dunkelzorn
Heute ist es wieder so weit. Freitag, der 13te steht vor der Tür. Und das ist in meinem Fall wörtlich zu nehmen. Denn ich bin eine Schule. Eine sehr alte Schule obendrein – erbaut vor über zweihundert Jahren! Der Rabenweg, an dessen Ende ich stehe, hat im Lauf der Jahrzehnte einige dieser Freitage durchlebt. Meine Nachbarhäuser können ein Lied davon singen, was in meinen Mauern bereits alles passiert ist. Angefangen hat das Grauen an einem Freitag, den 13ten, im Jahre des Herrn 1822. An jenem schicksalsträchtigen Tag hat sich das tugendhafte Fräulein Margaretha Gabelsberger, die Tochter des Schuldirektors, aus Liebeskummer auf meinem Dachboden erhängt. Es war Dezember und es schneite ohne Unterlass, als sie ihrem Leben ein Ende machte.
Und seitdem spukt sie jeden Freitag, den 13ten durch meine Mauern und zog jeden ins Totenreich, der es wagt, sich hier aufzuhalten.
Die Menschen im Dorf bemerkten zum Glück bald, dass ihnen immer nur nachts, nie aber am Tage Unheil in meinen Räumen drohte, und deshalb wurde ich über die Jahrzehnte weiterhin als Schule genutzt.
Nachts jedoch verblieb keiner mehr an Freitagen, den 13ten in meinen Gemäuern. Zu viel Angst hatten die Menschen vor mir.
Den Besuchern der Dorfkneipe wurde von dem Geist, der in mir spukt, berichtet und jede Generation von Trunksüchtige trug an der Theke die Gerüchte über den Geist von Fräulein Gabelsberger weiter. Genauso wie die sieben Leichen, die man im Laufe der 200 Jahre aus mir hinaustrug. Alles Männer, die nicht hatten hören wollen. Denn der Geist holte vornehmlich männliche Besucher ins Jenseits.
Heute, am 200. Jahrestag des ersten Todesfalls bin ich längst nicht mehr so schmuck wie zu meiner Anfangszeit. Die Instandhaltung meiner alten Leitungen und klapprigen Fensterläden ist zu teuer geworden, sodass zum ersten Mal seit meinem Bestehen keine lachenden Kinder mehr in diesem Jahr zum Schulanfang durch meine Eingangstüre strömten.
Ich wurde geschlossen!
Nichtsdestotrotz wird bald wieder irgendeine arme Seele geholt werden, das spüre ich in jeder meiner Dachgauben. Ich soll verkauft werden! Gibt es da draußen wirklich einen Trottel, der mich kaufen und zum Beispiel als “Wohnhaus“ nutzen möchte?
Die Gerüchteküche war wohl nicht laut genug?
Horch… ein Schlüssel dreht sich knirschend im Schloss der großen Eingangstüre. Möchte sich jemand das Haus - mich - ansehen? Heute, wo es regnet und schon bald dunkel wird?
Gerade heute?
Nun denn, wir wollen mal sehen, wer das wagt. Ah, ein Mann um die dreißig, braune kurze Haare, mit Brille, tritt suchenden Blickes ein. “Schatz, ich finde den Lichtschalter nicht! Kannst Du mir bitte helfen?“
Das lasse ich mir doch nicht zweimal sagen. Ich schalte das Licht zweimal ein und aus. Das hat sich schon oft bewährt, ließ Menschen in Panik verfallen und das Weite suchen. “Schön, dass Du den Schalter gefunden hast, Alex. Aber warum machst Du das Licht gleich wieder aus?“, ruft eine fröhliche Stimme in der Eingangshalle. Sie gehört einer hübschen Frau mit blonden Locken und Sommersprossen.
“Das war ich nicht, Jenny“, antwortet der Mann, “hier muss irgendwo ein Bewegungsmelder sein.“
Er zeigt auf die gegenüberliegende Wand:
“Da ist der Lichtschalter!“ Nachdem er das Licht angeschaltet hat, schauen sich die beiden um.
“Mir gefällt es hier! Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Gerüchte stimmen, die sich um das Haus ranken“, stellt die junge Frau fest. Sie blickt auf die Uhr.
