Üble Gerüche
„Ravenna! Ravenna, hol endlich deinen Schnabel unter dem pechschwarzen Gefieder vor und tu deinen Dienst an mir, sonst kündige ich dir fristlos deinen Mietvertrag. Oder ich lass eine meiner Schindeln auf dein Lieblingsplätzchen stürzen!“
Wütend und drohend klapperte Henrietta mit ein paar von ihren altersschwachen Dachziegeln über dem Kopf ihrer einzigen, von ihr aus freien Stücken geduldeten, Hausbewohnerin. Wie gewohnt, in Fällen nächtlicher Not, steckte der, für Henrietta immer wieder völlig unbegreiflich, unter einem von Ravennas krummen, ausgefransten Flügeln.
„So eine Unverschämtheit, mich wieder nicht rechtzeitig vorzuwarnen! Wenn der rote Baron mir nicht so ein aufmerksamer, treuer Gefährte wäre! Machst du jetzt endlich deine verdammten Augen auf und tust deine Pflicht? Oder muss ich erst dein altes Gefieder mit einer grauen Staubschicht aus dem Jahre 1803 bestäuben, damit du dich endlich bewegst?“, stichelte sie aufgebracht.
"Wage es dir, du altes Schindluder! Nicht mal in Ruhe schlafen darf ich in diesem vermüllten Dachboden, du alte, verlodderte Bruchbude! Von wegen altehrwürdiges Herrenhaus! Ständig heißt es: „Ravenna, pick die Tannennadeln aus der Regenrinne! Ravenna, ließ die Kirschkerne von der Wiese und der Eingangstreppe! Immer soll ich dich alten Staubpalast sauber halten, obwohl du ein einziger Messihaushalt bist. Und jetzt drohst du mir mit einer Dusche deines uradeligen Dreckes nur weil ich mich Nachts von der Sklavenarbeit ausruhe?! Wage es ja nicht, mein fein säuberlich geputztes Gefieder zu beschmutzen! Dann musst du mir nämlich gar nicht mehr kündigen! Ich verschwinde ausgestreckten Flügels, so schnell und so gründlich, dass du mich nie wieder siehst!“ Ravennas Müdigkeit war nach Henriettas Ansage wie weggeblasen. Dafür war sie selbst innerlich aufs Höchste erregt. Ihr kleines Herz war nahe dran ihr den Dienst zu verweigern. Genau wie sie Henrietta. Dieses Haus hatte sie doch nicht mehr alle!
„Ravenna, du sollst…“, wollte Henrietta etwas versöhnlicher erneut zu ihrer Bitte ansetzen. Es war so dringend. Warum wollte dieser starrsinnige Vogel ihr das nie glauben?
„Ich soll immer irgendwas! Und was bekomme ich dafür? Schlaflose Nächte! Ohne mich kannst du zusehen, wer dir deine Fassade sauber und Gernod und seine Sippe, oder Clodette und ihren achtbeinigen Zoo unter Kontrolle hält. Dann bin ich eben die erste und einzige meiner altehrwürdigen Rabenfamilie, die ihren Dienst hier quittiert, meine Liebe! Was denkst du, was dann mit dir und den schlecht gehüteten Geheimnissen deiner Mauern passiert?“ In Ravennas Augen glitzerte von Müdigkeit entfachte, ungezähmte Angriffslust. Aber das war Henriettas kleinstes Problem. Sie musste hart bleiben um sich vor unberechenbaren Monstern zu schützen, die nicht totzukriegen waren.
„Jetzt hör aber auf! Ich lass mich doch von keinem verstimmten Raben erpressen, dessen Ahnen mir die Treue geschworen haben! Da draußen lungern schon wieder so stinkende Parasiten vor der Grundstücksmauer herum, die sich in nervige Geister verwandeln könnten! Also wirf endlich einen Blick aus der Dachluke und triff die nötigen Vorkehrungen für den Ernstfall! Der Rote Baron hat mir im Vertrauen und hinter raschelnden Blättern zugeflüstert, dass der neue Besuch sich von meiner klemmenden, knarzenden Tür und meinen quietschenden Angeln nicht aufhalten lassen wird. Und er kann diesmal nicht mit matschigen Kirschen oder herabfallenden Ästen ablenken.“
„Henrietta von, zu und mit Herrenhausa, hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, dass du Gespenster siehst?“
„Gernod, seine gesamte Sippe, Elsbeth, und die miesepetrige Clodette, ich sehe jede Nacht sieben Gespenster! Und da erwähne ich nicht die 357 namenlosen Ratten-und Mäuseleichen in meinem Keller, die mich auch maßlos anstinken. Diese Mietnomaden und ihre Untermieter wie Maden, Asseln, Kakerlaken und Spinnen musst du mir nicht gerade jetzt unter meine feine, wetterfühlige Balkon-Nase reiben. Ich hasse sie alle! Vom rostigen Wetterhahn auf meinem windschiefen Dachgiebel bis in die finstersten Tiefen meiner modrigen Kellerräume!“
„Ach, so meinte ich das doch gar nicht! Seit 25 Jahren weckst du mich alle nasenlang mit der Begründung, es drohe unerwünschter Besuch. Und wie oft sind es nur Kinder mit Taschenlampen oder erleuchteten Kürbissen gewesen, die lediglich, immer an der Mauer entlang, zu den Nachbarhäusern unterwegs waren?“
Henrietta schwieg ihr kein bisschen grummelndes Grabesschweigen. Nicht eine Diele ächzte. Nicht eine Latte an ihren altersschwachen Fensterläden knarrte. Nicht einmal ihre Dachlatten durften mit dem Wind pfeifen. Und kein kleinstes Bröckchen Putz von der Fassade bröckeln, was sie ungeahnte Kräfte kostete.
