeiten und damit kann ich …»

«Ich verstehe nicht …»

«Schon gut, Boris.»

«Nur bei Lebensgefahr und spärlich anwenden», buchstabierte der Söldner mühsam.

«Oh, ein Lakai, der lesen kann. Egal, hiermit kann ich reich werden.»

Der alte Söldner räumte den Tisch ab und überprüfte die Fensterläden. Sturm, Regen und gelegentlicher Hagel prasselten an meine Mauern. Bevor er sich bescheiden in einem der unteren, kargen Zimmer zur Ruhe begab, schärfte er sorgfältig die Sax und gürtete sie. Er blieb vor dem Bild des Meisters stehen und betrachtete es. Er schwieg, obwohl ihm auffallen musste, dass nun erste Zornesfalten den Ausdruck des Porträts veränderten.

Kurz nach Mitternacht weckte ein Kreischen den Alten. Er trat in die Halle. Mirinda stürmte die Treppe hinunter und schrie:

«Töte sie! Töte die verdammte Schlange!»

Boris eilte mit seiner riesigen Axt zur Hilfe, stutzte aber, als er keine Schlange, nicht einmal eine Gefahr erkannte.

Mirinda griff sich an den Oberschenkel und heulte auf. Sie sackte zu Boden und murmelte:

«Nein, nein, nein … ich will nicht sterben!»

Sie langte in ihre Gürteltasche, holte ein Fläschchen heraus und leerte es mit gierigen Schlucken. Danach griff sie sich an den Hals, röchelte und verstarb unter schrecklichen Schmerzen. Eine spärliche Anwendung war das sicherlich nicht gewesen.

«Du! Begrabe sie - anständig. Sofort!»

«Jetzt? Bei diesem Wetter?»

Mit Boris debattierte man nicht. Er starrte den Alten an und streichelte seine Axt. Ich fühlte die Wut aufsteigen. Boris würde der Nächste sein.

Das Bild des Zauberers hatte sich erneut verändert. Jetzt schien sein Gesicht von einem unheimlichen Licht beleuchtet. Die Pupillen schimmerten in bösem Rot und die gefletschten Zähne waren unmenschlich spitz. Der Alte legte seinen durchnässten Mantel nahe dem Feuer ab und beobachtete Boris. Der saß neben dem Kamin und musterte unbeeindruckt das Bild. Ich musste mir mehr Mühe geben. Da war der griechische Händler gewesen, der von dem grässlichen Minotaurus geträumt hatte. Das sollte reichen.

Doch so stark Boris war, so gering war seine Vorstellungskraft. Er grunzte, stand auf, holt aus und schlug seine Doppelaxt in die Traumgestalt. Die Schneide krachte in einen Schrank. Der Riese zuckte mit den Schultern und setzte sich wieder. Zum ersten Mal seit dem Tod meines Meisters war ich ratlos. Unheimliche Geräusche, flackernde Lichter, eiskalte Winde hatte er mir zugestanden. Als beste Verteidigung hatten sich Alpträume erwiesen. Doch dieser Kerl schien dagegen immun.

«Überlasse ihn mir», flüsterte der Alte.

«Dann darfst du bis zu deinem Ende bleiben.»

«Der Handel gilt!»

«Boris, du verschwindest und gestehst dem Grafen dein Versagen. Für den Fall, dass du nicht begreifst, habe ich schon ein drittes Grab geschaufelt.»

«Wusste gleich, du steckst dahinter. Die anderen wollten oberschlau sein. Deinen Kopf abschlagen, mehr ist nicht nötig und schon kann ich kassieren.»

Ich beobachtete fasziniert den Kampf, zu dem ich nicht fähig war. Der ehemalige Söldner zog die Sax, die im Verhältnis zur Doppelaxt winzig aussah. Doch er war ein erfahrener Krieger. Er wich aus, schob Möbel vor den Angreifer, bewarf ihn mit Gegenständen und reizte ihn immer mehr. Schränke, Tische und Stühle gingen zu Bruch. Die Axt spaltete eine Steinplatte des Bodens und zersplitterte ein in den Kamin gemeißeltes Gesicht. Für mich waren das nur Nadelstiche, die aber wegen der Erinnerungen stärker schmerzten, als ich erwartet hatte.

Das Ende kam plötzlich. Der Alte griff einen kleinen, runden Schild von der Wand. Boris grunzte siegessicher und führte einen Hieb mit aller Kraft. Einem direkten Treffer hätte das Metall nie standgehalten. Doch der Söldner drehte den Schild geschickt so, dass die Klinge daran seitlich abglitt. Der Schwung ließ Boris nach vorne taumeln. Die Sax schoss vor und durchtrennte eine Kniesehne. Dem Verkrüppelten den Rest zu geben, war eine Frage von Sekunden.

