Seitenwind Woche 1: Gäste im Geisterhaus

Der Traum eines Spukhauses

Geräusche. Leise Gespräche, Flüstern und was ist das? Kichern und Lachen? „Was geht hier vor?“
Ich erwachte langsam von meinem tiefen Schlaf. Wie lang ich diesmal geruht habe, war mir nicht bekannt.
Ich streckte mich und atmete tief ein. Alle meine zwanzig Zimmer erwachten wieder zum Leben. Ich schmeckte Staub und roch Modergeruch. Ich hörte die Stimmen, aber ich sah noch nichts.
Ich schaute mich schläfrig um. Auf den ersten Blick veränderte sich nicht viel um mich herum. An meinem prächtigen Grundstück standen immer noch die Kastanienbäumen und zwischendurch sah ich vor mir einen Teil der Straße, Rabenweg, wo ich, das mächtige Black Wooddust Herrenhaus stand.
„Es schaut größer aus, als ich dachte!“ Ich hörte eine Stimme.
„Oja, es ist atemberaubend oder?“, hörte ich die zweite Stimme. „Es ist das älteste Herrenhaus, hier am Rabenweg. Das Gebäude wurde schon vor Jahrzehnten teilweise unter Denkmalschutz gestellt.“
„Wo steckt ihr denn?“, fragte ich mich. An den knirschenden Kieselsteinen der Auffahrt erkannte ich die nähernden Stimmen, doch die Gäste waren für mich unter den Bäumen noch nicht zu sehen.
Schließlich finde ich sie zu dritt auf der Auffahrt. Sie starrten mich mit offenen Mund an. In ihren Augen erkannte ich etwas, wie Respekt. Oder Angst? Gut so.
„Ich habe alles darüber recherchiert bis 1870 zurück. Es hat eine düstere Geschichte und zählt als ein Spukhaus in dieser Gegend. Hier gab es mehrere Todesfälle, einen Unfall und sogar zwei Morde“, berichtete Stimme eins, den anderen sachlich.
Zwei Mordfälle tja, ich kann mich sehr gut daran erinnern. Wenn ihr, kleinen Menschen in meinem Vorgarten auch all diese tragischen Schicksale sehen hättet müssen, würdet ihr auch so ein trauriges Dasein wie ich fristen.
„Ja, ich habe darüber auch gehört“, sagte Stimme zwei. „Seit den Mordfällen steht das Haus verlassen, da es ein ungelöstes Mysterium ist und es wurde mit einer satanischen Sekte in Verbindung gebracht. Keine wollte danach hier leben.“
„Kein Wunder“, antwortete ich darauf, was meine Gäste natürlich nicht hören konnten.
Die drei näherten sich mir.
Sie hatten Rucksäcken auf den Schultern und Kamerataschen in den Händen. „Oh, schon wieder Geisterjäger!“, dachte ich und war voller Vorfreude auf den kommenden Spaß. „Kommt nur, kommt nur! Am Ende werdet ihr wieder schreiend laufen und für den Rest eures Lebens schlaflose Nächte finden. Seit Jahren hatte ich keine neuen Gäste, aber ich, altes Ding, habe noch den ein oder anderen Trick auf Lager!“

zu lange allein sein ist nicht gut

Seit Kurzem züchte ich Holzwürmer.
Für ein 200 Jahre altes Haus, wie mich, ist dies ein massiv selbstzerstörerisches Verhalten.
Nachdem die letzten menschlichen Bewohner ausgezogen sind, sind mir nur noch die Tiere geblieben. Im Frühjahr, wenn die Jungtiere geboren werden, herrscht Aufregung und Leben in meinen Gemäuern. Dann geht es mir gut.
Aber jetzt, im Spätherbst, wenn die Schwalben in den Süden geflogen sind und die Siebenschläfer und Fledermäuse Winterschlaf halten, bleiben mir nur noch die Holzwürmer als Ablenkung.
Jeder braucht eine Aufgabe im Leben und für ein Haus ist dies das Beschützen seiner Bewohner. Sind diese ausgezogen, beginnt das Warten auf neue. Mein Warten dauert nun seit zehn Jahren an.
Natürlich stehe ich in Kontakt zu den anderen Häusern.
So wie Bäume sich über ihr Wurzelgeflecht Nachrichten senden, tauschen sich Häuser über Rohrleitungen und Kabel aus.
Mein neues Nachbarhaus hat angeboten, mir zu helfen. Seine Familie beschwert sich über meinen zerfallenen Anblick und hat bereits Bilder von mir an den Bürgermeister geschickt. Eines davon hat mein Nachbar in eine Sache namens Internet gestellt. „Lost Place wartet darauf wachgeküsst zu werden.“ Seitdem sehe ich immer öfter Leute, die vom Zaun aus Fotos von mir machen. Ich versuche dann immer besonders gerade zu stehen.
Langsam wird es dunkel draußen. Die beiden Menschen am Zaun, werden wohl kaum noch gute Fotos von mir erhalten. Sie fotografieren auch gar nicht, sondern öffnen das Gartentor mit einem Schlüssel und kommen näher.
Als sie vor mir stehen, sagt die Frau: „Das ist also unser Haus. Ich habe es in schlechterem Zustand erwartet.“
Aufgeregt öffne ich ihnen die Haustür, als sie davorstehen. Sie knarzt etwas.
„Aber etwas unheimlich ist es schon.“, sagt die Frau.
Der Mann wehrt ab: „Ach was. Die ist doch nur kaputt.“
Sie treten ein und ich mache das Licht für sie an. Es sind nur noch wenige Glühbirnen funktionsfähig und einige flackern. Wirklich hell ist es nicht, aber sie haben ja Taschenlampen.
„Bist du sicher, dass hier alles normal ist?“ Die Frau weigert sich weiter zu gehen, doch der Mann sagt: „Das ist doch genau das, was wir uns vorgestellt haben, alles noch Original 19. Jahrhundert.“
Sie stimmt zu: „Ja, es ist wunderschön!“ und geht auf die Treppe zu.
Oh nein, dort wohnt meine größte Holzwurmpopulation. Die Treppe wird unter ihnen zusammenbrechen, wenn sie sie betreten. Was soll ich tun?
Um sie zu warnen, lasse ich den Leuchter über der Treppe fallen und er kracht erwartungsgemäß durch die morschen Stufen hindurch.
Die Frau beginnt fürchterlich zu schreien und rennt auf die Tür zu.
Halt, warte! Bitte geh noch nicht!
Schnell lasse ich die Haustür mit einem Knall zufallen und verschließe sie.
Nun schreit die Frau noch mehr und rüttelt an meiner Haustür: „Ich will hier raus. Ich will sofort hier raus!“
Auch der Mann versucht nun die Tür zu öffnen. „Beruhige dich, Schatz! Sie klemmt nur.“
„Wenn diese Tür nicht sofort aufgeht, komme ich nie wieder hierher.“, heulte die Frau.
Vorsichtig lasse ich die Haustür los und als der Mann das nächste Mal die Klinke herabdrückt, öffnet sie sich.
Gemeinsam geht das Paar nach draußen. Der Mann nimmt die Frau in den Arm. „Es ist ein sehr altes Haus. Wir müssen viel reparieren lassen.“
Sie schlendern über den Weg zum Gartentor und lachen schon wieder.
„Vor allem müssen wir was gegen die Holzwürmer tun.“
Das finde ich auch….

Endlich wieder Leben in der Bude!?

Es wird dunkel und die Bäume, die auf dem Grundstück um mich herum stehen, rauschen im Wind. Sie beachten mich nicht – ich bin ja auch nur das alte, schon etwas marode Haus am Ende der Straße aus totem Stein.
Pah! Dass die sich da mal nicht vertun! Stein, ja. Tot nein!
Abgesehen davon sehen sie auch nicht gut aus. Verwildert. Könnten mal wieder einen Schnitt gebrauchen. So!

Gestern war jemand aus dem Maklerbüro hier. Ein ängstliches blasses Kerlchen. Du liebe Güte, was hat der gezittert. Ich vermute, die haben ihren Praktikanten geschickt, um alles noch einmal zu überprüfen. Und morgen kommt ein souveränerer Makler, der den Menschen das Grundstück und das Haus zeigen wird.
Zugegebenermaßen habe ich den blassen Praktikanten auch ein bisschen geärgert, ihn mit leisem Seufzen, knarrenden Dielenbrettern und klappernden Fensterläden erschreckt. Eiskalter Luftzug aus dem Nichts …
So habe ich es in den vergangenen Jahren immer dann gemacht, wenn mir potentielle Käufer unsympathisch waren. Arrogante Schnösel, die hier eine Anwaltskanzlei oder ein Steuerberaterbüro einrichten wollten, weil sie meinten, es mache sich gut, in so einem alten Haus zu residieren. Sogar die Bäume haben mir dabei geholfen. Und ich muss gestehen, wir hatten jedes Mal einen ungeheuren Spaß, wenn so ein Typ, der vorher den Großkotz hat raushängen lassen, die Hosen gestrichen voll hatte, wenn er aus meiner großen imposanten Haustür herausgeschossen und in seinen kleinen flachen Sportwagen gesprungen ist. Noch vor ein paar Wochen habe ich so einem die Tür vor der Nase zugeschlagen. Was hat der geschrien, dass man ihn gefangen und eingesperrt habe.

Noch während ich in der Erinnerung an seine spitzen Schreie schwelge, kommt von den Bäumen die Nachricht, dass zwei Autos das Ende der Straße erreicht haben. Dann wollen die vermutlich zu uns.

Huch, eine Familie diesmal! Sowohl die Bäume als auch ich sind überrascht und auch das schmiedeeiserne Eingangstor ist es. Zum ersten Mal öffnet es sich nämlich ein kleines bisschen, leise und einladend, statt zu klemmen und widerwillig zu quietschen.

Ich muss gestehen, nun bin ich doch ein wenig aufgeregt. Eine Familie!? Das würde wieder Leben in die Bude bringen. Ja, ich sehe trotz meines Alters immer noch gut aus und der riesige Garten mit der entsprechenden Pflege bestimmt auch rasch wieder. Aber ich möchte nicht, dass meine Räume lediglich wochentags als Büro genutzt werden. Ich möchte endlich wieder das warme Gefühl von Leben in mir spüren. Hastig lasse ich eine kräftige warme Windböe durchs Haus fegen, damit die dicke Staubschicht nicht so auffällt und die muffige kalte Luft, die mir geholfen hat, bei diesen Schnöseln das ungute Gefühl zu verstärken, verschwindet.

