Seitenwind Woche 1: Gäste im Geisterhaus

Wir haben uns auf eine Reise durch Häuser begeben, die mehr sind als nur vier Wände und ein Dach. Diese Häuser leben. Sie fühlen. Sie erinnern sich. Und vor allem haben sie uns viel zu erzählen.

Einreichungen können sich nicht mehr materialisieren, aber die Geister verweilen noch. Ihr habt noch eine ganze Woche Zeit, eure liebsten Beiträge mit Buch-Likes auszuzeichnen.

Den Text mit den meisten :open_book:-Likes feiern wir mit einer Vollversion von Papyrus Autor, eine weitere verlosen wir unter allen, die teilgenommen haben.

Am Freitag, den 27. Oktober, erfahrt ihr, wer gewonnen hat. :star2:

Ein kalter dunkler Schauer lastet auf meinem Dach. Ein Knarzen durchzieht den Boden. Unheilvoll und zum schaudern heule ich auf, wenn ihr mich betritt. Wagt ihr den Schritt?

Ich verzehre mich nach euren Seelen, nach eurem Duft. »Seid Willkommen«, wispere mit einem hämischen und furchterregenden Klang.

Vor 200 Hundert Jahren wurde ich erbaut und viele Seelen wurden bereits geopfert zwischen meinen Wänden. Ein fieses Lachen ertönt, schlaft wohl wisperte ich meinen Gästen zu.

In eurer Welt wird gesagt: »Bleibt neugierig! Doch ist es wirklich gut, immer neugierig zu sein?«, mein schauderhaftes Lachen durchströmt die Räume, die bereits morsch sind. Die Fensterläden hängen und niemand traut sich hier zu putzen, doch ihr seid hier.

Warum? , frage ich mich still. Zu beginn gebe ich euch Hoffnung, aber ihr werdet niemals finden, was ich verberge im tiefen Inneren. »Gibt acht und schaut niemals in meine Spiegel«, flüstere ich fies lachend.

Unzählige Seelen haben es versucht und sind qualvoll gescheitert. Seid ihr also töricht genug es zu versuchen?

Das düstere Geheimnis von Montmartre

Das Glitzern der Stadt zu meinen Pforten verhöhnt meine Jahrhunderte alte Fassade, die von üppigem Efeu überwuchert ist. Ich schäme mich. Das Gift der Kletterpflanze habe ich verdient.
Einst thronte ich poliert auf einem Berg, den man heute verheißungsvoll Montmartre nennt.
Schon in meinen besten Jahren war dieser Ort verrufen. Leichte Mädchen, besonders jene mit roter Mähne, tanzten Cancan vor leuchtenden Männeraugen. Es wurde gelacht, getrunken und so manch anderes Dunkles in meinen Wänden getrieben. Doch heute, als beinahe vergessene Legende fühle ich mich ausgestoßen, versetzt. Völlig zurecht… Denn ich bin Zeuge eines Verbrechens geworden, welches bisher niemals ans Licht gekommen ist.

Auf der Veranda knarzt eine Diele. Typisch. Meine Eingeweide sind auch nicht mehr das, was sie einst waren. Ich habe Gäste?
Dank meines Rufes hatte ich schon Jahrzehnte keine Menschen mehr auf meiner Schwelle. Vielleicht ist dies die Gelegenheit, Buße zu tun…für das, was an einem Freitag, den 13. im Jahre 1913 geschehen ist…
Ich habe ein dunkles Geheimnis, das mich innerlich zerfrisst und den Putz von meinen Wänden abbröckeln lässt.

Drei Männer betreten mein Heiligtum. Ich versuche, ihnen stumm den Weg zu zeigen, indem ich meine Fensterläden am verwunschenen Dachboden, wie vom Wind gepackt, klappern lasse.
Schaffen sie es?
Die schöne junge Frau mit den roten wallenden Haaren - nein, ich will sie nicht hergeben. Doch andererseits will ich das letzte Quäntchen Ehre meines Hauses retten. Dies ist die Gelegenheit.

Risse bilden sich in der Fassade, während ich trauernd über den Verlust der jungen Seele grüble. Sie war so schön und so rein. Sie hatte es nicht verdient, in meinen Gemäuern auf der Flucht vor Mannesgier für immer zu verwelken. Genau dies geschah, an jenem Freitag, den 13. in der Rabenstraße … genauso erging es auch allen Zierpflanzen auf meinem Garten-Dekolleté. Sie starben. Alle.

Es ist Zeit, die Carte Blanche zu ziehen. Ich schäme mich, wie lange das unschuldige Mädchen schon unbemerkt in meinen Innereien leblos versteckt ist. So verwüstet und doch so friedlich…

Gescholten!

„Menschen!“, jubelte ich.

Vor 200 Jahren konnte ich diese Begeisterung nicht für Sterbliche aufbringen. Früher, als die Nächte und Schatten noch viel länger waren – jedenfalls kam es mir so vor – war dieses Anwesen alles, wovon ich jemals geträumt hatte. Mehr noch als der Beischlaf und das muss etwas heißen.

Die Dame, die mir einst versprochen war, eine liebliche Blume namens Eliza, hatte die Dunkelheit in ihrem Herzen verborgen. Oh, hätte ich nur geahnt, dass dieses Miststück eine Hexe war …

In jenen fernen Tagen, als meine Habsucht noch die Oberhand gewann, hätte ich es niemals für möglich gehalten, dass mich die Liebe, die ich für meine Eliza opferte, in ein verdammtes Haus verwandeln würde. Jede Stunde, jeder Atemzug, den ich dem Reichtum gewidmet hatte, war ein weiterer Nagel in meinen eigenen Sarg.

Doch nun, nach zwei Jahrhunderten, war die Zeit eine weise Lehrerin. Sie hatte mir die Augen geöffnet, auf dass ich die Tiefe meiner Torheit erkennen konnte. Eliza, die Hexe, war längst der Zeit zum Opfer gefallen, aber ihr Fluch, ein Gefängnis aus Steinen und Mörteln, hatte sich auf mich gelegt und ließ mich keinen Frieden finden.

Während der langen Jahrzehnte, die zwischen den Zeiten verstrichen waren, fand ich ein düsteres Vergnügen darin, die Lebenden zu erschrecken und ihre Ängste zu schüren. Doch in der Kälte der Nächte sehnte ich mich nach Gesellschaft.

Und siehe da, abermals geschah es. Eine Schar von jungen Seelen hatte sich im Dickicht verloren, eine Begebenheit, die zuweilen eintrat. Insbesondere wenn die Bewohner des Rabenweges Kürbisse vor ihren Heimen aufstellten.

„Justus“, schrie eine der Damen. „Jetzt pack mal dein verkacktes Handy weg!“

Es war Zeit für die Vorbereitungen. Der Kamin, dessen Flammen seit Äonen erloschen waren, erwachte zum Leben, und die Schwärze des Hauses wurde von zarten Kerzen erhellt.

„Ben“, quietschte die andere der beiden Damen. „Hast du das hier alles vorbereitet?“

„Ähm“, antwortete Ben eloquent. „Sicher.“

Später am Abend fand sich die Gruppe der jungen Seelen im Salon wieder. Doch einer von ihnen, Justus, zog sich still und heimlich in sein Zimmer zurück, wo er ein neuartiges Gerät in Beschlag nahm. Ein wundersames Glas, das in den finsteren Stunden leuchtete und dessen Oberfläche von vielen kleinen Tasten bedeckt war. Dies Gerät konnte er auf seinen Schoß legen und in dessen Geheimnisse eintauchen.

„Nur noch diese eine Nachricht“, sprach er zu sich selbst und dies nicht nur einmal.

Als ich Justus sah, erkannte ich mich in ihm wieder. Es überkam mich der Drang, ihm zu helfen, ihm den Weg zu zeigen. Ich ließ seine Zimmertüre aufschwingen.

„Sehr witzig!“, sagte er und stand auf.

An der Türe angekommen, wollte er sie wieder schließen, doch ich ließ es nicht zu. Die Kerzen im Gang flammten eine nach der anderen auf.

„Witzig!“

Justus, das neugierige Herz, folgte den Kerzen, bis er zur Kellertüre gelangte. Seine neumodische Maschine hielt er natürlich fest in Händen.

„Da soll ich jetzt runter gehen, was?“

Was er nicht wusste, seine Freunde saßen im Salon und ich war es, der ihm die Türe öffnete.
„Ich grusel mich schon richtig!“

Schritt für Schritt bahnte er sich seinen Weg in den feuchten Keller. Bis tief in sein innerstes, wo der letzte verbleibende Spiegel in diesem Haus hing. Der einzige Spiegel, den dieses Miststück nicht zertrümmert hatte.

„Gegrüßt seist du“, sagte ich und meine Stimme hallte von allen Wänden wieder.

„Ihr seid witzig“, spottete er. „Wuhu ein Gei …“

Als ich mich jedoch im Spiegel materialisierte, hielt er endlich den Atem an.

„Ein Geist? So könnte man es sagen“, antwortete ich, „du sprichst mit einer verfluchten Seele, dem einstigen Besitzer dieses Anwesens.“

Ich streckte meine Hand aus und bot ihm meine Hilfe an. „Junge Seele“, sprach ich zu ihm, „wenn du den Mut aufbringst, den Spiegel zu küssen, sollst du einen weisen Rat für dein Leben erhalten.“ Seine Augen schimmerten von Verwirrung und einem Funken Neugierde.

Zögernd, Schritt für Schritt trat Justus näher an den Spiegel heran, seine Lippen zitterten, als er sie auf die kühle Oberfläche senkte. Ein flüchtiger Kuss, der eine Verbindung zwischen unserer Welt und der seinen schuf.

In diesem Augenblick verließ ich den Spiegel, mein erstauntes Wesen aus der jenseitigen Dunkelheit. Als meine Präsenz sich in seiner Welt manifestierte, schlug ich mit leichter Entschlossenheit sein neues Gerät aus seiner Hand. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung und Entsetzen.

Mit einer ernsten Miene sprach ich zu ihm, die Worte geflüstert von den Schatten der Vergangenheit: „Vergiss diese Maschine, junger Mann. Konzentriere dich auf die lebendigen Seelen um dich herum. Das Leben ist mehr als bloße Bilder auf einem glänzenden Glas, es ist die Wärme der Freundschaft und die Weisheit, die in den Herzen der Menschen wohnt.“

„Fuck you!“, schrie er aus voller Kehle.

Wohl ein neuartiger Dankesgruß.

„Nichts zu danken!“, erwiderte ich.

