Seitenwind Woche 1: Gäste im Geisterhaus

Üble Gerüche

„Ravenna! Ravenna, hol endlich deinen Schnabel unter dem pechschwarzen Gefieder vor und tu deinen Dienst an mir, sonst kündige ich dir fristlos deinen Mietvertrag. Oder ich lass eine meiner Schindeln auf dein Lieblingsplätzchen stürzen!“
Wütend und drohend klapperte Henrietta mit ein paar von ihren altersschwachen Dachziegeln über dem Kopf ihrer einzigen, von ihr aus freien Stücken geduldeten, Hausbewohnerin. Wie gewohnt, in Fällen nächtlicher Not, steckte der, für Henrietta immer wieder völlig unbegreiflich, unter einem von Ravennas krummen, ausgefransten Flügeln.
„So eine Unverschämtheit, mich wieder nicht rechtzeitig vorzuwarnen! Wenn der rote Baron mir nicht so ein aufmerksamer, treuer Gefährte wäre! Machst du jetzt endlich deine verdammten Augen auf und tust deine Pflicht? Oder muss ich erst dein altes Gefieder mit einer grauen Staubschicht aus dem Jahre 1803 bestäuben, damit du dich endlich bewegst?“, stichelte sie aufgebracht.
"Wage es dir, du altes Schindluder! Nicht mal in Ruhe schlafen darf ich in diesem vermüllten Dachboden, du alte, verlodderte Bruchbude! Von wegen altehrwürdiges Herrenhaus! Ständig heißt es: „Ravenna, pick die Tannennadeln aus der Regenrinne! Ravenna, ließ die Kirschkerne von der Wiese und der Eingangstreppe! Immer soll ich dich alten Staubpalast sauber halten, obwohl du ein einziger Messihaushalt bist. Und jetzt drohst du mir mit einer Dusche deines uradeligen Dreckes nur weil ich mich Nachts von der Sklavenarbeit ausruhe?! Wage es ja nicht, mein fein säuberlich geputztes Gefieder zu beschmutzen! Dann musst du mir nämlich gar nicht mehr kündigen! Ich verschwinde ausgestreckten Flügels, so schnell und so gründlich, dass du mich nie wieder siehst!“ Ravennas Müdigkeit war nach Henriettas Ansage wie weggeblasen. Dafür war sie selbst innerlich aufs Höchste erregt. Ihr kleines Herz war nahe dran ihr den Dienst zu verweigern. Genau wie sie Henrietta. Dieses Haus hatte sie doch nicht mehr alle!
„Ravenna, du sollst…“, wollte Henrietta etwas versöhnlicher erneut zu ihrer Bitte ansetzen. Es war so dringend. Warum wollte dieser starrsinnige Vogel ihr das nie glauben?
„Ich soll immer irgendwas! Und was bekomme ich dafür? Schlaflose Nächte! Ohne mich kannst du zusehen, wer dir deine Fassade sauber und Gernod und seine Sippe, oder Clodette und ihren achtbeinigen Zoo unter Kontrolle hält. Dann bin ich eben die erste und einzige meiner altehrwürdigen Rabenfamilie, die ihren Dienst hier quittiert, meine Liebe! Was denkst du, was dann mit dir und den schlecht gehüteten Geheimnissen deiner Mauern passiert?“ In Ravennas Augen glitzerte von Müdigkeit entfachte, ungezähmte Angriffslust. Aber das war Henriettas kleinstes Problem. Sie musste hart bleiben um sich vor unberechenbaren Monstern zu schützen, die nicht totzukriegen waren.
„Jetzt hör aber auf! Ich lass mich doch von keinem verstimmten Raben erpressen, dessen Ahnen mir die Treue geschworen haben! Da draußen lungern schon wieder so stinkende Parasiten vor der Grundstücksmauer herum, die sich in nervige Geister verwandeln könnten! Also wirf endlich einen Blick aus der Dachluke und triff die nötigen Vorkehrungen für den Ernstfall! Der Rote Baron hat mir im Vertrauen und hinter raschelnden Blättern zugeflüstert, dass der neue Besuch sich von meiner klemmenden, knarzenden Tür und meinen quietschenden Angeln nicht aufhalten lassen wird. Und er kann diesmal nicht mit matschigen Kirschen oder herabfallenden Ästen ablenken.“
„Henrietta von, zu und mit Herrenhausa, hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, dass du Gespenster siehst?“
„Gernod, seine gesamte Sippe, Elsbeth, und die miesepetrige Clodette, ich sehe jede Nacht sieben Gespenster! Und da erwähne ich nicht die 357 namenlosen Ratten-und Mäuseleichen in meinem Keller, die mich auch maßlos anstinken. Diese Mietnomaden und ihre Untermieter wie Maden, Asseln, Kakerlaken und Spinnen musst du mir nicht gerade jetzt unter meine feine, wetterfühlige Balkon-Nase reiben. Ich hasse sie alle! Vom rostigen Wetterhahn auf meinem windschiefen Dachgiebel bis in die finstersten Tiefen meiner modrigen Kellerräume!“
„Ach, so meinte ich das doch gar nicht! Seit 25 Jahren weckst du mich alle nasenlang mit der Begründung, es drohe unerwünschter Besuch. Und wie oft sind es nur Kinder mit Taschenlampen oder erleuchteten Kürbissen gewesen, die lediglich, immer an der Mauer entlang, zu den Nachbarhäusern unterwegs waren?“
Henrietta schwieg ihr kein bisschen grummelndes Grabesschweigen. Nicht eine Diele ächzte. Nicht eine Latte an ihren altersschwachen Fensterläden knarrte. Nicht einmal ihre Dachlatten durften mit dem Wind pfeifen. Und kein kleinstes Bröckchen Putz von der Fassade bröckeln, was sie ungeahnte Kräfte kostete.
„Genau! Nicht ein Besucher hat nach Elsbeth dieses Haus betreten! Nicht einer von diesen Landplagen hat in 25 Jahren den stinkenden Kadaver von Elsbeth gesucht.“
„Oh, erinnere mich nicht daran! Das war so eine madeneklige Gemeinheit von Gernod und seiner Familie! Endlich, als ich dachte, dieser wiederliche, süßlich-beißende Geruch stinkenden und faulendes Fleisches würde endlich mal meine Mauerritzen verlassen, da bescheren diese Luftikusse mir zur Weihnachtszeit zwei neue Leichen! Nur so zum Spaß. So sehr diese ewig nörgelnden Meckerziegen mich auch aufgeregt haben, aber das nächste Mal bringe ich Gernod und seine Sippe um, wenn…“
„Tote kannst du nicht noch einmal töten!“
„Erinnere mich doch nicht daran! Und jetzt sieh endlich mal nach, was da draußen vor sich geht! Ich spüre es in allen Ziegelsteinen. Wir bekommen jeden Moment furchteinflößend unerwünschten Besuch!“
„Wenn du mich am Schnabel herumführst und das alles nur darauf hinausläuft, dass du wieder…“
„Ich schwöre bei meinem Fundament, dass ich dich nicht geweckt habe, weil mir langweilig ist oder ich von dir hinter meinem linken Fensterladen im Erdgeschoss gekrault werden will! Ich fürchte mich wirklich, Ravenna! Schaust du nun endlich, bevor noch Gernot und seine Familie mit ihrer Gespensterparty anfangen und sich neue Opfer einladen? Ich bin kein kostenloses Hotel!“
„Na gut, weil du es bist und ich dir noch dieses eine, letzte, aller letzte Mal glaube!“
Ravenna erhob sich. In ihren betagten Knochen regte sich Vorfreude. Lass es wahr werden, betete sie still vor sich hin. Wenn Henrietta Recht behielt, und ihre Vorkehrungen funktionierten, würde niemandem etwas geschehen. Aber sie und die gruselig schräge aber liebenswerte Henrietta könnten bis an ihr Lebensende darüber lachen. Vielleicht würd Henrietta ihr zum Dank erneut ein Tuch aus dem alten Dielenschrank überlassen. Der verschlissene, einst kirschrote Seidenschal, der ihr nun bereits seit 25 Jahren als Nachtlager diente, war wirklich mehr als fadenscheinig geworden. Gekonnt reckte sie ihre Flügel und richtete eine störrische Schwanzfeder. „Eigentlich ist es ja auch mal wieder Zeit für ein wenig Aufregung, altes Haus. Meine Krallen rosten langsam ein, genau wie deine Türangeln.“
Henrietta schauderte. Gernod war ein bedauerliches Opfer seines Weinkonsumes und seiner maßlosen Meckerei geworden. Der Rest der Familie ein Opfer ihrer Treppe und des kirschroten Läufers. Und die anderen… Henrietta schauderte. Sie war nicht böse. Ganz und gar nicht. Und sie wollte auch keine weiteren Gespenster produzieren. Aber wenn Gernod in Fahrt war und sie ihn nicht stoppen konnten…
Hatte sie wirklich an alles gedacht?
„Ich fühl mich noch nicht bereit, für neue Opfer, Ravenna!“
„Glaub mir, du bist bereit für neue Opfer! Wir haben alles geplant. Tannennadeln und Kirschkerne liegen und hängen tonnenweise im Erdgeschoss bereit. Sie werden nur auf den Kirschkernen ausrutschen, dann mit pieksigen Tannennadeln statt Gold oder Pech überschüttet und am Ende der Treppe wird Elsbeths knochiges Skelett ihnen winken. Dazu deine unheimlichen Geräusche und das Trippeln der Ratten und Mäuse. Glaube mir, die drehen schreiend und mit feuchten Hosen um und kommen nie wieder. Auf die Treppe in den ersten Stock wird niemand einen Schritt setzen. Versprochen! Und wenn ich höchstpersönlich auf ihren Köpfen landen muss. Diesmal haben wir den Spaß, Henrietta, und nicht Gernot und seine Sippe. Heute Abend wird keiner die Treppe herunterpurzeln und sich das Genick brechen.“
„Versprochen?“
„Versprochen!“
„Keine stinkenden Toten und nervigen Gespenster mehr?“
„Es bleibt bei sieben!“
„Ach, das klingt fast zu schön um wahr zu werden! Ich hasse dieses neugierige Volk, das seine Nase überall hineinstecken muss! Es geht los, Ravenna. Der erste ist innerhalb der Grundstücksmauern. Ich hab’s doch gespürt! Was hat sich die Erde nur dabei gedacht, uns mit diesen Plagegeistern zu bestrafen!“
„Keine Ahnung. Aber wir können sie nicht alle töten. Und selbst dann geben sie ja keine Ruhe, wie wir beide wissen. Versuchen wir es mal ausnahmsweise mit vertreiben, Henrietta. Das stinkt nicht bis zum Himmel.“
„Dann los! Auf dass sie diesmal nicht mein Problem werden, diese neugierigen Geister!“

Am Ende des Rabenwegs

Für eine lange Zeit schien das alte Haus am Ende des Rabenwegs vergessen zu sein. Nichts weiter als die Heimat von fast vergessenen Geschichten und Sagen. Die meisten waren alte Legenden, nicht wirklich real, aber faszinierend genug, um die letzten zwei Jahrhunderte zu überdauern.

Das weiße Licht der Smartphones huschte hektisch über den feuchten Boden. Längst hat der Herbst Einzug am Rabenweg gehalten. Dies hielt jedoch die drei Teenager nicht davon ab, die nächtliche Ruhe des alten Hauses am Ende des kleinen Waldwegs zu stören. Die Schritte der Teenager raschelten über dem Laub, das den schlammigen Weg zum Haus bedeckte. Am Ende des Weges erstreckte sich das alte Haus aus den Schatten empor.

„Erkennst du etwas?“, fragte Jan ängstlich, als Noah, der die Gruppe bisher angeführt hatte, vor dem Haus stehen blieb.

Der Verfall hatte das Gebäude gezeichnet. Die Holzbretter des Vordachs knarrten bedrohlich im Wind, als ob das Haus sich gegen jeden Eindringling wehren wollte. Das herbstliche Laub bedeckte das alte Dach, so als würde die Natur es verschlingen wollen. Die verdreckten Fenster, von denen einige zerbrochen waren, wirkten wie dunkle Augen, welche die drei Teenager anblickten.

„Nein, lasst uns rein gehen“, sagte er mutiger als er sich fühlte und ging vorsichtig auf die schiefe Eingangstüre zu.

„Ich habe gehört, der alte Schriftsteller, dem das Haus früher gehört hatte, ist wahnsinnig geworden. Er hat aufgehört zu essen und zu trinken und ist einfach verhungert“, erzählte Jan in piepsiger Stimme, als er hektisch hinter Noah her marschierte.

„Quatsch!“, meldete sich Philip, der bisher das Schlusslicht bildete. „Der Schriftsteller wurde vom Teufel geholt und treibt seither sein Unwesen in dem Haus.“

Jan wandte sich um, „Ach ja? Warum?“

„Er schrieb Horror-Geschichten, aber sie verkauften sich nicht. Eines Abends wollte er einen Pakt mit dem Teufel schließen, damit sich seine Bücher endlich verkaufen. Danach ist er spurlos verschwunden. Manche sagen, er lebt nun in den Wänden des Hauses weiter.“

Als Jan sich wieder um wandte, stand Noah nun direkt vor dem Eingang.

„Ich habe gehört, dass der Teufel den Schriftsteller in ein Buch geschrieben hat. Wer daraus vor liest, der erweckt ihn wieder zum Leben“, sagte Noah.

„Dann lasst uns dieses Buch finden und schnell wieder verschwinden“, sagte Jan nervös.

Das Haus sah die drei Teenager näher kommen. Weder der Wind, der die Fensterläden zum Scheppern brachte, noch der entfernte Donner, der ein weiteres Gewitter ankündigte, konnte die Teenager davon abbringen, in das Haus einzutreten. In den knarrenden Fluren und staubigen Zimmern leuchteten sie mit ihren Smartphone-Lampen Zimmer für Zimmer ab und verdrängten die Schatten. Sie störten die Ruhe des alten Hauses am Rabenweg. Als sie im ehemaligen Lesezimmer des Hauses angekommen waren, wurde es dem Haus zu viel und ließ passend beim nächsten Donnerschlag die Wände zittern…

Als die alten Bücher sich aus den Regalen heraus bewegten und auf den morschen Holzboden krachten, schrien die drei Teenager auf. Fast gleichzeitig ließen Jan und Philip ihre Smartphones zu Boden fallen, wodurch der Raum wieder in Dunkelheit eintauchte. Nur noch das Smartphone von Noah warf ein schwaches, weißes Licht in den Leseraum. Noah sah seine zwei Freunde am Boden nach ihren Geräten tastend.

„Kommt schon, lasst uns hier wieder abhauen!“

Es fühlte sich an, als wäre das Haus plötzlich zum Leben erwacht, und als seine zwei Freunde endlich wieder ihre Smartphones in den Händen hielten, drängten sie beide zum Flur hinaus. Zu dritt stürmten sie nun wieder zum Haupteingang, doch die marode Holztüre, die vorhin noch weit offen stand, war nun fest verschlossen.

„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Jan mit weiten Augen.

Noah rüttelte an der Eingangstür, doch sie ließ sich keinen Spalt weit öffnen.

„Ich weiß es nicht. Sie war doch gerade eben noch offen!“

Während Noah erneut an der Eingangstüre rüttelte, bemerkte Philip einen rechteckigen Gegenstand, der aus Noahs halb offenem Rucksack lugte.

„Was ist das?“, fragte Philip und zog ein Buch aus Noahs Rucksack.

„Ist das etwa–?“

Jan runzelte die Stirn. Die Angst in dem alten Haus eingesperrt zu sein, wich seiner Neugierde.

„Hast du etwa das Buch des Schriftstellers gefunden?“, fragte er.

Noah nickte. „Ja, sorry dass ich euch noch nichts gesagt habe, aber in dem Moment fielen alle Bücher zu Boden und ich hab‘ mich geschreckt.“

„Lass‘ mal sehen“, sagte Jan und riss es Philip aus den Händen, obwohl dieser fast einen Kopf größer war als Jan.

„Nein, ich will es mir zuerst ansehen!“

Wieder donnerte es und erneut zitterten die Wände des Hauses unter dem Donnergrollen. Doch diesmal hörten die Wände nicht auf zu zittern. Fast als wäre das Haus von einem Erdbeben betroffen. Philip und Jans Streit um das Buch war vergessen und Noah nutzte seine Chance.

„Vielleicht sollten wir es wieder zurück bringen“, sagte Noah. „Ich habe doch ein ungutes Gefühl dabei.“

Die anderen nickten. Jeden Schritt vorsichtig nehmend, gingen die drei Teenager unter den zitternden Wänden wieder zurück in den Leseraum. Dort roch es nach Staub und altem Papier. Die vielen Bücher, die eben erst aus dem Bücherregal gefallen sind, lagen nun verstreut am Boden.