»Sie wollten ein großes und vor allem altes Haus kaufen«, sagt der Makler beflissen. Ich kann ihn übrigens überhaupt nicht leiden. Er ist so schleimig und devot.
»Ja«, antwortet eine sympathische Frauenstimme.
»Spukt es hier?« Die Frage kommt von dem kleinen Mädchen. Ihre Augen blitzen.

Mir gefällt das aufgeweckte Kind. Normalerweise hätte ich jetzt schon mal so ansatzweise mit den Fensterläden geklappert oder meine schwere Eingangstür knarrend aufschwingen lassen. Aber irgendetwas sagt mir, dass ich hier zurückhaltend sein sollte.

Während der Makler erschrocken die Schultern hochzieht und mit blassem Gesicht den Kopf schüttelt, sagt der Vater des Mädchens zu meiner großen Überraschung: »Solche alten Häuser haben ihre Geschichte. Und ein bisschen bleibt immer von den vorherigen Besitzern darin. Deshalb wollen wir ja auch kein neues Haus bauen, sondern genau so eins kaufen.«
»Diese alten Häuser haben meist einen Charme, da kommt ein neues Haus nicht mit«, ergänzt die Mutter an den Makler gewandt, der bei den Worten ihres Mannes ganz schnell den Mund wieder zugeklappt hat.

Das Mädchen sieht nachdenklich aus, wirkt aber nicht erschrocken. Sie dreht sich zu ihrem Bruder um, der ein bisschen älter als sie sein muss. »Was meinst du?«, wendet sie sich an ihn. »Glaubst du, dass hier böse Geister wohnen?«
Er betrachtet mich und sagt entschlossen: »Nein! Das Haus sieht freundlich aus. Wenn es hier wirklich Geister gibt, sind sie freundlich.«
»Ääähm«, wendet der Makler ein und windet sich. »Wenn ich ehrlich bin, sind hier durchaus schon unheimliche Dinge geschehen …«
Der Vater der Kinder lacht. »Wenn es von innen so freundlich aussieht, wie hier draußen, glaube ich auch nicht an böse Geister.«

Alle fünf kommen die breiten Steinstufen hoch und ich weiß, wenn ich mich jetzt ganz still verhalte, kann es klappen, dass endlich wieder Menschen in mir wohnen.

Wie bei den vorherigen Besitzern, die bis ins hohe Alter hier gelebt haben, werden die Bäume, die übrigen Pflanzen, der alte Teepavillon im Garten und ich, unser Möglichstes tun, um die Familie zu unterstützen. Wir haben uns in den vergangenen Jahren ziemlich hängenlassen und es kam unserer Abneigung dagegen, lediglich als Bürogebäude genutzt zu werden, ja auch entgegen. Aber damit soll jetzt Schluss sein.

In meinen Träumen sehe ich das aufgeweckte kleine Mädchen als alte Frau durch den Garten laufen, die sich schon lange nicht mehr wundert, dass der schöne grüne Rasen so langsam wächst, dass sie keinen Gärtner benötigt, der ihn mäht. Ebenso ist es bei den Büschen, Bäumen und Hecken, wobei der Garten einmal in Form gebracht werden muss. Dann können wir den Stand einigermaßen halten und die Besitzer entlasten.

Ach ich kann es mir so unglaublich gut vorstellen! Und als alle fünf das Haus betreten, bemühe ich mich trotz meiner Aufregung um Ruhe, um sie nicht zu erschrecken.

Agonie

Ich liege im Sterben. Ach, was heißt hier liegen? Ich hänge fest, auf beinahe mein absolutes Minimum reduziert und dürste nach leben. Wie lange ist es her, dass ich jenes surrende, angenehme prickeln von Energie meinen Körper durchfließen spürte? Tage? Monate? Ich kann es nicht sagen. Der letzte Sturm war verehrend für mich und insbesondere für die alte Weide, die bis dahin in meinem Garten stand. Jahrzehntelang hat sie mich vor argem Wetter größtenteils beschützt. Stand mit ihrem großen Körper, gehalten von starken Wurzeln, vor mir um meine, mit jedem Jahrzehnt schwächer werdenden Mauern zu schützen. Doch diesen Letzten hat meine treue Gefährtin nicht überstanden. Sie ist gestürzt … und hat mich in ihrem Todesfall mitgerissen. Ja. Noch bin ich da, wenn auch nur als ein Bruchteil dessen, was ich war. Nichts mehr hier, von meiner Pracht, meines gepflegten Aussehens. Erloschen ist das Strahlen meiner Lichter. Der Fall meiner Jahrhunderte alten Gefährtin hat meine Struktur stark geschädigt. Sie schlug mir tiefe Wunden und trennte mich bei ihrem Aufprall vielerorts von meinem Fundament. Wie lange das nun her ist, weiß ich nicht. Jedoch spürte ich jeden Tag weniger von mir. Oder, den Schmerz, der das Verlieren eines Teiles von mir ankündigte. Wie viel Zeit ist vergangen? Taub und blind hatte es mich zu dem letzten Ort hingezogen, der noch schwache Energie ausstrahlte. Die Deckenholzrosette der Lampe, im großen Saal. Bis jetzt.

Knarren. Schritte. Stimmen. Energie …

Die Drähte der Glühbirne unter meinem Zufluchtsort singen nun sanft, bevor sie erglühen.

«Schatz, das ist eine Bruchbude!»

«Ja. Das ist es. Morgen kommt die Abrissfirma. Das Fundament ist in gutem Zustand. Darauf wird unser neues Zuhause stehen, Liebling. Komm, wir durchstöbern es, vielleicht verbergen sich hier noch Schätze.»

Ich höre ihnen nicht zu. Trinke die kraft, die durch das Stromkabel in der Holzrosette zu der Deckenlampe führt. Trinke und trinke. Bis ich erschöpft bin. Dehne mich, um mehr aufnehmen zu können. Fülle nun beinahe die gesamte Rosette aus. Dann geht das Licht aus. Ich seufze zufrieden und räkle mich. Bin schlaftrunken.

Ich weiß nicht wie mir geschieht. Es dröhnt und hämmert. Alles um mich herum zittert und vibriert. Das Knarzen von zersplitterndem Holz. Das Poltern von Stein. Das Kreischen von Metallrohren, die reißen.

Ich falle. Werde begraben.

«Da bist du ja, ich dachte schon, du seist verloren.» Hände graben mich aus dem Schutt. Sanfte Finger streifen den Dreck von mir. Weicher Atem bläst die Staubschicht weg. «Du bist mir bei meinem ersten Besuch schon aufgefallen. Dein matter Schimmer im Licht der Lampe. Was denkst du, würdest du gerne hierbleiben?» Ihr leises lachen. «Was rede ich mit einer Deckenholzrosette. Paul hat recht, ich sehe Geister. Egal. Du bleibst hier.» Sagt sie. Hebt mich ins Licht und lächelt.

Sie haben neben mir einen Baum gepflanzt. Eine neue Gefährtin. Dieses Mal etwas weiter entfernt.

Schlechte Zeiten

Ein Bescheid von der Schreckenskammer. Immer schlecht. „…Rückstufung zum „Lost Place“ …“, „… Voraussetzungen nicht mehr erfüllt …“, „… seit 2017 kein Todesfall mehr …“

Ist das etwa meine Schuld? Der Mann vor zwei Jahren? Schon vergessen? Das war doch perfekt, oder nicht? Herzflattern schon unter der raunenden Linde; nächtliche Rhythmusstörungen – kein Haus hat das Dielenknarren drauf wie ich! Schatten an der Decke. Die optische Verengung der Korridorwände zum morgendlichen Toilettengang – das war es dann schon fürs Herz.

Sicher, Mist, Defibrillator. Jetzt tragen die Leute schon Auferstehungsmaschinen in sich. Was soll das? Und was kann ich dafür? Lost Place, ha. Soll die Kammer mir doch mal verraten, wie das funktionieren soll, mit Google Maps und Co.

Und die Truppe, die gestern kam? Da fehlt doch alles, aber wirklich alles was ein Haus wie ich benötigt; Sorglosigkeit, innerer Frieden, Heiterkeit. Nichts davon find ich bei denen. Nur: Weltuntergang, Weltuntergang, Ende und aus, Katastrophe non stop. Soll die Kammer mir doch mal verraten, wo da ein Ansatz ist.

Genauso wenig, wie ich diese Typen verstehe, begreife ich, wofür die soviel Klebstoff brauchen.

Was suchen Menschen eigentlich in verlassenen Häusern? Ich meine, es hat schon seinen Grund, dass ich hier noch stehe. Dass sich niemand wagt, mich anzugreifen, mich abzureißen. Seit 300 Jahren stehe ich hier. Geweiht durch das Blut meines Erbauers, eingeschlossen in einem Kristall, der in den Boden des Kellers eingearbeitet ist.

Und seit 300 Jahren wird auch die Geschichte des Kristalls von Generation zu Generation weitergegeben. Am Anfang wussten die Menschen noch, wo sie ihn suchen mussten. Was bedeutete, dass ich die Fallen, die er mir eingebaut hat, benutzten musste, um die Eindringlinge durch den Boden oder die Kellertreppe fallen zu lassen. Heute haben sie den Ort vergessen, so dass ein Klappern der Tür, ein bewegter Leuchter ausreicht, um sie zu erschrecken.

Doch nun war schon einige Zeit niemand mehr hier und das ist langweiliger, als ich es für möglich gehalten hätte. Und genau in dem Augenblick, wo ich mein Schicksal am meisten verfluche spüre ich Schritte, die sich dem Gartentor nähern. Ich bin ganz aufgeregt, neugierig, wer sich in meine Nähe wagt. Ein Historiker? Ein Investorin?

Jetzt habe ich vor lauter grübeln verpasst, wie sie das Tor geöffnet hat. Es ist nicht einfach, ihr nachzuspüren, wahrscheinlich ist sie stehen geblieben, das macht es mir schwerer, sie zu fühlen. Ich versuche es einmal mit dem öffnen des Fensters an meiner Vorderseite, das gibt meist laute Schreckensrufe. Ich habe ja keine Ohren, aber ich kann Worte vernehmen. Aber es geschieht nichts.