Der junge Graf wurde von vier Schwerbewaffneten begleitet. Der Alte stand ruhig vor dem Tor, nur die Sax hing an seinem Gürtel.

«Wo sind die Kämpfer, die ich angeheuert habe, das Haus zu säubern?»

«Tot!»

«Und wer, bei allen Teufeln, bist du, Alter?»

«Ich bin der, den das Haus akzeptiert.»

«Du willst mich um meinen Profit bringen? Willst du hängen?»

«Wollt Ihr den Rest Eures Leben von Alpträumen geplagt werden?»

«Du drohst mir? Meine Männer werden … mit mir abziehen und die Botschaft in der Grafschaft verbreiten.»

Der junge Adelige war ein Feigling. Nur eine winzige Prise meiner Fähigkeiten hatte sogar bei Tageslicht gereicht, ihn einzuschüchtern. Oder hatte ich nach den Erfahrungen mit Boris vielleicht etwas übertrieben?

Diesen Abend hängte der Alte die Bilder von Lugos dem Arroganten, Mirinda der Giftmischerin und Boris dem Brutalen auf. Danach legte er sich zum ersten Mal im Bett meines Meisters zum Schlafen nieder. Nach einem guten Abendmahl und reichlich erstklassigem Wein fiel er sofort in den Schlaf. Schon bald zuckte er unruhig im Schlaf und stöhnte. Ich tauchte in seinen Traum. Ich sah das Gemetzel, als Truppen nach einer langen, verlustreichen Belagerung eine Stadt plünderten. Dankbar saugte ich die grausamen Bilder auf. Er würde nie wieder diesen speziellen Traum erleiden. Das war ein Teil unseres Übereinkommens. Doch für einen jeden, der mir nicht den gebührenden Respekt erweisen würde, hatte ich nun weitere Wahnvorstellungen parat, die ich ihm schicken konnte. Mein Meister war ein freundlicher Mensch gewesen. Doch wer ihn verärgerte, an dem hatte er sich mit seiner Macht grausam gerächt. Ich bin nur ein altes Haus am Ende des Rabenweges, aber auf dieses Erbe bin ich stolz.

Ich will gar nicht gruselig sein

Tag für Tag kann ich beobachten, wie Menschen in meine Brüder hineingehen. Wir sind zwölf Häuser, und schon vor über zwei Jahrhunderten wurden wir erbaut. Während meine Brüder immer wieder verschönert und bewohnt waren, hat sich in mein Mauerwerk schon seit zehn Jahren niemand mehr verirrt.

Ich stand am Ende des Rabenwegs einsam und verlassen. Doch ich werde die Hoffnung nicht aufgeben, dass ich doch noch zu etwas nütze bin.

In mir sind so unglaublich viele Geschichten, die ich gerne erzählen möchte. Es ist aber auch schon ewig her, dass sich Kinder bis zu mir gewagt haben. Ich weiß schon gar nicht mehr, ob ich noch gruselig wirke.

Um mir selbst zu beweisen, dass ich es noch voll draufhabe, lasse ich meine verrotteten Fensterläden klappern. Aber wirklich furchterregend klingt das nicht. Ich öffne die Haustür, um den Wind hereinzulassen. Er pustet den Staub der letzten Jahre hinaus, sodass ich sogar selbst immer wieder laut husten muss. Ich schließe die Tür wieder und starre in die finstere Dunkelheit. Kein Wunder, dass sich niemand zu mir verirrt. Meine Brüder sehen immer noch viel glänzender und schöner aus. Ein Tropfen Wasser läuft über meine Dachziegel, als würde er meine Traurigkeit fühlen. Kann ein Haus eigentlich weinen? Wenn ja, dann tue ich es wohl gerade.

Aber da vernehme ich plötzlich Schritte. Es sind doch Schritte? Oder bin ich jetzt schon so senil, dass ich es mir herbeiwünsche?

Durch die Dunkelheit kann ich nichts sehen und der Strom ist schon vor Jahrzehnten von der Stadt abgestellt worden. Der Wind raschelt durch die Blätter der beiden uralten Kastanienbäume, die jeweils zu einer Seite von mir stehen. Meine beiden besten Freunde. Sonst habe ich ja niemanden mehr. Seufz.