“Wann wollen die Anderen da sein? Um 20 Uhr? Dann haben wir noch eine ganze Stunde Zeit, um es uns bequem zu machen."
Das Pärchen geht nach draußen und holt ein paar Sachen aus dem Auto. Das sieht nach Schlafsäcken aus. Sind die noch zu retten? Die wollen hier übernachten? Und es sollen noch weitere Leute kommen? Das kann ja lustig werden. Fräulein Gabelsberger hat wenige verschont.
Als sie sich ein Lager im ersten Stock eingerichtet haben, ruft unten eine Stimme: “Hallo? Alex, Jenny, wo seid Ihr? Warum ist das Licht hier unten nicht an?“
“Also, dieses Stromsparen geht dann doch zu weit!“, schimpft Alex auf dem Weg nach unten zum Lichtschalter.
„Hi Sven, hallo Maja, wir sind schon mal hoch gegangen und haben unser Lager in einem alten Klassenzimmer aufgeschlagen. Der Lichtschalter ist dort drüben. Eigentlich hatten wir das Licht für euch angelassen. Ich vermute aber, es schaltet sich nach einer gewissen Zeit von selbst wieder aus.“
“Kann schon sein, dass da eine Zeitschaltuhr verbaut ist. Wie auch immer, Maja und ich haben Taschenlampen dabei. In ein Geisterhaus ohne Licht zu gehen, ist bestimmt nicht sinnvoll. Ich bin gespannt, ob an den Gerüchten was dran ist. Ich glaube im Übrigen nicht, dass es so etwas gibt. “
Ich schmunzle bitterböse. Dieser Sven hat keine Ahnung, was ihn und die anderen heute Nacht hier erwarten wird.
Ah, ich verstehe: Licht an- oder ausschalten wird von den Vieren nicht als Warnung verstanden? Dann fällt mir als ultima ratio nur noch Türenschlagen und Fensterlädenklappern ein.
Allerdings ist auch dies schon von der einen oder anderen armen Seele als harmloses Windspiel eingestuft worden, sodass ich nicht verhindern konnte, dass sie ins Jenseits geholt wurde. Mir ist schon ganz bange bei dem Gedanken daran, was der heutigen Gruppe wohl zustoßen wird.
Bis zur Geisterstunde durchsuchen sie mich vom Keller bis zum Dachboden. Regen prasselt unablässig auf mein altes Dach. In der kleinen Dachkammer, wo Fräulein Margaretha seinerzeit wohnte und sich auch erhängte, hält sich Jenny verdächtig lange auf. Als ob sie etwas spüren könnte. Vielleicht ist sie ja ein Medium? Auszuschließen ist das nicht. Es gibt einige da draußen. Ich würde sogar darauf hoffen, dass sie eines wäre, denn dann könnte sie die Entwicklungen positiv beeinflussen – und auch ich endlich meinen Frieden finden.
Viele Leute sind im Laufe der Zeit schon in diesem Zimmer gewesen. Doch niemand hat bisher auch nur den kleinsten Hinweis darauf gefunden, weshalb sich Fräulein Margaretha damals das Leben genommen haben könnte. In ihrem Abschiedsbrief hatte als Grund lediglich etwas von “Liebeskummer“ gestanden.
Um wen es sich indes gehandelt hat, oder um was es genau gegangen sein könnte, blieb bis heute ein Rätsel.
Doch wer weiß?
Vielleicht ist heute jener lang herbeigesehnte Tag, an dem ich dazu beitragen kann, dieses uralte Geheimnis zu lüften.
Ich konzentriere mich auf den Zimmerboden und lasse Jenny über eine Diele stolpern, damit sie Margarethas Tagebuch finden kann, das darunter verborgen liegt. Und kaum hält sie es in Händen, verschlingt sie es voller Neugier. Ich wundere mich, wie sie die “Kurrent-Schrift” so schnell entziffern kann. Für diese alte deutsche Schrift mit ihren Schnörkeln braucht der Leser für gewöhnlich etwas Übung.
Schon nach wenigen Sätzen laufen Jenny erste Tränen über die Wange.