Da, da ist sie wieder. Sie bewegt sich fast wie die Katzen, die ab und zu hier durch das Gelände streunen. Kaum wahrnehmbar, wenn ich mich nicht sehr konzentriere. Sie hat mich umrundet, befindet sich an meiner Rückseite. Der Weg wurde selten benutzt. Ich bin versucht, die Steinplatte vor der Kellertür zu öffnen, aber ich habe so lange auf darauf warten müssen, dass sich jemand in meine Nähe traut, dass ich abwarte. Und nun ist es zu spät, sie hat mich betreten. Hier bin ich voll in meinem Element, hier spüre ich jede noch so leichte Berührung, jeden noch so vorsichtigen Schritt. Und durch die Spiegel, die zu dutzenden in den Räumen hängen, den spiegelnden Oberflächen kann ich in gewisser Weise auch sehen. Und was ich sehe, irritiert mich ein wenig. Denn die junge Dame, die ich wahrnehmen kann, wirkt nicht so mutig, dass sie ein solches Haus wie mich betreten würde. Keine Angst ist an ihr wahrzunehmen. Neugierig blickt sie sich nach allen Seiten um. Das lässt sich ändern. Ich klimpere ein wenig mit dem Leuchter über ihr, so dass sie nach oben schaut. Und dann lasse ich ihn blitzschnell auf sie hernieder… Was ist das? Der Leuchter hat sich keine 10 Zentimeter weit bewegt und hängt nun in der Luft.

„Netter Versuch“ höre ich sie sagen und das irritiert mich. „Ich kann mir vorstellen, dass Du irrtiert bist. Ich wusste, dass Du den Leuchter bewegen würdest, bevor er es tat. Ich kann hören, was Du denkst, Haus. Spüren, in welche Ecke Du Deine Aufmerksamkeit lenkst, welche Gegenstände Du bewegen willst. Du bist nicht das erste Deiner Art, in dem ich mich befinde. Und da ich einen Schutzauber um mich gelegt habe, wirst Du mich auch mit keinem Messer oder Leuchter treffen können. Ich brauche eine Bleibe für die nächsten Jahre, eine Ausgangsbasis für meine Forschungen. Du eignest Dich dafür hervorragend, abgelegen, vergessen. Wir werden uns gut verstehen, davon gehe ich aus. Denn wenn nicht…“

Sie lässt den Satz unbeantwortet. Muss sie auch nicht, denn während sie sprach, hat sie sich die Kellertreppe hinunter begeben und steht direkt über der Stelle, an der der Kristall in den Boden eingelassen worden ist. Sie weiß von ihm, sie weiß, wo sie ihn finden kann. Und damit hat sie mich in der Hand. „Ich sehe, wir verstehen uns.“ Oh ja, ich habe verstanden. Ich hatte in den letzten Jahrhunderten den einen oder anderen Gefangenen, jetzt bin ich selbst ein Gefangener in ihrer Hand.

Zwei Lichtkegel tauchen in der Dunkelheit auf. Wieder jemand, der sich einen Spaß mit mir machen will. Sollen sie ruhig. Schnell lote ich meine Optionen aus. Der Kronleuchter im ersten Stock? Der Fackelhalter im Keller? Die Deckenverkleidung? Bevor ich mich entscheiden kann, sind sie schon in der Eingangshalle. Leuchten in alle Ecken hinein, trampeln die Treppe hinauf. Meine Fensterläden klappern im Wind. Ich lasse ihn ein. Er ist mein Verbündeter. Die Tür zum Dachboden öffnet sich langsam. Ein Geräusch wie schlurfende Schritte. Die Eindringlinge verharren. Plötzlich fängt die Uhr an zu schlagen. Der Kuckuck ruft aus dem Häuschen. Er ist etwas eingerostet, in all den Jahren, der Gute. Fluchtartig verlassen mich meine Besucher. Herrlich, diese entsetzten Gesichter. Ich freue mich schon auf das nächste Mal.

Neue Zeiten

Jetzt ist diese doofe Hexe schon wieder gegen den Baum geknallt. Ich habe die Erschütterung gespürt. Es ist doch jedes Jahr das gleiche. Hexenball und sie trinken zu viel – zu viel von diesem Pilztee. Danach scheint das Steuern echt schwer zu sein. Es stehen gar nicht so viele Bäume hinter mir, aber sie erwischt ihn fast immer. Fast könnte man meinen, dass die Eiche schon eine Kuhle im Stamm für sie formt. Fast könnte man meinen, sie wolle Walburga zärtlich auffangen… Nun ja, ich kann ihr nicht helfen. Ich klappere ein bisschen mit den Läden, aber sie scheint fest zu stecken. Sie bewegt sich nicht. Vermutlich schläft sie erst ihren Rausch aus.

Schade, denn ich würde ihre Hilfe jetzt wirklich brauchen können. Es dämmert und ich höre sie schon von weitem. Sie kommen den Rabenweg entlang und sind dabei alles andere als lautlose Raben. Sie trampeln und stapfen und lachen miteinander. Früher waren sie vorsichtiger. Leiser. Ich blinzle. Wieso sind die so grell? Und doch sehe ich keine Fackeln. Das grelle ist… ihre Kleidung? Wieso sind sie so laut? Ich klappere mit den Fensterläden. Normalerweise bringt sie das zum Verstummen. Doch weder die betrunkene Walburga noch diese grellen jungen Menschen reagieren auf mich. Sie lachen weiter. Und stampfen. Und was sind das für Lichter in ihren Händen? Das sind keine Fackeln. Ich kann die Lichter nicht riechen. Kein Feuer. Ich erschauere… Meine Balken knarzen, doch sie übertönen nicht einmal ihre Stimmen. Singen sie sogar? Ich erschauere wieder. Klappere lauter. Aber es nützt nichts. Zitternd muss ich dabei zuschauen, wie sie das alte verrostete Tor erklimmen. Wie sie näher kommen… laut und grell und … fröhlich.

Stille. In dieser Nacht herrscht absolute Stille. Kein nächtlicher Windhauch säuselt durch das hohe Gras an meinen Fundamenten. Keine verborgene Eule schuhut zwischen den knorrigen Ästen des kleinen Wäldchens hinter dem nahen Mühlbach. Noch nicht mal die beiden Pixies, die mein Dachgeschoss bewohnen, zanken miteinander. Das ist ungewöhnlich für eine Vollmondnacht im Herbst. Ich habe schon viele Mondzyklen und Jahreszeiten kommen und gehen sehen, schon unzählige Sonnenuntergänge und Sternschnuppen gezählt. Kirschblüten, Sommerregen, Herbstlaub, Schnee. Immer derselbe Kreislauf umspielt meine Mauern, Giebel, Fenster, Ziegel. Hier am Ende des Rabenwegs passiert selten etwas Unerwartetes. Die einzige andere Nacht, in der der Wind schwieg, war vor hunderten von Jahren gewesen, als mir meine ersten Bewohnerinnen Leben eingehaucht haben. Wie ich den Hexenzirkel von Erlstein vermisse. Damals war jeder Tag aufregend gewesen.

Heute jedoch scheint eine ungewöhnliche Nacht zu sein. Tief in mir regt sich etwas. Etwas Dunkles. Eine plötzliche Böe aus Westen trägt nun doch ein Wispern an meine Fassade heran. Stimmen, die flüstern. Das sind die Stimmen der Kinder vom Bauernhof. Manchmal, wenn ihnen der Sinn danach steht, besuchen sie mich altes Haus. Erwachsene kommen schon lange nicht mehr her. Für sie gibt es hier nichts zu holen, nichts zu sehen, nur alte Dielen, leere Zimmer, zerbrochene Fenster. In keinem meiner drei Stockwerke vermuten sie Schätze oder Magie und Gruselgeschichten tun sie als alberne Märchen ab. Aber die drei Freunde vom Mathildenhof lieben die Geschichten über Geister, Hexen und Feen. Wenn sie mich besuchen, schleichen sie immer in den alten Salon und machen es sich vor der imposanten und erstaunlicherweise noch intakten Fensterfront an der Ostseite bequem, schauen auf den Garten und den Wald hinterm Bach hinaus und erfinden gemeinsam Sagen, Epen und Legenden über Spukgestalten aller Art. Manchmal suchen sie nach imaginären Schätzen oder machen draußen ein Lagerfeuer. Ihre Fantasie wird vor allem durch die beiden Pixies beflügelt, die es sich nie nehmen lassen können, den Kindern einen Streich zu spielen. Das reicht von ihrem grünlichen Licht, das hinter alten Vorhängen hervor blinkt, bis zum Poltern im Obergeschoss oder Flüstern zwischen den Büschen. Ich liebe es, wenn die Kinder Spaß haben und bin jedes Mal erstaunt, wie fantasievoll ihre Geschichten sind, wenn ich ihnen lausche. Und beeindruckt, wie nah sie manchmal der Wahrheit kommen, wenn sie übernatürliche Wesen erfinden.

Heute lassen Emma, Elias und Finn ihre Fahrräder direkt vor der Veranda stehen und schleichen sich kichernd durch meinen Haupteingang. Die besonders laut knarrende Diele überspringen sie alle mit Leichtigkeit.
“Heute gehen wir durch die mysteriöse Tür im Keller”, raunt Finn, als fürchte er, dass die Wände Ohren haben. Was sie ja auch haben.
“Aber die ist verschlossen. Da sind wir noch nie durch gekommen”, stellt Elias etwas unsicher fest. Er folgt Finn und Emma trotzdem die Treppe hinab. Im Erdgeschoss ist es fast schon hell, als gäbe der Mond sich heute besonders viel Mühe das Dunkel zu vertreiben. Im Keller hingegen ist es so lichtlos wie in einer sternenlosen Neumondnacht. Normalerweise reicht dem Trio das Mondlicht, manchmal zünden sie Kerzen “für die passende Stimmung” an. Heute haben sie Taschenlampen dabei. Finn ist noch nicht am Fuß der Treppe angekommen, als ich es wieder spüre. Dort unten regt es sich. Und das ist kein gutes Zeichen.