„Hier lag es“, sagte Noah und legte das Buch des Schriftstellers wieder auf den maroden alten Schreibtisch, auf dem er es vorhin gefunden hatte.

Für einen Moment dachten sie, es würde nichts geschehen, doch dann hörte das Zittern der Wände plötzlich auf.

„Und jetzt?“, fragte Jan.

„Jetzt können wir gehen“, sagte Noah zuversichtlich.

Das Haus sah die drei Teenager davon laufen und wusste, dass es nun nicht mehr gestört werden würde. Mit ihren unangenehm hellen Lampen liefen sie hektisch den schlammigen Weg zurück in den Wald, aus dem sie gekommen waren und das alte Haus am Ende des Rabenweges zog sich wieder in die Schatten zurück. Endlich Ruhe.

Aus anderen Tagen

Ich war ein Star. Halb Hollywood ging bei mir ein und aus. Die Kamera liebte mich. Auch wenn ich nie die Hauptrolle spielte – man hat mich gebraucht.

Alt bin ich geworden. Hier und da ein bisschen aus der Form geraten. Nichts, was man nicht mit ein wenig Kosmetik und dem einen oder anderen Eingriff wieder hinbekommen würde. Na und? In Hollywood helfen sie doch alle nach. Die einen mehr und die anderen noch mehr. Trotzdem wurde ich in den letzten Jahren immer mehr gemieden. Man setzt jetzt auf das Moderne. Zu teuer sei ich geworden. Anstrengend hat mich mal einer genannt. Anstrengend! Nur weil ich auf festen Fundamenten stehe und nicht in jedem Wind flattere wie diese grünen Tücher, die sie neuerdings überall hinhängen?
Alles wird per Computer designt, so wie sie es brauchen. Früher, als die Filme noch von Hand gemacht wurden. Früher, da hat man mich gebucht, mich ins rechte Licht gesetzt und wenn es noch immer nicht passte, dann haben sie eben das Drehbuch so geändert, dass ich glänzen konnte.

Aber das ist vorbei. Für immer offenbar. Man braucht mich nicht mehr. Ich bin abgenutzt. Die Fassade bröckelt. An allen Ecken knarrt und knackt es in mir. Ich bin nicht mehr ganz dicht im Obergeschoss und alle Latten habe ich auch nicht mehr am Zaun. Na gut, was solls? Hier und da tropft auch mal was, so richtig warm werde ich nicht mehr und auch an meinem Vorbau hat der Zahn der Zeit seine unverkennbaren Spuren hinterlassen.

Die Diva ist müde, ihre Zeit ist vorbei. Einsamkeit ist ein furchtbarer Begleiter und erst recht, wenn man das Scheinwerferlicht gewohnt war.

Vor zwei Jahren kam ein junger Mann, der mich aus allen Perspektiven anschaute, Fotos machte. Das fühlte sich gut an. Fast wie früher. Als er ging, hämmerte er noch ein Schild in den Vorgarten. Ich konnte nicht sehen, was da drauf stand. Mittlerweile ist es verwittert.

Was ist denn da im Garten schon wieder los? Was soll das? Was wollen diese Männer? Was ist das für eine Sirene?

Das Haus sieht traurig aus. Nicht mehr gruselig wie früher. Menschen wurden hier für die bekanntesten Gruselfilme Hollywoods zerstückelt, erwürgt, zerhackt, geschreddert, verbrannt und vergessen. Jetzt tragen Arbeiter Rohrleitungen aus dem Haus, Toiletteneinrichtungen, ein altes Sofa und einen Spiegel mit goldenem Zierrat.

Ein Kranwagen fährt vor, richtet sich auf. Eine Abrissbirne wird in Stellung gebracht. Die Sirene gibt das Signal. Einmal, zweimal. Die letzten Arbeiter verlassen das Haus. Der Kran holt aus und lässt die riesige Metallkugel schwingen. Holz berstet, als sie frontal auf den Giebel trifft. Das Haus leistet keine Gegenwehr. Die Kugel schwingt schon wieder zurück und zerreißt auch auf dem Rückweg Dach und die Wände des Obergeschosses. Es riecht muffig. Holzsplitter verteilen sich im Garten. Das Haus wird zerfetzt, wie diese Schauspielerin damals. Mit jedem neuen Schwung der Metallkugel stirbt das Haus ein wenig mehr. Es ist, als seien die Schreie der Frau wieder spürbar.
Kurze Zeit später ist das Haus zerlegt. Die Reste werden zerhackt, geschreddert, verbrannt und dann vergessen.

Es war nur ein Haus. Eine Kulisse aus anderen Tagen.

Heimkehr

Müde knarren die Fensterläden im Wind. Ich spüre ihr Leiden im ganzen Bau, ihr Ächzen ist schon seit unzähligen Zeiten mein treuer Begleiter. In meinen Wänden bahnen sich die Holzwürmer ihre Wege und unter meinem Dach nisten Fledermäuse. Ein lustiges, aber doch nerviges Völkchen.

Ach, wie stolz und stattlich ich einmal war! Fein verputz, edel tapeziert und mit strahlenden Augen von Fenstern.

Und meine Dame, meine teure Herrin, sie hat mich geliebt und gepflegt, mehr als alles andere.

Viele Menschenleben ist das schon her, als sie von mir ging und mich allein zurückließ. Aber sie hat versprochen, eines Tages zu mir zurückzukommen.

Zu lange warte ich schon auf ihre Rückkehr.

Stattdessen werde ich ständig von diesen „Abenteuern“ heimgesucht. Wie nervige Fliegen stören sie in den dunkelsten Nächten mein Frieden und werden dafür wie Fliegen bestraft.

Heute ist das schon wieder soweit.

Sie sind zu dritt. Menschenkinder. Vielleicht sind sie auch keine Kinder mehr, aber mir ist das gleich. Ich habe bereits so viele Winter auf dieser Welt gezählt, dass mir all ihre Wesen wie Kinder erscheinen.

Nur die Eiche im meinem Hinterhof ist älter.

Die zwei jungen Männer tuscheln irgendwas untereinander, was ich nicht verstehen kann. Der dritte Mensch, ein Mädchen, steht nur etwas abseits und beobachtet mich mit dunklen Augen.

Irgendwann entscheiden sie sich.

Ich gewähre ihnen den Zugang, denn was können sie mir schon anhaben?

Mächtige Kräfte ruhen in meinem Herzen, die meine Herrin mir einst schenkte und die ich bis zur ihrer Rückkehr treu für sie aufbewahren werde.

Die Männer haben Lichter mitgebracht und halten seltsame Geräte in den Händen, durch welche sie durchschauen, als würden diese ihnen etwas anders offenbaren als Dunkelheit und Spinnweben und…

Was ist das?

Das Mädchen zieht meine Aufmerksamkeit an sich. Sie tritt in die Mitte der Salons und schaltet ihr Handlicht aus.

Ich halte inne.

Ich spüre etwas. Ein Pochen in meinem tiefsten inneren, das wie ein lang vergessener Herzschlag mein altes Holz erschüttert.

Die alte Uhr im Salon schlägt dreizehn mal und ein Windzug bringt die Vorhänge an den Fenstern zum flattern. Ich glaube, ein Schrei zu hören, aber gerade ist er fern und unbedeutend. Sollen sie laufen. Heute werden sie leben.

Das Mädchen im Salon steht wie angewurzelt da. Warum läuft sie nicht weg?

Eine Erschütterung durchdringt mich, ich seufze und heule wie noch nie zuvor. Die silbernen Kelche und das Porzellangeschirr in den Schränken zittern und klappern, wie ängstliche Kinder.

Das Mädchen hebt ihre tiefschwarzen Augen zum Spiegel über dem Kamin und schaut ruhig hinein.

Und plötzlich erkenne ich.

„Ich bin zu Hause, Darling,“ - flüstert sie.

Mein Herz beginnt wieder zu schlagen.

Ja, auch ein Haus hat ein Herz.

Fröhlich knarren die Fensterläden im Wind…

Es wird wieder früher dunkel und die kalte Jahreszeit bricht an. Ich freu mich jedes Jahr darauf obwohl die Erinnerung als ich noch bewohnt wurde und man mich brauchte, von Jahr zu Jahr verblasst. Die Glut in meinem Kamin ist schon lange kalt, der Wind fegt durch meine kaputten Fenster und pfeift durch den Schornstein. Doch ich erinnere mich. Auch wenn es mir lieber wäre wenn nicht. Schon lange wurde im meinem Kamin kein Feuer mehr entzündet und der Geruch von warmen Essen der mich erfüllt ist nur noch ein ferner Traum. Es gab eine Zeit da dachte ich es würde immer so sein. Menschen die in mir wohnen. Die glücklich sind. Die Familien gründen. Die lachen, leben und mich lieben. Aber schmerzlich musste ich lernen das nichts so bleib wie es. Menschen leben nicht ewig. Viele Familien haben in mir gelebt aber alle haben mich verlassen sobald sie ein anderes Haus attraktiver fanden. Und mit der Zeit wurde ich zu altmodisch und immer weniger Menschen entschieden sich ihr leben mit mir zu teilen bis sich eines Tages niemand mehr um mich kümmerte. Jahre hoffte ich noch, aber jeder, der sich die Mühe machte mich zu begutachten murmelte etwas über Sanierung, Dichtungen und Geldfresser.Jetzt kommt niemand mehr. Vermutlich ist es auch ganz gut so. Ich brauche niemanden. Sollen sie alle wegbleiben und sich schicke kleine Häuser suchen die zusammen mit anderen schicken Häusern aneinander gequetscht in einer Reihe stehen. Ich fühle mich wohl so ganz alleine am Ende meiner Straße. Nur manchmal in der Dämmerung wenn ich die Lichter in der Ferne sehe überkommt mich eine tiefe Traurigkeit die ich schnell verdränge.

Als ich eines Abends Gelächter höre das näher zu kommen scheint ignorieren ich es. Aber… Mist ich bin einfach zu neugierig selbst nach all dieser Zeit. Ich beobachte wie ein paar Menschen den Weg zu mir hochlaufen. Sie schupsen sich gegenseitig und lachen dabei. Als sie näher kommen kann ich drei Jungen und ein Mädchen das sich im Hintergrund hält erkennen. Sie müssten so um die 17 Jahre sein, also genau das Alter um mir Ärger zu machen. Ich seufzte. Seit ein paar Jahren kommen immer wieder Jugendliche zu mir weil sie mutig sein wollten. Anscheinend bin ich berühmt geworden als das unheimliche Haus im Rabenweg. Und diese dummen Kinder wollen ihren Mut beweisen indem sie mit Steinen nach mir schmeißen. Was das mit Mut zu tun hat hab ich noch nicht herausgefunden.Aber egal sobald ich mit meinen Fensterläden klappere und Türen auf und zu schlage rennen sie jedesmal schreiend weg und kommen nicht wieder.

Jetzt sind sie so nah das ich ihre Stimmen verstehen kann.

Bill, was wird das? Ich hab meiner Mutter versprochen um 21:00 zuhause zu sein

sagt das Mädchen. Sie betrachtet erst mich, dann den Garten misstrauisch aber ich kann keine Angst in ihrem Blick erkennen. Bei den drei Jungs sieht das schon anders aus. Ich lassen eine Tür im inneren knallen und schon kreischen sie im Chor. Ich muss leise lachen.Das wird einfach werden.

Das Mädchen fängt an zu lachen. Wütend dreht sich ein Junge zu ihr.

Lisa sei leise. Ich hab dir doch gesagt das wir Männer was besprechen müssen. Du hättest auch vorne warten können

Hallo, du hast gesagt wir würden heute was zusammen unternehmen.Ich dachte wir gehen was essen oder ins Kino. Das wir deine Freunde abholen und zum Rabenhaus gehen hast du anscheinend in deiner Einladung vergessen zu erwähnen

Süße

zischt Bill ungeduldig

ich klär nur kurz was mit Jim und Karl dann gehen wir machen was immer du willst. Meine Eltern sind heute Abend nicht zuhause und wir können es uns gemütlich machen und du zeigst mir wie sehr du mich magst

er grinste in Richtung seiner Freunde und blickte Lisa an

Das würde dir bestimmt gefallen, oder?

Ich konnte sehen wie alle Farbe aus dem Gesicht des Mädchens verschwand.

Bitte was?

stotterte sie,

sag mal für was hältst du mich?Wir haben uns erst zweimal getroffen.Wenn es dir nur darum geht, jemanden flach zu legen, solltest du dir lieber was anders suchen. Ich bin mir dafür zu Schade.

Zornig dreht sie sich um und will gehen, aber Bill packt ihren Arm.

He, mal langsam Süße ich meinte doch nur.Jetzt sei doch nicht gleich so zickig. Was sollen denn meine Freunde denken wenn du hier so einen Aufstand machst.Komm mal wieder runter.Ich muss nur noch schnell was klären und dann bin ich nur für dich da.

Was ist das denn für ein arrogantes Arschloch denke ich und das Mädchen gibt mir recht indem sie es ihm ins Gesicht brüllt.Sie hat wirklich Mut und lässt sich nichts gefallen. Ich mag sie.

Du kannst mich mal Bill. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Lass mich auf der Stelle los sonst wirst du es bereuen.

Bill lacht,

< ich mag das du dich sträubst. So viel Temperament hab ich dir garnicht zugetraut,

er blickt hinter Lisa

oder Jungs? Sie ist schon was besonderes. Dann fangt mal an um die Reihenfolge spielen damit wir hier wegkönnen. Dieser alte Kasten wird immer unheimlicher. Das nächste mal Regeln wir das an einem gemütlicheren Ort

Jim und Karl nickten zustimmend und blicken an mir hoch.

Also, wie machen wir es? Spielen wir mit punkten oder was

fragt Karl mit piepsiger Stimme.

Der Stein der das oberste Fenster zuerst trifft darf als zweites an sie rann

antwortet Jim und lässt seine Augen langsam über Lisa gleiten.Bill nickt zustimmend.

Gute Idee, aber macht schnell. Ich hab noch was vor

er hält Lisas Arm immer noch umklammert und streichelt mit der anderen Hand ihre Wange.

Ich kann nicht glauben was ich da höre. Spielen diese drei Idioten grade wirklich um die Reihenfolge bei dem Mädchen.

Lisa holte tief Luft,

das werdet ihr bereuen das schwöre ich euch. Niemand fast mich ohne meine Erlaubnis an. Niemand! Verstanden!

Langsam schiebt sie sich ein bisschen näher an Bill heran und flüstert ihm ins Ohr.

Weißt du woraufmeine Eltern schon immer wehrt gelegt haben?

Bill schüttelt leicht grinsend den Kopf

Nein süße, auf was denn?

Auf Selbstverteidigung!

Fasziniert beobachte ich wie sie ihr Knie ruckartig nach oben zieht ,Bill ein röchelndes Geräusch von sich gibt und zu Boden sinkt.

Nenn mich nie wieder Süße,

schnell wendet sie sich um sich den anderen zwei zu, die wie erstarrt zugesehen haben.

Los packt sie

keucht Bill vom Boden aus. Lisa schaut sich hektisch um, die Jungs versperren ihr den Fluchtweg deshalb bewegt sie sich rückwärts langsam auf einem Eingang zu. Obwohl ich nie wieder einen Menschen Einlass gewähren wollte zögere ich keinen Moment und öffne meine Türe.Ich lasse meine Fenster klappern und ziehe Luft durch meine Kamin. Heulend dringt er durch mich hindurch und ich lasse ihn um Lisa herum gleiten und mit voller Wucht die Jungs treffen. Im nächsten Moment ist Lisa in meinem Eingang. Schnell schlisse ich die Tür. Ein erstauntes Keuchen kommt von ihr und dann springt sie zum Fenster. Die Jungs liegen am Boden aber sie rappeln sich schnell wieder auf. Einer der drei hat sich in die Hose gemacht.

Los verschwindet

ruft sie laut

ihr ach so tollen Männer. Ha, das ich nicht lache. Ihr könnt froh sein das ich nicht noch etwas schlimmeres mit euch mache. Solltet ihr jemals wieder so einen scheiss bei einem Mädchen abzieht, werde ich es erfahren. Lauft nachhause und bettet das ich es mir nicht noch mal anders überlege!

Erstaunt sehe ich wie die Jungs weglaufen und sich immer wieder ängstlich umsehen. Ein paarmal fallen sie sogar über ihre eigenen Füße. Als sie aus unserem Blick verschwunden sind sinkt Lisa auf meinem staubigen Boden.
Ich weiß nicht was ich machen soll. Sie scheint keine Angst vor mir zu haben. Ich vermische Mondlicht mit Staub um neben ihren Füssen - Keine Angst- zu schreiben. Dann warte ich ab. Ihr Atem geht gleichmässig und ruhig. Ihr Finger bewegt sich über meinen Boden als sie -Ok- schreibt. Leise räuspert sie sich und sieht sich um

Ich weiß nicht warum du mir geholfen hast aber ich danke dir von ganzen Herzen. Ohne deine Hilfe hätte ich es vielleicht nicht geschafft zu entkommen. Ich komme mir so dumm vor. Er war am Anfang wirklich nett und ich dachte wir würden uns mögen,

eine Träne lief ihr die Wange herunter.