Er zückte eine andere Apparatur und richtete sie auf mich. Dasselbe leuchtende Glas. Wollte er, dass ich ihn auch von seinen restlichen Fesseln befreite?

Das Geisterhaus

„Seid ihr sicher, dass das hier ist?“ murrte Lina und zeigte in die Richtung, in der das Anwesen „Das Rabennest“ sich befand.

„Ganz sicher“ bejahte Jannis, der vor ihr lief und sich dabei eine lockige Strähne aus dem Gesicht wischte.

„Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee war…“ warf Carla ein, die nur mitgekommen war, weil sie Jannis beeindrucken wollte.

„Hast du etwa Angst?“ zog Holger sie auf.

„Natürlich nicht“ gab Carla patzig zurück.

Das Rabennest wurde in einem Flyer als ungewöhnliche Übernachtung angepriesen und Jannis, der sich sehr für alte Gebäude und deren Geschichte interessierte, hatte sofort mehrere Zimmer reserviert.

„Dort, wo sich die dunklen, unheilversprechenden Vögel treffen, sobald die Sonne untergegangen und die Uhr zur späten Stunde schlägt. Am Ende des Weges findest du die Lösung“ las Holger vor.

„Was soll das bedeuten?“ fragte Lina mit genervtem Unterton.

Jannis blieb stehen und sah der blutroten untergehenden Sonne entgegen.

„Das Rabennest am Ende des Rabenwegs“ sagte er schließlich.

„Woher weißt du das denn so schnell?“ fragte Carla und beäugte ihn einer hochgezogenen Augenbraue.

Jannis zeigte auf ein verwittertes Holzschild im Gras, auf dem die Worte standen.

„Genial oder, wie die das aufgezogen haben?“ fragte er, doch die anderen schienen weniger begeistert.

„Das sieht aus wie ein altes Spukhaus aus dem Märchen“ sagte Lina, als sie schließlich dem Weg gefolgt waren.

„Hier sollen wir übernachten?“ fragte Carla ungläubig.

Vor Ihnen lag ein riesiges Anwesen, der Kies knirschte unter ihren Füßen.

Vor dem Eingang thronten zwei Steinraben, der Weg war schwach beleuchtet mit flackernden Kerzen.

Es gab keine Türklingel, nur ein Knauf aus schwerem Eisen, als Rabe geformt.

Jannis klopfte zweimal.

„Ist überhaupt jemand da?“ fragte Lina.

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, öffnete sich knarzend die schwere Tür und eine gebückte, ältere Frau weiß glänzendem Haar öffnete ihnen.

„Geht, solange ihr noch könnt, der Geist dieses Hauses will nicht, dass ihr hier seid!“ zischte sie.

„Ähm, ich habe reserviert…“ begann Jannis, doch dann erschien hinter ihr ein Mann.

„Mutter, du vergraulst unsere Gäste, geh doch schon mal rein“ sagte er zu ihr und schob sie unsanft ins Haus zurück.

„Das werdet ihr bereuen! Heute Nacht, wird der Geist sich einen von euch holen!“ rief sie und dann verschwand sie aus dem Sichtfeld der Vier.

„Entschuldigt, meine Mutter ist, gelinde gesagt etwas verwirrt. Das tut mir sehr leid, treten Sie bitte ein“ sagte der Mann entschuldigend und trat einen Schritt zurück, um sie einzulassen.

„Vielleicht hat die Alte recht und wir sollten schnell hier verschwinden?“ flüsterte Lina und auch Carla war das alles nicht geheuer.

Die Tür schloss sich hinter Ihnen und über Ihnen hing ein riesiger Kronleuchter von der Decke, an den Wänden starrten ihnen ausgestopfte Raben mit bernsteinfarbenen Augen entgegen.

„Ich zeige Ihnen Ihre Zimmer“ sagte der Mann und führte sie eine riesige Steintreppe nach oben zu den Schlafgemächern.

„Wow, können Sie mir etwas über dieses Haus hier erzählen? Es gibt ja so viele Gerüchte und Geschichten“ sagte Jannis staunend, der der einzige schien, dem es gefiel.

„Aber natürlich, es nennt sich das Rabennest und es ist ein jahrhundertealtes Anwesen, das einst einer reichen Familie gehörte. Stephen King soll hier sogar einmal zu Besuch gewesen sein“ erklärte der Mann.

„Hier wären wir, bitte ruhen Sie sich doch etwas aus, das Essen wird bald unten im großen Speisesaal serviert. Ich hole Sie dann selbstverständlich ab“ erklärte er, dann ging er davon.

„Wie geht die Geschichte weiter, Opa?“ fragte der kleine Junge.

„Hat es dort wirklich gespukt?“

„Das mein Kleiner, erzähle ich dir ein anderes Mal. Wenn deine Mama wüsste, dass ich dir vor dem Schlafen Gruselgeschichten erzähle“ flüsterte er und gab dem Jungen einen Kuss.

Die Tür des Kinderzimmer öffnete sich quietschend.

„Der Kleine ist ja immer noch wach.“

„Entschuldige, Liebling, er wollte noch eine Geschichte hören“

„Jetzt wird aber geschlafen“ sagte sie mahnend und küsste ihren Sohn auf die Stirn.

„Ja, Mama“ sagte der Kleine und kuschelte sich an sein Kuscheltier, ein Rabe.

Dann verließen die beiden das altertümliche Kinderzimmer.

„Ich liebe dich, Lina…“ sagte der Mann.

„Ich dich auch, Jannis, mein Geliebter…“

Das Märchen von Lost Place Nr.13

Ich war einmal ein Gutshaus, es hieß Lost Place Nr.13, davor Haus Van de Boschen, sagt man, doch jetzt bin eine Wiese, ein Kornfeld und ein Wald mit allem was darin lebt. Aber das ist völlig egal, denn ich bin!

Mal verbrennt mich die Sonne, mal erschlägt der Hagel meine wunderschöne Bleiverglasung der Westseite. Ausgerechnet der hohe Giebel steht dem Winde zugewandt. Nunja, als ich erbaut wurde, steinigte man öffentlich längst keine Architekten mehr, noch stieß sie jemand über Brüstungen oder Klippen. Meiner hätte es gewiss verdient gehabt. Seit zweihundert Jahren pfeift mir der starke Westwind ins Gesicht und seit knapp achtzig Jahren klappern die bunten Reste meiner Fensterläden gegen Rotsteinziegel. Manchmal trägt der Sturm morsches Geäst des Rabenweges mit sich. Eine schmale einsame Pappelallee, dessen Pflaster unter mannshohem Unkraut nur zu erahnen ist. In den blattlosen Kronen hocken und krächzen die schwarzen Namensgeber des Weges. Sie flattern nervös umher, zauseln zänkisch ihr Gefieder und reiben sich um Gewürm und Schmuck. Sie sind meinen damaligen Bewohnern ähnlich, so gierig, unersättlich und treulos. Die Erben der alten Gutsherren. Die Alten haben mich noch gepflegt, als sie es noch konnten, ihnen war ich Gut und Leben. Doch ihre Kindesbrut lockte das schnelle Geld und das Leben im Überfluss, das alles auf einmal, und zwar jetzt sofort. Der Schlag Erben, der am Grase zieht, damit es schneller wachse, aber davon das Wurzeln auch Phosphor brauchen keine Ahnung hat. Und so fing das Elend der Einsamkeit an.