Ich klappere mit den Läden auf dem Dachboden, um die schlafenden Feen zu wecken und bemerke das sanfte Leuchten von Ciela, die gerade erwacht. Sie schläft am liebsten unter großen Ahornblättern. Sie lauscht und grinst. Dann weckt sie Solea, und schnell sausen sie außen zum Fundament herab. Kurz vor dem Fenster in der Waschküche halten sie inne.
“Das Böse lauert heute”, wispert Ciela.
“Ja, wir müssen sie vertreiben”, stellt Solea fest. “Sonst sind sie in Gefahr!”
“Aber wie?”
“Mit Schabernack natürlich!” Solea flattert hinab, versteckt sich hinter der alten Holzkiste.
Ich denke, sie haben recht und lasse das Gebälk des Fundaments vernehmbar ächzen.
“Ähm… lass uns das lieber wann anders machen”, flüstert Elias nun und bleibt am Fuß der Treppe stehen. Er sieht unschlüssig aus.
“Warum?”, will seine Schwester Emma wissen. Sie holt eine Säge aus dem Rucksack. Für meine Tür?
Da poltert es aus der Waschküche. Alle drei zucken zusammen.
“Wer ist da?”, ruft Finn mutig.
“Bestimmt nur ein Waschbär?”, Emma klingt doch nicht mehr so zuversichtlich.
Ich merke, wie Ciela heller strahlt und damit Schatten von Gestalten an die Wände malt. Dazu öffne ich das hintere Kellerfenster und ein Lufthauch lässt die Laken auf den ausrangierten Möbeln im Abstellraum flattern. Die Kinder sind nicht mehr weit von der Tür entfernt. Um sie zu erreichen, müssen sie nur dem Flur folgen, der von der Treppe geradeaus führt. Aber der Gang führt auch an Waschküche und Abstellkammer vorbei. Elias wimmert, als er die Schatten sieht und es rascheln hört. “Ich geh hoch!” Der Strahl seiner Taschenlampe wandert hektisch zurück zur Treppe. Emma bleibt stehen. Hin- und hergerissen zwischen ihrem Bruder, der nach oben läuft und Finn, der langsam weiter schleicht. “Finn!”, zischt sie. “Es fühlt sich komisch hier an. Anders als sonst.”

Es stimmt. Ich fühle mich auch anders als sonst. Hinter dieser verschlossenen Tür in meinen Tiefen lauert es, etwas hat sich geöffnet und windet sich gefährlich. Kein Ort für Kinder. Zeit, noch ein bisschen mehr zu spuken. Ich gebe dem schiefen Wandschrank in der Vorratskammer neben der Küche einen beherzten Stups und er stürzt mit einem befriedigend lauten Krachen zu Boden. So laut kann keine verschmitzte Pixie poltern.
Alle Kinderköpfe fahren herum. “Ähm… na ja. Morgen ist auch noch eine Nacht.” Finn versucht wohl, cool zu klingen. Seine Schritte wenden sich wieder der Treppe zu. “Ich hab außerdem meine Ersatz-Batterien für die Taschenlampe vergessen”. Was für eine lahme Ausrede, denke ich.

Ciela kichert so laut, dass Emma sich hektisch umguckt. “Die Geisterstimmen sind wieder da. Komm, wir gehen.” Sie zieht Finn am Ärmel zur Treppe. Das muss er sich anscheinend nicht zwei Mal sagen lassen. Elias wartet bei den Fahrrädern auf sie. Sie radeln schneller los, als ich je gesehen habe.
Das ist auch besser so. Selbst Ciela und Solea verlassen den Keller nun zügig. “Du solltest sie nicht mehr darunter lassen, Bretterbude”, stellt Solea klar, als sie sich wieder in ihr Blätterbett kuschelt. “Deine ollen Hexen haben die Tür zwar vor 300 Jahren versiegelt, aber Kinder können hartnäckig sein.”
“So wie du, Schwesterchen”, stichelt Ciela.
“Ach was, das musst du gerade sagen. Wer will denn immer das letzte Wort haben?”, kontert Solea.
“Stimmt ja gar nicht!”
“Stimmt ja wohl!”
“Gar nicht wahr!”

So wird das noch eine ganze Weile weitergehen. Ich allerdings treffe eine Entscheidung. Ich lasse die Balken und Ziegel vibrieren, wackeln und beben und nach kurzer Zeit zerbricht die Decke genau da, wo ich es will. Der Gang im Keller ist eingestürzt, von der verschlossenen Tür nichts mehr zu sehen.

Die verdammten Gäste, die sich durch das verfluchte Portal hinter der Tür hinein stehlen wollten, werden wohl für immer dahinter eingesperrt bleiben. Meine Erweckerin hatte mit einem mächtigen Bannzauber dafür gesorgt. Solange die Tür verschlossen bleibt, bleibt das dunkle Portal verschlossen. Dort unten wird nun für immer Stille herrschen.

Beruhigende Stille.

Ich kann dich riechen

Kommt… kommt näher… ja… jaaa.

Hmm… Ich kann euch riechen. Frisch. Jung. So viel Leben, so viel Energie in euren Adern. Gut, lecker.

Näher… lasst mich euch genauer ansehen.

Eine Frau – nein – ein Mädchen. Umher huschende Augen. Gebückte Haltung. Oh, du würdest keine zehn Minuten überstehen. Du stinkst nach Angst, Süße! Es wäre mir ein Fest, dich zu zerstören, aber du brennst zu schnell aus. Ich suche nicht nach einem One-Night-Stand. Ich brauche mehr.

Vielleicht deine hübsche Begleiterin? Keine zitternden Hände, die Taschenlampe stur geradeaus. Hmm… dieser erhabene Blick macht mich schwach. DU… ja, näher…

Warte!

Was ist das für ein Geruch?

Testosteron, Arroganz. Mit… hm, Furchtlosigkeit. Oh, nach dir sehne ich mich schon so lange.

Dreh dich um, zeig mir dein Gesicht. Ich will dein Lächeln sehen, bevor ich es dir für immer nehme.

Ich bin das Ding, das in diesem Haus lebt.

Ich bin dieses Haus.

Und. Du. Gehörst. Mir.

Komm näher, mein Schöner. Näher… näher… NÄHER!

Hab dich.

Es heißt, dass jedes Element, das auf der Erde existiert, ein Gedächtnis hat. Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Wasser, sie alle speichern Informationen – über sich, über dich, über die Welt. Und wenn du einen Ort baust, der viele Elemente miteinander vereint, an dem Menschen und Tiere leben, an dem Feuer im Kamin brennt, an dem das Regenwasser an Dächern und Fassade hinabrinnt, dann hast du einen Ort erschaffen, der nicht vergisst.
In einem Haus leben die Bäume weiter, aus denen du Tische und Schränke zimmerst, selbst die Tiere, die das Leder für Großvaters Ohrensessel gegeben haben. Jede Seele, die es betritt, schreibt sich unweigerlich ein in den Mörtel und das Gestein, in die Astlöcher und die Fugen zwischen den Badezimmerfliesen, in die Ritzen in den Fensterläden, durch die der Wind pfeift. Er singt sein unheimliches Lied, wenn die Haustür nicht mehr richtig schließt, und flattert im Gebälk zwischen Vogelfedern hin und her.
Doch wie alles braucht ein Haus Zuwendung, braucht Liebe, braucht eine Hand, die sanft und sehnsüchtig über seine Geländer streicht und ein Paar Augen, das es wie verzaubert anblickt. Es braucht Kinderlachen und etwas liebevolle Strenge, wenn sich wieder einige Mäuse durch das offene Kellerfenster hinein verirrt haben. Es braucht das Leben in all seinen Fassetten, denn sonst wird es roh, höhlt sich aus und verwahrlost immer mehr. Es zieht sich zurück in die Natur, die es verschlingt, wie sie alles verschlingt. Und anstatt zu verblassen, hebt sich die Erinnerung herauf und bringt ihre Dunkelheit mit. Sie zieht durch verlassene Flure und leere Zimmer, verwirbelt den Staub, der alles im Traum zuzudecken sucht. Das Haus bäumt sich auf gegen den Lauf der Zeit und während sie verstreicht, wird es einsam und ungeduldig, bis es schließlich einschläft.
Niemand sollte leichtfertig kommen und mich wecken. Denn das geht nicht ohne Schrecken in der Nacht. Nicht ohne knallende Türen und nicht ohne knarrende Dielen. Manches Mal wirst du dich umblicken und dich fragen, ob da gerade ein Geist zu dir sprach? Und wer weiß schon, was nicht alles entsteht aus all der Zeit und all den Erinnerungen am Ende des Rabenwegs.

Zukunftsträume

Über den Sommer war es angenehm ruhig gewesen. Die Rosen vor dem Fenster hatten lange geblüht. Er nahm ihren Duft noch immer wahr. Der wilde Wein hatte nahezu alle Fenster zugewachsen, sodass es im Haus angenehm kühl und dämmrig war. Die Vögel unter dem Dach hatten für genügend Abwechslung gesorgt. Den Rest der Zeit hatten ihn seine Bewohner unterhalten.

Er unterhielt sich gern mit ihnen, sicher nicht mit allen, aber doch mit den meisten. Sehen konnte er nicht, jedoch sehr gut hören und auch riechen.

Angefangen hatte alles mit dem Apotheker und seiner Familie. Das war eine schöne Zeit gewesen. Vorne im Laden sammelte sich die Kundschaft und kaufte allerlei Kräutertees, Ziehsalbe und auch Permanganat, das gegen Fußpilz half. Im Hinterzimmer mischte der Apotheker Salben aus alchemistischer Zeit und wohl auch die eine oder andere neue Erfindung. Ob sie wohl wirkten? Das wusste er nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Es reichte ihm, dass der Apotheker mit seiner Frau und der Kundschaft darüber sprach. Fröhlich war er dabei. Großzügig war er auch, so sehr, dass seine Frau bisweilen mit ihm schimpfte. Danach zog dann oft für Wochen der Geruch von Steckrübensuppe durchs Haus. Im oberen Geschoss tobten die Kinder. Viele waren es.

Danach kamen oftmals schreckliche Zeiten. Nach und nach quartierten sich allerlei Soldaten bei ihm ein. Gebeten hatte er sie nicht darum. Sie hinterließen Dreck, schreckliche Geräusche und Geschrei. Viele dieser zumeist ungezogenen Menschen konnte er nicht mal verstehen. Zum Glück hatte sich ihr Geschrei samt ihrem Tabakgestank und all den anderen unangenehmen Gerüchen ganz tief in die Wände verzogen. Nur wenn er selbst wollte, konnte er diese unangenehmen Reminiszenzen wieder in den Vordergrund holen.