“Alex”, ruft sie mit erstickter Stimme, “kommst Du bitte? Ich bin oben im Dachboden, drittes Zimmer rechts“.
Ich weiß natürlich, was sie ihm jetzt erzählen wird. In meinen Mauern hat sich das Selbstmord-Drama schließlich zugetragen. Fräulein Margaretha war Mitte Zwanzig und galt nach den Sitten und Gebräuchen der damaligen Zeit als so genannte “Übriggebliebene“. Dies bedeutet nichts anderes, als dass sie alleinstehend war – ganz im Gegensatz zu vielen anderen Mädchen in ihrem Alter, die längst verheiratet und meist sogar schon Mütter waren.
Anno 1822 dann, in bereits erwähntem Schicksalsjahre, verliebte sich die brave Margaretha Hals über Kopf in einen gewissen Johannes von Caspar, den Sohn des Bürgermeisters. Und er schien sie auch zu lieben – jedenfalls beteuerte Johannes dies mit feurigem Schwur in jener Nacht, als er zum ersten Mal allein mit ihr war. Und er gelobte ihr – übermannt von frivolem Gefühl, wie ich vermute –, ihren Vater am darauffolgenden Tage um ihre Hand zu bitten.
Aus diesem Grunde gab Margaretha sich ihm in jener Nacht hin – und weil sie ihn von ganzem Herzen liebte.
Doch er kam nicht wieder!
Weder am nächsten Tag, noch am übernächsten.
Nie wieder.
Fräulein Margaretha vernahm in der Woche darauf, dass er seine Verlobung mit der Tochter des Bürgermeisters des Nachbarortes kundgetan hatte.
Da verfiel sie in tiefe Trauer. Wer mag erahnen, wie sehr dieser Verrat ihr Herz zerriss? Oh, wie hörte ich sie weinen und wehklagen! Tagein, tagaus. Nachdem vier ganze Wochen verstrichen waren, merkte sie, dass der nächtliche Besuch nicht ohne Folge geblieben war: In ihr wuchs ein Kind heran!
Diese Erkenntnis beschämte das arme Mädchen so sehr, dass sie keinen anderen Ausweg sah, als sich das Leben zu nehmen.
Man bedenke, zu welcher Zeit Margaretha lebte. Als ledige Frau ein vaterloses Kind auf die Welt zu bringen, war damals schlichtweg unmöglich.
Und damit ihr Vater nicht mit dieser schrecklichen Schande leben musste, erwähnte sie in ihrem Abschiedsbrief lediglich den Liebeskummer, nicht aber die Schwangerschaft.
Nachdem Jenny ihren drei Begleitern von der Geschichte erzählt hat, sitzen sie erschüttert und sprachlos in meiner Eingangshalle. Die zwei Damen schniefen vor Rührung und die Männer bemühen sich, die Contenance zu bewahren.
Alle warten gespannt auf Mitternacht.
Punkt Mitternacht schrillt ein gellendes, lautes Klingeln durch den Raum, das selbst mich aufschreckt.
“Jesus, Sven!“, ruft Alex, vor Angst japsend, “schalte sofort diesen bescheuerten Wecker aus!“
“Sorry, ich wollte nur sichergehen, dass wir den Anfang der Geisterstunde nicht verpassen“, entschuldigt sich Sven.
Plötzlich wird es still und sehr kalt.
Kein Ton kommt mehr von draußen.
Sogar das Trommeln des Regens verstummt.
Die vier wagen kaum zu atmen und blicken sich ängstlich um. Fräulein Margaretha kündigt sich an!
Dichter Nebel zieht unheilvoll in der Halle auf.
Wie oft habe ich das schon mit angesehen!
Doch heute ist es anders.
Heute spricht Margaretha!
Zum ersten Mal seit zweihundert Jahren spricht sie!
Die Vier zittern am ganzen Leibe, angesichts des anklagenden Tones der zornigen Geisterstimme:
“Zweihundert Jahre musste ich auf diesen Augenblick warten!
Zweihundert endlose Jahre voller Schmerz.
Endlich! Heute ist der Tag meiner Rache gekommen!