Eine Eisenschranke baumelte im Wind vor dem Rabenweg, mit dem Schild aus rundem roten Kreis, so weiß gefüllt mit Zutritt verboten in rabenschwarzer Schrift! Ein pendelnder Blechdonut, der jede Menschenseele von einem Besuch abhielt. Daneben hielt wackere zwanzig Jahre das Zu-Verkaufen-Holzschild, der Witterung stand. Der Raben Schluderei erzählte von Neidern, denn neuerdings stand ich in einem Netz, das unsichtbar übertragen, aber dennoch Milliarden nackter Zweibeiner verbinden soll. Eine Liste mit leerstehenden Gebäuden ähnlicher Geschichte. Eine Liste von Gebäuden, die bei Strafe nicht zu betreten waren. Manche denkmalgeschützt und doch zerfallen, manche gefährlich und ungesund, baufällig und marode. Als die Bomben um vierundvierzig mein östliches Dach versprengten und durch drei Etagen Eichenbohlen, bis in den Keller fielen, dachte ich: Adieu mon amie, tschau Westwind, du scharfes Luder. Macht es gut, treues Getier und grüne Ranken.
Doch ich blieb verschont. Keine Explosion! Nur fortan durchzog und englisches Innenklima meine Räumlichkeiten. Ich liebte die Zeit, denn Farne und Mose wuchsen auf dem Sofa unter den Tischen. Die tollen Teppiche beherbergten Hundertschaften wirbelloser Tiere. Frische Pilze rot mit weißen Sprenkeln, zusammen mit dem orange des Sonnenuntergangs, ließen es fast so märchenhaft erscheinen wie einst in den Märchenbüchern, die der Junge Herr vorgelesen bekam. Bald zogen Mäuse ein, allerlei Vögel, Die Schwalben machten jeden Sommer und der Igel buchte Saisonweise das wollige Innenleben des großen Kleiderschranks, hinten im ehemaligen Ankleidezimmer. Er hatte jede Mühe, die zauseligen Kaschmirschals im Frühjahr aus dem Stachelkleid zu reiben. Einmal lief er den halben Frühling mit einem Seidentuch herum und sah aus wie die südafrikanische Nationalflagge, so bunt. Selbst die Eichhörnchen besuchten mich täglich. Flitzlebendig eiferten sie den Schwalben in Geschwindigkeit nach. Manche bauten ihre Wohnungen im ehemaligen Speisezimmer in den offenen Schubladen, der belgischen Standuhr oder der wunderschönen schellackbezogenen Kommode, die einst einen ganzen Monatslohn der Gutsherren gekostet hatte. Welch Glück, dass sie wieder benutzt wurde. Abends hallten Geschichten von den Ziegelwänden, deren Kalkputz längst als feuchter Streusel auf den Dielen lag. Eines Abends, als eine Bohle von der Decke stürzte und die Tür der Igelwohnung zerstörte, fluchte der Igelvater laut: «Der Teufel ist ein Eichhörnchen!»
«Wie kommt es nur», sagte darauf das Eichhörnchen traurig,«dass alle denken ich sei der Teufel.»
«Vielleicht weil es niemanden gibt, der ihnen sagt, dass du es nicht bist», sagte der Hase.
«Aber wenn es nur einer sagt, was nützt es mir?»
«Weil es der eine zu hunderten sagt und hunderte es zu tausenden sagen und bald weiß es die ganze Welt.»
«Das ist toll», sagte das Eichhörnchen glücklich, «dann sag ihnen bitte, dass ich Gott bin.»
So ging eine Geschichte um die andere durch Wand und Decken hinaus ins freie Land.
Es war so herrlich zu sehen wie alles genutzt und umgeformt wurde. Wie mein Leben zu anderem Leben wurde. Mein Reisig und Draht im Deckenputz wurde Nest, mein Holz diente Termiten. Der Menschen Mobiliar, das sie einst so geflissentlich poliert hatten, wurde zu Mehrfamilienhäusern. Mit den Jahren lernte ich die vielen Sprachen der Tiere. Die der Menschen kannte ich ja längst.
Eines Tages fielen die Schilder und die angerostete Schranke erhob sich quietschend. Ein großer mächtiger Dodge Ram mähte das meterhohe Unkraut der Zufahrt und preschte auf den Hofplatz. Der Motor blubberte bullig im rückwärtigen Gang, als der Fahrer unsanft seitlich des Giebels einparkte und dabei die Wasserträger der Amseln zu Staub fuhr. Es knirschte und ploppte, kleine Steine flogen wie Granatsplitter in meine letzte einfachverglaste Scheibe des Windfanges. Buntes, einst handgemachtes Glas klirrte hell.
«Welch ein Empfang! Hört ihr das? Das Haus begrüßt uns»,sagte die Blonde fröhlich und zopfte beidhändig ihr Haar neu.
«Wouhhh, ich bin ja so so gespannt. Ein echter Lost Place! Und wir sind mitten drin!», jauchzte die Braunhaarige.
Der Motor erstarb widerwillig. Der junge blassbeinige Mann stieg aus und schrie sogleich.
«Auh! Verdamme scheiß Brennnesseln hier.»
«Schätze der Gärtner hat frei», sagte die Blonde, grinste vor sich her, doch darüber konnte ich nur milde mit den Dachbalken knarren.
«Das ist der alte Gutshof der Familie Van den Bosche, er war Holländer und sie ’ne roothaarige deutsche Hexe aus dem Harz», sagte die Braunhaarige.
«Das machst du ständig Kamilla! ich kann es nicht mehr hören! Diese blöden Verurteilungen, weißt du eigentlich wie…»
«So what? Was geht ab Jenny, stirb einfach, wenn du so spießig bist! Wieviele Hexen verbrannt wurden? Wen interessiert so’n Scheiß? Geh nicht mit uns auf Schatzsuche wenn du die Welt retten willst», sagte der Fahrer.
Jenny verzog sich maulig und öffnete meinen Windfang. Die Tür knorschte brüchig, der feuchte Boden schmatze unter ihren Sohlen. Ihr Blick fiel auf ein Blattgold gerahmtes Gemälde. Zerfledderter Leinen im Keilrahmen mit der Signatur, …brandt. Es war halbverfault. Sie nahm es von der Wand und hinten stand Rembrandt van Rijn. 1657. Wie unter Strom ließ sie es fallen. Ihre Wahrnehmung musste ihr einen Streich spielen. Ja Mädchen, manchmal ist die Wahrheit genau das was man sieht und nicht das, was man sehen möchte. Als die Deppen mich verließen ließen sie auch alles stehen und liegen, von dem sie keine Ahnung hatten. Zum Beispiel Kunst, meine Liebe. Sie schnappten sich die Autos, das Geld, zwei Goldbarren, die Münzsammlung und die teuren Uhren vom guten Vater Joseph. Eine ansehnliche Sammlung des alten Herrn. Einen Arm voll mit Pelzen sah ich die junge Frau Erbin mit glücklichem Grinsen noch verschleppen. Dann brausten sie davon wie Boney und Clyde und kamen nie mehr zurück. Nicht mal die Pfeifensammlung, mit wirklich tollen Stücken aus echtem Bruyére-Holz hat den Jungerben tangiert. Sei’s drum, dachte ich damals, denn heute sind sie ungemein nützlich. In der tollen Wohnanlage Pfeife eins bis neun leben eine hochzufriedene Schar von Ohrenkneifern, die mit herzzerreißender Fürsorglichkeit ihre Brut aufziehen.
«Piss dich nicht an, Jenny, war nicht so gemeint.»
«Von dir erwarte ich nichts anderes, Tom. Sie hätten dich lieber gleich Arsch taufen sollen.»
«Und fahren kann er auch nicht», sagte Kamilla. Sie betraten die große Halle, von der alle Treppen links und rechts großzügig in die oberen Geschosse führten. Eine steife Brise fegte in die Zimmer.
«Scheißherbst!», fluchte Tom durch meine Mauern und zog seinen Kragen hoch. Ein Eichhörnchen sprang über die Sofalehne an die Wand über die Standuhr auf Toms Schopf. Es wuselte in seinen Haaren und war verschwunden, ehe er seinen Schreckensschrei und die Hände zum Kopf führen konnte. Kamilla betrat einen Nebenraum und rief:«Das müsst ihr sehen!»
Tom und Jenny tapsten heran. «Gott im Himmel! Verdammte Scheiße!», rief Tom.
«Was ist das? Bitte nicht was ich denke? Oder!?», schrie Jenny fast hysterisch.
Ein paar Fledermäuse schreckten auf, in ihrer Tagesruhe gestört, flatterten sie im Schwarm dicht über die Köpfe der Schreihälse hinweg und schossen durch das metergroße fransige Loch im Dach, ab in den tiefblauen Nachmittagshimmel. Das wird meinen Fledermäusen nicht gefallen, dachte ich betroffen und löste einen Ziegel vom Dach. Er schlug neben Kamilla ein und explodierte in hundert rote Sprenkel. Sie hüpfte beiseite. «Himmel! Hier stimmt doch was nicht!»
«Das Ding da unten wiegt mindesten fünf Zentner», sagte Tom, «hmm vieleicht auch sechs sieben.»
«Oder zehn oder zwölf? Ist doch egal, lass uns abhauen! Wenn das Monster explodiert, will ich nicht dabei sein!», sagte Jenny.
«Bist du total brege? Das Ding liegt da schon hundert Jahre. Warum soll es gerade jetzt hoch gehen?», fauchte Tom.
«Schon klar, Autofahren sechs, Geschichte sechs und Mathe sechs. 1923 gab es keine fünf Zenterbomben! Es liegt dort seit minumum 45 maximum 43. Und wahrscheinlich ist es den langen Weg aus England zu uns gekommen. Hirni. Und mit dir gehen wir auf Schatzsuche?»
«Kannst mich!», sagte Tom und schnappte sich Kamilla, «Komm wir checken mal die Bude.»
Es klimperte und hier und da wurden Dinge geworfen, ein Schränkchen gekippt, aus dem die Mäuse schreckhaft davonstoben. «Was soll denn der Schatz sein?», sagte Kamilla.
«Es soll noch Goldschmuck geben. Und jetzt halt dich fest, mit echten Diamanten! Der ist nie bei den Erben aufgetaucht aber im Netz liegen Berichte vor, von Juwelieren die den Kauf bestätigen können.»
Es missfiel mir sehr, dass der Junge Mann alles unnötig durch meine Räume schleuderte und kippte. Ich gab dem starken Bedürfnis nach einzugreifen. So stürzte plötzlich ein Deckenbalken ins Zimmer und Staubfahnen der alten Dammschüttung sowie Teile der Zimmerdecke folgten. Die beiden hopsten zu Seite, dicht an die Wand gepresst uns schauten aus wie mehlgepudert. Flüche erfüllten die Zimmer. Fridus der kleine Streuner zog bellend vorbei, irgendwie alarmiert und wurde im Nebel der Unruhe heftig getreten. «Tom?», rief Jenny aus den hinteren Korridor, «Hast du etwa den Hund getreten?»
Es blieb still.
«Wisst ihr was? Für mich wars das jetzt. Einfach zu blöd! Ihr trefft mich an der Schranke, oder auch nicht!»
Das Mädchen Jenny, kraulte den freundlichen Fridus und er folgte ihr hinaus. Der Schatz, der Schatz! Pfft. Der Schatz? Idioten! Murmelte sie den Weg entlang durch die Pappeln. Raben hatten sich schon vereinzelt eingefunden und krähten von oben herab. Ihre Schnäbel blitzten ungewöhnlich im Licht der tiefstehenden Sonne. Im Haus schoss ein Eichhörnchen über die Ziegel des offenen Daches. Tom warf nach ihm. Das Eichhörnchen ärgerte sich, schien sich zu erinnern, zu erinnern, dass es, schon seit tiefstem Mittelalter Teufel genannt wurde, und die Schwalben ihm heute nicht dazu verholfen hatten den Status wie gewünscht zu ändern. Also sprang es auf den Ziegeln umher, wie der Satan persönlich, um seinem Ärger Luft zu machen. Es zeterte keckernd. Einige Ziegel lösten sich. Ich spürte eine bevorstehende vollkommene Verwandlung, wie ich sie nie zuvor gespürt hatte. Welch ein phantastisches wellenartiges Gefühl mich durchfloss. Es knallte laut und metallisch als die Ziegel auf das marode Metall der Bombe knallten und zischende Geräusche aus dem Keller hallten. Ich hörte einen Motor starten und Reifen, die sich quitschend in den Schotter des Hofes schälten. Meine Gedanken hörten plötzlich auf, zu sein, nur für Sekunden, oder waren es Minuten oder Stunden?
Der Ram raste an Jenny vorbei. Sie rief noch halt ihr Deppen, aber niemand beachtete sie, außer den kreisenden Raben über ihr. Kaum außer Sichtweite zerbarst ich in Millionen Teile und doch war ich nicht fort. Fridus biss ihre Hose und zog, bis sie kippte. Jenny schlug lang in den Graben, lag pitschnass in Kraut und Schlamm. Meine Steine, Ziegel, Holz und Glas zischten über sie hinweg wie Geschosse.
Die Raben schienen davon zu sein. Stille kehrte ein. Neben ihr fiel etwas Glänzendes zu Boden. Ein Collier, goldschimmernd mit so unglaublich vielen Diamanten besetzt brach es das Sonnenlicht in voller Farbenpracht. Die Raben gaben es endlich her, denn sie zogen weiter.
(sorry für die Länge, ich wußte nicht dass es so kurz sein sollte, nächstes Mal dann :slight_smile:

Der Wind…er riss mich aus meinem tiefen Schlaf.