Irgendjemand hatte immer hier gewohnt, jedenfalls bis vor kurzem, dachte er. Da war wieder einmal Krieg gewesen, und die gesamte Familie war irgendwann verschwunden. Zurückgelassen hatte sie Gesang, Klavierspiel, seltsam klingende Gebete in einer Sprache, die sie sonst nicht verwendeten, den Duft nach Flieder und selbstgebackenem Brot. Diese Erinnerungen, die meisten saßen in der Küche, in den Decken und auf der Veranda, erlaubte er oft, in die Zimmer zurückzuströmen. Er sprach gerne mit ihnen. Ob sie ihn verstanden, wusste er nicht. Das alte Haus knarrt, hieß es dann. Oder: Das Haus schimpft mit euch, Kinder! Oder: Hört ihr? Das Haus freut sich mit uns.

Bei unangenehmen Bewohnern, solchen, die herumschrieen oder vieles kaputt machten, ärgerte er sich so sehr, dass er mit dem Knarren der Treppen, dem Schlagen der Fensterläden, dem Lockern von Dielen, dem bedrohlichen Lichtspiel an Wänden und Decken und anderen kleineren Unmutsäußerungen nicht zufrieden war. Dann bat er den Apotheker um übelsten Gestank, längst gestorbene Kranke versunkener Zeiten um Gewinsel und Angstschreie. Die fremden Soldaten, tief in die Mauern verbannt, ließ er für eine Weile frei, so dass ihr Lärm, das Säbelrasseln, ihre Flüche und Drohungen das Haus füllten. Das wirkte fast immer. Anschließend war er oft eine Weile allein, wurde allenfalls von Liebespaaren aufgesucht, die noch kein eigenes Zuhause hatten. Beim Gedanken daran ließ er gern etwas lauen, leise säuselnden Wind in die Stube, am besten auch den Duft der Rosen.

Der Kies auf dem Gartenweg knirschte. Aufgepasst, dachte er, Besuch. Ach, noch vor dem Winter! Eigentlich wollte er seine Ruhe haben. Erst neulich, war es es in diesem Sommer oder im Jahr davor, waren ein paar Leute hier gewesen. Schrecklich hatten die sich benommen. Überall waren sie herumgekrochen, hatten eigenartige Stäbe an die Wände und die Treppen gelegt, hatten heftig an Fenstern und Läden gerüttelt und sogar den Ruß aus dem Kamin geklopft. Zum Glück waren sie bald wieder verschwunden, gerade noch so rechtzeitig, dass er sich nicht aufregen musste. Noch mal gut gegangen, dachte er. Vergessen konnte er solche Erlebnisse leider nicht. Ihre Stimmen hatten sich im Gemäuer vergraben.

Jetzt kamen die Besucher ins Haus; viele waren es. Drei oder vier Stimmen kannte er, die anderen waren neu. Lärm war ihre Mission, mit Hämmern klopften sie alles ab.

„ Aus dem ollen Kasten kann man was machen“, wiederholte immer wieder einer. Er schien der Anführer zu sein. „Billig wird es allerdings nicht.“

“Ja“, schrie der mit dem Hammer, „wir werden überall elektrische Leitungen einziehen müssen, und neuer Putz muss sowieso drauf“.

„Was meinen Sie, Herr Architekt“, rief einer, “lohnt es sich, in die Bruchbude zu investieren?“

“Klar, viel kann die Stadt dafür nicht verlangen. Das kann ein lohnendes Spekulationsobjekt werden. Lassen Sie mich nur machen. Wie werden das gesamte Erdgeschoss entkernen und völlig neu gestalten. Kann schmuck werden!“

Entkernen, dachte er. Was für ein Wort. Er wusste nicht, was es bedeutete, doch liebevoll klang das nicht. Viel schneller als sonst regte er sich auf. Wie noch nie trieb er allerlei Dreck durch den Kamin in die Stube, einen der schönen grünen Fensterläden ließ er abfallen und am Boden zerbersten. Er rüttelte mit den Dachziegeln. Das gesamte Gemäuer ließ er erwachen. Die Soldaten ließ er toben, den Apotheker ließ er allerlei chemischen Unsinn treiben, mit losen Dielen schlug er nach den Beinen dieser Kanaillen. Entkernen, dachte er. Nein, meinen Kern will ich behalten. Mit allen Erinnerungen.

“Die Bude stürzt ein“, schrie jemand und rannte nach draußen. Alle anderen folgten. Dem letzten ließ er die Tür ins Kreuz krachen. Endlich wieder Ruhe. Verglichen mit diesen eiskalten Schnöseln, kamen ihm selbst die Soldaten wie Erholung vor. Trotzdem bat er seine Gemäuer mit allen Bewohnern wieder um Ruhe. Er würde endlos brauchen, um zu seiner Zufriedenheit zurückzufinden.

Nach einer Weile knirschte der Kies vor dem Haus erneut. Wieder kam jemand ins Haus. Ganz vorsichtig. Zwei Leute nur.

„Was war das?, fragte der eine.

„Ich weiß es nicht“, antwortete die andere. „Nun ist es ruhig. Wie es aussieht, sind wir jetzt die einzigen Interessenten. Schön ist es hier. Denk nur, der große Garten mit den reichen Obstbäumen, die heimelige Stube, die geräumige Küche. Mir würde es hier gefallen. Und den Kindern auch“, fügte sie noch hinzu.

„Wir haben doch gar keine“, lachte er zurück. „Noch nicht“, flüsterte sie, „wird vielleicht bald. Nächste Woche kaufst du bitte das Haus und dann machst du dich am besten ganz schnell an die Arbeit. Es ist einiges zu tun.“

Mehr hörte er nicht. Mehr brauchte er auch nicht. Wir werden es versuchen, dachte er. Diese beiden kann ich aushalten. Sie sind leise und fröhlich.

Jetzt hatte er selbst genügend zu tun. Wenigstens wollte er noch heute die Stimmen und den Gestank der Schnösel und des Architekten in die Tiefen der Wände verbannen. Die sollten wahrhaftig so wenig wie möglich zu Worte kommen. Dann sortierte er die aufgerüttelten Dachziegel wieder ins Lot und ließ die Dielen an die richtige Stelle gleiten.

Ich seufzte, als meine Haustür sich öffnete. Ein Pärchen betrat den Flur. Ihn hatte ich letztens schon gesehen, als er mit dem Makler hier war, der schon seit Jahren versuchte, mich „an den Mann zu bringen“. Aber bisher war mir niemand Besonderes aufgefallen, niemand, der hier her passte.
„Das ist nicht dein Ernst“, sagte die Frau, als sie sich hier umschaute. „Das ist … das ist eine Ruine.“ Sie durchquerte den Flur mit langsamen, tastenden Schritten. „Wie alt ist das Gemäuer?“
„Naja, so ungefähr 100 Jahre. Hattest du nicht gesagt, ein bisschen Renovierungsarbeiten wären nicht so wild?“
„Ein bisschen …“ Die Frau schrak zurück. Im nächsten Moment schüttelte sie über sich selber den Kopf. Sie hatte sich vor ihrem halbblinden Spiegelbild erschrocken.
Ein Spiegel, durch den ich sie gut beobachten konnte. Sie würde es sein. Sie sollte mich durch die nächsten Jahrzehnte begleiten.
Die Frau öffnete die Tür zum nächsten Raum. „Oh“, machte sie, als sie das Zimmer betrat. „Was ist?“ fragte er.
„Dieses Licht“, murmelte die Frau vor sich hin.
Der Mann runzelte die Stirn. Er sah dasselbe dämmerige Zwielicht, das durch die viel zu dreckigen Scheiben fiel. Er sah nicht das, was ich sie hatte sehen lassen.
Sie drehte sich um. „Das ist mein Zimmer“, verkündigte sie. „Lass uns noch nach oben gehen.“
Sie lief vor, leichtfüßig umtanzte sie die Putzreste auf dem Boden. Die Zimmer oben waren nicht besser als unten. Aber es störte sie nicht mehr. Mein Zauber hatte sie gefangen.
Ich lockerte die Treppenstufe, die der Makler so mühsam festgeklopft hatte. Ein Schrei – ein Sturz – das Knacken von brechenden Knochen.
Verdreht lag sie am Fuße der Treppe. Aus ihrem Körper löste sich etwas. „Was ist passiert?“ Verwirrt sah sie sich um, in dem Haus, das so gar nicht mehr einer Ruine glich.
„Willkommen in deinem neuen zu Hause“, begrüßte ich sie.

Villa Metzer gegen das Gespenster Protokoll

Ein leises Klirren hallte durch die Stille, gefolgt von einem scharfen Schmerz. Jemand hatte ein Fenster zerbrochen und damit das alte Anwesen am Ende des Rabenwegs aus seinem dunklen Schlummer geweckt.

Noch umnebelt von den finsteren Träumen seiner Vergangenheit richtete das Haus seinen Fokus auf das Geräusch der zerbrochenen Scheibe und der sich öffnenden Eingangstür. Es raschelte, als vier Personen ungebeten den Eingangsbereich betraten.

Ein junger Mann mit dunklen Locken und einer Kamera um den Hals blickte sich neugierig in der Eingangshalle um. Seine Augen wanderten über die ledrig von der Wand hängende Tapete. Er sondierte die Türen, die tiefer ins Haus führten, während er leise in sein Handy sprach und sich dabei selbst filmte: „Willkommen in der Metzer Villa am Ende des Rabenwegs. In diesem Haus sind unzählige Menschen verschwunden, und zum heutigen Halloween werden wir vom Gespenster Protokoll der Sache auf den Grund gehen. Wenn wir es nicht filmen, gibt es hier auch nichts Übernatürliches.“

Mit diesen Worten richtete er sein Handy auf eine Frau mit kurzen, blonden Haaren, die ihm den Mittelfinger zeigte. Danach setzte sie sich gekonnt für die Kamera in Szene und betrachtete eine der Türen. „Hinter dieser Tür geht es in den Speisesaal. Wenn man der Geschichte glauben darf, hat dort Karl Merger seine Frau und seine zwei Söhne mit dem Beil erschlagen, bevor er sich selbst erhängte. Wenn es etwas zu sehen gibt“, und mit diesen Worten drehte sie sich direkt in die Kamera und hob gekonnt eine Augenbraue, „was ich nicht glaube… werden wir es dort finden.“

Die zweite Frau, mit einem langen, blonden Zopf schritt vorsichtig durch den Raum und hielt ein altes Buch in der Hand, dessen Einband kalkige Schriftzeichen auf schwarzem Leder zeigte. Sie murmelte leise, und jedes ihrer Worte traf das Haus wie süßer Wein. Eine Gläubige. So einen Schmaus hatte das Haus schon lange nicht mehr gehabt.