Einer von Euch ist ein Nachkomme von Johannes von Caspar, der Liebe meines Lebens. Jenem Manne, der meine Liebe aufs Schändlichste ausnutzte und mich so in den Tod trieb.
Doch nun hört!
Ich werde drei der Euren ziehen lassen, wenn Ihr mir nur den Einen überlasst, durch den ich meinen Frieden finden kann.
Nur durch den Tod dieses einen Nachkommen kann ich frei sein!
Solltet ihr meinem Vorschlag jedoch nicht zustimmen, so wird das Euer aller Untergang sein!“
Die vier starren sich entsetzt an.
Einer von ihnen soll geopfert werden, damit der Rest leben kann? Wer zum Teufel soll der oder die Unglückselige denn sein?
Die Paare halten sich an den Händen, während sie krampfhaft überlegen, was sie antworten sollen.
Da ich genau weiß, wie erbarmungslos dieser Geist sein kann, bin auch ich äußerst gespannt.
Alex erlangt als erster seine Fassung wieder:
“Sag mir, Geist! Wer ist es? Wer soll geopfert werden?“
Stille.
Bis ein Schrei sie durchschneidet.
“Du bist es selbst!“, kreischt es aus dem Nichts.
Das geht durch Mark und Bein, und selbst bei mir wackeln augenblicklich die Dachziegel vor Angst.
“Warum soll ich für ein Vergehen büßen, das mein Urahn vor 200 Jahren begangen hat?“, ruft Alex völlig orientierungslos ins Nichts.
“Weil Du selbst nicht ohne Fehl und Tadel bist, Unglückseliger! Auch Du hast Schuld auf Dich geladen!“
Alex beginnt zu frösteln.
Blankes Entsetzen zwingt ihn auf die Knie.
Denn er weiß: Die Anklage gegen ihn ist wahr!
Und ich selbst kann Zeugnis davon geben:
Während die Truppe meine Räume durchsuchte, war er ein ums andere Mal mit Maja zusammengetroffen. Ganz heimlich.
Und dieses kleine, niederträchtige Biest konnte nicht von ihm lassen. Immer wieder suchten ihre Lippen die seinen, strichen ihre flinken Finger an verbotene Stellen, hauchte ihre betörende Stimme in sein Ohr.
“Wie ich Dich begehre, Liebster! Nur für Dich brennt mein Herz! Nimm mich! Wieder und wieder!”
Jenny und Sven ahnten nichts von all dem.
Alex kauert am Boden, zusammengekrümmt vor Angst.
Jenny stiert ihn an.
“Jenny, oh, Jenny, es tut mir so leid“, wimmert der am Boden Kniende .
“Ich wollte das nicht. Maja hat mich dazu gezwungen, ich konnte ihr nicht widerstehen … es tut mir so leid, Jenny. Ich wollte es Dir sagen. Ich wollte nicht, dass Du es auf diese Weise erfährst! Bitte vergib mir.”
Dann richtet er sich – ganz unerwartet – wieder auf.
Ganz Mann will er nun sein.
Einstehen für seine schändliche Schuld.
Und er ruft todesmutig ins Nichts hinein:
“Es soll meine Strafe sein, dass ich für deine Freiheit mein eigenes Leben lassen muss, Geist!”
Und dann, wieder an Jenny gewandt:
“Ich wollte Dir niemals wehtun, liebste Jenny. Mein Fleisch war schwach. Doch es war nur körperlich! Ich liebe Dich! Ich liebe Dich unendlich und aufrichtig! Glaube mir!“
Jenny schaut ihn mit großen Augen an, schweigt aber.
“Nun, Ihr anderen, verlasst das Haus, damit ich mich befreien kann“, befiehlt Fräulein Margaretha.
Sven und Maja rennen in Panik durch meine Eingangshalle – hinaus ins Freie.
Alex, der sich seinem Schicksal ergeben hat, steht regungslos in der Mitte des Raums und harrt der Dinge.
Zu meiner Überraschung ist Jenny auch geblieben.