  • knarren -
    Ich fühle wie meine starken Wände Jahr um Jahr der Zeit stand gehalten haben, auch wenn einige von Ihnen bereits gebröckelt sind.
    Doch an meiner Fassade spüre ich Ihn nicht… …den Wind…
    Nur eisige Kälte und tiefe Dunkelheit.
    Es scheint eine schwarze Nacht inmitten eines Winters zu sein.
    Wie lange ich wohl geschlafen habe?
    …!..
    Was höre ich da?
    Sind das etwa Stimmen?
  • Menschen?!
    Nein, das kann nicht sein!

    Was fühle ich auf meinen morschen Dielen?
  • Schritte?!
    Zeit die Pforte meines Auges zu öffnen und mich zu strecken.
  • Das Holz meiner Rahmen knarzt lauter als ich es in Erinnerung hatte…
  • Angst erfülltes Raunen erhöre ich in mir.-
    NEIN, nein kleine Besucher, habt keine Angst!
    Ich werde euch nix tun.
    Ich erhöre euer Leid.
    Ich erfühle eure Angst.
    Ich lasse euch nicht unter meinen Decken eure letzte Stätte finden.
  • Ich erhöre eure knurrenden Mägen.-
    Nein…mit einer frischen Mahlzeiten kann ich euch leider nicht dienen…doch kann ich euch zum Troste den köstlichen Duft der längst vergangenen Zeit aus meiner alten Küche entgegen wehen lassen.
    ’ Ein knirschendes Lächeln in mir ’

    NICHT DOCH! Dem Duft zu folgen wird euch nur noch hungriger machen!!!
  • Meine bröckeldenden Wände sollen euch abhalten, eure Energie unnötig zu verschwenden. -

    Ja. So ist’s gut. Bleibt stehen.
    Geht doch ins Kaminzimmer, dort haben sich meine Herrschaften oft aufgehalten.
  • Mit der Wärme der vergangenen Zeit werde ich euch hinführen. -

    Ja setzt euch auf das Sofa, wie die alten Herrschaften es einst taten.

    Euch ist kalt?

    Vielleicht könnte ich euch mit meiner Kraft…mit meiner letzten Kraft helfen?!
    Lange werde ich der Zeit eh nicht mehr standhalten können…ich rieche bereits den moddrigen Geruch der dunklen Zimmerecken.

    Nun gut, ich werde meinen kleinen Besuchern eine Freude bereiten und mit all meiner Kraft die alten Flammen des Kamins auflodern lassen.
    …mit - letzter - Kraft…
    JA, ES HAT FUNKTIONIERT!
    Wie einst das Feuer der Herrschaften!
    Meine krächtzende Freude lauter als ich es in Erinnerung hatte.
    …!..
    NEIN, MEINE KLEINEN BESUCHER!
    BITTE LAUFT NICHT HINAUS IN DIE KÄLTE!
    ICH HAB EUCH DOCH EXTRA DEN KAMIN EINGEHEIZT!

    Lebt wohl. Kleine Besucher.

    Die Flammen. So wunderschön.
    Mein wohliges knarrendes Lächeln, welches meine Balken biegen lassen.

    Danke meine kleinen Besucher, dass Ihr mich geweckt habt
    …!..
    Zu viel Freude für den alten Balken…
    Alter Freund, ja lass dich fallen.
    Das Feuer es holt dich zu sich.
    Auch den alten Teppich und die alten Vorhänge der Herrschaften.
    Das Feuer, es trocknet meine nassen Glieder.

    Es fühlt sich an wie eine heißer Sommertag…im tiefen Winter.
    Ein heißer Sommertag aus längst vergangener Zeit.

Im Mondlicht

Die Szenerie war als hätte der Pinsel eines Meisters den Moment eingefangen: Die laue Herbstnacht so sanft, dass sie die Luft zum Flüstern brachte. Ein zarter Hauch von Ehrfurcht durchzog dieses Bild als der Vollmond, matt und blass, den Himmel erhellte und die Welt in ein schimmerndes Silberlicht tauchte.

In dieser nächtlichen Idylle tauchte Aaron, der aufgeweckte Junge mit Sommersprossen aus der Nachbarstraße auf. Er führte eine Gruppe von sieben Jungen und Mädchen an und das Mondlicht umspielte ihre Gesichter als sie sich meinem Anwesen näherten.

Aaron, der mutige Anführer, stolzierte voran und verkündete triumphierend: „Seht ihr, es ist nur ein Haus. Ich kenne es seit langem.“ Die Gruppe hielt den Atem an. Die beiden Mädchen klammerten sich ängstlich aneinander, als würde die Kälte der Nacht ihre Herzen erfassen. „Mir ist kalt, ich will nicht hineingehen“, klagte das jüngere Mädchen.

Aaron wandte sich der Zögernden zu und lächelte beruhigend: „Alison, dieses Haus und ich sind alte Freunde. Es sehnt sich nach unseren Besuchen.“ Sie starrte ihn ungläubig an und er fügte hinzu: „Glaubst du mir nicht?“ Seine Augen funkelten mit einem Lachen.

Er breitete die Arme aus und sprach zu mir, dem stummen Beobachter: „Haus, du möchtest, dass wir hereinkommen, oder?“ Und in diesem Moment flüsterte ich leise: „Ja, ich will es.“ Ich hatte so lange auf diesen Augenblick gewartet, sehnte mich nach dem Klang jugendlicher Schritte, nach Gekicher und wilden Spielen, nach dem Duft von frisch zubereitetem Kakao, den Molly für die Kinder der Herrschaft jeden Abend kochte.

Meine tiefsten Gefühle gehörten Master Edward, sogar mehr als Miss Eleonora und Master Jack. Der sommersprossige Junge erinnerte mich an ihn, mit seinem vorwitzigen Blick und klugen graublauen Augen. Master Edward hatte stets die verborgenen Stellen in meinem Gemäuer entdeckt, um Molly oder seine Geschwister mit Streichen zu überraschen.

Doch die Zeit der prachtvollen Familienfeste gehörte der Vergangenheit an, denn die fiebrige Krankheit hatte Einzug gehalten. Eleonora und ihre Brüder litten unter schweißgebadeten Albträumen und hohen Temperaturen. Die Ärzte gingen ein und aus, doch das Fieber siegte und nahm uns die Kinder.

Stille und Dunkelheit senkten sich über mich, während der Garten mich langsam in seine Umarmung aus Ranken und Rosen hüllte. Vögel bauten Nester in meinen Dachsparren und Katzen genossen die Sonne auf der Terrasse.

Dann, in dieser magischen Herbstnacht, kam Aaron. Mit Respekt und Neugier schlich er sich heran und begann mich zu erforschen. Und so öffneten sich meine Tore, als hätte der Vollmond selbst meine Schlösser entriegelt.

Aaron stand vor meiner Türschwelle, das silberne Mondlicht umspielte die Klinke.

Sein Herz pochte vor Erwartung und die Welt schien den Atem anzuhalten, als sich die Tür mit einem leisen Seufzen öffnete und die Kinder, gefolgt von ihren Anführer, zögerlich in meine verwaisten Gemäuer traten.

Das Mondlicht, das sich über den knarrenden Dielenboden wie ein gleißender Teppich gelegt hatte, verwandelte sich in ein silbernes Begrüßungskomitee, das die jungen Entdecker willkommen hieß. Die Dunkelheit, so einladend wie eine Umarmung, umhüllte sie und lud sie ein, in die verborgenen Geheimnisse einzutauchen.

Die Kinder fingen an, meine Seele zu erforschen, spielten Verstecken in den verwinkelten Räumen und ließen ihr unbefangenes Lachen die leeren Hallen erfüllen. Es war, als ob die Zeit zurückgedreht worden war und die Freude der Jugend kehrte in meine alten Mauern zurück. Meine Wände pulsierten vor Glück wie einst frohe Familienrunden umhüllend und ich fühlte mich wieder lebendig.

Doch mit jeder Minute, die verstrich, spürte ich, wie eine unsichtbare Verbindung wuchs und mich mit den Kindern einer pochenden Nabelschnur gleich verknüpfte. Sie waren nicht länger bloße Gäste, sondern ein Teil von mir und ich schwor, sie zu beschützen und zu bewahren. Das Leben war wieder in mich zurückgekehrt.

Diese silberleuchtende Nacht hatte uns wieder vereint. So schloss ich meine Türen und Tore für immer. Von nun an würden die Kinder und ich gemeinsam unsere Geschichte weiterschreiben. Ich würde sie niemals wieder hergeben.

Wieder Allein

Resolut schmiss ich die Kellertür zu.

Gertrude zischte und spie vor Wut, ihre farblosen Fäuste schlugen gegen meine Balken, ihre Stimme heulte durch die Schlitze der Dielen und ihr eisiger Atem wurde vom Wind durch das ganze Haus getragen. Es schüttelte mich, aber ich war es gewohnt.

Die vier Menschen waren zusammengeschreckt, mitten auf der Treppe nach oben. Beruhigend ließ ich die Stufen knarzen, das Holz des Geländes knackte.

„Gott, lasst uns von hier verschwinden“, flüsterte einer von ihnen.

Gertrude heulte lauter und mit Bestimmtheit ließ ich Sägespäne auf sie rieseln. Jedes Mal benahm sie sich unmöglich, wenn wir Gäste hatten.

„Oben liegt die Kamera die Justus letztes Jahr hier verloren hat. Wir holen die und dann gehen wir“, flüsterte ein anderer Mensch zurück.

Oh. Die Kamera würden sie nicht mehr finden. Die habe ich schon vor Monaten in die Küche legen lassen, in der Hoffnung jemand holt sie bald ab. Ich wünschte, ich könnte sprechen, aber stattdessen klapperte ich mit den Fenstern am Treppenhaus. Eigentlich wollte ich ihnen nur signalisieren, dass sie wieder runter gehen konnten, aber Menschen waren so schreckhaft.

Mit mehreren spitzen Schreien drehten sie um und stolperten die Treppe herunter. Die Jacke des Jungen verfing sich dabei in der Klinke der Kellertür am Ende des Geländers. Und riss sie auf.

Ich seufzte tief, mein ganzes Gerüst knarzte und knirschte.

Gertrude schrie und stürzte sich auf die Menschen, die ebenfalls schrien und alle verließen sie schreiend mein Innerstes.

Die Tür blieb offen.

Ich blieb allein zurück.