Ich wischte sie mit einem Windhauch fort und bringe sie zum lächeln. - Nicht deine Schuld- ließ ich im Staub erstehen und sie seufzte und fing leise an zu lachen.

Ich sitze im Rabenhaus und unterhalte mich mit…keine Ahnung mit wem aber es tut gut. Und ich verspüre nicht die geringste Angst. Was ein verrückter Abend. Wer oder was bist du?

-Ich bin ich. Das Haus-

Oh

mit schiefem Lächeln betrachtet sie meine Eingangshalle

das erklärt warum sich die Fenster und Türen gleichzeitig bewegt haben.Ist es ok wenn ich noch ein bisschen bleibe? Ich glaube nicht das die Idioten noch einmal zurück kommen aber sicher ist sicher<

-Willkommen-

Lisa steht auf und wischt sich den Staub von der Hose. Sie beginnt im unteren Geschoss ihre Erkundung und ich erhelle mit Mondlicht jedes Zimmer das sie sehen will. So vergeht die Zeit wir im Flug. Lisa ist begeistert von dem vielen Platz und die unendlichen Möglichkeiten die sich in mir bieten. Am Ende ihrer Tour steht sie mit leuchtenden Augen wieder in meiner Eingangshalle.

Vielen vielen Dank das ich alles sehen durfte. Doch jetzt muss ich langsam nachhause um meiner Mutter zu erzählen was heute passiert ist. Diese Mistkerle sollen nicht denken ich hätte Angst vor ihnen. Ein bisschen was werde ich aber auslassen. Sonst kommen alle möglichen Leute um die zu untersuchen und wer weiß was sonst noch mit dir anzustellen.

-Danke-

Ist es ok wenn ich dich wieder besuche? Ich könnte dir Gesellschaft leisten.<

-Das wäre toll!!!-

Lisa lacht und dreht sich im kreis

Super, ich komme morgen und bringe ein paar Kerzen mit und einen Besen. Hier liegt teilweise echt viel staub. Aber natürlich nur wenn du willst?<

Nun musste ich auch lachen und lies den staub aufwirbeln. In der Luft bildete ich ein staubiges -Gerne- und öffne die Tür. Lisa winkt mir und macht sich auf dem Weg. Glücklich blicke ich ihr nach. Heute habe ich etwas gefunden was ich noch nie hatte. Eine Freundschaft. Sie kommt wieder um Zeit mit mir zu verbringen. Nicht weil sie es muss, sondern weil sie es will. Ich fühle mich nicht mehr allein sondern blicke das erstmal seit langer Zeit positiv in die Zukunft. Denn auch wenn nicht alles so bleibt wie es ist, heißt es nicht das Veränderungen schlecht sind. Und so warte ich am Ende der Rabenwegs, darauf, das nichts mehr so bleibt wie es ist und das zum ersten mal ohne Angst.

La Domaine de la Comtesse Corbeau

Chemin du corbeau zeigte das schief herunter hängende Schild am Anfang des zugewucherten Pfades. Kaum mehr als ein Trampelpfad war von der einstigen Straße übrig geblieben und hinter den zugewachsenen Platanen, deren Stämme im dichten Unterholz verschwanden, duckte sich dunkel der Schatten eines Gebäudes.
„Monsieur Colbert?“, fragte Stephanie neugierig.
„Oui, ma pètite?“
„Wohin geht es denn dort drüben?“ Sie deutete auf den schmalen Pfad, der schon nach wenigen Schritten im Dickicht verschwand.
Monsieur Colbert wirkte noch ein wenig blasser, als er ohnehin aussah, und machte eine wegwerfende Handbewegung, doch in seiner Stimme schwang ein zitternder Unterton mit.
„Oh, es ist nichts“, antwortete er mit seinem starken, französischen Akzent, „c´est… comment ce dire… la Domaine de la Comtesse Corbeau. Ein Anwesen aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Dort ist seit Jahren niemand mehr gewesen. Die Leute im Ort meiden das Haus, weil es dort angeblich spukt.“
Seine Stimme wurde leiser und geheimnisvoll.
„Man sagt, dass nach Einbruch der Nacht in den Jahrhunderten immer wieder Menschen in seinen Mauern verschwunden sind. Die Gräfin hat zu Lebzeiten satanische Messen und Beschwörungen dort abgehalten und angeblich haben sie dabei auch etwas in unsere Welt geholt, was nicht hierher gehört. Am dreizehnten Oktober 1848 versuchte eine kleine Gruppe Adeliger die beginnende Revolution mit den Mächten der Finsternis zurückzudrängen um ihre Macht zu behalten. Dreizehn Personen aus ihrem Umfeld, sowie die Comtesse selbst, bildeten einen sogenannten schwarzen Zirkel. Aber bevor die Revolutionäre sie aus ihrem Haus auf die Guillotine zerren konnten, verschwanden sie alle an diesem Abend auf mysteriöse Weise. Seither ist das Anwesen verlassen und niemand hat es mehr nach Sonnenuntergang betreten. Die Leute hier wollen, dass man das Haus in Ruhe lässt, damit sein Fluch nicht mehr erwacht.“
Monsieur Colbert beugte sich zu ihnen hinunter, strich sich über den dünnen, schwarzen Schnurrbart und schenkte der Gruppe ein dünnes Lächeln.
„Und wir wollen doch auch, dass das so bleibt, nicht wahr?“
Stephanie zuckte schuldbewusst zusammen und nickte. Monsieur Colbert klatschte laut in die Hände und winkte den Rest der Klasse, ihm zu folgen.
„Alors, jetzt kommen wir zu einer wirklich interessanten Sehenswürdigkeit aus dem späten Mittelalter… folgt mir bitte hier entlang. Vite, vite, wir kommen sonst zu spät zum Abendessen.“

Stephanie blieb wie gebannt stehen und blickte auf den Pfad. Das Haus schien sie irgendwie… zu rufen.
„Ein echtes Geisterhaus…“, flüsterte sie zu sich selbst.
„Ich kenne diesen Blick“, meinte eine helle Stimme neben ihr. Ihre Freundin Emma war mit ihr stehengeblieben. „Du willst doch nicht etwa da rein gehen, oder Steph?“
Stephanie kaute gedankenverloren auf ihrem Zopf herum und machte einen unsicheren Schritt auf den Pfad zu.
„Steph!“, schimpfte Emma. Ihre roten Locken wippten, als sie sich mit zornigem Blick und in die Seiten gestemmten Fäuste vor ihre Freundin stellte.
„Hm?“
„Du willst doch nicht etwa da rein?“, wiederholte sie ungehalten und zeigte mit dem Finger auf die Schülergruppe, die schon fast um die nächste Ecke verschwunden war. „Die anderen sind schon fast weg! Komm schon, wegen Dir bekommen wir sonst nur wieder Ärger.“
„Ach komm, Em“, antwortete Stephanie, „nur mal gucken. Du glaubst doch nicht etwa an die Spukgeschichten von Monsieur Colbert? Das ist nur ein altes Haus.“
Emma trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Einerseits wollte sie den Anschluss zur Gruppe nicht verlieren und keinen Ärger bekommen, andererseits wollte sie auch nicht vor ihrer Freundin wie ein Feigling dastehen.
„Na schön, dann aber Beeilung. Es wird bald dunkel und ich will vor dem Abendessen in der Jugendherberge sein.“

Die Eingangshalle des Anwesens war staubig und dunkel. Es roch nach Moder und alter, abgestandener Luft. Draußen ging das Licht des Tages bereits in einen stahlgrauen, wolkenverhangenen Abend über. Ein Gewitter lag in der Luft.
Emma und Stephanie aktivierten die Taschenlampen ihrer Handys, aber ihr schwacher Schein verlor sich in der großen Halle.
„Du, Steph?“, flüsterte Emma hinter ihr und ließ die torähnlichen Türflügel weit geöffnet.
„Hm?“
„Weißt Du noch, was Monsieur Colbert gesagt hat? Über das Haus?“
„Was meinst Du?“ Sie blieb stehen und sah ihre Freundin an.
„Er sagte, das Haus sei die Domaine de la Comtesse Corbeau.“
„Ja, und?“ Stephanie zuckte die Schultern.
Domaine kann man mit Anwesen übersetzen – aber auch mit Domäne oder Vermächtnis.“ Emma sah sich ängstlich um. „Was ist, wenn an der Geschichte doch etwas dran ist?“
Stephanie lachte und ging weiter.
„Ach komm. Du bist ein alter Angsthase. Es gibt keine Geister.“
Der Boden bestand aus Marmorfliesen und zierliche Engelsfiguren zierten die stuckbesetzten Wände und Decken. Eine Treppe führte noch oben auf eine Galerie und an den Seiten gingen Türen ab zu kleineren Salons. Einige hingen nur noch an einer Angel und offenbarten dunkle Durchgänge. Alles Licht wurde von den Schatten dahinter verschluckt. Sie folgten der Treppe nach oben und besahen sich die Bilder und Verzierungen der Wände. Neugierig ging Stephanie näher heran und betrachtete die Engel. Ein Blitz zuckte vor den Fenstern auf. Einen Sekundenbruchteil lang, verzerrte er das Gesicht des Engels zu einer Wolfsfratze mit gefletschten Zähnen und die weißen Engelsflügel zu schwarzen Rabenschwingen. Für einen kurzen Moment hatte Stephanie das Gefühl, wie durch einen Schleier zu blicken. Auf eine andere Welt. Eine Welt, die direkt unter der Oberfläche ihrer eigenen schlummerte und nur darauf wartete, freigelassen zu werden.
Vor einem der Gemälde am Eingang eines weiteren Saales, der wie ein Ballsaal aussah, blieben sie stehen. Es zeigte dreizehn dunkel gekleidete Gestalten, die in der Mitte des Saales um eine Person herumtanzten, die inmitten eines Symboles in der Luft schwebte.
Stephanie beleuchtete das Bild und betrachtete die Gestalt genauer. Sie trug ein weißes, schmuckloses Kleid und ihr Haar leuchtete in strahlendem Rot.
„He, schau mal, Em. Die sieht dir fast ein bisschen ähnlich.“ Sie drehte sich zu ihrer Freundin um, gerade als ein weiterer Blitz die Halle erhellte. Um Emma herum standen die dreizehn Vermummten im gleichen Herzschlag, den der Blitz brauchte, um zu verlöschen. Stephanies Herz schlug bis zum Hals und die Zeit schien stehen zu bleiben.
Die Halle sah verändert aus. Ein Alptraum aus rotem Fleisch und Feuer. Schwefelgeruch mischte sich mit dem metallischen Geruch von Blut. Dann war es vorbei.
Emma schrie auf und ließ ihr Handy fallen. Als das Display zersplitterte und erlosch, fuhr ein Wind von durch die Halle, der aus den Eingeweiden des Hauses zu kommen schien, die Torflügel packte und mit lautem Krachen ins Schloss warf. Draußen ging mit einem Donnergrollen das Gewitter nieder.
Auch ihr eigenes Handy war plötzlich dunkel geworden. Panisch startete Stephanie das Gerät neu und atmete hörbar auf, als das Display wieder hell wurde. Das Wetter-Widget ihres Startbildschirms zeigte das heutige Datum, die Uhrzeit und eine Gewitterwolke. Als sie die Zahlen las, griff eine eisige Hand nach ihren Eingeweiden. Es war der 13. Oktober 2018. Stephanie leuchtete mit dem Display auf die Stelle, an der eben noch ihre Freundin gestanden hatte.

Dann hörte sie das Singen.

Dungeon-Motel

Willkommen im Monster-Motel der Abenteurergilde von Ashrûhn, dem Grundstein des Rabenwegs und ältesten Dungeon-Gebäude jenseits von Midgard. Auf 100 Stockwerken bieten wir Ihnen die unterschiedlichsten menschenfeindlichen Widersacher, ein Schlachtspektakel der Extra-Klasse. Für einen geringen Obolus erwerben Sie das Recht, einen Monat lang die Stockwerke des Motels zu erkunden, alle Beute, die Sie dabei machen, gehört Ihnen.

Auf jedem zehnten Stockwerk gibt es eine Ruhezone, in der Sie sich ausruhen, Ihre Ausrüstung überprüfen und nachbessern und sowohl mit der Gilde als auch anderen Abenteurern ungestört Handel treiben können. Die dortigen Betten stehen Ihnen kostenfrei zur Verfügung, Gruselfaktor mit inbegriffen.
Aktuell läuft das Halloween-Event und unser 200-jähriges Jubiläum: Wir haben die Ruhezonen entsprechend dekoriert. Sammeln Sie Totenschädel und Kürbisrezepte auf allen 100 Ebenen, einzigartige legendäre Waffen verstorbener Helden und craften Sie neue Ausrüstungsgegenstände, die nur im Oktober verfügbar sind, darunter die Kürbismaske, das Falsche-Skelett-Totem und den Sensenmann-Umhang.

Außerdem steht Ihnen die brandneue Folterkammer zur Verfügung: Testen Sie Ihre stärksten und gemeinsten Attacken sowie die Schärfe Ihrer Klingen an wehrlosen Kreaturen, um für den Kampf auf Leben und Tod gewappnet zu sein. Suchen Sie sich dafür gerne ein passendes Exemplar aus unserem hauseigenen Kerker aus. Unser Folterknecht und unsere Schmiede stehen Ihnen vor Ort jederzeit für Verbesserungen zur Verfügung.

Sollten Sie bei der Erkundung des Dungeons zu Tode kommen gehören all Ihre zu diesem Zeitpunkt mitgeführten Gegenstände und all Ihr Münzgeld der Gilde. Hochklassige Gegenstände werden bei der nächsten Auktion verkauft.

Wir bitten um Verständnis, dass wir für Verletzungen jeglicher Art, ob körperlicher, psychischer oder magischer Natur keine Haftung übernehmen. Desweiteren übernehmen wir keine Bestattungskosten. Die Körper und Seelen gefallener Abenteuer, die unter dem Fluch eines Nekromanten geraten, gehören künftig zu unseren Dungeon-Aufgebot und dürfen von jedem Abenteurer besiegt und geplündert werden.

Die Kreaturen des Dungeons dürfen vor Ort vernichtet, nicht aber aus dem Motel entführt werden, da dies sowohl den Gilden-Richtlinien als auch den örtlichen Gesetzen zum Schutz der einheimischen Bevölkerung widerspricht. Entlaufene Monster sind umgehend zu melden und wenn möglich zu liquidieren. Die Abenteurergilde bedankt sich für Ihre Umsicht und Kooperation.
Bei Fragen zu unserem Angebot oder den Hausregeln wenden Sie sich jederzeit an den Portier, unsere (gruseligen) Hausmädchen oder die Motel-Leitung.

Eine Ergänzung aus aktuellem Anlass: Die Dienstmädchen dürfen nicht daran gehindert werden, Blut aufzuwischen oder Leichenteile zu sammeln. Kein Abenteurer will im Kampf auf den Gedärmen desjenigen ausrutschen, der vor ihm diese Ebene betrat. Außerdem bitten wir Sie, den Zimmermädchen nicht nachzustellen, Ihnen keine Blumen oder abgelaufene Valentinstagsschokolade zu schenken. Vielen Dank!

Meine Kinder

Seit drei Tagen kommen sie mich jetzt schon besuchen .Mit ihren Schmutzigen Schuhen tragen sie ihren Dreck in mein Vorzimmer und werfen ihren Müll in alle Ecken .Wenn es Nacht wird höre ich ihre Stimmen immer näher kommen bevor sie es sich in meinen Räumlichkeiten bequem machen .Was solls ,es sind nur Kinder. Sollen sie es sich ruhig gut gehen lassen ,in meinem vermodernden Gerüst aus Holz und Stein dass so mancher früher als Haus bezeichnete .Als meine Besitzerin hier noch lebte war auch immer so einiges los und viele Kinder tobten spielend durch meine Räume .Aber dann stand ich auf einmal alleine da .Die Kinder wurden erwachsen und verließen mich, einige Jahre später starb meine Besitzerin, seit dem war es ruhig ,ich war verloren ,verloren am ende des Rabenweges .Jetzt ist es aber wieder fast wie früher ,mit diesen unordentlichen Teenagern. So wie sie meine Wände beschmieren ,herumknutschen ,laut Musik hören und mit ihrem getanze meinen morschen Boden zum zittern und meine hölzernen Wände zum wackeln bringen .Jede Nacht freue ich mich auf ihr wiederkommen .Jeden Tag warte ich bis sie wieder Stimmung in mein altes Gerüst bringen.
Es ist wieder so weit, ich höre ihre Stimmen sie werden immer lauter und kommen näher, das kann nur wieder ein unterhaltsamer Abend werden .Sie schlagen die Türe weit auf so dass der Türknauf heftig gegen meine Wand knallt .Das macht nichts .Laute Musik dröhnt aus einem großen Lautsprecher den sie mit gebracht haben .Es riecht nach Bier und billigen Fusel den sie sich in ihre Kehlen schütten und laut darauf los grölen .Was für ein spaß sie tanzen zu sehen und wie sie Freude daran haben, erinnert mich an früher als Kinder noch hier lebten .Ihr seid jetzt meine Kinder und hoffentlich kommt ihr mich noch oft besuchen .Doch was ist dass ,durch meine alten klappernden Fenster dringt plötzlich ein grelles unangenehm blaues Licht hindurch . ,Polizei macht auf !" hämmert es gegen meine
Türe .Sie klopfen noch fester dagegen und ihre Rufe werden lauter .Nein geht ,geht weg !Lasst uns in ruhe !,Kommt raus die Party ist vorbei!" Nein meine Kinder werdet ihr mir nicht wegnehmen! Auf einmal zittern meine Wände stärker als sonst, so stark dass es kracht und ich das Dach mit meinem maroden Gerüst nicht mehr tragen kann .Ich brach zusammen, stürzte ein, unter mir begraben meine Kinder.
Jetzt sind wir für immer zusammen.
Für immer.