Ein weiterer Mann, groß und schlank, mit einer Brille und technischem Equipment beladen, war damit beschäftigt, die Kommandozentrale in der Halle aufzubauen. Er überprüfte gespannt die Anzeigen seiner Geräte und zeigte schließlich dem ersten Mann einem Daumen hoch: „Das Setup funktioniert, Damien. Wir können die Kameras in den anderen Räumen aufbauen.“

Damien blickte in die Gesichter seiner Freunde. „Wir werden mit dem Video so viele Likes bekommen! Wir sollten uns aufteilen, damit wir mehr Videomaterial haben. Lena, du gehst in den Speisesaal. Markus, du nimmst die Bibliothek. Sarah, die oberen Schlafzimmer sind für dich. Ich werde den Keller untersuchen. Denkt daran, erst die Kameras anzubringen, bevor ihr mit den Effekten beginnt.“

Lena, die Frau mit den kurzen, blonden Haaren, nickte und bewegte sich in Richtung des Speisesaals. Das Haus beobachtete sie mit Interesse. Es spürte, wie sie den Raum betrat, jeder ihrer Schritte leise auf dem alten Holzboden knarrend. Lena blickte sich um und bemerkte den alten Kronleuchter, der von der Decke hing. Sie positionierte eine Kamera auf dem Kaminsims, sodass sie damit den gesamten Raum filmen konnte.

Mit großer Anstrengung, so dass die Dielen in mehreren Zimmern knarzten, ließ das Haus einen Strick am Kronleuchter erscheinen. Lena zuckte überrascht zusammen, als sie die Schlinge sah, die von der Decke baumelte. Das Haus lauerte gierig, bereit, sich an ihrer kostbaren Angst zu laben. Doch es kam nichts. Lena griff nach der Schlinge und ließ das morsche, zerfaserte Seil durch ihre Finger gleiten. „Das sieht viel zu schäbig aus und wird auf der Kamera nicht gut wirken.“ Sie stieg auf einen Stuhl, entfernte das alte Seil vom Kronleuchter und zog ein neues, dickeres Seil aus ihrem Rucksack, das bereits mit roter Farbe präpariert war. Sie band das neue Seil an den Kronleuchter und begann, sich mit dem Handy zu filmen.

„Hier bin ich, im Herzen des Grauens, dem Speisesaal der Metzer Villa. Wird sich heute Nacht das Übernatürliche zeigen?“ Sie schwenkte den Kameraausschnitt, sodass die Schlinge ins Bild kam, und schrie überrascht auf. Das Haus hätte am liebsten ebenfalls geschrien. Es fühlte sich um seine Nahrung betrogen und wandte sich ausgehungert dem nächsten Studenten zu.

Markus betrat die Bibliothek. Hohe, dunkle Holzregale, die vor verstaubten, modrigen Büchern überquollen, umgaben den Raum. An einer der Wände saß ein großer Kamin. Auf einem kleinen Tisch baute Markus einen Kasten auf und richtete diesen auf den Kamin aus. Das Haus spürte Markus’ latente Furcht und wollte ihm zeigen, womit er es zu tun hatte. Im Kamin erschuf es eine brennende Fratze, die bereit war, auf Markus zuzustürmen und ihn zu Tode zu erschrecken.

Doch Markus, weiterhin mit dem Rücken zum Kamin stehend, hantierte an dem Kasten und legte schließlich einen Schalter um. Mit einem leisen Surren projizierte der Kasten eine geisterhafte Gestalt in den Kamin, so hell, dass sie die brennende Fratze völlig überstrahlte.

„Oh, wow! Ich hatte schon Bedenken, dass der Projektor nicht hell genug ist. Diese Aufnahme wird fantastisch!“, sagte er und zog sein Handy hervor, um sich selbst zu filmen. Das Haus, klapperte vor Wut mit seinen Fensterläden und richtete seine Aufmerksamkeit nun auf die gläubige Studentin.

Sarah, die Studentin mit dem langen blonden Zopf, betrat eines der oberen Schlafzimmer, das von einer schweren, erstickenden Stille erfüllt war. Der Raum lag im Dunkeln. Lediglich das schwache Licht des Mondes drang durch die zerrissenen Vorhänge und beleuchtete den alten Holzboden sowie das verlassene Bett in der Mitte des Raumes.

In ihrer Hand hielt sie das alte Buch. Die kalkigen Schriftzeichen auf dem Einband überdeckten einen anderen Text, der nicht zu entziffern war. Sie setzte sich auf das Bett, schlug das Buch auf und begann, lateinische Verse leise vor sich hin zu murmeln. Das Haus spürte sogleich die Macht dieser Worte und vermutete, dass sie eine Art Ritual oder Beschwörung durchführte. Vielleicht suchte sie eine Verbindung zu Geistern oder versuchte, sie zu beschwichtigen.

Entschlossen, ihr eine authentische Erfahrung zu bieten, ließ das Haus den Spiegel an der Wand beschlagen, als atmete jemand von der anderen Seite darauf. Eine Hand drückte gegen die Glasoberfläche und schrieb die Worte: „Hilf uns!“

Sarah schaute erschrocken auf. Doch statt Angst zu zeigen, legte sie das Buch beiseite, trat näher an den Spiegel heran und berührte die geschriebenen Worte, während sie weiter Verse murmelte. Das Haus spürte, wie eine besondere Energie den Raum durchflutete.

Plötzlich zerbrach der Spiegel in unzählige Stücke, die wie in Zeitlupe zu Boden fielen. Als die Scherben den Boden berührten, verschwanden sie, und der Raum wurde wieder dunkel. Sie atmete tief ein und flüsterte: „Ich wusste, dass hier echte Geister sind. Ich werde euch helfen, Frieden zu finden.“

Das Haus musterte Sarah intensiv. Es gab hier keine Geister. Die Seelen jener, die im Haus ihr Ende fanden, waren längst in dem Schlund des Hauses verschwunden und dienten als Nahrung während der langen Schlafphasen, in denen sich keine Menschen im Haus aufhielten. Doch ihre Beschwörung hatte temporär den Bann des Hauses über den Raum gebrochen.

Neben dem Hunger fühlte das Haus nun auch Besorgnis. Mit zunehmender Wut wandte es sich Damien zu, dem Anführer, der es gewagt hatte, eine solch unpassende Gruppe ins Haus zu bringen.

Damien, mit seinem Handy und einer Taschenlampe in der Hand, betrat vorsichtig den finsteren Keller. Die Luft war kalt und feucht, und ein muffiger Geruch erfüllte den Raum. Er konnte das Tropfen von Wasser hören, das in der Ferne auf den Steinboden fiel.

Das Haus fühlte Damians Nervosität und entschied, dass er das perfekte erste Todesopfer wäre. Es begann mit subtilen Geräuschen – das Knarren der Stufen der Kellertreppe, gefolgt von einem leisen Flüstern aus den Schatten.

Damien drehte sich hastig um, seine Taschenlampe hin und her schwenkend, konnte aber niemanden sehen. Er murmelte in sein Handy: „Ich glaube, ich höre Geräusche… Das könnte echt sein, Leute.“

Das Haus intensivierte seine Anstrengungen. Plötzlich erlosch die Taschenlampe, und Damien stand in völliger Dunkelheit. Ein kalter Wind wehte durch den Keller, und er fühlte, wie unsichtbare Finger über seine Nackenhaare strichen. Etwas flüsterte seinen Namen, so leise, dass er nicht sicher war, ob er es sich nur eingebildet hatte.

Panisch versuchte Damien, seine Taschenlampe wieder zum Laufen zu bringen. Als das Licht wieder aufflammte, sah er vor sich eine Gestalt – ein blasses, verzerrtes Gesicht mit leeren Augen, das plötzlich auf ihn zu schnellte.

Mit einem Schrei rannte Damien die Kellertreppe hinauf, stolperte und fiel mehrmals. Als er endlich die Tür zum Erdgeschoss erreichte, knallte diese direkt vor ihm zu. Er hämmerte gegen die Tür, rief um Hilfe, hörte die Kreatur langsam die Treppe hinter ihm hochsteigen.

Das Haus beobachtete zufrieden, wie Damien von Angst überwältigt wurde. Es ließ die Temperatur im Keller weiter sinken, bis Damien seinen Atem in der kalten Luft sehen konnte. Er zitterte, nicht vor Kälte, sondern vor Angst.

Doch dann, aus dem Nichts, wurde die Kellertür von außen aufgebrochen. Eine starke Hand packte Damien und zog ihn aus dem Keller. Es war Markus, der gehört hatte, wie Damien gegen die Tür schlug und kam, um nachzusehen.

Beide atmeten schwer, und Damien war bleich vor Schreck. „Was zur Hölle war das?“, stammelte er. Beide Männer leuchteten mit ihren Lampen in den Keller, doch auf der Treppe war niemand.

Das Haus knirschte mit den Dielen. Wieso konnte nicht einer von ihnen einfach sterben?

Nachdem sie sich alle vier im Eingangsbereich versammelt hatten, war die Spannung zwischen den Mitgliedern der Gruppe spürbar. Lena, Sarah und Markus standen mit ernsten Gesichtern da, während Damien, immer noch bleich und zittrig, versuchte, sich zu sammeln.

„Was ist los, Damien?“, fragte Lena spöttisch, „Hast du etwa Angst vor ein paar Schatten?“

„Das war kein Schatten“, antwortete Damien, seine Stimme leicht zitternd. „Da war etwas im Keller. Etwas Echtes.“

Sarah lachte. „Komm schon, Damien. Du bist doch der Anführer des Gespenster Protokolls. Solltest du nicht der Mutigste von uns allen sein?“

Markus versuchte, die Situation zu entschärfen. „Vielleicht hat er nur etwas gesehen, was wie ein Geist aussah. Die kalte Luft im Keller könnte wie eine Gestallt wirken.“

„Oder vielleicht hat er einfach nur zu viele Gruselfilme geschaut“, neckte Lena.

„Hört auf!“, rief Damien. „Ich weiß, was ich gesehen habe. Und ich gehe nicht zurück in diesen Keller.“

„Dann geh doch in den Garten“, schlug Sarah vor. „Vielleicht findest du dort ein paar freundliche Geister, die nicht so gruselig sind.“

Damien warf ihr einen wütenden Blick zu. „Vielleicht mache ich das auch. Viel Spaß noch hier drinnen.“

Ohne ein weiteres Wort stürmte Damien hinaus, die Eingangstür hinter sich zuschlagend. Das Haus beobachtete ihn, während er sich entfernte. Es spürte seinen Zorn, seine Frustration und seine Angst und stärkte sich daran.