Bestimmung

Sanft strichen Fichtenäste tröstend über die Schindeln des Spitzdaches. Zwei einst stolze, nun zerborstene Schornsteine überragten den Wald, der sich ab dem Anwesen vom Hügel herab zum lebhaften Ort erstreckte. Die Sonne wärmte die rissige Außenmauer kaum und Luna ließ sie bei Nacht nur schwerlich erstrahlen. Seit Jahrzehnten traf kein Ball mehr die Backsteine, das Lachen von Kindern erschien als eine Erinnerung und der Duft von Kuchen war wie ersonnen. Die Einsamkeit nagte an den Holzpaneelen, ließ Tapeten betrübt herabhängen und die Wände rissig werden. Der Wind heulte durch leere Fensterrahmen und das Gemäuer war von Traurigkeit erfüllt. Es ergab sich dem verwaisten Zerfall. Alt und müde wollte es nur noch darben bis … . Da erklang eines Nachts ein kehliges Wimmern. Im Keller waren nach einem Bersten, scharrende und kreisende Tritte im Holz zu spüren. In kurzen Abständen erschallte ein elendiges Geheul, das an eine keifende, vor Schmerzen kreischende Greisin erinnerte. Das Haus erzitterte, steckte sich und die tragenden Pfeiler erstarrten. Angsterfüllt stand es wie ehemals gerade und fühlte in sich hinein. Mit dem Dämmern des Morgens erstarb das Kratzen, Wimmern und Geschrei. Da löste es sich von der Starre und hoffte flehend, nicht von einem Geist heimgesucht zu werden. Es wollte nicht mit einem Fluch belegt sein, sich dem zeitlichen Verfall hingeben, bald mit dem Hain zu verwachsen und in unendliche Stille zu zergehen. Das Heulen kam jede Nacht. Das Scharren und elendige Gejammer kehrte wieder und wieder. Alle Holzfaser, sämtliche Steinfugen und jede Betonpore erzitterten. Das wiederkehrende Gekeife, es klang wie eine um die Schlote kreisende Hexe, ließ das Fundament erbeben und das morsche Gebälk schlotterte. Es wurde dunkel, Nebel zog auf, die Wolken rasten wie schwarze Fetzen am Mond vorbei und das elende Gewinsel erscholl abermals.
Diesmal klangen Raben mit lauten Krächzen ein: <<Krah, Krah, Krah.>>
Da: ein Knarzen auf dem Stufen der Veranda. Ein weiteres erklang und das Kreischen erstarb. Nur ein kaum hörbares Wimmern blieb im Bauch des Hauses zurück. Auf den Holzbohlen vor der Eingangstür waren Trittgeräusche zu hören. Das Quietschen der Sohlen wurden von grollendem Knurren im Keller quittiert. Das Gebäude verweilte in Starre, verspürte neben der Angst, wie sich Holzsplitter in den tragenden Pfeilern aufrichteten. Durch das verzierte Milchglas des Haupteinganges blitzten Lichtstrahlen in den Flur und wurden durch die Bleiglasspiegel in alle Richtungen reflektiert. Am anderen Ende gegenüber erklang ein tiefkehliges Grollen und zwei rote, leuchtende Augen flackerten auf. Mit einem Ächzen wurde die Tür langsam aufgeschoben. Die Dielen im Flur knarzten, das Knurren entgegengesetzter Richtung verstummte und wurde von einem hektischen Schaben in Richtung Keller ersetzt. Schwere Schritte im Gang ließen das Dach erbeben und ein suchender Lichtkegel streifte zitternde Bilder. Im Untergeschoß erklangen leise elendes Gewimmer und schnelle Schritte. Je näher die Beinpaare im Erdgeschoss der Treppe kamen, umso leiser wurden die Geräusche darunter, bis sie ganz erstarben. Ein Lichtkegel wurde vom Treppenhaus hinab geschickt und pelzige Prutzen wichen dem aus. Schwere Stiefel liefen die Stiege herab. Leises Keckern und ein feuriges Augenpaar wichen in eine Ecke zurück. Eine behandschuhte Faust griff in eine geborstene Holzlücke im Boden und nach zwei orangenen Fellknäuel. Ein Zischen zog durch die Eingangstür des Hauses. <<Alles gut, Mama Fuchs. Wir retten deine Babys!>> Ein erleichterter Windhauch zog durch das ganze Gebäude und sanft legte sich das Dach auf das Gemäuer.

Happy Halloween

Das Geheimnis der Raben

Ich bin die Rabenvilla, ein alt ehrwürdiges Haus am Rande des Geisterwaldes. Ich wurde auserwählt, das uralte Geheimnis zu bewahren. Über die Jahrhunderte war ich stummer Zeuge, der Veränderungen der Welt um mich herum. Meine hohen, dunklen Türme und geheimnisvollen Gärten wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Doch die meisten Bewohner, die sich in meinen Mauern niederließen, wussten oft nicht einmal um die Bedeutung meines Daseins. Der letzte Bewohner war vor sechs Jahrzehnten verstorben, als ich seine Arroganz nicht länger ertrug. Seitdem kamen nur noch Abenteurer, die naiv genug waren zu denken, dass ich ihre Neugierde tolerieren würde, oder mutig genug, sich meinen Prüfungen zu stellen.
Meine Geschichte reicht zurück zu einer Zeit, in der Magie und Mystik die Welt regierten. In den Tiefen des Geisterwaldes, dessen Schatten sich um mich erstreckt, verbirgt sich ein altes Geheimnis, von dem nur wenige wussten. Es ist das Geheimnis der Raben, jener Vögel, die seit jeher als Boten zwischen den Welten dienen. Sie sind die Hüter uralter Weisheit, und ich, die Rabenvilla, wurde errichtet, um dieses Wissen zu schützen.
Die Jahrhunderte zogen vorüber, und die Welt wandelte sich. Die Zeiten der Magie verblassten, und die Menschen vergaßen die alten Geschichten und Legenden. Doch in meinen Mauern blieb das Wissen erhalten, sorgsam gehütet von den wenigen, die die Bedeutung der Rabenvilla erkannten. Geheimnisse wurden weitergegeben, von einem Schattenwächter zum nächsten.
Heute, in einer Zeit, in der die Welt erneut nach der Weisheit der Alten sucht, stehe ich bereit, mein Geheimnis zu enthüllen. Die Raben des Geisterwaldes fliegen weiterhin über meine Türme und Gärten, und sie tragen die Botschaften der Vergangenheit in die Gegenwart. Die Zeit ist gekommen, das uralte Geheimnis zu offenbaren und das Wissen der Raben der Welt zu übergeben. Doch wehe dem, dessen Geist noch nicht erwacht und dessen Blut nicht das Merkmal der Schattenwächter in sich trägt.
Und da kommen die nächsten jungen Abenteurer. Ich beobachte sie, wie sie sich nähern. Der Geisterwald scheint sich um sie herum zu verdichten, als würden die Bäume und Sträucher ihre neugierigen Blicke verfolgen. Doch nur einem von ihnen darf das uralte Geheimnis offenbart werden. Es wird meine Aufgabe sein, zu prüfen, ob der neue Schattenwächter unter ihnen ist.
Vor meinen schweren Eichenholztoren bleiben sie stehen. Ob sie wissen, dass dies kein gewöhnliches Abenteuer ist, sondern eine Reise in die Tiefen der Geschichte und des Wissens? Vier sind gekommen. Höchstens einer darf wieder gehen.
Unbemerkt von den Suchenden erhebt sich ein Schwarm Raben aus den Baumkronen. Ihre schwarzen Federn glänzen im Licht der untergehenden Sonne, und ihre scharfen Augen mustern aufmerksam die Ankömmlinge.
Ein leises Knarren, gefolgt von einem sanften Rauschen, durchzogen mich, als sich meine schweren Tore langsam öffneten. Die Gruppe betrat meine Hallen.
Ich empfing sie mit einer düsteren Atmosphäre. Schwere Vorhänge wehrten neugierige Blicke von draußen ab. Aber sie verbargen auch die Wächter, die über mich und meine Einrichtung wachten. Noch ließ ich die Eingangstore offen. Ich gewährte ihnen eine letzte Chance, ihrem Verderben zu entkommen. Und tatsächlich, als die Zeit fast um war, ergriff einer von ihnen die Flucht - zu spät. Nur eine Hälfte von ihm schaffte es nach draußen. Ich wusste, dass sich die Raben um die Entsorgung seiner sterblichen Überreste vor der Tür kümmern würden. Hinter der Tür war es der durch einen Zauber am Leben erhaltene Rottweiler, der sich bereits auf die warme Mahlzeit freute.
Leider nahmen die verbliebenen die gescheiterte Flucht nicht gut auf. Panisch liefen sie durcheinander und versuchten die Tür wieder zu öffnen oder durch die Fenster zu entkommen.
Der Rottweiler freute sich, ich nicht. Bedeutete es doch viele weitere Jahre der Einsamkeit.

GESTERNHEUTEMORGEN

Zu viele Monde sind vergangen
Seit dem Freund Hein dich hat gefangen
Wie find’ ich Zugang jetzt zu dir
Die Tage lang’
Die Nächte schwer
Ein Drehen
Ganz allein’ im Bett
Das ist die Lage
Kommst d’ noch mal wieder
Du bist nicht mehr
Dies’ ist verneinend’ Lebensfrage

Wie schwere Orgelklänge
Basslastig nun in Moll und voller Länge
Der Wurm in meinen Ohren wütet

Denk’ ich an uns’rer beid’ Gesänge
Die unumstößlich alle Tage
Uns gegenseitig wohl behütet
All jenes wird demnächst zur Sage

Auch wenn die Tage kürzer werden
Ein jeder Tag auf unser Erden
Genießen sollten wir’s bewußt
Die hellsten Stunden und die Lust

So lang’ ich lebe
Noch nicht entleibt
Genieß’ ich Alles
Was mir noch bleibt

© text by HerrWortranken

Mitternachts-Vasen

Ich spüre, wie ihre Füße meinen Boden berühren. Drei junge Männer betreten meinen Flur. Ich höre sie flüstern. Sie lachen. In mir kommt Freude auf. Es ist schön, wieder Menschen im Haus zu haben. Zur Begrüßung lasse ich eine Tür zufallen. Es knallt laut. Sie zucken zusammen. Willkommen im Rabenweg 3. Ich freue mich sehr. Die drei Buben bewegen sich. Sie betreten nach dem langen Flur mein geschätztes Wohnzimmer. Sie berühren meine Vasen. Nicht meine Vasen. Einer holt sie sogar aus dem Schrank. Stell sie wieder zurück! Die anderen zwei Setzen sich auf die Couch. Sie reden. Lachen. Plötzlich ein Klirren. Meine Vase! Er hat meine Vase fallen gelassen. Tausend kleine Stücke liegen auf dem Boden. So viele Scherben, meine geliebte Vase. Jetzt stehen sie drumherum. Gucken ganz blöd. Ihr dummen Burschen. Ich hätte euch niemals rein lassen dürfen. Na dann nehmt sie doch alle! Vor lauter Wut schmeiße ich den Schrank um. Jetzt sind sie alle kaputt. Alle meine Vasen. Die jungen Kerle schreien. Ich habe einen erwischt. Sein Bein liegt unter meinem alten Holzschrank. Schwer ist der. Geschieht ihm recht! Die Anderen laufen zur Tür. Ich verriegele sie. Ihr bleibt schön hier und bezahlt für den Schaden. Sie rufen. Diskutieren. Schreien. Mit Geld oder Gütern kann ich nichts anfangen. Ich nutze ein anderes Zahlsystem. Büßen werdet ihr. Einer weint. In mir kommt Freude auf. Für mich hat der Spaß gerade erst begonnen.