Einsamkeit ist ein zermürbendes Gefühl. Und sie wird mit den Jahren nicht besser. Ich denke mit Wehmut an die goldenen Zeiten zurück, als in mir noch gelacht, getanzt und gefeiert wurde. Rauschende Feste, Hochzeiten, Beerdigungen. Die Beerdigungen mochte ich besonders, weil da selbst der größte Rüpel Emotionen zeigte und man sich gegenseitig in den Arm nahm. Mich nimmt keiner in den Arm. Bin ja auch viel zu groß dazu. Und wer würde es denn auch schon wagen, einen Fuß in mein Gemäuer zu setzen? Sind doch alles Schisser hier im Dorf.

Vor Jahren wollten sie mich abreißen. Da fiel – schwupps – ein klitzekleiner Ziegelstein auf den leitenden Bauarbeiter, der dann – leider, leider – mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus kam. Es starben viele seiner Gehirnzellen ab, damals. Heute ist er der Dorfdepp. Nicht ganz normal im Oberstübchen. Und mir gaben sie die Schuld. Dabei hab ich mich nur gewehrt. Ich will schließlich auch leben! Seither hat sich kaum jemand in meine Nähe getraut. Ach, wie ich fröhliches Kinderlachen vermisse! Wann hat zum letzten Mal jemand in mir gesungen? Es ist viele, viele Jahre her. Wenn die Dunkelheit sich über mich herabsenkt, ist es am schlimmsten. Zwar berichtet mir mein Freund, das Käuzchen, immer den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Dorf, aber es ist halt nicht mehr so wie früher, als ich alles selbst miterleben durfte.

Und wem erzähle ich das alles? Dir, kleiner Hund. Du hast keine Angst vor mir, hast die alten Gerüche meiner Mauern in dich aufgenommen. Bist mit der Schnauze am Boden in mein Innerstes gekrochen, dorthin, wo schon lange niemand mehr war, und hast Pfotenabdrücke in meinem Staub hinterlassen.

„Rocky!“, ruft eine helle Stimme und nähert sich mir. Ein Mensch! Freudig klopft mein Herz so laut, dass etwas Putz vom Gemäuer abbröckelt. Eine junge Frau kommt auf mich zu. Ganz vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, öffne ich die morsche Eingangstür. Sie quietscht ein wenig beim Aufschwingen. Die Frau zögert kurz, reißt sich dann zusammen und geht in mich hinein, denn Rocky gibt Laut. „Da bist du ja!“, sagt die Frau erleichtert und nimmt Rocky im ehemaligen Tanzsalon in die Arme. Rocky wedelt mit dem Schwanz und schleckt ihr die Hände. Ein Wiedersehen, fast so schön wie eine Beerdigung! Vor Rührung fällt mir ein Dachziegel herunter, aber diesmal ist ja keiner da, der ihn abbekommen könnte, es sei denn… oh weh, draußen wartet der Freund der jungen Frau. Er hat sich nicht in mich reingetraut. Oh weh! Hab ich ihn getroffen? Er hält sich den Kopf und schaut nach oben.

„Nix wie weg hier, Nele, komm raus! Hier spukt’s!“

Puh, Glück gehabt, hab ihn also doch nicht erwischt. Aber spuken? Ich doch nicht! Ich bin doch nur ein altes, einsames Haus… Doch zu spät, ich hab’s vermasselt. Nele kommt raus, und sie beeilen sich, den Hang hinunterzukommen. Der Einzige, der sich verabschiedet, ist Rocky. Er pinkelt mir zum Abschied noch ans Gartentor. Die Menschen laufen weg, ohne sich noch einmal umzudrehen. Bin ich wirklich so schlimm? Ich breche in Tränen aus, und eine Ladung Dachziegel fällt dorthin, wo eben noch der Eingang war. Sollen sie doch Angst haben, mir doch gerade egal!

„So wird das nie was“, tadelt mich das Käuzchen.

„Hast ja recht“, gebe ich zu und schluchze laut, so dass man es wahrscheinlich unten im Ort noch hören kann.

„So wird das echt nie was.“ Das Käuzchen schüttelt den Kopf.

Als ich mich einigermaßen beruhigt habe, stellt es sich wieder ein. Ganz allmählich. Dieses beschissene, vertraute, zermürbende Gefühl von Einsamkeit!

dunkelzorn

Heute ist es wieder so weit. Freitag, der 13te steht vor der Tür. Und das ist in meinem Fall wörtlich zu nehmen. Denn ich bin eine Schule. Eine sehr alte Schule obendrein – erbaut vor über zweihundert Jahren! Der Rabenweg, an dessen Ende ich stehe, hat im Lauf der Jahrzehnte einige dieser Freitage durchlebt. Meine Nachbarhäuser können ein Lied davon singen, was in meinen Mauern bereits alles passiert ist. Angefangen hat das Grauen an einem Freitag, den 13ten, im Jahre des Herrn 1822. An jenem schicksalsträchtigen Tag hat sich das tugendhafte Fräulein Margaretha Gabelsberger, die Tochter des Schuldirektors, aus Liebeskummer auf meinem Dachboden erhängt. Es war Dezember und es schneite ohne Unterlass, als sie ihrem Leben ein Ende machte.

Und seitdem spukt sie jeden Freitag, den 13ten durch meine Mauern und zog jeden ins Totenreich, der es wagt, sich hier aufzuhalten.

Die Menschen im Dorf bemerkten zum Glück bald, dass ihnen immer nur nachts, nie aber am Tage Unheil in meinen Räumen drohte, und deshalb wurde ich über die Jahrzehnte weiterhin als Schule genutzt.

Nachts jedoch verblieb keiner mehr an Freitagen, den 13ten in meinen Gemäuern. Zu viel Angst hatten die Menschen vor mir.

Den Besuchern der Dorfkneipe wurde von dem Geist, der in mir spukt, berichtet und jede Generation von Trunksüchtige trug an der Theke die Gerüchte über den Geist von Fräulein Gabelsberger weiter. Genauso wie die sieben Leichen, die man im Laufe der 200 Jahre aus mir hinaustrug. Alles Männer, die nicht hatten hören wollen. Denn der Geist holte vornehmlich männliche Besucher ins Jenseits.

Heute, am 200. Jahrestag des ersten Todesfalls bin ich längst nicht mehr so schmuck wie zu meiner Anfangszeit. Die Instandhaltung meiner alten Leitungen und klapprigen Fensterläden ist zu teuer geworden, sodass zum ersten Mal seit meinem Bestehen keine lachenden Kinder mehr in diesem Jahr zum Schulanfang durch meine Eingangstüre strömten.

Ich wurde geschlossen!

Nichtsdestotrotz wird bald wieder irgendeine arme Seele geholt werden, das spüre ich in jeder meiner Dachgauben. Ich soll verkauft werden! Gibt es da draußen wirklich einen Trottel, der mich kaufen und zum Beispiel als “Wohnhaus“ nutzen möchte?

Die Gerüchteküche war wohl nicht laut genug?

Horch… ein Schlüssel dreht sich knirschend im Schloss der großen Eingangstüre. Möchte sich jemand das Haus - mich - ansehen? Heute, wo es regnet und schon bald dunkel wird?

Gerade heute?

Nun denn, wir wollen mal sehen, wer das wagt. Ah, ein Mann um die dreißig, braune kurze Haare, mit Brille, tritt suchenden Blickes ein. “Schatz, ich finde den Lichtschalter nicht! Kannst Du mir bitte helfen?“

Das lasse ich mir doch nicht zweimal sagen. Ich schalte das Licht zweimal ein und aus. Das hat sich schon oft bewährt, ließ Menschen in Panik verfallen und das Weite suchen. “Schön, dass Du den Schalter gefunden hast, Alex. Aber warum machst Du das Licht gleich wieder aus?“, ruft eine fröhliche Stimme in der Eingangshalle. Sie gehört einer hübschen Frau mit blonden Locken und Sommersprossen.

“Das war ich nicht, Jenny“, antwortet der Mann, “hier muss irgendwo ein Bewegungsmelder sein.“

Er zeigt auf die gegenüberliegende Wand:

“Da ist der Lichtschalter!“ Nachdem er das Licht angeschaltet hat, schauen sich die beiden um.

“Mir gefällt es hier! Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Gerüchte stimmen, die sich um das Haus ranken“, stellt die junge Frau fest. Sie blickt auf die Uhr.

“Wann wollen die Anderen da sein? Um 20 Uhr? Dann haben wir noch eine ganze Stunde Zeit, um es uns bequem zu machen."

Das Pärchen geht nach draußen und holt ein paar Sachen aus dem Auto. Das sieht nach Schlafsäcken aus. Sind die noch zu retten? Die wollen hier übernachten? Und es sollen noch weitere Leute kommen? Das kann ja lustig werden. Fräulein Gabelsberger hat wenige verschont.

Als sie sich ein Lager im ersten Stock eingerichtet haben, ruft unten eine Stimme: “Hallo? Alex, Jenny, wo seid Ihr? Warum ist das Licht hier unten nicht an?“

“Also, dieses Stromsparen geht dann doch zu weit!“, schimpft Alex auf dem Weg nach unten zum Lichtschalter.

„Hi Sven, hallo Maja, wir sind schon mal hoch gegangen und haben unser Lager in einem alten Klassenzimmer aufgeschlagen. Der Lichtschalter ist dort drüben. Eigentlich hatten wir das Licht für euch angelassen. Ich vermute aber, es schaltet sich nach einer gewissen Zeit von selbst wieder aus.“

“Kann schon sein, dass da eine Zeitschaltuhr verbaut ist. Wie auch immer, Maja und ich haben Taschenlampen dabei. In ein Geisterhaus ohne Licht zu gehen, ist bestimmt nicht sinnvoll. Ich bin gespannt, ob an den Gerüchten was dran ist. Ich glaube im Übrigen nicht, dass es so etwas gibt. “

Ich schmunzle bitterböse. Dieser Sven hat keine Ahnung, was ihn und die anderen heute Nacht hier erwarten wird.

Ah, ich verstehe: Licht an- oder ausschalten wird von den Vieren nicht als Warnung verstanden? Dann fällt mir als ultima ratio nur noch Türenschlagen und Fensterlädenklappern ein.

Allerdings ist auch dies schon von der einen oder anderen armen Seele als harmloses Windspiel eingestuft worden, sodass ich nicht verhindern konnte, dass sie ins Jenseits geholt wurde. Mir ist schon ganz bange bei dem Gedanken daran, was der heutigen Gruppe wohl zustoßen wird.

Bis zur Geisterstunde durchsuchen sie mich vom Keller bis zum Dachboden. Regen prasselt unablässig auf mein altes Dach. In der kleinen Dachkammer, wo Fräulein Margaretha seinerzeit wohnte und sich auch erhängte, hält sich Jenny verdächtig lange auf. Als ob sie etwas spüren könnte. Vielleicht ist sie ja ein Medium? Auszuschließen ist das nicht. Es gibt einige da draußen. Ich würde sogar darauf hoffen, dass sie eines wäre, denn dann könnte sie die Entwicklungen positiv beeinflussen – und auch ich endlich meinen Frieden finden.

Viele Leute sind im Laufe der Zeit schon in diesem Zimmer gewesen. Doch niemand hat bisher auch nur den kleinsten Hinweis darauf gefunden, weshalb sich Fräulein Margaretha damals das Leben genommen haben könnte. In ihrem Abschiedsbrief hatte als Grund lediglich etwas von “Liebeskummer“ gestanden.

Um wen es sich indes gehandelt hat, oder um was es genau gegangen sein könnte, blieb bis heute ein Rätsel.

Doch wer weiß?

Vielleicht ist heute jener lang herbeigesehnte Tag, an dem ich dazu beitragen kann, dieses uralte Geheimnis zu lüften.

Ich konzentriere mich auf den Zimmerboden und lasse Jenny über eine Diele stolpern, damit sie Margarethas Tagebuch finden kann, das darunter verborgen liegt. Und kaum hält sie es in Händen, verschlingt sie es voller Neugier. Ich wundere mich, wie sie die “Kurrent-Schrift” so schnell entziffern kann. Für diese alte deutsche Schrift mit ihren Schnörkeln braucht der Leser für gewöhnlich etwas Übung.

Schon nach wenigen Sätzen laufen Jenny erste Tränen über die Wange.

“Alex”, ruft sie mit erstickter Stimme, “kommst Du bitte? Ich bin oben im Dachboden, drittes Zimmer rechts“.

Ich weiß natürlich, was sie ihm jetzt erzählen wird. In meinen Mauern hat sich das Selbstmord-Drama schließlich zugetragen. Fräulein Margaretha war Mitte Zwanzig und galt nach den Sitten und Gebräuchen der damaligen Zeit als so genannte “Übriggebliebene“. Dies bedeutet nichts anderes, als dass sie alleinstehend war – ganz im Gegensatz zu vielen anderen Mädchen in ihrem Alter, die längst verheiratet und meist sogar schon Mütter waren.

Anno 1822 dann, in bereits erwähntem Schicksalsjahre, verliebte sich die brave Margaretha Hals über Kopf in einen gewissen Johannes von Caspar, den Sohn des Bürgermeisters. Und er schien sie auch zu lieben – jedenfalls beteuerte Johannes dies mit feurigem Schwur in jener Nacht, als er zum ersten Mal allein mit ihr war. Und er gelobte ihr – übermannt von frivolem Gefühl, wie ich vermute –, ihren Vater am darauffolgenden Tage um ihre Hand zu bitten.

Aus diesem Grunde gab Margaretha sich ihm in jener Nacht hin – und weil sie ihn von ganzem Herzen liebte.

Doch er kam nicht wieder!

Weder am nächsten Tag, noch am übernächsten.

Nie wieder.

Fräulein Margaretha vernahm in der Woche darauf, dass er seine Verlobung mit der Tochter des Bürgermeisters des Nachbarortes kundgetan hatte.

Da verfiel sie in tiefe Trauer. Wer mag erahnen, wie sehr dieser Verrat ihr Herz zerriss? Oh, wie hörte ich sie weinen und wehklagen! Tagein, tagaus. Nachdem vier ganze Wochen verstrichen waren, merkte sie, dass der nächtliche Besuch nicht ohne Folge geblieben war: In ihr wuchs ein Kind heran!

Diese Erkenntnis beschämte das arme Mädchen so sehr, dass sie keinen anderen Ausweg sah, als sich das Leben zu nehmen.

Man bedenke, zu welcher Zeit Margaretha lebte. Als ledige Frau ein vaterloses Kind auf die Welt zu bringen, war damals schlichtweg unmöglich.

Und damit ihr Vater nicht mit dieser schrecklichen Schande leben musste, erwähnte sie in ihrem Abschiedsbrief lediglich den Liebeskummer, nicht aber die Schwangerschaft.

Nachdem Jenny ihren drei Begleitern von der Geschichte erzählt hat, sitzen sie erschüttert und sprachlos in meiner Eingangshalle. Die zwei Damen schniefen vor Rührung und die Männer bemühen sich, die Contenance zu bewahren.

Alle warten gespannt auf Mitternacht.

Punkt Mitternacht schrillt ein gellendes, lautes Klingeln durch den Raum, das selbst mich aufschreckt.

“Jesus, Sven!“, ruft Alex, vor Angst japsend, “schalte sofort diesen bescheuerten Wecker aus!“

“Sorry, ich wollte nur sichergehen, dass wir den Anfang der Geisterstunde nicht verpassen“, entschuldigt sich Sven.

Plötzlich wird es still und sehr kalt.

Kein Ton kommt mehr von draußen.

Sogar das Trommeln des Regens verstummt.