Zu den Schritten kann ich nun auch leise Stimmen vernehmen. Die fast schon flüsternde Stimme eines jungen Mädchens klingt überängstlich. Anfangs freut es mich, dass sie vor mir solche große Angst hat. Doch ich merke schnell, dass sie nicht nur vor mir Angst hat.

„Aber Ryan, wir sind doch endlich abgehauen, um den Schlägen unserer Eltern zu entkommen. Und jetzt sollen wir uns in diesem gruseligen Haus verstecken? Wer weiß, was uns da alles passieren kann. Mir ist so kalt.“

Sie tat mir so unfassbar leid. Das erste Mal wollte ich nicht gruselig sein und ihr einfach nur Schutz bieten. Ryan zieht sie fester in seine Arme und reibt ihr sanft über den Rücken, um sie etwas zu wärmen. „Mach dir keine Sorgen, Jenny. Hier wird uns bestimmt nichts passieren. Du musst auch nie wieder zu deinem grauenvollen Vater zurück und ich lasse es nicht länger zu, dass mich meine gewaltliebende Mutter behandelt, als wäre ich der letzte Dreck. Ihr ist doch eh nur wichtig, dass sie ihren Alkohol bekommt. Wir sind alleine viel besser dran, meine süße Jenny. Ist dir schon etwas wärmer?“

Zaghaft lächelt sie den Jungen an. Mein altes Herz vergisst alles, was ich tun wollte, wenn irgendwann einmal wieder Besucher kommen. Sie treten ein und machen es sich auf den alten verstaubten Möbeln bequem, die ein leichtes Quietschen von sich geben. Ryan sieht sich besorgt um. Dann erhebt er erneut seine Stimme. Doch dieses Mal ist sie lauter und bestimmter. „Hallo Haus! Keine Ahnung, ob du einen Namen hast. Wir möchten dir gar nichts Böses. Es wäre nur schön, wenn du uns für ein paar Tage deinen Schutz geben könntest.“

Als Zeichen meiner Güte will ich gerade vorsichtig mit den Fensterläden klappern … Doch da rollt plötzlich eine große Menge Wasser über meine alten Dachziegel.

Ist das der angekündigte große Regen oder sind das doch meine Tränen für diese beiden jungen Menschen …

Ravencroft

Glaubt ihr Dinge haben eine Seele?
Ich schon.
Ich glaube es nicht nur, ich weiß es!
Woher ich das weiß, fragt ihr euch?
Ich bin das Geisterhaus am Ende des Rabenswegs. Einst ein prächtiges Anwesen voller Leben und Freude. Von allen geschätzt und bewundert. Bis die Menschen mich mit ihren Gräueltaten besudelt und zur ewigen Verdammnis verurteilt haben.
Befleckt mit Blut und vernachlässigt, triste ich mein Dasein jetzt schon seit über 200 Jahren.
Die Menschen haben mir das angetan und ich will nichts mehr von ihnen wissen!
Sie sind der eigentliche Schrecken in dieser Welt.
Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um weitere Misshandlungen von ihnen zu verhindern.
Mal schauen, was die Nächsten, die sich da nähern, vorhaben.
Argwöhnisch betrachte ich sie, aber verhalte mich noch ruhig. Es ist eine Gruppe Jugendlicher, die wahrscheinlich mal wieder eine Mutprobe machen wollen.
Am Eingang angekommen verriegle ich die Haustür mit einem großen Knall.
Und schicke Raven - der Rabe des Anwesens - auf sie los und schon rennen sie schreiend weg.
Das war leicht!
Etwas Abseits, an der alten knochigen Eiche steht ein Mädchen, dass ich ganz übersehen habe. Sie steht einfach nur da und betrachtet mich ruhig.
Ich habe das Gefühl, sie erkennt meine wahre Seele und nicht nur das, was aus mir gemacht worden ist.
Bedächtig kommt sie zu mir und legt eine Hand auf meine Tür und sagt: „Es tut mir leid“
Und so bin ich mit einem letzten tiefen Seufzer endlich von meinem Schicksal erlöst.

Das Vermächtnis

Das Vermächtnis

Ich bin alt. Sehr alt und obwohl niemand mehr in meinen alten Mauern lebt, regt sich hier Einiges. Kleine Mäuse nisten im Keller, Spatzen haben Nester auf die verkohlten Balken gebaut, der alte Walnussbaum hängt sein Blätterwerk von oben in mich. Dort rascheln und zirpen Vögel im Frühjahr und im Sommer. Jetzt, im Herbst, laufen Eichhörnchen an den Ästen entlang und sammeln die Nüsse ein, die bei Stürmen, wenn meine Fensterläden hin und her schlagen, mit leisem Krachen auf den Dachboden fallen.