Am nächsten Morgen betreten viele Menschen meinen Flur. Mein Wohnzimmer. Manche in Uniform. Manche ohne. Einige weinen. Jeder von ihnen trampelt über meine Scherben. Meine geliebten Vasen.

Ich kann ihre Aufregung genau so spüren, wie sie die meine, während sie immer weiter in mein Innerstes vordringen. Um sie willkommen zu heißen entzünde ich sanftes Licht und rüge mich gleich selber dafür, als ich sehe, wie meine Gäste zusammenzucken. Mit jedem ihrer Schritte vibriere ich mehr. Ich kann sehen, wie das Mädchen aus dem Fenster schaut. Draußen ist es so dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht sehen kann. „Es ist so gespenstisch still hier.“, flüstert der Junge ihr zu und zieht sie weiter. Ich stoße einen zufriedenen Seufzer aus und dabei bewegen sich die Dielen auf dem Fußboden. Wie erstarrt bleiben die beiden stehen. Um ihnen zu zeigen, dass sie willkommen sind, öffne ich eine breite Flügeltür, die schon nicht mehr richtig in den Angeln hängt. Mit zögernden Schritten betreten sie den nächsten Raum. Es ist meine Bibliothek. Einst mein Prunkstück, mittlerweile nur noch ein rattenverseuchtes Spinnennest. Über die Arme meiner Gäste zieht sich eine Gänsehaut. Ihnen ist scheinbar kalt. Also lasse ich einen warmes Feuer im Kamin auflodern. Das Mädchen greift nach der Hand des Jungen und zieht ihn ein Stück zurück und näher zu sich ran. Fast kann ich ihren rasenden Herzschlag fühlen. Sie sehen sich tief in die Augen. Ich seufzte, wobei einige Bücher aus den Regalen purzeln. Erschrocken zuckt der Junge zurück, als ein Buch seinen Arm trifft. Doch schließlich hebt er es auch und blättert darin herum. Es ist ein Fotoalbum der letzten Besitzer – meiner Familie. Ich habe sie geliebt und mit dem Tod meines Besitzers ist auch etwas in mir gestorben. Doch ich gebe nicht auf und lasse ein Bücherregal, den samtenen Ohrensessel und den dazugehörigen Ottoman näher an die beiden heranrücken. Dabei wirbel ich ziemlich viel Staub auf. Als durch den Schreck auch noch die Türen laut knallend zufliegen und die Fensterläden klappern, scheinen die beiden genug zu haben. Mit bleichen Gesichtern stürmen sie zur Haustür. Kann ich sie mit einem guten Dinner zum Bleiben bewegen? Schnell lasse ich Besteck und Teller aus dem Esszimmer in den Flur fliegen. Laut kreischend reißt das Mädchen die Tür auf. Stolpernd verlassen sie mich. Ich stoße einen tiefen Seufzer aus, der sich wie ein Stöhnen anhört. Als der Junge und das Mädchen aus meinem Blick verschwinden, stelle ich wieder einmal fest, das mir die Menschen Hoffnung gemacht haben. Doch wieder haben sie nur ein Stück meiner Seele an sich gerissen und mitgenommen. Beim nächsten Mal muss ich mir noch mehr Mühe geben. Denn mein größter Wunsch ist eine Familie, deren Lachen in meinen Wänden widerhallt und mich mit Leben erfüllt.

1897

Ich soll euch erzählen, wie ich mit den Menschen umgehe, die Abenteurer genannt werden und mein Grundstück betreten. Eine Gruppe davon kommt gerade auf mich zu. Ach ja, ich heiße 1897 - so steht es auch von gemalten Blättern eingerahmt auf meinem Hauptportal – und bin ein großes Haus. Mein Grundstück ist riesig, liegt am Ende einer steil ansteigenden Sackgasse vor einem dichten Wald. Es hat sich schon lange niemand für mich interessiert. Außer manchmal ein paar übermütigen Menschen, die, wie sie sagen, echten Grusel mit echten Geistern erleben wollen. Aber warum kommen sie dann zu mir?

Mich gruselt es vor den nächtlichen Geräuschen, die meine Mauern und Balken in der Nacht von sich geben. Wenn der Herbstwind durch die offenen Fenster weht, wird mir innerlich kalt. Da kann mir dann die alte Kohleheizung nicht helfen. Sie gibt gerne damit an, dass sie einige Jahre jünger ist als ich. Aber ohne neue Kohlen rostet sie nur vor sich hin. Gut, außer der alten Heizung gibt es noch ein paar Geister. Wie sie dazu geworden sind und nicht wie normale Verstorbene auf dem Friedhof liegen, habe ich nicht mitbekommen. Ich war damals viel zu sehr mit dem Le-ben meiner Bewohner beschäftigt.

Moment mal, die Menschen haben sich von der Straße durch das Gestrüpp zum Hauptportal vorgearbeitet. Den Stimmen nach sind es drei Männer. Jetzt untersuchen sie die Tür. Sie ist die einzige, die noch vollkommen intakt ist und sehr schwer zu öffnen. Aber alle, die in mich hinein-wollen, versuchen es zuerst dort. Nun haben sie beschlossen, dass sie es an einer anderen Stel-le versuchen wollen.

Meine Geister sind Peter, Susanne und Gottfried. Peter beschäftigt sich ausdauernd mit der Pflege seiner kleinen Sammlung von Guillotinen, Gottfried liebt Schwerter und Säbel. Susanne ist schon als Kind gestorben und hat eine Vorliebe für Seifenschaum, den sie bei nächtlichem Besuch gerne über die Treppenstufen gießt. Soweit ich weiß, haben sie damit noch nie jeman-den beeindruckt.

Die heutigen Besucher haben eine der Nebentüren gefunden, die sich leicht öffnen lässt. Die Lichter ihrer Taschenlampen streichen über meine mit Spinnenweben besetzten Wände. Schnell steigen sie in den ersten Stock hinauf. Ich höre begeisterte Rufe. Sie scheinen sich getrennt auf Entdeckungstour durch meine vielen Zimmer gemacht zu haben. So ist es immer, sie langweilen mich, ich werde müde. Um Mitternacht werde ich von einem Schrei geweckt, schlafe aber so-fort wieder ein.

Morgens weckt mich wie immer Vogelgezwitscher, während erste Sonnenstrahlen durch die Dachfenster dringen. In mir ist es vollkommen still. Auf der Haupttreppe glitzert ein Rest von Seifenwasser, darin einige Bluttropfen.

Mehr kann ich euch dazu nicht erzählen.

Ach fiele doch ein Meteor

Nein, die Lage ist es nicht. Der Bach, ganz am Anfang des Rabenwegs aus einer Steinwand getreten, hat das Tal zwischen zwei Hügel geschnitten. Er mäandert vor sich hin, blubbert und gurgelt und schäumt, nachts hört sich das oft sehr verstörend an. Mich wundert, dass noch nie wer von denen reingefallen ist, wo doch Büsche und Huflattich und allerlei Gestrüpp ihn schier komplett überwuchern. Genau wie den schmalen Trampelpfad, der noch übrig ist von der einstigen Zufahrt für die Kutschen. Nein, die Lage ist es nicht. Sie wäre ideal gewesen für ein Kloster, eine Kirche. Ja, für einen Wallfahrtsort! Stattdessen stehe ich hier rum und kann es gar nicht erwarten, endlich so zusammenzufallen, dass sich niemand mehr über meine bröckelnde Schwelle traut. Sie kommen meist in Vollmondnächten. Heute hängt dieser Unplanet wieder mit seinem unverschämten Grinsen da oben. Der weiß genau, was er mir damit antut. Frech weist er ihnen den Weg. Diesem gierigen Volk, das sich seit Anbeginn den Teufel schert um die bröselnden Mauern, um die Vorhänge aus dicht gewebten Spinnennetzen, den Eulenrufen oder dem Huschen der Fledermäuse. Sie tauchen hier auf und benehmen sich, also vornehm ausgedrückt: völlig entfesselt. Mein Gebimmel mit der hellen Feuerglocke haben sie mit Hurra-Schreien erwidert. Haben sich allen Ernstes eingebildet, das sei ein Willkommensgruß von mir! Dabei ertrage ich sie kaum. Ihr Geseufze und Gestöhne, ihr Geraschel und Gereibe! Wie es mich vor ihnen graust! Natürlich habe ich überlegt, wie ich mich wehren, wie ich sie loswerden könnte. Eine schwere dunkle Glocke habe ich gebaut. Ja, was denn, natürlich ich! Wer reden kann, ist auch imstande, eine Glocke herzustellen! Unter meinem feuchten Fundament habe ich alles, was man dazu braucht, den Lehm, den Sand, genügend metallische Anteile und Wasser. Von ganz oben läutet sie ihre dunklen, drohenden Klänge mit einer Schallwelle aus kaltem Wind, sobald wieder welche auf dem Weg hierher sind. Wie jetzt, Herrgott, schon wieder! Bummmm Bummmmm Bummmmm… Ich bewege mein ganzes Gemäuer, schwinge so weit, dass die Balken krachen und Mauern zu bersten drohen. Herr, steh mir bei! Sie lassen sich nicht aufhalten! Das puscht sie eher noch! Ich fürchte mich vor ihnen. Fange wie Espenlaub zu zittern an, dass die Risse im Boden Krampfadern gleich wachsen. Sie werfen ihre Decken und Kissen darüber. Reißen einander die Kleider vom Leib und fallen übereinander her wie die Ratten im Keller über Essensreste. Grausig. Gespenstisch! Richtig schlecht wird mir, wie sie es da in mir treiben, mein Gedärm mit Lüsten und Geilheit infizieren und mein Innerstes verunreinigen. Inzwischen bin ich fast sicher, dass sie meinem Geheimnis auf die Spur gekommen sind. Und mich deswegen wie böse Geister immer wieder heimsuchen. Mich mit immer größerer Lüsternheit herausfordern und quälen. Ein Jagdschloss, wie ich im Volksmund genannt werde, bin ich nie gewesen. Pah! Damit kann höchstens die Jagd nach der höchsten Ekstase gemeint sein. Die sich noch steigert, weil sie es wissen. Weil sie meine Sehnsucht kennen. Dass hier eigentlich Engel schweben und geflüsterte Bitten und Schwüre in den hohen Räumen aufsteigen müssten. Auf bunten Lichtbündeln durch die spitzbogigen Fenster hätte göttlicher Geist einfallen sollen, im Dunst des Weihrauchs versprenkeln und sich vermählen mit Harmonien sphärischen Wohlklangs. Von Beginn an spürte ich es. Dass ich im falschen Körper lebe. Dass ich eine Kirche bin, ein Ort der Gnade und stillen Gebets. Ach, fiele doch ein Meteor vom Himmel und begrübe mich unter sich! Dann könnte ich Ruhe finden.