Die vier wagen kaum zu atmen und blicken sich ängstlich um. Fräulein Margaretha kündigt sich an!

Dichter Nebel zieht unheilvoll in der Halle auf.

Wie oft habe ich das schon mit angesehen!

Doch heute ist es anders.

Heute spricht Margaretha!

Zum ersten Mal seit zweihundert Jahren spricht sie!

Die Vier zittern am ganzen Leibe, angesichts des anklagenden Tones der zornigen Geisterstimme:

“Zweihundert Jahre musste ich auf diesen Augenblick warten!

Zweihundert endlose Jahre voller Schmerz.

Endlich! Heute ist der Tag meiner Rache gekommen!

Einer von Euch ist ein Nachkomme von Johannes von Caspar, der Liebe meines Lebens. Jenem Manne, der meine Liebe aufs Schändlichste ausnutzte und mich so in den Tod trieb.

Doch nun hört!

Ich werde drei der Euren ziehen lassen, wenn Ihr mir nur den Einen überlasst, durch den ich meinen Frieden finden kann.

Nur durch den Tod dieses einen Nachkommen kann ich frei sein!

Solltet ihr meinem Vorschlag jedoch nicht zustimmen, so wird das Euer aller Untergang sein!“

Die vier starren sich entsetzt an.

Einer von ihnen soll geopfert werden, damit der Rest leben kann? Wer zum Teufel soll der oder die Unglückselige denn sein?

Die Paare halten sich an den Händen, während sie krampfhaft überlegen, was sie antworten sollen.

Da ich genau weiß, wie erbarmungslos dieser Geist sein kann, bin auch ich äußerst gespannt.

Alex erlangt als erster seine Fassung wieder:

“Sag mir, Geist! Wer ist es? Wer soll geopfert werden?“

Stille.

Bis ein Schrei sie durchschneidet.

“Du bist es selbst!“, kreischt es aus dem Nichts.

Das geht durch Mark und Bein, und selbst bei mir wackeln augenblicklich die Dachziegel vor Angst.

“Warum soll ich für ein Vergehen büßen, das mein Urahn vor 200 Jahren begangen hat?“, ruft Alex völlig orientierungslos ins Nichts.

“Weil Du selbst nicht ohne Fehl und Tadel bist, Unglückseliger! Auch Du hast Schuld auf Dich geladen!“

Alex beginnt zu frösteln.

Blankes Entsetzen zwingt ihn auf die Knie.

Denn er weiß: Die Anklage gegen ihn ist wahr!

Und ich selbst kann Zeugnis davon geben:

Während die Truppe meine Räume durchsuchte, war er ein ums andere Mal mit Maja zusammengetroffen. Ganz heimlich.

Und dieses kleine, niederträchtige Biest konnte nicht von ihm lassen. Immer wieder suchten ihre Lippen die seinen, strichen ihre flinken Finger an verbotene Stellen, hauchte ihre betörende Stimme in sein Ohr.

“Wie ich Dich begehre, Liebster! Nur für Dich brennt mein Herz! Nimm mich! Wieder und wieder!”

Jenny und Sven ahnten nichts von all dem.

Alex kauert am Boden, zusammengekrümmt vor Angst.

Jenny stiert ihn an.

“Jenny, oh, Jenny, es tut mir so leid“, wimmert der am Boden Kniende .

“Ich wollte das nicht. Maja hat mich dazu gezwungen, ich konnte ihr nicht widerstehen … es tut mir so leid, Jenny. Ich wollte es Dir sagen. Ich wollte nicht, dass Du es auf diese Weise erfährst! Bitte vergib mir.”

Dann richtet er sich – ganz unerwartet – wieder auf.

Ganz Mann will er nun sein.

Einstehen für seine schändliche Schuld.

Und er ruft todesmutig ins Nichts hinein:

“Es soll meine Strafe sein, dass ich für deine Freiheit mein eigenes Leben lassen muss, Geist!”

Und dann, wieder an Jenny gewandt:

“Ich wollte Dir niemals wehtun, liebste Jenny. Mein Fleisch war schwach. Doch es war nur körperlich! Ich liebe Dich! Ich liebe Dich unendlich und aufrichtig! Glaube mir!“

Jenny schaut ihn mit großen Augen an, schweigt aber.

“Nun, Ihr anderen, verlasst das Haus, damit ich mich befreien kann“, befiehlt Fräulein Margaretha.

Sven und Maja rennen in Panik durch meine Eingangshalle – hinaus ins Freie.

Alex, der sich seinem Schicksal ergeben hat, steht regungslos in der Mitte des Raums und harrt der Dinge.

Zu meiner Überraschung ist Jenny auch geblieben.

“Was suchst Du noch hier?“, herrscht der Geist sie an. “Er hat Dich hintergangen! Er hat Dir Hörner aufgesetzt und Dich entehrt. So wie Johannes mich entehrt hat. Er verdient den Tod!“

Jenny hebt die Arme beschwörend zur Zimmerdecke und sucht mit ihren Augen verzweifelt nach nach einem Wesen, nach einem Körper.

“Ich kann Dich nicht sehen, Geist. Aber ich kann Dich verstehen. Ich kann deinen unendlichen Schmerz fühlen, denn auch ich wurde verletzt. Und ich sage Dir:

Nichts weißt du von der Liebe! Zu jung warst du, als du gingst, und zutiefst verletzt! Doch viel zu früh bist du gegangen. Und nur dafür musstest du jetzt büßen. Seit zweihundert Jahren musstest du genau dafür büßen. Denn Du hast Dich an dem Schlimmsten versündigt, an dem Du Dich versündigen konntest.

Am Leben deines ungeborenen Kindes!

Dieses Verbrechen steht in keinem Verhältnis zur Schwere des Verbrechens, das Johannes an Dir begangen hat.

Und ich sage Dir noch etwas, Margaretha:

Ich weiß, dass man lieben kann. Man kann so unendlich tief lieben, dass einem das Herz in der Brust zerspringen könnte. Man kann so unendlich tief lieben, dass man einem Betrüger vergibt, der von Sinnen war, als er körperliche Nähe einer Anderen zuließ!”

Jenny wirft Alex einen belehrenden, strengen Blick zu und fügt hinzu:

“Alex! Meine Liebe für Dich ist so stark, dass ich es vorziehe, mit Dir in den Tod zu gehen, anstatt Dich für immer zu verlieren. Und ich glaube Dir, wenn Du sagst, dass Du mich liebst. Aber betrüge mich kein zweites Mal! Hörst du? Zweimal darfst du mir so etwas nicht antun. Nur ein einziger Fehler steht jedem Menschen zu, um daraus zu lernen.“

Mit diesen Worten schließt sie ihn in ihre Arme und küsst ihn.

Und noch einmal ruft sie den Geist an:

“Und Dich rufe ich an: Lerne, zu vergeben! Vergib Johannes!

Aber vor allem, vergib Dir selbst, Margaretha!

Vergib Dir endlich deine eigene Schuld!”

Und dann geschieht das Unfassbare!

Margarethas durchsichtiger Körper irrlichtert durch den Raum. Ihr Ebenbild wird sichtbar, huscht von Ecke zu Ecke, lacht, stöhnt, ja, flucht sogar - bis es sich beruhigt Es baut sich schwebend vor dem Liebespaar auf.

Sie lächelt.

Kann ich das glauben?

Zum ersten Mal seit 200 Jahren lächelt Margaretha.

Und mir zerbersten beinahe die Fensterscheiben vor Begeisterung bei diesem wunderschönen Anblick.

Ihre transparente Hand winkt Jenny freundschaftlich zu.

Meine Nerven und Stromleitungen sind bis zum Zerreißen gespannt.

Bekomme ich Margaretha heute zum letzten Mal zu Gesicht?

Und muss kein weiteres Jahrhundert voller Trauer in meinen Mauern ertragen?

Dann zerreißt ein ohrenbetäubender Knall die Luft und Margarethas Herz zerspringt in tausend Teile.

Gleißendes Licht umhüllt die Silhouette ihres leblosen, durchsichtigen Körpers. Er verflüssigt sich, wird zu Plasma, zu Dampf, dann zu Nebel – und rauscht schließlich mit einem entrückten Fauchen durch die Spalten und Ritzen meiner alten, hölzernen Türen und Fenster.

Alles ist jetzt friedlich.

Nach 200 Jahren herrscht nun Frieden in mir.

“Ist sie frei?”, fragt Alex nach einer Weile.

Jenny streichelt ihm sanft die Stirn.

“Ja, Alex. Sie ist jetzt frei.”

“Aber wo ist sie denn hin?”

Jenny deutet zum Himmel:

“Nach dort oben ist sie gegangen, Alex. Zu Jemandem, der seit zweihundert Jahren voller Sehnsucht darauf wartet, mit ihr zusammen zu sein:

Ihr ungeborenes Kind!”

Ende

Salz

„Da gehe ich nicht rein, und schon gar nicht um Mitternacht.“ Christian schaute seinen Kollegen aus dem Fotoclub an.

„Überlege doch mal: Ein altes Haus, ein Lost Place, nachts, Gespensterstunde, ein paar Kerzen, die richtigen Belichtungszeiten. Ey das gibt Superfotos. In schwarz-weiß und in Farbe.“ David war die Begeisterung über seine Idee in jedem Wort anzuhören.

„Es gibt unheimliche Geschichten über das Haus. Meine Großmutter sagte ein Klassenkamerad habe es mal betreten. Er wurde nie mehr gefunden. Der Salzfürst habe ihn geholt.“

„Meine Großmutter hat mir auch immer solche Geschichten erzählt, vom Friedhof und vom großen Wald, der an ihr Grundstück angrenzte. Die wollten nur nicht, dass wir als Kinder dort hingehen. Omageschichten und Ammenmärchen. Aber wieso Salzfürst?“

„Weil ein reicher Salzhändler das Haus erbaute. David, du wohnst erst seit knapp einem halben Jahr im Dorf. Keiner aus dem Dorf traut sich da hoch auf den Hügel ans Ende der Rabenstraße. Sonst wäre das schon lange ein Neubaugebiet geworden. Überlege mal, bei der Aussicht. Obwohl, man weiß auch nicht genau, wem das Haus gehört. Noch nicht einmal beim Grundbuchamt hat mir einer erzählt. Aber…naja…okay…ja, stimmt wahrscheinlich schon was du sagst. Bilder würde es sicherlich gute geben.“ Christian kam ins Überlegen.

„Eben! Die Fotoausstellung mit dem Wettbewerb! Du und ich auf dem ersten Platz.“ Er grinste.

„Omageschichten und Ammenmärchen“, sagte Christian mehr zu sich als zu seinem Freund.

„Genau! Und vielleicht können wir den Bann brechen. Huuuuuuu. Wir nehmen als Opfergabe auch ein Salzsäckchen mit.“ David machte eine theatralische Geisterbewegung, als ob er mit Kettenrasseln würde.

„Spinner. 23 Uhr. Am Tor.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Christian.

Wenige Stunden später kletterten die beiden jungen Männer mit ihrer Fotoausrüstung über die gut zwei Meter hohe Gartenmauer. David hatte dazu extra eine Bockleiter mitgebracht.

Langsam näherten die beiden sich der großen Villa. Es war eine wolkenlose warme Sommernacht, irgendwo an einem Teich quakten hunderte Frösche ihr Konzert. Im Mondlicht sahen sie um die mächtigen Buchen und Kastanien Fledermäuse, wie sie in ihren zackigen Flugbahnen auf der Jagd waren. Der Vollmond schien so hell, dass die beiden Schatten auf dem verwachsenen Kiesweg warfen, der zu dem kleinen Schloss führte.

Bald standen sie direkt vor dem langgezogenen Haupthaus. Es sah im Vollmondlicht gar nicht so aus, als wäre es schon seit Jahrzehnten verlassen. Die Fenster alle noch intakt, das Mauerwerk auch. Es schimmerte hell. An der linken Ecke zeichnete sich mit scharfen Konturen ein Turm ab. In der Mitte und rechts hatte es zwei leicht vorstehende Giebel, an denen sich hölzerne Verzierungen wie Schnörkeln zum bis zum Dachfirst rankten. Die Fenster in dem langgezogenen Gebäudeteil waren schmal und hoch, sie liefen in einem spitzen gotischen Bogen zu. Es gab hunderte davon. Sie waren dunkle Einkerbungen im hellen Mauerwerk, so schwarz wie die Nacht. Entfernt erinnerte das Gebäude an eine gotische Kirche. An dieser Gebäudefront wuchsen Rosen in den unterschiedlichsten Farben. Sie schienen selbst nachts in voller Blüte zu stehen und verströmten kurz vor Mitternacht einen intensiven Duft.

„Ungewöhnlich“ kam es Christian kurz in den Sinn, als er den Duft wahrnahm. Doch die beiden betrachteten weiter in schweigender Faszination die Fassade.

Im Giebel, in dem die mächtige zweiflügelige Eingangstüre ihren Platz hatte, zog sich eine breite hohe Fensterfront über die vier Stockwerke. Auch dieses große Fenster lief spitz in der oberen Mitte zu. Christian vermutete das Treppenhaus in dem Bereich. Aus der Nähe erkannten die beiden, dass der großen Fensterbogen nach unten hin in zahlreiche schmale Bögen unterteilt waren, welche die gleiche Form wie die anderen kleineren Fenster hatten. So gut wie alle Scheiben bestanden aus farbige Scheibenelemente wie Tiffanyglas, die unterschiedliche Motive darstellten. Auch am Rand des großen Fensterbogens zeichnete sich die Darstellung von Rosenranken ab. Rote gläserne Blüten in voller Pracht bis ganz hinauf.

„Schau dir das an, die große Fensterfront, wie sie glänzt.“ Christian flüsterte den Satz schon fast ehrfürchtig.

Davids Blick wanderte über die Motive. Sie waren ihm tagsüber von weitem gar nicht aufgefallen.

An der oberen Spitze im Fensterglas war eine Sonne zu sehen, die ihre Strahlen auf die kleineren Fensterbögen richtete. Der Künstler, der dieses Werk schuf, hatte ihr einen schmalen Mund gegeben, mit einem wissenden Lächeln und Augen mit denen sie direkt auf den Vorhof der Villa zu ihren Füßen blickte. Links und rechts, leicht unterhalb der Sonne stand jeweils eine zunehmende und eine abnehmende Mondsichel. Jede hatte ein Auge, welches ebenfalls in den Hof hinabblickte. Etwas versetzt nach unten, zwischen ihnen war ein runde Vollmond abgebildet, der ebenfalls nach unten schaute. Das Licht dieser Sonne und der Monde floss im Glas nach unten, es erhellte die restlichen Fenster nach und nach. Sie zählten zwölf von diesen kleinen farbigen Fenstern. In zweien waren die Scheiben blind und es war keine Darstellungen erkennbar.

Die beiden Fotografen betrachteten die Fensterporträts eingehen. Da war ein Schäfer mit einem seiner Tiere. Zwei spielende Kinder, die mit einer weißen glitzernden Kugel oder einem Ball spielten. Eine junge Frau in einem weißen langen Kleid, sie trug ein glitzerndes Diadem in den Haaren. In einem anderen Fenster ein junger Mann in aufrechter Haltung, er hatte einen vornehmen Frack an. Alle schauten auf den Vorhof hinunter. Teilweise mit sanften teilweise mit gleichgültigem Gesichtsausdruck.

„Die beobachten uns“, entfuhr es Christian.

„Quatsch, das ist so wie bei manchen Gemälden. Dürer hat auch einige davon gemalt, da hast du das Gefühl, dass dich die Augen immer anschauen. Egal wo du bist im Raum. Ich habe es in Genua im Museum ausprobiert. Komm lass uns reingehen.“

„Ich weiß nicht David.“

„Verlässt dich schon wieder der Mut?“

„Nein, aber…“

„Also dann komm endlich. Wir probieren das Eingangsportal. Wenn das verriegelt ist gehen wir über einen Seiteneingang.“

Sie stiegen die wenigen Stufen zu dem hölzernen Portal mit den Intarsien hinauf.

David stemmt sich dagegen. Und zu ihrer Überraschung öffnete es sich. Lautlos, noch nicht mal ein Knarren war zu hören. Die beiden schauten sich an. Im Mondlicht konnte Christian die Überraschung in Davids Gesicht sehen und seine hoch gezogene Augenbraue. Langsam glitt das zweiflügelige Tor auf. Die beiden Männer traten über die Schwelle.

Sie standen in einer großen Eingangshalle. Wie Christian vermutete, hatte eine Halle mit einem hohen Treppenhaus. Das Mondlicht brachte Helligkeit und warf manch langen Schatten. Sie gingen ein paar Meter hinein. Es lag noch nicht mal ein vertrocknetes Blatt in irgendeiner Ecke. Der Boden erschien wie frisch gefegt.

„Willkommen im Reich der Salzrosen.“ Christian fuhr zusammen.

„Hast du das Wispern gehört? Lass uns gehen“, forderte er.