Damien betrat den dicht bewachsenen Garten des Anwesens. Dunkle Schatten ragten überall hervor, und die Bäume streckten ihre knorrigen Äste wie Finger nach ihm aus. Trotz des Spotts seiner Freunde konnte er das beklemmende Gefühl nicht abschütteln, dass im Haus irgendetwas nicht stimmte. Doch der Garten schien ein sicherer Ort zu sein, um kurz durchzuatmen und über die nächsten Schritte nachzudenken.

Während er weiterging, spürte er den kühlen Wind, der durch die Bäume wehte. Das Rascheln der Blätter klang fast wie leises Flüstern. Er zog seine Jacke enger um sich und versuchte, sich auf die Geräusche der Nacht zu konzentrieren, um nicht von einer weiteren Kreatur überrascht zu werden.

Plötzlich fühlte er einen kalten Hauch im Nacken, als ob jemand direkt hinter ihm atmen würde. Blitzschnell drehte er sich um, doch da war niemand. Das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden, ließ jedoch nicht nach.

Als er weiter durch den Garten schlenderte, fiel sein Blick auf einen alten, verwitterten Brunnen, der inmitten eines überwucherten Kiesplatzes stand. Er trat näher heran und spähte in die Tiefe, in der Hoffnung, einen Blick auf das Wasser zu erhaschen. Doch anstelle von Wasser blickte er in ein tiefes, endloses Dunkel.

Unerwartet schoss eine grüne, schleimige Hand aus der Finsternis hervor und packte ihn am Kragen. Damien schrie auf und ließ sein Handy fallen. Verzweifelt versuchte er, die Hand von seinem Kragen zu lösen, doch es war, als wäre sie aus Backsteinen gemacht. Mit einem kräftigen Ruck zog die Hand den jungen Mann über die Brüstung, und schreiend verschwand Damien in der Tiefe.

„Habt ihr das gehört?“, fragte Lena, die zusammen mit den anderen die bisherigen Videoaufnahmen anschaute.

Lena, Markus und Sarah wechselten besorgte Blicke. „Damien?“, rief Markus und eilte, gefolgt von Lena, zum Ausgang des Wohnzimmers. Die beiden stürmten in den Garten, wobei die feuchte Nachtluft ihre Gesichter streifte. Das Mondlicht zeigte ihnen den Weg zum alten Brunnen.

Am Brunnen angekommen, entdeckten sie Damiens Handy, das verlassen auf dem Boden lag. Das Display leuchtete schwach, und auf dem Bildschirm war das letzte aufgenommene Video zu sehen. Doch von Damien selbst war keine Spur.

„Wo ist er?“, keuchte Lena, während sie sich hektisch umsah. „Er kann doch nicht einfach verschwunden sein!“

Markus hob das Handy auf und schaute sich das letzte Video an, in der Hoffnung, einen Hinweis auf Damiens Verbleib zu finden. Aber das Video zeigte nur den Moment, in dem das Handy zu Boden gefallen war.

Währenddessen war Sarah im Haus geblieben. Sie ahnte, dass es im Keller etwas gab, das ihre Aufmerksamkeit erforderte. Mit dem alten Buch fest in ihrer Hand betrat sie vorsichtig die kalte, steinige Treppe, die in die Dunkelheit des Kellers führte.

Als sie unten ankam begann sie die lateinischen Verse aus ihrem Buch zu murmeln. Das Haus spürte ihre wieder diese fremde Energie und versuchte, sie mit plötzlich auftauchenden Schatten und flackernden Lichtern abzulenken. Doch Sarah ließ sich nicht beirren.

Mit jedem Wort, das sie sprach, heizte sich der Keller mehr auf. Bald war der gesamte Keller von einem übernatürlichen Licht erfüllt. Als Sarah das letzte Wort sprach legte sich Stille und Dunkelheit über den Raum. Sarah atmete tief durch und schaute sich um.

Das Haus war wie benommen. Noch so einen Schlag konnte es nicht wegstecken. Es war Zeit das Spiel mit den Eindringlingen zu beenden.

Lena und Markus warfen einander einen besorgten Blick zu, und gingen weiterhin nach Damien rufend zurück zu Haus. „Damien!“, rief Markus, während er die Türen zu den verschiedenen Räumen aufstieß. „Hör auf mit deinen albernen Spielen!“

Lena, die in einem der Schlafzimmer suchte, spürte plötzlich einen eisigen Wind, der durch den Raum wehte. Ein dunkler Schatten huschte an ihr vorbei, und sie hörte ein leises Kichern. „Damien, das ist nicht lustig!“, rief sie, aber es gab keine Antwort.

Mit einem lauten Knall verschlossen sich plötzlich alle Türen und Fenster des Hauses. Lena und Markus waren gefangen. Das Haus bereitete sich darauf vor, sie zu verschlingen, aber es musste zuerst Sarah loswerden.

Sarah spürte die wachsende Angst des Hauses und lächelte. „Ich habe keine Angst vor dir“, murmelte sie und blätterte in ihrem Buch. In der feuchten Luft des Kellers waren die Kreide Zeichen verwischt und das Haus konnte den wahren Titel des Buchs lesen „Metzer Biebel“

Sarahs Finger glitten sanft über die Seiten, während sie nach einem bestimmten Abschnitt suchte. Das Haus erkannte den Titel des Buches und die Scheiben im Dachgeschoß zersprangen. Die „Metzer Bibel“ war eine Sammlung von Ritualen und Beschwörungen, die von den ersten Bewohnern des Hauses, den Metzers, verfasst wurden. Es waren mächtige Rituale, die das Haus in der Vergangenheit schonmal gebannt hatten.

Das Haus versuchte, seine Konzentration auf Lena und Markus zu richten, die noch immer in den oberen Stockwerken gefangen waren, aber Sarahs Präsenz im Keller war zu überwältigend. Das Haus spürte, wie Sarah ihr Ritual begann. Ihre Stimme hallte durch die Dunkelheit des Kellers, und jedes ihrer Worte schnitt wie ein scharfes Messer in sein Bewusstsein.

Die Zimmer in denen Lena und Markus gefangen waren verformten sich, die Wände rückten immer näher zusammen und drohten die beiden zu zerquetschen.

Im Keller begannen die Wände zu zittern, während Sarah ihre Beschwörung fortsetzte. Das Haus fühlte sich schwächer und schwächer, und seine Versuche, sie zu stoppen, wurden immer verzweifelter.

Blut schoss aus den Wänden und drohte, den Keller zu überfluten, aber Sarah war unerschütterlich.

Schließlich, mit einem letzten, mächtigen Ruf, beendete Sarah das Ritual. Das Beben der Wände stoppte abrupt und das Blut floss nur noch als seichtes Rinnsal die Wände herab. Sarah atmete tief durch und schloss das Buch. Sie blickte sich im Keller um, der nicht mehr bedrohlich wirkte Mit einem zufriedenen Lächeln stieg sie die Treppe hinauf, wo Lena und Markus auf sie warteten.

„Was hast du getan?“, fragte Lena, ihre Augen weit vor Erstaunen.

„Ich habe das Haus befreit“, antwortete Sarah ruhig. „Es wird ab jetzt Ruhen.“

Aus dem Garten kamen ein leises Stöhnen und Husten. Markus leuchtete seine Lampe in die Finsternis und erblickte das blasse und mit schleim überzogene Gesicht von Damien. „Mal wieder typisch für unseren mutigen Anführer. Wenn es an die Arbeit geht, bist du nicht zu finden.“ Damien antwortete mit zwei hochgestreckten Mittelfingern.

Die vier kehrten in die Eingangshalle zurück, um ihre Ausrüstung zu packen. Abgesehen von ihrem Buch hatte Sarah nicht viel dabei. Sie legte das alte Buch vorsichtig in ihren Rucksack, den sie sorgfältig mit einem Namensschild versehen hatte. Auf dem Schild stand: Sarah Metzer.