Erlösung

Ich erinnere mich an glückliche Zeiten. An Kinder, die beim Spielen fröhlich lachend durch meine endlos lange Flure huschten. Auch an Menschen, die oft musizierten und anregende Gespräche führten. Die harmonischen Melodien und sanften Stimmen, kitzelten meine mächtigen Mauern, wie die Lichtstrahlen der Sonne. Ich bedankte mich oft mit einem sanften Knirschen der edlen Mahagoniböden, sobald die Bewohner beim Tanzen, leichtfüßig über die Dielen schritten oder die Angestellten den Staub von ihnen wischten. Mir gefielen die kunstvoll gewebten Teppiche, die verspielten Holzschnitzereien der erlesenen Möbel und Wände. Mein Geist liebte die zahlreichen Bilder, die stets den Hauch von Leinöl verströmten und deren kräftige Farben im warmen Licht der vergoldeten, kristallbehangenen Kandelaber erstrahlten. Ganz besonders liebte ich die klaren Fenster, mit ihren bunten Bleiverglasungen, welche verspielt das Licht von Sonne und Mond brachen und mein Sein durchfluteten. Selbst der gewaltige Keller, der von meinem mächtigen Fundament umschlossen wurde und unzählige Schätze und Vorräte beherbergte, atmete durch meine Seele. In mir fanden die Besitzer Schutz und ich gewährte ihn gerne.

Aber Zeiten ändern sich. Ich vernahm beunruhigendes Gewehrfeuer, peitschende Pistolenschüsse und das dunkle, mächtige Grollen von schweren Geschützen. Eiserne Kugel und Granatsplitter rissen tiefer Löcher in meine ehrwürdigen Mauern. Laute Schreie und bitterliches Weinen erschütterten mich. All jene, die einst Glück und Frieden in mir fanden, wurden vertrieben oder getötet. Ich bewahre immer noch den Geschmack von ihrem warmen Blut, ihrer panischen Angst, der unaussprechlichen Verzweiflung und das höhnische Lachen ihrer Peiniger. Dann wurde ich selbst geschändet und ausgeweidet. Zurück blieben nur die Erinnerungen an glanzvolle Zeiten und die Geister der Verstorbenen, die ich nicht zu trösten vermag. Mäuse, Schimmel, Insekten und Verfall krochen durch die punktierten Mauern, den zerbrochenen Fenstern und durch die immer noch stattliche Eingangstür, die nun schief in ihren geborstenen Angeln hing. Viel Zeit ist vergangen und nur der kalte Wind, stets mit trockenen Blättern im Gepäck, spielte als einziger Freund seine einsame und eintönige Melodie in den dunklen Zimmern.

Dann kamen sie. Mitten in der Nacht, wie die Diebe und Mörder, vor langer Zeit. Ich kannte nicht ihre Absichten, aber ich spürte eine Ausstrahlung, wie lange nicht mehr. Sie betraten schon fast andächtig jedes Zimmer und flüsterten mit verhaltenen Stimmen. Sie schienen sich nicht zu fürchten und die gleißenden Bahnen ihrer Taschenlampen strichen über die zerfetzten Reste, meiner ehemaligen Schönheit. Sie berieten sich, wie mir erschien und ich konnte nur einen Teil ihrer Gespräche verstehen. Ihre Sprache war irgendwie vertraut und doch ganz anders. Es herrschte Uneinigkeit zwischen ihnen, doch eine der Frauen, erhob ihre Stimme und setzte sich durch. Sie löste eine vergrabene Erinnerung an die stolze Hausdame von damals in mir aus. Ich hatte nur Abriss verstanden. Sie verstauten all ihre Papiere und Notizen, brachen auf, um schließlich einen letzten Blick durch die Tür in meine geschundene Empfangshalle zu werfen, in der sich immer noch, die kunstvoll gewundene Treppe mit dem verblassten Marmorstufen bis zur Galerie erstreckte. Dann war ich wieder allein und manchmal kamen ein paar Menschen ohne Obdach, denen ich ein wenig Schutz gewähren konnte. Doch weder konnten sie mich trösten, noch wirklich erfreuen, denn sie waren in demselben Schmutz erstarrt wie ich und ihren Seelen ebenso verblasst wie die meine. So träumte ich meine einsamen Träume nach Frieden und einstiger Stärke. Ich war müde geworden und sehnte mich nach Erlösung von meinem Leid. Ich hatte mich meinem Schicksal ergeben.

Die Vögel zwitscherten fröhliche Lieder, der Morgen erstrahlte unter einem blauen Himmel, als Männer und Frauen, den mit Kraut überwucherten Boden betraten. Sie führten seltsame Maschinen und Werkzeuge mit sich und ich dachte, dass dies ein schöner Tag sein würde, um in die Unendlichkeit zurückzukehren. Ich beobachte, wie sie den Boden von den wuchernden Ranken, Dornen und Sträuchern befreiten. Wie die Ameisen wuselten sie durch mich hindurch und um mich herum. Die energische Frau stand plötzlich in der Eingangshalle und ließ ihre Blicke schweifen. Ich sah ihr aristokratisches Gesicht, das vor Freude und Stolz förmlich glühte. Und erst jetzt begriff ich, dass die Männer und Frauen, alles ersetzt, repariert und in die ursprüngliche Form zurückversetzt hatten. Alles glänzte und strahlte und sogar einige der alten Bilder, hingen wieder an meinen Wänden. Ich atmete tief ein und aus und entließ alle Energien, die mich belasteten. Mit alter und mit neugeborener Stärke hieß ich die Nachfahren, meiner ehemaligen Besitzer willkommen, die mich unter Denkmalschutz stellten. Voller Stolz und Demut präsentiere ich ein goldenes Schild an meiner Eingangstür.

Die Seele eines Haus ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Drum bewahret die Geschichte und das Vermächtnis eurer Ahnen und ehret was sie erschaffen. Trete ein, wer reinen Herzens ist und sei Willkommen.

(K)ein Geisterhaus

Die Sonne geht unter. Ich spüre es, denn ihre Strahlen, die sich durch das Glas meiner Fensterscheiben und der Tür im Eingangsbereich werfen, ziehen sich allmählich zurück und nehmen all ihre Wärme mit.
Jeden Abend bin ich traurig über ihren Rückzug. Doch heute bringt die Dunkelheit wieder etwas anderes mit sich. Ein Besucher? Ich spüre einen jungen Mann, der sich seinen Weg zu mir hinauf bahnt.
Es ist lange her, seit das letzte Mal ein paar dieser jungen Leute vorbeikamen, die des Nachts hier umherstreifen und im Zuge ihrer Mutproben meine sowieso schon völlig zersplitterten Fenster einwerfen oder meine Wände mit allerhand schändlichen Worten beschmieren. Zahlreiche Erzählungen dachten sich die Bewohner des kleinen Städtchens, an dessen Rand ich stehe, aus und natürlich wollte die Jugend sehen, ob an all diesen Gruselgeschichten etwas dran war.
Ich bin müde. So müde, von all diesen schrecklichen Erinnerungen und der Zerstörung, dass ich nicht einmal mehr die Kraft aufbringen kann, mich gegen sie zu wehren und sie zu verjagen. Wann würden sie alldem endlich ein Ende bereiten und meine Gemäuer dem Erdboden gleich machen?
Ich erschrecke ein wenig, als die Dielen der Veranda leicht knarzen und der junge Mann die Tür öffnet. Er betritt den langen Flur und sieht sich ausgiebig um. Dabei lässt er seine Hand an meiner mit Holz vertäfelten Wand gleiten, von der die grüne Farbe beinahe vollständig abgeblättert ist.
»Wie schön.«, gibt er leise von sich. Doch sein Blick verfinstert sich, als er die bösen Worte liest, welche die Jugendlichen hier hinterlassen haben.
Seine Handfläche liegt nun flach auf dem Holz und plötzlich spüre ich etwas. Ich spüre Schmerz und… Mitleid. Sind dies die Gefühle des jungen Mannes? Sie strömen in mich hinein und wärmen mich auf eine Weise, wie ich es lange nicht mehr gespürt habe.
»Was hat man dir nur angetan?« Wieder sind seine Worte nur geflüstert, als er seinen Weg fortsetzt.
Der Raum, den er als nächstes betritt, ist voll von umgeworfenen Regalen; alte, verstaubte und zerfetzte Bücher liegen in einem einzigen Durcheinander auf dem Boden.
»Oh, wie wunderbar!«, platzt es in der nächsten Sekunde aus ihm heraus.
Wunderbar? Wie kann er so etwas sagen?
Plötzlich blitzt ein Bild in mir auf. So hell und so schön, dass ich ein paar Male blinzeln muss, bis ich die Details erkenne. Vor mir tut sich ein warmer, lichtdurchfluteter Raum auf. Ein kleines Feuer knistert in einem steinernen Kamin, welcher umringt ist von Regalen aus dem wunderschönen Holz eines Nussbaums. Und überall sind Bücher. Sie füllen jeden Zentimeter der Fächer aus und warten darauf, gelesen zu werden. Der alte Dielenboden glänzt unter allerhand bunten Teppichen und vor dem Kamin steht ein großer, sehr bequem aussehender Ohrensessel, in dem ein junger Mann sitzt. Ein anderes Bild blitzt auf. Eine ordentlich gepflegte Veranda, ein weiß gestrichener Zaun, blaue Fensterläden, Wildblumen im Vorgarten, die vom Summen der Bienen erfüllt sind…
Ist dies ein Vision des jungen Mannes?
Was für ein wunderschönes Bild. Was für ein wunderschönes Gefühl. Könnte es wirklich wieder so sein? Die Einbildung vor meinen Augen verschwimmt und ich sehe, wie der Mann erschrickt, als mein leises Säuseln durch die mein ganzes Inneres fährt.
Er lächelt. »Ames Ding. Was für ein Glück, dass ich dich entdeckt habe!«
Es ist, als wurde all mein heimliches Sehnen endlich erhört. Ich spüre seine Freude und Aufregung tief in mir, als wäre es meine eigene. Vielleicht ist es auch meine eigene, die sich einen Weg durch all die staubige Hoffnungslosigkeit bahnt. Bei all der Müdigkeit habe ich mir doch insgeheim immer gewünscht, dass jemand kommen und mich retten würde.