Es fehlt nicht viel. Ich falle bald in mich zusammen. Ich spüre es, ich höre es, wenn sich Spaziergänger den Rabenweg entlang verirren und über mich sprechen. Neues wird geplant an der Stelle, an der ich stehe, aber ich kann noch nicht aufgeben. Es gibt noch ein Geheimnis, dass noch entdeckt werden muss, ehe ich zerfalle und niemand mehr an das Verbrechen denkt. Solange stehe ich wie ein Mahnmal in diesem wunderschönen Park am Ende der Straße.

Es ist Nacht. Meine Terrassentür knarzt laut auf. Ich höre Stimmen. Eine Gruppe junger Menschen tritt ein. Das ist vielleicht meine letzte Chance, ihre letzte Chance. Unsere Schicksale sind miteinander verbunden. Untrennbar. Mich hat dieses schreckliche Unheil fast zerstört, hat mich den Dachstuhl gekostet und mich unbewohnbar gemacht. Sie hat den höchsten Preis gezahlt.

Sie ist schon da. Mieke. Hoffentlich verscheucht sie die Besucher nicht. So unscheinbar sie früher war, so übermütig ist sie jetzt. Sie spricht nicht, doch ich weiß, sie sehnt sich nach Erlösung. Ich will ihr helfen.

Jetzt steigen sie die Treppen hinauf. Mieke begleitet sie. Sie sprechen miteinander. Eine junge Frau scheint sie zu bemerken. „Ich spüre hier etwas“. „Du spinnst, Anna. Was du nur immer hast. Es war eine Schnapsidee hierherzukommen“, sagt ein blonder Mann. Ich muss etwas tun, Mieke soll endlich Ruhe finden. Ich löse einen Leuchter am Treppenaufgang. Er stürzt direkt vor dem blonden Mann auf den Boden. „Boah, voll gefährlich, die alte Bruchbude“, ruft er erschrocken, aber ich weiß, dass Mieke schmunzelt. „Warte, Tom, wo willst du denn hin?, fragt der Blonde. „Ich wäre hier fast krepiert.“ „Laut dem Plan, den ich in der Unibibliothek gefunden habe, soll ihr Zimmer hinten auf der rechten Seite gewesen sein“, sagt Anne. Kann es sein, dass sie von Mieke sprechen? Ich spüre Hoffnung. Mieke.

Vorsicht Anna! Meine Dielen sind sehr brüchig, dort, wo du stehst. Ich muss sie zum weitergehen bewegen. Der Wind schlägt wieder gegen meine Fensterläden. Ich halte ein Fenster ganz in Annas Nähe offen, der Regen weht Anna ins Gesicht, sie geht weiter. Gott sei dank. Sie könnte unsere Erlösung sein. Scheinbar ist sie dem Rätsel auf der Spur. „Was willst du hier eigentlich finden? Alle Spuren, wenn es überhaupt welche gab, sind verbrannt nach fast 100 Jahren.“ „Es sind genau 100 Jahre, Tom. 1923 ist das Herrenhaus in Brand geraten. Es ist nie geklärt worden, ob es Brandstiftung war. Angeblich ist niemand verletzt worden, aber da gab es ein junges Dienstmädchen, sie soll erst 16 Jahre alt gewesen sein. Sie ist danach nicht mehr gesehen worden.“ Der blonde Mann steht direkt neben Anna. „Was für eine fixe Idee, Anna, echt. Dieser alte Kasten fällt jeden Moment auseinander.“ Ich lasse eine Diele brechen, auf der der Blonde steht. „Scheiße, Anna. Ich bin raus. Das ist ja lebensgefährlich hier.“ Er stürmt nach unten und verlässt uns vorsichtig über die Terrasse.
Mieke ist nah bei Anna. Sie hofft. Sie sehnt sich sehr nach Erlösung. Tom geht behutsam mit Anna weiter auf Miekes Zimmer zu. „Wirklich Anna, was soll das bringen? Was hoffst du hier zu finden?“ Anna scheint zu überlegen. „Ich weiß es nicht genau, Tom. Es ist wohl wirklich unrealistisch hier Beweise zu finden, dass das Dienstmädchen bei dem Brand zu Tode kam, aber vielleicht finden wir ja doch noch irgendwas. Vielleicht ist dem Verdacht bislang noch niemand nachgegangen? „Glaubst du das wirklich? Ich halte das für ausgeschlossen.“ Anna betritt vorsichtig den Raum, in dem Mieke verbrannt ist. Mieke schwebt neben ihr. „Ich spüre etwas“, ruft Anna. Ich glaube, dass hier etwas Schreckliches geschehen ist. „Alles ist verkohlt und verfallen, es gibt keine Spuren hier, Anna. Bitte sei vernünftig. Es ist dunkel. Mit der Taschenlampe sieht man gerade so das Nötigste und jetzt zieht auch noch ein Unwetter auf. Es regnet hier überall herein. Lass uns gehen. Hier ist nichts mehr zu finden.“ „Aber Tom, ich bin mir sicher. Sie war hier, in dieser kleinen Kammer. Ich kann ihre Gegenwart spüren. Als stünde sie direkt neben mir“. Mieke schwebt neben Anna. Sie ist aufgeregt. Die Spannung ist zu greifen nah. Kommt nun wirklich alles ans Licht? „Okay, Anna. Dann spürst du halt irgendwas. Lass es gut sein. Hier bricht jeden Moment alles ein. Lass uns gehen. Was brauchst du noch?“ Anna dreht sich vorsichtig um:“ Ein Zeichen“, flüstert sie. Wenn ich ein Zeichen bekommen würde, wüsste ich, dass ich mich nicht geirrt habe. Wo ist Erik eigentlich?“