“Was suchst Du noch hier?“, herrscht der Geist sie an. “Er hat Dich hintergangen! Er hat Dir Hörner aufgesetzt und Dich entehrt. So wie Johannes mich entehrt hat. Er verdient den Tod!“
Jenny hebt die Arme beschwörend zur Zimmerdecke und sucht mit ihren Augen verzweifelt nach nach einem Wesen, nach einem Körper.
“Ich kann Dich nicht sehen, Geist. Aber ich kann Dich verstehen. Ich kann deinen unendlichen Schmerz fühlen, denn auch ich wurde verletzt. Und ich sage Dir:
Nichts weißt du von der Liebe! Zu jung warst du, als du gingst, und zutiefst verletzt! Doch viel zu früh bist du gegangen. Und nur dafür musstest du jetzt büßen. Seit zweihundert Jahren musstest du genau dafür büßen. Denn Du hast Dich an dem Schlimmsten versündigt, an dem Du Dich versündigen konntest.
Am Leben deines ungeborenen Kindes!
Dieses Verbrechen steht in keinem Verhältnis zur Schwere des Verbrechens, das Johannes an Dir begangen hat.
Und ich sage Dir noch etwas, Margaretha:
Ich weiß, dass man lieben kann. Man kann so unendlich tief lieben, dass einem das Herz in der Brust zerspringen könnte. Man kann so unendlich tief lieben, dass man einem Betrüger vergibt, der von Sinnen war, als er körperliche Nähe einer Anderen zuließ!”
Jenny wirft Alex einen belehrenden, strengen Blick zu und fügt hinzu:
“Alex! Meine Liebe für Dich ist so stark, dass ich es vorziehe, mit Dir in den Tod zu gehen, anstatt Dich für immer zu verlieren. Und ich glaube Dir, wenn Du sagst, dass Du mich liebst. Aber betrüge mich kein zweites Mal! Hörst du? Zweimal darfst du mir so etwas nicht antun. Nur ein einziger Fehler steht jedem Menschen zu, um daraus zu lernen.“
Mit diesen Worten schließt sie ihn in ihre Arme und küsst ihn.
Und noch einmal ruft sie den Geist an:
“Und Dich rufe ich an: Lerne, zu vergeben! Vergib Johannes!
Aber vor allem, vergib Dir selbst, Margaretha!
Vergib Dir endlich deine eigene Schuld!”
Und dann geschieht das Unfassbare!
Margarethas durchsichtiger Körper irrlichtert durch den Raum. Ihr Ebenbild wird sichtbar, huscht von Ecke zu Ecke, lacht, stöhnt, ja, flucht sogar - bis es sich beruhigt Es baut sich schwebend vor dem Liebespaar auf.
Sie lächelt.
Kann ich das glauben?
Zum ersten Mal seit 200 Jahren lächelt Margaretha.
Und mir zerbersten beinahe die Fensterscheiben vor Begeisterung bei diesem wunderschönen Anblick.
Ihre transparente Hand winkt Jenny freundschaftlich zu.
Meine Nerven und Stromleitungen sind bis zum Zerreißen gespannt.
Bekomme ich Margaretha heute zum letzten Mal zu Gesicht?
Und muss kein weiteres Jahrhundert voller Trauer in meinen Mauern ertragen?
Dann zerreißt ein ohrenbetäubender Knall die Luft und Margarethas Herz zerspringt in tausend Teile.
Gleißendes Licht umhüllt die Silhouette ihres leblosen, durchsichtigen Körpers. Er verflüssigt sich, wird zu Plasma, zu Dampf, dann zu Nebel – und rauscht schließlich mit einem entrückten Fauchen durch die Spalten und Ritzen meiner alten, hölzernen Türen und Fenster.
Alles ist jetzt friedlich.
Nach 200 Jahren herrscht nun Frieden in mir.
“Ist sie frei?”, fragt Alex nach einer Weile.
Jenny streichelt ihm sanft die Stirn.
“Ja, Alex. Sie ist jetzt frei.”
“Aber wo ist sie denn hin?”
Jenny deutet zum Himmel:
“Nach dort oben ist sie gegangen, Alex. Zu Jemandem, der seit zweihundert Jahren voller Sehnsucht darauf wartet, mit ihr zusammen zu sein:
Ihr ungeborenes Kind!”
Ende