„Genau! Nicht ein Besucher hat nach Elsbeth dieses Haus betreten! Nicht einer von diesen Landplagen hat in 25 Jahren den stinkenden Kadaver von Elsbeth gesucht.“
„Oh, erinnere mich nicht daran! Das war so eine madeneklige Gemeinheit von Gernod und seiner Familie! Endlich, als ich dachte, dieser wiederliche, süßlich-beißende Geruch stinkenden und faulendes Fleisches würde endlich mal meine Mauerritzen verlassen, da bescheren diese Luftikusse mir zur Weihnachtszeit zwei neue Leichen! Nur so zum Spaß. So sehr diese ewig nörgelnden Meckerziegen mich auch aufgeregt haben, aber das nächste Mal bringe ich Gernod und seine Sippe um, wenn…“
„Tote kannst du nicht noch einmal töten!“
„Erinnere mich doch nicht daran! Und jetzt sieh endlich mal nach, was da draußen vor sich geht! Ich spüre es in allen Ziegelsteinen. Wir bekommen jeden Moment furchteinflößend unerwünschten Besuch!“
„Wenn du mich am Schnabel herumführst und das alles nur darauf hinausläuft, dass du wieder…“
„Ich schwöre bei meinem Fundament, dass ich dich nicht geweckt habe, weil mir langweilig ist oder ich von dir hinter meinem linken Fensterladen im Erdgeschoss gekrault werden will! Ich fürchte mich wirklich, Ravenna! Schaust du nun endlich, bevor noch Gernot und seine Familie mit ihrer Gespensterparty anfangen und sich neue Opfer einladen? Ich bin kein kostenloses Hotel!“
„Na gut, weil du es bist und ich dir noch dieses eine, letzte, aller letzte Mal glaube!“
Ravenna erhob sich. In ihren betagten Knochen regte sich Vorfreude. Lass es wahr werden, betete sie still vor sich hin. Wenn Henrietta Recht behielt, und ihre Vorkehrungen funktionierten, würde niemandem etwas geschehen. Aber sie und die gruselig schräge aber liebenswerte Henrietta könnten bis an ihr Lebensende darüber lachen. Vielleicht würd Henrietta ihr zum Dank erneut ein Tuch aus dem alten Dielenschrank überlassen. Der verschlissene, einst kirschrote Seidenschal, der ihr nun bereits seit 25 Jahren als Nachtlager diente, war wirklich mehr als fadenscheinig geworden. Gekonnt reckte sie ihre Flügel und richtete eine störrische Schwanzfeder. „Eigentlich ist es ja auch mal wieder Zeit für ein wenig Aufregung, altes Haus. Meine Krallen rosten langsam ein, genau wie deine Türangeln.“
Henrietta schauderte. Gernod war ein bedauerliches Opfer seines Weinkonsumes und seiner maßlosen Meckerei geworden. Der Rest der Familie ein Opfer ihrer Treppe und des kirschroten Läufers. Und die anderen… Henrietta schauderte. Sie war nicht böse. Ganz und gar nicht. Und sie wollte auch keine weiteren Gespenster produzieren. Aber wenn Gernod in Fahrt war und sie ihn nicht stoppen konnten…
Hatte sie wirklich an alles gedacht?
„Ich fühl mich noch nicht bereit, für neue Opfer, Ravenna!“
„Glaub mir, du bist bereit für neue Opfer! Wir haben alles geplant. Tannennadeln und Kirschkerne liegen und hängen tonnenweise im Erdgeschoss bereit. Sie werden nur auf den Kirschkernen ausrutschen, dann mit pieksigen Tannennadeln statt Gold oder Pech überschüttet und am Ende der Treppe wird Elsbeths knochiges Skelett ihnen winken. Dazu deine unheimlichen Geräusche und das Trippeln der Ratten und Mäuse. Glaube mir, die drehen schreiend und mit feuchten Hosen um und kommen nie wieder. Auf die Treppe in den ersten Stock wird niemand einen Schritt setzen. Versprochen! Und wenn ich höchstpersönlich auf ihren Köpfen landen muss. Diesmal haben wir den Spaß, Henrietta, und nicht Gernot und seine Sippe. Heute Abend wird keiner die Treppe herunterpurzeln und sich das Genick brechen.“
„Versprochen?“
„Versprochen!“
„Keine stinkenden Toten und nervigen Gespenster mehr?“
„Es bleibt bei sieben!“
„Ach, das klingt fast zu schön um wahr zu werden! Ich hasse dieses neugierige Volk, das seine Nase überall hineinstecken muss! Es geht los, Ravenna. Der erste ist innerhalb der Grundstücksmauern. Ich hab’s doch gespürt! Was hat sich die Erde nur dabei gedacht, uns mit diesen Plagegeistern zu bestrafen!“
„Keine Ahnung. Aber wir können sie nicht alle töten. Und selbst dann geben sie ja keine Ruhe, wie wir beide wissen. Versuchen wir es mal ausnahmsweise mit vertreiben, Henrietta. Das stinkt nicht bis zum Himmel.“
„Dann los! Auf dass sie diesmal nicht mein Problem werden, diese neugierigen Geister!“