Lost Placer im Rabenweg

Seit 1776 stehe ich hier am Ende des Rabenwegs, das ist leider auch schon alles, was ich tue, rumstehen und zerfallen. Mein einst so stattliches Hoftor ist von Efeu überwuchert und hängt verrostet und kraftlos in den Angeln. Die Fassade bröckelt Tag für Tag, als hätte ich Schuppen. Der wunderschöne Garten? Nichts als Unkraut und Gestrüpp, denn schon sehr lange gebietet ihnen niemand mehr Einhalt.

Nanu, meine Fenster sind zwar unheimlich verdreckt und unzählige Spinnweben versperren die Sicht, aber ich könnte schwören, dass ich dort vier Menschen kommen sehe. Diese Straße ist schon ewig niemand mehr hochgekommen. Sind es solche Lost Placer? Angezogen von den Mythen und Gerüchten über die zahlreichen Bewohner, die ich bisher beherbergt habe?

Advokaten, Ärzte, Wissenschaftler, Investoren und Familien bewohnten mich bereits. Viele kamen und alle gingen, bei manchen musste ich nachhelfen. Versteht mich nicht falsch, meine knarrenden Dielen sehnen sich nach dem Tippeln von Kinderfüßen und mein Gebälk braucht dringend die Hände eines Handwerkers. Ich möchte bewohnt sein, meinen Westflügel habe ich nur abfackeln müssen, weil ich nicht ertragen konnte, was dieser abartige Wissenschaftler dort mit den Leichen tat. Es tat zwar fürchterlich weh, aber ich habe keinen anderen Ausweg gesehen.

Tatsächlich, sie betreten das Grundstück. Ich hoffe, ich bekomme das schwere Eichentor noch auf. Mit einem lauten Knarren und Ächzen schwingen die schweren Torflügel tatsächlich nach innen, um die unerwarteten Gäste willkommen zu heißen.

Sie treten ein und betrachten mein erstes Schmuckstück, eine riesige Uhr, die meinen Eingangsbereich ziert. Ja schon, sie steht seit einer Ewigkeit still, aber hey, auch eine kaputte Uhr hat zweimal am Tag Recht, oder? Meine Bibliothek schmücken wundervolle Bücher, völlig verstaubt und die Ledereinbände zerfallen beim bloßen Ansehen, schon, aber ich bin sicher einige davon findet man nirgendwo sonst.

Fast hätte ich die Hoffnung verloren, aber wenn ich mich von meiner besten Seite zeige, sehen sie vielleicht, was ich sein könnte, wenn man ein wenig Arbeit investiert. Ach, was wäre es doch für eine Wohltat, wenn sie wenigstens meine Fenster putzen würden.

Rabenweg 22

„Ich bin der Anfang und das Ende!“ So steht es über meiner Eingangstür. Ein seltsamer Scherz meines Erbauers. Wobei, so ganz unrecht hatte er nicht. Die Straße endet direkt vor meinen Türen. Mein Garten ist eine regelrechte Barriere gegen die Welt da draußen. Mit einem diese modernen stinkenden Fahrzeuge kommt man hier nicht weiter. Es gibt allerdings einen kleinen Trampelpfad entlang des Zauns, der auch schon bessere Tage gesehen hat. Benutzt wird er hauptsächlich von Rehen, die sich an den Resten des einstmals gepflegten Gartens vergreifen. Aber das ist nicht wichtig. Nichts ist mehr wichtig.

Seitdem mein letzter Besitzer unglücklich die Treppe hinabgestürzt ist, ist es hier still und einsam. Ab und an sehe ich Neugierige, die sich über den Rehpfad am Zaun entlang quetschen, um einen Blick hinter die zerzausten Hecken zu werfen. Manchmal kommt jemand sogar mit einem Makler und macht Bilder und erzählt von Plänen, den Rabenweg 22 wieder ansehnlich zu machen. Aber diese Pläne beginnen immer damit, mich abzureißen. Seltsamerweise bleibt es bei den Plänen und die Interessenten verschwinden spurlos wieder. Auch die Makler wechseln. Ich bin als das Gruselhaus verschrien, ein Objekt, dessen Verkauf quasi unmöglich ist. Und das ist auch gut so.

Draußen höre ich Geräusche. Sie dringen durch meine zerborstenen Fensterscheiben direkt in meine Bausubstanz. Meine Wände, schimmelig nach all den Jahren, nehmen jede Schallwelle auf und leiten sie an mein Bewusstsein weiter.

Der Abend ist düster und windig, Regen prasselt gegen meine Fassade und durchweicht die hölzernen Fensterrahmen, in denen schon der Schwamm sitzt. Die Geräusche dringen näher und ich spüre, dass sich vier Menschen nähern. Urbexer. Immerhin keine Immobilienhaie mit ihren Neubauplänen. Der Letzte wollte doch tatsächlich hier ein Mehrfamilienhaus bauen. Ich bin immer noch wütend darüber.

Den letzten Urbexer habe ich vor vier Jahren in meinen Mauern begrüßt. Es ist ein komischer Menschenschlag. Immer auf der Suche nach Zerfall und Geheimnissen. Mein Geheimnis liegt im alten Dienstbotenzimmer oben links. Aber bis dahin ist bisher keiner der Ruinenfans gekommen.

Doch still jetzt. Die Besucher sind da.

Dämlich sind sie auch noch. Ächzend klettern sie nacheinander durch das zerbrochene Fenster in der Küche, dabei steht die Haustür sperrangelweit auf. Mit Taschenlampen und Kameras bewaffnet trampeln sie durch meine Mauern. Das erst lautstarke Gespräch weicht einem Flüstern und kichern, als die ersten Aufnahmen meiner Innereien gemacht werden. Jede Efeuranke, jeder Glassplitter, wird mit der Begeisterung eines kleinen Kindes gefeiert. Mein Zerfall ist deren Freude.

Die vier sind mittlerweile aus der Küche in die große Eingangshalle gelangt. Früher der imposanteste Bereich herrscht nun auch hier die Verwahrlosung. Sie stehen an der Treppe, die sich immer noch elegant in die Höhe schwingt. Während zwei der Eindringlinge weiter Aufnahmen machen, sind die anderen beiden dabei, die ersten Stufen zu testen. Sie wollen nach oben. Ich dagegen will genau das nicht.

Mit Anstrengung ziehe ich die Balken in meinem Inneren an und erhöhe damit die Spannung der Mauern und Decken. Der marode Kronleuchter der Eingangshalle beginnt gefährlich zu schwanken. Die Treppe knarrt und wackelt, die Fensterläden lösen sich von der Fassade und beginnen im Wind zu klappern.

Die Menschen in meinem Eingangsbereich sehen sich verschreckt um. Gut so. Doch anscheinend fühlen sie sich in der Gruppe stark. Nach unsicherem Gelächter versuchen nun alle vier vorsichtig die Treppe hinaufzugehen. Das kann doch nicht wahr sein! Ich setze nun alle Kraft ein, die mir geblieben ist und lasse die Stufen der Treppe wanken. Einer nach dem anderen entscheidet sich umzudrehen. Nur einer nicht. Der Große mit den dunklen Haaren scheint ein anderes Kaliber zu sein als seine Freunde. Er hält sich an der Wand fest und schleicht Stufe für Stufe nach oben. Mein erster Stock ist noch maroder als das Erdgeschoß. Hier befinden sich die Schlafräume und die große Bibliothek mit ihren staubigen Büchern. Auch hier hat die Zeit an meiner Substanz genagt.

Schon wieder werden Aufnahmen gemacht und der Mann erzählt seiner Kamera, was alles in meinem Inneren zu sehen ist. Hoffentlich verschwindet er bald wieder, denn seine Freunde werden wieder mutiger. Sie klettern schon wieder auf meiner Treppe herum wie Läuse in den Haaren. Wütend lasse ich die Tür zur Bibliothek ins Schloss fallen. Der Große dreht sich um und erzählt seiner Kamera lachend etwas von Gespenstern.

Während ich versuche, diesen Idioten zum verlassen meiner Mauern zu bewegen, merke ich erst zu spät, dass einer der anderen die zweite Etage in Angriff genommen hat und dort Türen öffnet. Er ist schon fast am Dienstbotenzimmer! Wenn ich ein lebendes Wesen wäre, würde ich jetzt tief Luft holen. Aber so wie es ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als mit aller Anstrengung die Türen zu verklemmen. In einem so alten, maroden Haus sollte sich doch keiner wundern, wenn sich die Zugänge nicht öffnen lassen, oder?

Der verdammte Idiot rüttelt an der Tür. Immer und immer wieder. Kann er sich nicht benehmen? Und jetzt kommen auch noch die anderen drei! Gemeinsam zerren sie am Türgriff, bis ich es nicht mehr schaffe, gegenzuhalten. Mit einem Knall öffnet sich das Dienstbotenzimmer.

Der Große lässt seine Taschenlampe aufleuchten und beginnt zu schreien. Ohne Rücksicht auf meine marode Substanz flüchtet er den Gang entlang und die Stufen hinunter. Seine drei Freunde sind ihm dicht auf den Fersen und ich kann nichts tun. Die Haustüre steht auf und ich schaffe es nicht, sie zu schließen. Die zerborstenen Fenster bieten ebenfalls Fluchtwege, die ich gerne geschlossen hätte. Aber keine Chance.

Bevor ich die Tür des Dienstbotenzimmers wieder ins Schloss fallen lassen kann, weht der Wind noch ein Blatt mit dem Titel „geplanter Bau eines Mehrfamilienhauses und Abriss des Altbestands“ heraus, das vorher in der knochigen Hand des Immobilienhais steckte.