„Drehst du jetzt durch? Das ist irgendein Wind, der sich in einer Fuge verfangen hatte.“

„Du hast also auch etwas gehört?“

„Nein, äh ja, es hörte sich an wie Mond oder was mit Salzrose. Ah… jetzt komm, da spielt uns unser Verstand einen Streich. Wir haben kurz vor Mitternacht. Draußen strahlt der Vollmond so, dass man Schatten wirft und du hast etwas vom Salzfürst erzählt. Und Rosen blühen auch draußen. Ist ja fast schon wie in einer Horrorgeschichte. Wir haben einfach nur an die Worte gedacht und haben das gehört, was wir hören wollten. Das kann passieren“, klärte David auf. „Komm, lass uns die Ausrüstung aufbauen für unsere erste Fotoserie. Kannst du die Uhrzeit an der großen Wanduhr sehen? Die zeigt doch Mitternacht an, oder nicht?“ Christian zeigte mit dem Arm auf die gegenüberliegende Wand.

„Fast, nicht ganz, aber die Uhrzeiger lassen sich nachher sicherlich vorstellen.“

„Perfekt. Dann müssen wir das jetzt nur so aufstellen, dass die Wanduhr die Mitte des Bildes zeigt und der Fluchtpunkt ist. Unser erstes Foto.“ Er freute sich wie ein kleines Kind ob seines Einfalls.

Im Schein ihrer Taschenlampe stellten sie das Stativ auf und befestigten die Kamera. Christian schaute sich immer wieder um. Die Treppe hinauf, hinüber in die Ecken, die im dunklen Schatten lagen. Sie bauten die Kerzen in zwei auseinanderstrebenden Reihen auf, so dass sie perfekte Linien bildeten mit Fluchtpunkt bei der Uhr. Langsam vergaß er die Anspannung.

„Christian, ich habe so lange auf dich gewartet. Seit Jahren“, wisperte es plötzlich wieder und er erstarrte, hielt mitten in der Bewegung inne. Das Licht der Taschenlampe wurde immer schwächer.

„David hör‘ auf, was soll der Scheiß?“ Er hatte sich zu ihm umgedreht.

„Bitte?“

„Du sollst auf hören `Christian wir habe dich gewartet. Seit Jahren´. Und mach dich nicht lustig über mich. Ich finde die Hütte einfach gruselig. Und bei deiner Taschenlampe hättest die Akku auch noch aufladen können. Die geht gerade aus.“

Der andere schaute ihn völlig entgeistert an.

„Ich habe nichts gemacht und ich habe nichts gesagt. Ehrlich.“

„Noch ein Wort von dir und ich bin weg.“

„Okay, Okay.“ David hob beschwichtigend die Hände ohne genau zu wissen was sein Freund meinte.

Verärgert stellte Christian weiter die Kerzen auf, das Mondlicht reichte dafür aus.

„Christian komm zu mir.“ Whisperte es wieder durch den mondhellen Raum

„Okay David. Das reicht. Ich gehe.“ Er stand auf und ging zum Tor.

„Was?! Ich habe nicht gesagt!“

Der andere drehte sich um. „Ah du weißt also, dass ich etwas gehört habe. Du gibst damit auch gleich zu, dass du es warst!“

David ging ihm hinterher. Als Christian das Tor erreicht hatte, hatte er ihn eingeholt und hielt ihn von hinten an der Schulter fest.

„Warte! Nein! Ich habe nicht gesagt.“ Christian schüttelte ihn ab und zog an dem Torgriff. Es war verschlossen.

„David du blöder Idiot. Öffne sofort das Tor. Wann hast du es verschlossen und wo ist der Schlüssel?“

„Christian, ernsthaft. Ich war das nicht. Wann denn? Ich habe die letzten Minuten die Kamera aufgebaut.“ Sein Tonfall hatte fast etwas flehentliches, vielleicht ein Spur Angst.

Christian überlegt. Er hatte David entweder gehört oder gesehen, wie er die Kamera aufgebaut hatte. Er konnte das Tor tatsächlich nicht verschlossen haben. Das hätte er mitbekommen. Aber wer dann?

„Da klemmt sicherlich nur etwas.“ Jetzt rüttelte auch David an den Torgriffen. Es bewegte sich keinen Millimeter, nach dem dritten Versuch gab er auf.

„Komm lass uns die Bilder machen und dann gehen wir, okay? Versprochen. Kein weiteres Bild.“ David sah ihn an.

Widerstrebend ging Christian mit ihm zur Kameraausrüstung. Dort glitzerte etwas silbern im Mondlicht auf dem Boden.

Christian zündete mit dem Feuerzeug eine der Kerzen an. Im Schein des gelblichen Kerzenlichtes glitzerte das zarte Gebilde als wäre es mit hunderten kleiner Diamantsplitter besetzt.

„Eine Rose.“ Er blickte fasziniert auf das Glitzern und gab David die Kerze. Anschließend befeuchtete er einen Finger, berührte das Gebilde und leckte ihn ab. In diesem Moment begann die Uhr Mitternacht zu schlagen. Die beiden Männer erstarrten kurz und begannen vor Schreck zu lachen.

„Blöde Uhr“, entfuhr es David, der den Kopf schüttelte. Er gab Christian die Kerze zurück der die filigrane Blume glitzern ließ.

„Salz, es ist eine Salzro…“ Er konnte das Wort nicht mehr aussprechen und hatte einen überraschten Gesichtsausdruck. David traute seinen Augen nicht. Von Glockenschlag zu Glockeschlag glitzerte sein Freund mehr wie die Salzrose in seiner Hand. In der einen Sekunde starrte David Christian an, in der anderen erfasste ihn die nackte Panik. Mit dem vorletzten Glockenschlag hatte er das Tor erreicht rüttelte daran, doch sie waren fest verschlossen. Nach dem letzten Schlag gab das Tor plötzlich nach. David stolperte nach draußen, mehrere Meter weg von der Eingangstür, die hinter ihm wieder zuschwang. Mitten auf dem Hof blieb er stehen. Musste sich mit seinen Händen auf den Knien abstützen. Er keuchte, sein Herz klopfte bis zum Hals. David richtet sich auf. Er drehte sich um.

„Christian!“ Er musste zurück, er hatte seinen Freund im Stich gelassen. Er rannte die Stufen zum geschlossenen Portal wieder hinauf. Doch die Tür war zu. Er rüttelte und hämmerte wie wild dagegen. Rief den Namen seines Freundes. Er meinte ein tiefes Seufzen aus dem Gemäuer zu hören. Er trat ein paar Schritte zurück, ging in den Hof und blickte suchend das Gemäuer nach einer zweiten Tür auf dieser Seite ab. Und blickte nach oben zur Glasfassade. In einem der blinden Fenster leuchtete jetzt ein junger Mann im intensiven Mondlicht. Er hielt eine Kerze in der einen Hand und roch an einer glitzernden Rose, die er in seiner anderen Hand hielt.

Haus Nummer 13

»Heute Nacht. Drei Leute. Gib dein Bestes. Ich muss dich wohl nicht daran erinnern, was dir sonst blüht.« Das schnarrende Krächzen von Brax, dem Unheilsraben, lässt meine Giebel erzittern. Als sei dies nicht genug, pickt er an einem vermoosten Dachziegel herum, worauf dieser in tausend Splitter explodiert. Meine bröckelnden Mauern ziehen sich schmerzhaft zusammen, die Spinnen erstarren in ihren klebrigen Netzen, und den Ratten im Keller sträuben sich die schmutzig glänzenden Nackenhaare.
»Angst, Blut und Panik, diesmal das volle Programm«, schnarrt Brax. »Nicht so zimperlich wie neulich bei den Wanderern aus Wien. Erfülle deinen Teil der Abmachung. Du weißt, was dir sonst blüht!« Brax, der Bote der dunklen Macht, fliegt empor zu den Wolken. Die Schatten seiner Flügel verdunkeln meine Fassade. Wie konnte ich mich nur auf dieses Angebot einlassen, mich als Spukhaus zu betätigen? Ganz einfach: ich wäre sonst der Abrissbirne zum Opfer gefallen.
Mit der Hausnummer 13 versehen, hinter einem arg von Borkenkäfern und Klimawandel mitgenommenen Fichtenwald gelegen sowie von Unglücken verfolgt, bin ich allerdings zum Gruseln bestens geeignet. Flüsternd erzählen sich die Dorfbewohner von den furchtbaren Ereignissen, die in mir geschehen sind. Schon länger wächst in mir der Verdacht, dass die dunkle Macht all die traurigen Vorfälle einfädelte, um mich zu erpressen und zu ihrem Werkzeug zu machen.
Vor etwa 200 Jahren fing mein Leben sorglos als Heim einer fleißigen Bauernfamilie an. Eine Generation folgte auf die andere. Die letzten Bauernkinder, kaum erwachsen geworden, zogen jedoch aus. Der Vater starb unter den Rädern eines Traktors, und die Mutter wurde in einer stürmischen Novembernacht von räuberischen Landstreichern erstochen.
Ich blieb zum Glück nicht lange leer. Die Familie Wiedemann zog ein und renovierte so gründlich, dass ich mich wieder jung fühlte. Erneut erfüllten mich Kinderlachen und wunderbaren Küchengerüche. Ein Jahr nach dem Einzug ertrank der kleine Bert im Fischteich. Die nette Frau Wiedemann, die mich sonst von oben bis unten eifrig gepflegt und geschmückt hatte, saß von da an nur noch reglos auf dem Bett. Herr Wiedemann fuhr mit ihr weg und kam allein zurück. Dann telefonierte er mit seinen Eltern, erzählte, dass er seine Frau in eine Klinik gebracht hätte, und ob sie die Elsbeth, die übrig gebliebene Tochter, nicht für ein paar Tage zu sich nehmen könnten. Nachdem das Kind von den Großeltern abgeholt worden war, ging er auf den Speicher und erhängte sich.
Mein guter Ruf war damit dahin. Ich galt als verflucht. Nach einem weiteren ergebnislosen Verkaufsversuch durchfuhr es all meine Giebel mit Schrecken, als von Abriss gesprochen wurde. Kurz darauf landete Brax auf dem damals noch intakten Dach.und bot mir den Handel mit der dunklen Macht an.
»Dir bleibt nichts anderes übrig. Die Abbruchfirma steht schon bereit«, drohte er. Zuerst war ich nicht nur empört, sondern auch erstaunt über die Gegenleistung, die ich erbringen sollte. Erst später verstand ich, um was es hier wirklich ging, nämlich dem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, Vernunft und Wahnsinn. Menschen – und leider auch Häuser -, die man in Angst und Schrecken versetzt, werden unvernünftig, und unvernünftige Menschen und Häuser lassen sich von der dunklen Macht eher zu Hass und bösen Taten bringen. Ich sah keinen anderen Ausweg und ließ mich auf den Handel ein. Seitdem bemühte ich mich, so schaurig wie möglich zu sein. Mein allmählicher Verfall trug dazu bei, genügend Wirkung auf gelegentliche Besucher zu haben, und ich gewähnte mir an, zu knarzen und zu stöhnen, sobald sich Menschen nähern. Meine tierischen Bewohner unterstützten mich fleißig, denn sie fühlten sich bei mir wohl. Wie die dunkle Macht es fertig brachte, mich vor dem Abriss zu schützen, erfuhr ich nie.
Gestern Nacht nun habe ich versagt. Draußen lacht die Morgensonne, die Vögel zwitschern, aber mein Leben wird wohl zu Ende gehen. Hat sie mich hereingelegt, die dunkle Macht, um mich, so alt und harmlos, wie ich geworden bin, loszuwerden? Es stellte sich heraus, dass die angekündigten Besucher drei junge, abgebrühte Gamer und Bungee Jumper aus der Großstadt waren. Sie fielen bei mir ein, bewarfen ich mit Bierflaschen und fanden meine besten Gruseleffekte »mega altbacken«, »boring« und »ausgelutscht«. Eben sind sie fröhlich in ihren Campingbus gestiegen und abgedüst - wie ich den Gesprächen entnahm, zu einem Slackline Event in die Alpen. Brax hatte gewollt, dass ich bis zum Äußersten gehe, sie aus dem Fenster im obersten Stock stürzen lasse oder ihre Köpfe am Gebälk zerschmettere. Ein bisschen Gruseln ist in Ordnung, aber zu solchen Bluttaten bin ich nicht fähig, denn bei meinem Bau wurde mir ins Fundament ein Spruch geritzt: »Freude und Liebe den Bewohnern dieses Hauses«.
Jetzt warte ich nur noch auf den ersten Schneefall und breche dann einfach von selbst zusammen.

Ich öffne meine Fensterläden und werde von dunklen Wolken, Nebel und Wind begrüßt.
Die Dämmerung bricht ein.

Eine neue Nacht wartet auf mich und ich habe die Nächte gezählt. Ein Prickeln in meinem Mauerwerk verrät mir, dass ich mich nicht getäuscht habe. Nachdem die letzten zwei Jahre von Enttäuschungen geprägt waren, will ich nicht allzu Hoffnungsvoll sein… aber was, wenn sie dieses Jahr doch wieder kommen?

Diese Menschenkinder… Zauberhafte, idiotische und ängstliche Wesen. Ich bete zu den Göttern, dass sie dieses Jahr wieder kommen, ob die Götter überhaupt Gebete von alten und verkohlten Häusern erhören, bleibt jedoch abzuwarten.

Ein altes Haus am Rande des Rabenwegs zu sein, ist nämlich ziemlich langweilig. Niemand kommt zu besuch, jeder meidet diesen Weg und mich. Früher, als Tinos, Sindra und Heka noch hier standen war der Rabenweg ein schöner Fleck. Voller Blumen, Tiere, Menschen und Naturgeister.
Bis diese Menschenkinder an Beltaine vor zwei Jahrhunderten die Feuergeister verärgert hatten und alles in Brand steckten. Außer mich. Ich habe überlebt, auch wenn mein äußeres den Anschein erwecken mag ich wäre tot. Vermutlich führt es die Menschenkinder deswegen nur noch zu einem Anlass zu mir.

Halloween.

Die wahre Bedeutung des Tages ist den Menschen in den Jahren verloren gegangen, für sie ist es nur noch ein Tag des Grusels.
Was sie jedoch nicht wissen ist, dass es einer von wenigen Tagen im Jahr ist, an dem die Schleier zwischen den Welten dünn sind… und ich gerne Einlass gewähre.
Ein Rascheln im Laub, sowieso das Flüstern mehrerer Stimmen lassen mich innehalten. Sie kommen! Den Göttern sei gedankt.

Euch erwartet ein aufregendes Samhain liebe Menschenkinder…

Holz und Knochen

Leise und schwach, aber doch beständig wie tiefe Atemzüge eines Schlafenden weht der Wind durch die alten Flure. Jede Woge bringt die undichten Fensterläden zum Heulen und lässt Staub von der Decke rieseln.
Das Holz der Balken streckt und regt sich vorsichtig wie sich spannende Muskeln. Ein lautes und klagendes Knarzen folgt als Antwort von anderen Teilen des Hauses, die mit dieser Bewegung nicht einverstanden sind.
Ich kann alles davon deutlich spüren. Jede Böe fühlt sich an, als wäre sie mein eigener Atemzug. Jedes Knarzen im Gebälk ist die erneute Folge einer meiner Versuche, mich zu strecken. In mehr als 250 Jahren habe ich mich an das Gefühl des Hauses gewöhnt und es ist mir inzwischen näher als die Erinnerung an meinen alten Körper.
Eine Erinnerung – mehr ist davon nicht geblieben. Ein schwacher Schemen von vergangener Stärke, doch surreal, wie eine Legende, die über die Jahre weitererzählt, immer fantastischer und schließlich komplett absurd geworden ist.
Doch ich fühle jede Wand und jede Diele so leibhaftig, als wären sie meine Haut und meine Knochen. Jeden Stromstoß, der die Kupferleitungen durchfließt, und den Druck auf den alten Rohren als sei es das Blut in meinen Adern. Mein Geist ist nicht mehr nur in dieses Haus gebannt. Ich BIN das Haus geworden.
Genauso deutlich wie den Leib des Hauses kann ich aber auch mein Unvermögen spüren: meine Handlungsunfähigkeit. Ich bin zwar der Besitzer dieses Körpers, aber nicht sein Herr. Wie ein Gelähmter kann ich alles wahrnehmen, aber zu viel mehr, als das Holz zum Knarzen zu bringen, bin ich nicht in der Lage.
Zusammen mit der Frustration durchströmt mich auch eine Welle aus Hass. Hass auf diejenigen, die mir das angetan haben. Die mich meiner Macht beraubt und mich mit ihrem feigen Ritual in dieses Schicksal gezwungen haben.
Der Ausbruch dieser Emotion bringt die Erde zum Beben und lässt den Himmel über mir verdunkeln. Das Land wehrt sich gegen meine Anwesenheit. Es will mich nicht haben. Es weiß, was ich bin, und bäumt sich gegen mein Dasein auf. Doch genau wie ich kann es nichts dagegen tun.
Ich atme den Zorn weg und der anhaltende Windstoß reißt ein längst verblasstes Bild von einer Wand, welches scheppernd auf den alten Flurboden fällt. Anstatt mich im Groll zu ertränken, sehe ich nach vorn. Ich sehne mich nach der heutigen Nacht, wenn der Zeiger der alten Uhr im Salon Mitternacht schlägt. Dann beginnt er, der einzige Moment, in dem ich mehr sein kann als nur ein zappelnder Zuschauer. Eine Nacht alle sieben Jahre, in der der Bann Luft holen muss und für einen Moment seine Macht über mich verliert.
Früher kamen meine Wärter in dieser Nacht immer zurück, um mich erneut zu brechen. Obwohl ich bereits verloren hatte, denn auch dieser Moment der Freiheit ist nur ein Schein. Der erste Sonnenstrahl reißt meinen Geist wieder zurück in sein Gefängnis und bannt mich erneut in die Mauern und Dielen. Aber dennoch fürchteten sie sich. Wollten es nicht darauf ankommen lassen.
Doch schon seit vielen Jahren kommt niemand mehr her. Meine Zwangsherren haben mich vergessen. Erinnern sich offenbar nicht mehr an die Angst und an die Opfer, welche sie bringen mussten, um mich zu bannen.
Aber das ändert nichts. Mein Körper liegt angekettet auf einem Altar in den Katakomben und ist bereits seit Generationen ausgeblutet. Viel mehr als vertrocknetes Aas ist davon nicht übrig geblieben. Das Leben und alle Kraft haben ihn verlassen. Das Artefakt, welches mich bannt, ist für mich unerreichbar.
Und dennoch sehne ich mich danach, wenn auch nur für ein paar Stunden, zurückzukehren, mich frei im Rahmen meiner Fessel bewegen zu können und einen Hauch meines vergangenen Selbst nachzuempfinden. Ich hasse es, Holz und Stein zu sein. Die Existenz als unbedeutendes starres Gebilde widert mich an. Leise und beständig atme ich weiter, während ich darauf warte, dass die alte, mannshohe Uhr ertönt und den Bann unterbricht, mich rauslässt.