Ein Zeichen. Anna braucht ein Zeichen. Jetzt beginnt es zu gewittern. Lange werden Sie nicht mehr bleiben. Mir muss schnell etwas einfallen. Vom Park aus höre ich durch den strömenden Regen den blonden Erik rufen. Anna berührt meinen Balken in Miekes Kammer. „Liebes Haus.“ Sie spricht mit mir. Ich kann es nicht glauben. „Du hast viel gesehen, viel erlebt. Du kennst die Antwort. Ist bei dem schrecklichen Feuer hier das Dienstmädchen ums Leben gekommen? Bitte gib mir ein Zeichen“. Ich nehme Ihre Frage wahr und löse mich von einem Teil der Außenmauer meines Ostturms. Er fällt krachend zur Erde. Der Rest von mir erbebt. Anna und Tom halten den Atem an. Im Schein der zuckenden Blitze sehen sie sich an und halten sich an den Händen. Im regennassen Park schreit Erik. Anna wirkt erleuchtet. „Es stimmt. Ich habe es gewusst. Das war kein Zufall. Das war das Zeichen, dass mir noch gefehlt hat.“ Sie lächelt. Mieke ist voller Freude. „Nun gut“, sagt Tom kopfschüttelnd. „Jetzt aber raus hier und pass auf, wo du hintrittst.“ Anna geht langsam mit Tom die Treppe herunter. Ich halte die morschen Treppen so fest wie möglich, damit sie nicht stürzen. Mieke schwebt neben Anna, sie will ihr noch etwas mitteilen.

Draußen im strömenden Regen steht Erik und schreit gegen den stärker werdenden Sturm und das Gewitter, dass näher kommt an. Als Anna und Tom auf der Terrasse stehen, bleibt Mieke zurück. Sie kann mich nicht verlassen. Ihr Geheimnis ist gelüftet. Warum ist sie noch da? Der Blonde ruft laut und zeigt mit seiner Taschenlampe auf den Westflügel. „Da drüben ist ein Brandherd und hier genau unter diesem Fenster auch.“ „Da oben ist das Zimmer des Dienstmädchens gewesen. Wenn hier Feuer gelegt wurde, hatte sie durch den aufsteigenden Rauch keine Chance“. „Ja, das war eindeutig Brandstiftung. Aber das ist noch nicht alles“, ruft der blonde Erik laut. „Ich habe im Park einen Baum gefunden in dem ein Herz eingeschnitzt war. Da steht: Mieke+Max.“ „Mieke und Max. Die Namen standen im Dienstbotenverzeichnis! Mieke, das war sie. Das war ihr Name!“, ruft Anna. Ein Blitz zuckt direkt über mir. Mieke strahlt. Anna sieht sich um und erkennt in meiner Terrassentür die schwebende Mieke. Es ist nur ein kurzer Augenblick. Mieke und Anna sehen sich an und lächeln. Dann verschwindet Mieke vor Annas Augen. Sie ist befreit. Wir sind befreit. Ich spüre, dass ich die Steine und Balken nicht mehr halten kann. Ich stöhne laut auf. Tom und Erik kommen in Bewegung. Tom nimmt Anna, die immer noch wie paralysiert auf der Terrasse steht, an der Hand. Sie rennen zurück in Richtung Rabenweg. Als der Blitz erlösend auf mich einkracht, falle ich mit lautem Getöse in mich zusammen. Endlich.