Die Uhr schlägt zehn, als ich plötzlich die Last von Schritten auf meiner Veranda spüre. Doch keine Tiere. Das Gewicht, die Art, zwei Beinen: Meine Zwangsherren!
Sie sind zurück, mindestens zehn von ihnen. Aber nach all den Jahren? Ist etwas geschehen, oder haben sie sich lediglich der Gefahr erinnert, die hier trotz allem noch lauert?
Nein. Es ist anders. Sie gehören zwar zu ihnen, aber sie sind nicht wie sie. Diese sind schwächer und ihre Seelen sind kleiner. Als sie schließlich eine meiner Türen öffnen, spüre ich, dass keiner von ihnen eine Rune oder einen Talisman trägt. Ihre ohnehin schon schwachen Geister sind ungeschützt, vollkommen nackt. Das kann nicht sein. Sind sie so arrogant geworden oder wollen sie mich locken? Trotz meiner Vermutung greife ich prüfend nach dem Schwächsten von ihnen. Ich rechne mit einer Falle, einer List, um mich doch noch gänzlich auszumerzen, doch mich hält nichts auf und ich pflüge ungehindert durch seinen Geist. Vollkommen überrascht fühle ich das Leben in ihm und höre das Rauschen seines Blutes.
‚OH‘
Die Gier entfacht einen Hunger in mir. Seine Essenz ist noch nicht einmal wirklich greifbar, doch allein die Erinnerung an den Geschmack genügt, mich in einen Rausch zu versetzen. Das letzte Mal ist so lange her, dass ich mich kaum beherrschen kann.
Meine Berührung seiner Seele lässt das schwache Wesen erschaudern und ich nehme die Angst wahr, die er empfindet. Sie lässt den verblassten Gedanken an meine ehemalige Macht wieder zu einer präsenten Erinnerung werden.
Ein heftiger Windstoß zieht ob meiner Wonne durch die Flure, es klappert und kracht. Auch das Land bemerkt meine Gier, lehnt sich auf und der Himmel verdunkelt sich weiter, bis es blitzt und donnert.
Doch am Rande meiner Ekstase erkenne ich, dass die Menschen trotz der offensichtlichen Gefahr nicht die Flucht ergreifen. Einige von ihnen lachen sogar. Ja, als ob sie die Angst provozieren, als ob sie sogar danach suchen würden. Sie sind nicht nur schwach, sie wissen offenbar nicht, was ihnen hier droht oder was ich bin.
Ich sehe neben der Gelegenheit, noch einmal süßes Leben zu kosten, auch eine Möglichkeit, mein Schicksal neu zu schmieden. Ich muss mich beherrschen, bevor es ihnen doch zu viel wird und sie ihre Dummheit erkennen. Ich muss sie hineinlocken.
Angestrengt versuche ich, die greifbare Präsenz des Lebens so gut wie möglich zu ignorieren. Beruhige meinen Atem, sodass der Wind nachlässt und das Land zur Ruhe kommen kann. Lasse die Türen aufschwingen, mache die Lichter an und entfache sogar ein warmes Feuer im Kamin.
‚Kommt herein, seid willkommen!‘
Es kostet mich alle Willenskraft, ruhig zu blieben, als die Herde Lämmer kurz darauf lachend und heiter meine Pforte passiert.
Die Uhr schlägt elf, während die Gruppe mein Inneres erforscht. Ich spür ihre Hände und Schritte überall unangenehm auf meinen Wänden und Dielen. Sie fassen mich an. Trotz ihrer Armseligkeit kennen sie weder Angst noch Ehrfurcht. Ich fühle mich entblößt und gedemütigt, doch ich beherrsche mich – noch eine Stunde.
‚Bleibt hier, seid willkommen!‘
Anstatt gierig nach ihren Geistern zu greifen und ihre Essenz zu kosten, halte ich mich zurück. Ich sende ihnen Neugier und Wohlbefinden. Das muss ich auch. Es stürmt und donnert indessen so heftig, dass das Haus zu wanken droht. Der Regen ergießt sich gleich einer Sintflut auf meine Ziegel und der Wind reißt an meinen Wänden. Das Land spürt, was hier passiert. Es erkennt die drohende Gefahr. Es will sie warnen, meine Lämmer verjagen.
Doch ich halte die Luft an und die sonst so losen Fensterläden fest verschlossen. Spanne meine Balken wie Muskeln, sodass es weiterhin ruhig und behaglich scheint. Bleibe ruhig, während das Land von außen mit aller Kraft an mir zerrt und die kleinen Hände im Inneren mich überall arglos betasten. Ich spüre bereits, wie der Bann an Kraft verliert und es mir mit jedem Ticken des Zeigers leichter fällt.
Noch 20 Minuten, als zwei der Neugierigen zu mutig werden und in den Keller hinabsteigen. Zu früh! Doch ich kann sie nicht aufhalten. Je mehr Angst ich ihnen mache, desto mehr scheinen sie gewillt, die Katakombe zu betreten. Es sind nur noch wenige Minuten, als sie schließlich den Altar finden, der meinen Körper bindet und meinen Geist bannt.
Nein! Es ist zu früh. Das darf nicht sein! Sie werden es sehen. Sie werden davonlaufen und mir ihre Essenz verwehren. Mir meine Chance zunichtemachen.
NEIN!
Mein Zorn verschlingt meine Konzentration. Die Erde bebt. Der Sturm bricht durch die Fensterläden. Das Licht flackert und das Gebälk ächzt, ja schreit schon beinahe. In meinen oberen Etagen bricht Panik aus und die Lämmer fliehen. Ich verrücke Möbel, versperre Türen und versuche, sie aufzuhalten, doch ich kann sie nur verlangsamen – bin noch zu schwach. Es ist zu früh!
In der Katakombe hingegen bekommen sie nichts von all der Panik mit. Die beiden Narren fliehen nicht, sondern stehen vor dem Altar und starren auf meine Urgestalt. Anstatt wegzulaufen, lässt sie die Neugier nicht nur verharren, sondern sogar noch näher kommen.
Ist das, was ich war, inzwischen so verkümmert, dass es nicht mehr furchterregend ist? Nein. Diese Menschen fürchten sich einfach nicht vor dem, was sie sehen. Nicht, weil sie zu mutig sind. Nein. Sie wissen schlicht und ergreifend nicht, was ich bin. In welcher Gefahr sie schweben. Meine Unterdrücker haben meinesgleichen wohl so erfolgreich ausgemerzt, dass sie nicht einmal eine Ahnung haben, um was es sich handeln könnte. Was die Welt im Schatten vor ihnen versteckt. Wie dünn der Faden ist, an dem die Existenz ihrer Art baumelt. Dass sie nur noch da sind, weil meinesgleichen es ihnen aus Spaß an ihrer Angst gestattet hat.
Ich beruhige mich wieder und versuche, deren Mut und Neugier weiter anzufachen. Einer von beiden erliegt der Angst und bleibt an der Tür stehen. Doch der andere nähert sich. Kichert sogar einfältig, als er Schritt für Schritt seinem Verderben entgegengeht. Als er es am Ende sogar wagt, eine Hand auf die riesige, vertrocknete Gestalt zu legen, passiert es: Die Uhr schlägt zwölf.
Mein Geist wird zurück in meinen alten Körper gerissen und schlagartig wechselt mein Empfinden von altem Stein und morschen Dielen zu vertrocknetem Fleisch und müden Knochen. Wie sonst auch durchfährt mich Schmerz. Die Ketten brennen, schneiden mir ins verstaubte Fleisch und nehmen mir das letzte bisschen an Kraft, das mir noch verblieben ist, um mich daran zu hindern, gegen mein Verlies aufzubegehren. Aufzustehen und das Artefakt, das mich bindet, zu zertrümmern.
Doch dieses Mal fühle ich auch die Wärme der Berührung auf meiner zu Leder gewordenen Haut. Ich spüre das Leben darin pulsieren und den köstlichen Geschmack der Essenz seines Geistes in greifbarer Nähe.
Ich ignoriere den Schmerz und schnappe mit meiner ausgemergelten, krallenbewehrten Pranke nach dem Frevler. Ich bin fast zu schwach sie auch nur zu heben, doch auch in all den Jahren habe ich es nicht verlernt und reiße seine Essenz aus dem Fleisch. Als sein Blut über meine Haut läuft und sie mit neuem Leben füllt, fresse ich seine Seele. Ich verschlinge sie!
Er wird nun für immer ein Teil von mir sein und leiden, während ich mich an seiner Angst und seinem Leid labe. Der neue Erste von einst Zehntausenden, die sie mir genommen haben. Aus der Erinnerung von Macht wird wieder Realität. Ich erhebe mich und die Ketten, die mich für immer hätten binden sollen, zerspringen.
Als ich mich zu voller Größe aufrichte, meine Flügel und Klauen strecke und die verbliebene schwache Seele um mehrere Meter überrage, erkennt sie, selbst in ihrer Unwissenheit, welches Grauen ich bedeute, und schafft es noch nicht einmal, zu fliehen. Sie fällt auf die Knie und winselt um Gnade. Diese Ahnungslosigkeit bringt mich dazu, meine scharfen Reißzähne in einem breiten, gehässigen Grinsen zu enthüllen.
Einen Aniletus, einen Seelenquäler, einen Dämon, so alt und abscheulich, dass selbst die Hölle ihn nicht haben will, um Gnade anzuflehen, ist einfach nur töricht. Als er stirbt, schlägt ein unnatürlich heftiger Blitz in einem letzten Aufbegehren des Landes in das Dach ein, sprengt Ziegel davon und setzt den Dachstuhl in Brand. Doch diese Geste ist vergebens: Soll es zu Asche verbrennen mein altes Gefängnis!
Während ich seine Essenz verschlinge und das Artefakt in meiner Pranke zu Staub zermahle, spüre ich, wie der Rest der Gruppe das Haus erneut betritt, um tapfer nach den Zurückgebliebenen zu suchen. Ich muss laut auflachen. Ich lache über die naive Welt, in die ich nun wiedergeboren wurde, die das Wissen der Alten vergessen hat und über die ich nun kommen werde wie ein hungriger Wolf über eine Herde Schafe.

Villa Corvus

„Was für eine grindige alte Bude“, sagt Einer.

Der Zweite reißt ein Stück Verputz herunter.

Der Dritte lacht.

Ein tätowierter Muskelprotz, ein kleiner Dünner und ein Schönling. Der Schönling gibt den Ton an, das ist klar. Er sieht gut aus, und er ist grausam.

Nicht, dass es mich besonders stört, wenn jemand die Fassade abklopft. Im Westen fehlt die Hälfte vom Verputz, an den drei andren Seiten ist er locker. Das juckt. Erinnert mich an einen Kammerdiener, den einst die Schuppenflechte plagte. Hat er den letzten Herrn bedient? Oder den Herrn davor? Lang ist es her …

Ein Windstoß fegt durch meinen Garten – wenn nun die Eingangstüre plötzlich aufgeht, dann hat der Wind sie aufgestoßen, nicht wahr?

Hereinspaziert, ihr werten Herren! Ich lache, dass die Balken knarren.

„Hört ihr das?“, fragt der Tätowierte und bleibt stehen, während die anderen beiden näherkommen.

„Mach schon“, sagt der Schönling.

Das Echo im Foyer hallt: Mach schon, mach schon …

Erst einmal reißen alle drei die Augen auf.

Ja, Jüngelchens, da staunt ihr, so etwas habt ihr noch nie gesehen!

Der Tätowierte schaut zur Decke hoch. „Da oben isses bemalt.“

Fresken, du Narr, die Bilder nennt man Fresken.

„Voll grindig … was sind das für hässliche Vögel?“ Der Dürre zeigt hinauf.

Was bist du für ein Dummkopf! Mein Name lautet: Villa Corvus. Steht immer noch gut lesbar über meinem Eingang, und die Adresse nennt sich: Rabenweg.

Ach, dass du einer toten Sprache mächtig wärst, ist, fürchte ich, zu viel verlangt.

Noch seid ihr alle drei … zu sehr am Leben. Noch.

„Ich schätze, das sind Krähen“, sagt der Schönling.

Krähen?! Das, mein Hübscher, ist ein Affront. In meinem Zorn schlag ich die Eingangstüre zu.

Der Tätowierte will sie wieder öffnen. „Verdammt, die Tür geht nicht mehr auf!“

Tatsächlich? Ei, wer hätte das gedacht!

Jetzt rütteln auch die anderen beiden an der Klinke, das bringt mich abermals zum Lachen.

„Scheiße, da ist noch wer im Haus!“, schreit der Tätowierte.

„Ach was“, sagte der Schönling, „es knarrt, weil der Wind die Tür zugeschmissen hat. Das ist alles. Die alte Bude zerlegt sich selbst.“

Ach ja? Nun, lassen wir uns überraschen, wer hier wen zerlegt.

„Ist doch egal, wenn die Tür klemmt, wir finden einen anderen Ausgang. Kommt schon, wir schauen uns um! Am besten teilen wir uns auf“, sagt der Schönling, packt den Tätowierten am Arm und deutet Richtung Gang, „du gehst da lang!“

Der reißt sich los. „Spinnst du? Allein geh ich in der verdammten Bruchbude nirgendwo hin!“

Der Dürre nickt. Noch einer, der sich fürchtet, so ist es recht.

„Echt jetzt? Sag bloß, ihr habt Angst?“ Der Schönling lacht. „Na gut, bevor ihr euch in die Hosen macht, bleiben wir von mir aus zusammen.“

Hör ich ein Zittern in der Stimme, Hübscher? Verlässt auch dich der Mut?

Beim nächsten Windstoß knalle ich die Fensterläden zu. Mit sehr viel Schwung, mit sehr viel Kraft. Kann sein, dass sogar meine Mauern wackeln, und …

Mit einem Schlag ist es stockfinster im Foyer. Nichts mehr zu sehen, dafür umso mehr zu hören: Ein Krachen, das die Ohren lahmlegt, dazu ein Brüllen wie am Spieß – dann ist es still.

Wer konnte ahnen, dass durch die Erschütterung ein großes Stück der Decke runterfällt? Sehr schade. Um das Fresko. Zumindest ist der Tätowierte still. Im Gegensatz zu seinen Freunden.

„Scheiße, ich seh’ nichts!“, schreit der Dürre und hustet sich die Seele aus dem Leib.

Staub hängt in der Luft.

„Mach dein Handy an“, keucht der Schönling, „meins hat keinen Saft mehr.“

Ein Licht blitzt auf, der Strahl zeigt Staubpartikel, schwebend, sinkend … Der Strahl streicht durch den Raum … Bis er sein Ziel erreicht.

Dann schreien beide.

„Scheiße, den Dicken hat’s erwischt!“, jammert der Dürre.

Dein Wortschatz ist genauso mager wie du selbst, mein Guter.

„Reiß dich zusammen“, sagt der Schönling und nimmt das Handy an sich. „Ich leuchte, und du gräbst ihn aus, verstanden?“

Der Dürre nickt und kniet sich hin. Die Finger zittern und er beginnt den Tätowierten freizulegen, räumt Putz und Stuck beiseite, ein paar Steine sind wohl auch auf seinem Freund gelandet. Dazu der Luster.

Der Dürre sieht, was Sache ist, springt auf und heult sein Lieblingswort: „Scheiiiiiße!“

„Hat ihm den Schädel eingeschlagen“, sagt der Schönling und der Lichtstrahl zittert, „die verdammte Lampe.“

Lampe?! So eine ‚Lampe‘ nennt man Luster! Der meine hier stammt aus Venedig und ist zweihundertsechsundfünfzig Jahre alt, du ahnungsloser Narr!

Der Luster ist aus Glas, vielmehr: er war aus Glas.

Glas hat die Härte sechs auf dieser Skala des Herrn Mohs.

Die Härte eines Menschenschädels ist mir nicht bekannt.

So wie die Sache aussieht: Glas ist härter.

„Scheiße, ich will raus hier“, jammert der Dürre und …

Springt auf, der Schönling greift nach ihm, sein Freund ist schneller, blindlings stolpert der Dürre weiter und reißt das nächste Fenster auf.

Sehr alte Holz kann morsch sein. So morsch, dass sich die Angel aus dem Stock löst, wenn jemand heftig an dem Flügel reißt. Woraufhin dieser Flügel tut, was Flügel tun … Er fliegt!

Ein Scheppern und ein Klirren und ein Schrei! Ein Schrei, wie auf dem Schlachthof.

Glas ist nicht nur hart, es kann auch scharf sein, besonders, wenn es bricht.

Ach, jammerschade um das schöne Mosaik! In bunten Farben zeigte es den Tod des Sankt Corterius. Ein Märtyrer, verblutet ist der fromme Mann.

Der Dürre röchelt. Würgt, strauchelt, fasst sich an den Hals – rot quillt es zwischen seinen Fingern vor. Er taumelt auf den Schönling zu, der weicht entsetzt zurück.

Ein Homo sapiens enthält fünf Liter Blut. Erstaunlich schnell verlässt das Blut den Körper, vorausgesetzt: das Herz schlägt munter und die Wunde sitzt.

Der Dürre röchelt noch einmal, dann kippt er um, das Schauspiel hat ein Ende.

Und nun – zu dir mein Hübscher! Endlich allein zu zweit, nur du und ich!

Wobei … besonders hübsch siehst du jetzt nicht mehr aus.

Grün um die Nase.

Verschwitzt, der Blick voll Panik.

Ein neuer Kosename scheint mir angebracht.

Der letzte Ritter? Mann mit Ablaufdatum?

Lass doch das dumme Handy.

„Kein Empfang“, stöhnst du.

Na eben.

Was du wohl machen wirst, so ganz allein und abgeschnitten von der Außenwelt?

Lass dir ruhig Zeit.

Bis jetzt ging alles viel zu schnell. Kaum fünf Minuten ist es her, dass ihr zu dritt hier eingedrungen seid, und schon sind deine Freunde nicht mehr zu gebrauchen.

Das war mein Fehler. Ich gelobe Besserung.

Denn ich hab Zeit …

Nur ein Haus

Ihre Füße sind nicht die Ersten, die mich betreten, wenngleich sie es glauben mögen. Der Sog einer alten Geschichte packte sie, ließ nicht mehr los und spülte sie vor meine brüchige Fratze. Vor Jahrhunderten schon kamen ihnen ähnliche Menschen, jung, laut, vom Übermut getrieben, der immer gleichen Idee nachjagend, den Grusel zu erleben.

Ihre Fackeln wurden zu Petroleum- und Taschenlampen, zu leuchtenden Smartphones. Ihre wortreichen Erzählungen formten sich zu Notizbüchern, Fotografien und Videoschnipseln. Die Prothesen ihres Wahrnehmungsvermögens wurden raffinierter, während der Wunsch sich von mir begeistern zu lassen, unverändert einfach und hohl blieb.
Ich bin nicht der Grusel. Gruselig ist nur der Zwang, mich betreten zu müssen, der Zwang, diese Erfahrung machen zu müssen, als gebe es nichts anderes auf der Welt zu erfahren. Der Zwang ist gruselig, weil es keinen identifizierbaren Machthaber gibt, der diesen Zwang ausübt. Die Macht ist nur das kollektive Erzählen, das Weitergeben haltloser Ideen über Etwas, dass sich im Schatten meines Gemäuers befände. Zu schwach sind sie, sich der Idee zu widersetzen, die nicht ihre eigene ist.
Eine Geschichte hat sie hierher gebracht und ich tue ihnen nichts. Sie selbst tun es sich an und ich kann sie daran nicht hindern, drücke ihre Kehlen nicht zu, bin nur der Ort, an dem ihre Körper den Atem verlieren. Ich stelle ihnen nicht die Beine, beherberge nur die Treppen, auf deren Stufen sie sich die das Genick brechen, halte nur das Dach, von dem aus sie in die Tiefe stürzen. An mir klaffen die Fenstern, durch die sie springen, ohne, dass ich einen Stoß austeile. Durch meine Poren dringt die Kälte, die sie erfrieren lässt. Ich tue ihnen nichts. Ich bin nicht der Grusel. Ich bin nur ein Haus.

Nachtgeräusche
Das zarte Trippeln einer Maus huscht durch meine Gänge, ich knarze ihr müde nach. Durch das Moos auf meinem Dach sickert Regenwasser und läuft die feuchte Wand hinab. Meine Regenrinne sollte schon lange repariert werden. Stimmen! Ich höre doch Stimmen. Oder? Ich sehe auf den Wald hinab, recke und strecke mich um mit meinem kleinen Türmchen auch noch bis zur Biegung des Rabenweges blicken zu können, der eine Linie durch die nachtdunklen Wipfel zieht. Ich lausche, stehe ganz still, knarze nicht, klappere nicht und es tropft nicht einmal der Wasserhahn in der alten Waschküche. Ich höre das Rauschen des Windes in den Blättern, eine Krähe, wieder die Maus – und Stimmen! Jetzt kann ich sie auch erahnen. Das kleine Turmfenster wurde schon lange nicht mehr geputzt und ein Riss zieht sich mitten hindurch, aber ich sehe sich bewegende Gestalten, die sich schwarz vor der Dunkelheit abzeichnen. Menschen. Einer hat eine Lampe wie ein Zyplopenauge an der Stirn. Jetzt muss ich mich nicht mehr strecken, ich sehe sie immer deutlicher. Alles, was ich gerade noch gereckt, gestreckt und unterdrückt habe, lasse ich jetzt los. Die Schindeln klappern, ein Ziegel fällt hinab, die Fensterläden quietschen, der Boden knarzt, die Maus schreckt auf und quiekt und der Wasserhahn spuckt einen Schwall schmutzigen Wassers aus. Die Menschen bleiben stehen, scheinen unsicher zu sein, beraten sich. Doch schließlich wird die Gruppe wieder eine Art Reihe und das helle Auge zeigt auf mich. Sie kommen, sie kommen! Seit über 50 Jahren war niemand mehr hier. Sie sollen es schön haben, sollen sich wohl fühlen. Ich mache die Lichter im Foyer an, lasse das Klavier im Ballsaal eine Melodie spielen, die schön gewesen wäre, wenn es nicht so verstimmt wäre. Ich ziehe alle Spielsachen auf, die ich im Kinderzimmer finden kann, lasse das Schaukelpferd wippen und alle Uhren lustig schlagen. Zuletzt mache ich die Haustür mit einem metallischen Kreischen weit auf. Bitte kommt her und bewohnt mich.

Nachdrückliche Ausladung

Psst! … Ja, hallo sie da. Kommen sie doch näher heran. Trauen sie sich – ich beiße nicht!

Ich beobachte sie schon seit ein paar Tagen, wie sie den Weg bis zu mir, dem letzten Haus, stromern. Dabei bin ich seit Jahrzehnten unbewohnt, sieht man mal von den geflügelten, den vier-, sechs- und achtbeinigen Gästen ab.

Anfangs riskierten sie nur einen schüchternen Blick auf mein naturkrauses Grundstück, am folgenden Tag wagten sich ihre Augen über die Eingangsstufen, huschten über meine graublättrige Fassade hinauf zum Dach, das mehr Löcher als Ziegeln hat.

Hey, sie sind ein guter Beobachter, in mir wütete tatsächlich eine kleine Feuersbrunst. Seither werde ich ignoriert und es ist lange her, dass mir jemand etwas Gutes erwies. Die Zeit hat mich hässlich gemacht. Aber sie … sie stehen auf diese Hässlichkeit, oder irre ich mich? Nennen es ‚vintage Charme‘. Ich würde ihnen gerne zeigen, dass die Freunde, in deren Begleitung sie vorgestern waren, mich zu Recht ruiniertes Horrorhaus titulierten. Doch dazu müssten sie sich hineintrauen. Sich auf mich einlassen. Außer Acht lassen, welche Geschichten ihnen über mich zugetragen wurden. Nicht glauben, was sie hörten, sondern sich selbst ein Bild machen.

Aber welches Motiv treibt sie wirklich ausgerechnet zu mir? Ist es Sensationsgier? Sind sie Schnäppchen- oder Geisterjäger? Geocacher? Glücksritter?

Neeiin … ich rate weiter. O ich weiß, ich weiß – sie haben eine morbide Todessehnsucht, liege ich richtig? Sie suchen den passenden Ort für ihre Tat. Einen hässlichen Ort für ihre hässliche Tat. Ich rate ihnen, lassen sie es! Meine Fenster und Türen sind fest vernagelt und geschützt gegen das Eindringen von Feigheit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Ich will keine Kulisse für den Tod sein. Ich mag durch und durch marode, verrottet und vergammelt sein, aber ich werde sie mit allen Mitteln daran hindern, denn diese vermeintliche Schwäche ist meine Stärke.

Es wäre nicht das erste Mal, dass es mir gelingt.

2023 oder 1823 – mich interessiert das nicht mehr. Ich spüre Regentropfen, die wie Stecknadeln in mein Inneres dringen. Ich habe zu viel gesehen. Pferdefuhrwerke, Motordroschken, Inline-Skates. Frauen in hochgeschlossener Abendrobe und zerrissenen Jeans, Männer in Uniform und abgewetzter Lederjacke. Sonnenschirme und Spazierstöcke. Klack. Klack. Klack.

Müde und abgeliebt wache ich am Ende des Rabenweges. Moder in den Wänden. Mein Gebälk, vom Holzwurm zerfressen. Schimmel, nicht nur an den Tapeten.
Wieder lugt eine Sichel aus der Wolkendecke hervor. Wieder schreit ein Käuzchen. Und wieder knarzt die Diele. Dieses Mal sind sie nur zu dritt. Schon oben. Drei Bengel und eine Deern. Der Lichtkegel ihrer Kompakt-Taschenlampe entdeckt das Gemälde mit dem fehlenden Goldrahmen. Die Jagdgesellschaft. Wie passend.

So lasset die Spiele beginnen.
Stufe 1. Der flackernde Kamin. Die Deern schreit. Hübsche Regenjacke, sammle ich. Passt auf den Stapel, nach Größe und Farben sortiert.
Stufe 2. Der Windhauch im Nacken. Lasst uns abhauen. Bleibt doch noch. Ich liebe Gäste.
Stufe 3. Der Kronleuchter scheppert zu Boden. Abertausende Scherben. Wie ungeschickt von mir. Eine Schraube muss locker gewesen sein. Ich Töffel. Wollte schon längst den Hausmeister gerufen haben. Dass mir das immer wieder passiert. Die Deern hetzt die Stufen herunter. Gemach, gemach. Fräulein, wohin des Weges? Alpinweiß in den Augen der Bengel.

Bleibt doch noch. Ist so schön mit euch. So scheußlich schön.

Sanft streicheln mich die Äste des Baumes. Ich würde mich gerne noch ein Stückchen weiter zu ihm hinüberbeugen, aber ich habe Angst zu zerbrechen. Wir sind zusammen aufgewachsen, der Baum und ich, jetzt nach den vielen gemeinsamen Jahren sind wir alt und morsch geworden. Wir stützen und beschützen uns gegenseitig, hüten unsere Geheimnisse vor der Welt.

Oft höre ich die Redensart, man habe eine Leiche im Keller. Auf mich trifft das zu und auch der Baum hat einiges zu verbergen.

Ich versuche mich doch noch ein Stückchen weiter zu zu ihm neigen, versuche das Bröckeln meiner Fassade zu ignorieren. Es schmerzt, die Schönheit zu verlieren, aber mehr noch schmerzt die Gewissheit, dass unser Ende naht. Wir sollen fallen, einem schnöden Neubau weichen, bald schon.

Ich spüre die Schritte der Menschen in meinen Eingeweiden, höre ihre Stimmen. Es grummelt in meinem Bauch. Sie kehren mein Innerstes nach außen. Schamlos ohne Respekt reißen sie an meinen Leitungen, brechen sie auf und beobachten das braune Wasser, das wie Blut aus meinen Wunden fließt.

Wenn sie wüssten, wie viel Blut wirklich geflossen ist. Ich habe es gesehen, es auf meiner Haut gespürt, warm und weich floss es. Ich habe die Schreie des Mädchens gehört, schmerzvoll, dann wimmernd und dann das Gebrüll eines Säuglings, das viel zu rasch verstummt ist. Ich habe den kleinen Körper, eingehüllt in eine Decke gesehen, der von der Frau hastig unter dem Baum begraben wurde und seitdem von den Wurzeln meines Freundes in seinem ewigen Schlaf gewiegt wird. Geschützt und geborgen, wie er es in seinem viel zu kurzem Leben niemals war.

Das Geräusch meiner alten Leitungen hat mich daran erinnert, so wie mich das Kratzen der Menschen an meinen Wänden an die Frau erinnert, die den Fußboden scheuerte. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Blut auf dem Boden und beides zusammen trug sie im Eimer als Schmutzwasser hinaus. Vorsichtiger als er zuvor das Mädchen getragen hatte, seine Tochter. Hinabgetragen in die tiefe Dunkelheit meines Kellers.

„In die Hölle gehörst du, du Hure.“

Ich kann seine Worte noch immer hören. Voller Hass versuchten sie, die Erinnerung an eine junge Liebe aus meinen Mauern zu vertreiben, doch es gelang ihm nicht. Ich habe sie bewahrt in dem engen Hohlraum hinter der Wand, den der Alte zu einem steinernen Grab gemacht hat.

Aber ich habe den Hass ausgelöscht, den der Alte in meinem Inneren verbreitet hat. Ich habe meine Treppenstufen gelockert wie Milchzähne, die der kleine Mensch unter dem Baum nie haben wird. Ich habe ihn fallen lassen, mit Vergnügen seinen erschrockenen Schrei beim Sturz gehört und jeden Aufschlag seines Körper auf der steilen Treppen genossen. Manchmal, wenn die Äste meines Freundes im Wind lautstark knacken, erinnere ich mich an das Geräusch seiner brechenden Knochen und ein zufriedenes Seufzen hallt durch mein Inneres und dringt durch die zerbrochenen Fenster nach draußen.

Seine Frau hat das Haus hinter seinem Sarg verlassen. Sie wirkte erleichtert. Ich habe sie nie wiedergesehen.

Auch der junge Bursche, der oft im Schutz des Baumes am Zaun stand und mich sehnsüchtig betrachtet hat, blieb eines Tages aus. Ich vermisse ihn, auch wenn ich weiß, dass seine Gefühle nicht mir galten, sondern dem Mädchen, das jetzt ein Teil von mir ist.

Die Menschen behaupten, ich sei ein böses Haus, doch das stimmt so nicht. Ich gebe den Menschen, was sie brauchen, was sie verdienen. Obdachlosen eine Unterkunft, Liebespaaren ein Versteck und den Kindern und Jugendlichen das Gruseln, das sie suchen, um ihren Mut zu beweisen und sich zuhause wieder sicher und geborgen zu fühlen.

Ich bedauere es, dass ich bald nicht mehr da sein werde, doch ich nehme meine Geheimnisse nicht mit ins Grab. Mein Tod wird sie offenbaren.

Die Menschen steigen vorsichtig die Milchzahnstufen empor. Sie verlassen mich wieder ohne die zersplitterte Vordertür richtig zu schließen und ich kann ihre Erleichterung spüren. Mit halbgeöffnetem Mund schaue ich ihnen hinterher.

„Wartet es nur ab!“, rufe ich, doch sie hören mich nicht. Keiner dreht sich nach mir um.

Beruhigend streicht der Baum mit seinen Ästen über mein Gesicht.