Das Haus der Entscheidungen

Ein junges Teenagerpärchen betritt meinen Vorgarten. Sie flüstern leise mir unverständliche Worte. Beide haben ihre Handytaschenlampe an und gehen sehr behutsam. An meinem Schloss angekommen frage ich sie: „Ihr seid zu später Stunde sehr weit ab vom Pfad. Was ist euer Begehr hier?“
Offensichtlich erschrocken schauen die beiden sich an. Nach einer Minute Stille sagt sie vorsichtig, stotternd: „Wir…wir wollen und nur umschauen, u…uns w…war langweilig und w…wir haben gehört, es gäbe hier viel zu entdecken…“
Also frage ich: „Was wünschst du zu entdecken?“ Sie antwortet, jetzt selbstbewusster: „Antworten“ sie zögert kurz „mein Bruder war hier in der Nähe zuletzt gesehen und danach nie wieder und ich möchte herausfinden, was mit ihm passiert ist.“ „Ich verspreche dir, du wirst eine Antwort finden, ob ich damit etwas zu tun hatte. Ich verspreche dir aber nicht, dass sie dir gefallen wird.“ Erwidere ich, bevor ich die Tür öffne.
Sie treten ein und stehen in meinem Flur. Zusammen gehen sie gerade aus durch eine weitere Tür und stehen im Wohnzimmer. Zwei Türen würden sie weiterbringen. Das Mädchen möchte sich aufteilen, um mich schneller durchsuchen zu können. Der junge Mann mag den Vorschlag nicht, aber willigt ein und geht durch die rechte Türe, dahinter liegt eine Treppe, die quietschend nach oben führt. Während er sie langsam nach oben steigt, geht seine Freundin durch die andere Tür, die sie in die Küche führt.
Hier entledige ich mich oft ungewollten Gästen. Ich spreche sie an: „Wenn du die Antwort auf das Verschwinden deines Bruders möchtest, dann opfere mir einen Finger und ich werde sie dir zeigen. Wenn du gehen möchtest, opfere mir eine Hand. Wenn du das Leben deines Freundes retten möchtest, gib mir deines.“ Sie bleibt wie angewurzelt in der Mitte des Raumes stehen. Mit einem lauten Klicken verschließe ich die Tür, durch die sie kam. Sie sucht panisch nach einer Möglichkeit zu fliehen.
Zeitgleich ist dieser Typ oben angekommen, er steht in dem Schlafzimmer, in dem meine einstigen Herren schliefen. Ich möchte ihn loswerden, also sage ich in einem netten Tonfall: „Ich kann zwar sprechen, aber ich kann dir nichts zeigen. Nimm die Pille, die auf dem Nachtisch liegt, dann kannst du sehen, was ich sehen kann. Dann kannst du verstehen, was passiert ist.“
Das Mädchen hat inzwischen festgestellt, dass es keine Möglichkeit zum Entkommen gibt. Sie fragt völlig ängstlich: „Meinst du deine Drohung ernst?“ Während ihr eine Träne die Wangen herunterläuft. Ich freue mich. Ich spüre ihre Angst. Ihre Machtlosigkeit. Meine Antwort ist knapp: „Ja.“ Nach einer kurzen Pause ergänze ich, vermeidlich höflich: „Es gibt ein Messer auf dem Tisch in der Mitte, es ist das Schärfste im Hause. Daneben liegt eine Pille, sie wird dir einen schnellen Tod bringen, ohne Schmerzen.“
Sie schluchzt. Ich kichere.
Der junge Mann ist leider nicht auf mein Angebot eingegangen und verlässt das Schlafzimmer, nur um sich in einem anderen Raum wiederzufinden. Ich verschließe die Tür hinter ihm und lasse ihn mit dem Kommentar „wir müssen warten, was deine Freundin macht“ alleine eingesperrt in der Bibliothek.
„Entscheide dich. Sonst werdet ihr beide sterben und das Geheimnis um deinen kleinen Bruder nie gelüftet. Ich gebe dir noch zehn Sekunden.“
Es geht ihr viel zu schnell. Ich sehe es in ihren Augen. Sie wirkt wie ein kluges, besonnenes Mädchen, aber sie soll nicht nachdenken. Sie soll leiden.
Sie greift das Messer. Es ist alt, rostig und ziemlich stumpf. Ich habe nicht gelogen, es gibt nur noch schlimmere. Ich kichere erneut, leise.
Weinend schneidet sich ihren linken kleinen Finger ab. Als er auf dem Tisch liegt, öffne ich die Tür zum Vorratsschrank. Dort liegt seine Leiche.
„Was soll es jetzt sein?“ Frage ich nach ein paar Minuten „Bekomme ich dein Leben, damit dein Freund gehen darf, oder bekomme ich sein Leben und du darfst gehen?“
Sie weint über ihren Bruder, umklammert ihn. Sie will nicht sterben, das sieht man. Noch weniger aber will sie diese Entscheidung treffen. Nach weiteren verstrichenen Minuten sagt sie kaum verständlich „nimm seines“ und schluzt erneut.
Der junge Mann läuft durch die Bibliothek und versucht, ein Buch zu finden, das weiterhelfen könnte. Ich löse die Befestigung des Kronleuchters an der Decke.
Bei dem folgenden rumms schreit sie auf. Ich öffne die Tür der Küche.
Sie steht auf, mit wackeligen Beinen und Blutstropfen, die ihre Hand herunterlaufen. Langsam und schwankend macht sie sich auf den Weg durch die Tür. Sagt kein Wort. Soll sie ruhig gehen. Soll sie die Geschichte verbreiten. Ich bekomme nur weiter Besucher.

REFUGIUM.
Ich bin das Maze-Haus, das im Herzen des dunklen Queaso-Waldes steht, verlassen und vergessen von der Welt. Ein bösartiges Haus, das Geschichten erzählt und Schatten in den Köpfen der Menschen hinterlässt. Die Bewohner der angrenzenden kleinen Stadt meiden mich, flüstern über die schrecklichen Dinge, die in meinen Mauern geschehen sein sollen. Ich bin ein Ort des Unheils, ein Hort der Dunkelheit, ein furchtbares Relikt der Verderbnis aus längst vergangenen Zeiten.

Ich habe mich immer vor den Menschen gefürchtet, die sich meiner Schwelle näherten. Sie kamen neugierig, um die Legenden zu überprüfen, die sich um mich rankten. Doch ich war kein Ort, den man leicht betreten konnte, geschweige denn verlassen. Ich hatte meine eigenen Wege, die Eindringlinge zu verschlingen. Wer meine Schwelle überquerte, verschwand für immer. Ich lebte von den Ängsten derer, die mir zu nahe kamen.

Doch eines Tages änderte sich alles. Es war ein kalter, düsterer Abend, als ich das erste Anzeichen von Unruhe verspürte. Ein heftiger Wind peitschte durch meine knarrenden Fensterläden und trug das Gelächter von verwahrlosten Kindern zu mir. Sie schlichen durch den Wald und näherten sich mit jeder Minute meinem Eingang.

Aber dann geschah etwas Unerwartetes. Eines der Kinder, ein Junge von schmaler Statur, stiess unerwartet meine Tür auf und rannte in mein Inneres. Er schrie vor Angst und Verzweiflung, als er durch meinen Eingang flüchtete und sich in einer Ecke meines dunklen Flurs verkroch. Die beiden anderen Burschen versuchten, ihm zu folgen, aber ich hatte genug von der Unruhe und ihren bösen Absichten. Mit einem lauten Knurren schlug ich die Tür vor ihrer Nase zu, und sie wurden nach draussen gedrängt.

Als die beiden vor mir standen, spürte ich ihre Wut und den wachsenden Hass in ihren Augen. Sie waren nicht wie die anderen, die aus Neugierde kamen. Diese Kinder hatten dunkle Absichten. Sie zerrten an meiner Tür, schlugen gegen meine Wände und versuchten, in mich einzudringen. Doch ich war bereit, mich zu verteidigen. Ich erhob alle meine Kräfte, stiess ein lautes Angst erschütterndes Brummen aus, wie man es noch nie zuvor gehört oder gespürt hat, um sie zu vertreiben.

Der Junge in meiner Ecke zitterte vor Furcht und ich spürte, wie sein Herz wild pochte. Er hatte sich vor den bösen Kindern in mich geflüchtet und war nun gefangen in meinen finsteren, modrigen Mauern. Ich hatte noch nie zuvor einen Menschen in mir gehabt, der nicht von mir verschlungen werden wollte. Es war eine seltsame und unheimliche Erfahrung.

Die Tage vergingen und der Junge blieb in meinem Inneren. Er fand Verstecke in den dunklen Ecken meines Hauses und fand Wege, sich vor mir zu verbergen. Ich konnte spüren, wie er vor Angst zitterte und ich konnte seine Tränen hören. Ich fühlte mich schuldig, dass er in meiner Falle gefangen war, aber ich konnte ihn nicht einfach gehen lassen. Ich hatte meinen Ruf als bösartiges Haus zu wahren.

Mit der Zeit begann sich etwas in mir zu verändern. Der Junge brachte Licht in meine Dunkelheit. Seine Anwesenheit beruhigte mein Gemüt, meinen Zorn und meinen Hunger nach den Seelen der Eindringlinge. Ich begann, ihn zu beschützen, anstatt ihn zu verschlingen. Ich half ihm, die schlimmsten Stürme und Kälte des Winters zu überstehen. Ich öffnete Türen für ihn, die ich schon seit langer Zeit nicht mehr geöffnet hatte und zeigte ihm verborgene Räume voller alter Geschichten und Geheimnisse.

Der Junge begann mich zu verstehen und verlor seine Angst vor mir. Er nannte mich sein Zuhause und sprach mit mir, als ob ich ein Freund wäre.

Tote Augen. Ächzende Knochen. Farbe blättert von der Haut. Schwärze wabert aus dem Innern. Von oben bin ich längst ergraut. Eher von der stillen Art. Am Tag, bei Licht. Nur dann. Denn sobald das Dunkel mich bedeckt, das Finster mich bewohnt, so wach ich auf. Sei gewarnt. Ich kann dich hören. Kann dich sehen, wenn du kommst. Kann dich riechen, gar verstehen. Denn meine Lüge ist perfekt. Sie gaukelt Wärme, gaukelt Schutz. Auch längst die Fassade blättert, erkennst du nicht mein wahres ich. Mir egal, ob du mich suchst, wenn du mich findest, wirst du bleiben. Solang alleine ich das will. Deine Blindheit treibt dich an, deine Neugier führt dich her. Alter Freund komm. Komm noch etwas näher. Mein Schlund steht dir weit offen. Faulig, modernd, pfeifend, knarzend. Komm, tret ein und nichts wird jemals wieder sein. Für die, die mich finden, wenn es dämmert, bei mir bleiben in der Nacht.

Das Haus im Wald

Es knirscht im Gebälk. Ein leichtes Beben wandert von meinem Fundament die Mauern entlang bis zum Dach. Die Tauben auf dem First flattern erschreckt davon. Durch meine trüben gebrochenen Glasaugen weht der Wind, fegt einmal durch die gute Stube und zum Kamin wieder hinaus. Er nimmt mein trauriges Seufzen mit sich und trägt es in den Wald und noch weiter.
So viele Jahrzehnte sind vergangen, mein Holz ist spröde und verwittert, der Verputz ganz grau, einzig die Tür sitzt fest in den Angeln, ist noch angefüllt mit Magie. Ich spüre sie ganz deutlich, noch schläft sie und wir warten. Die Zeit ist fast um.
Mit jedem Tag, der vergeht, wird sie schwächer und wieder trägt der Wind mein Seufzen davon.

Am Waldrand sucht ein junger Mann mit schwarzem Hut Schutz vor dem herauf brechenden Gewitter. Der Donner grollt und der Wind schiebt ihn Richtung Wald. Schon prasseln die ersten dicken Regentropfen auf die Erde. Der Wandersmann eilt sich und sucht Zuflucht unter den großen alten Fichten, er läuft einen schmalen Pfad zwischen wilden Brombeerbüschen entlang. Am Stamm einer alten Eiche ruht er sich ein wenig aus. Das Unwetter ist ausgesperrt, ab und an leuchtet ein Blitz gespenstisch durch das Laub. Plötzlich ist ihm, als höre er ein Seufzen voller Melancholie. „Welche arme Seele hier im Wald seufzt so voller Wehmut?“ Von Neugierde getrieben, folgt er dem Seufzen.

Trügen mich meine altersschwachen Sinne, oder nähert sich ein Wandersmann? Tatsächlich, kurze Zeit später steht ein hochgewachsener junger Mann mit schwarzem Hut auf meiner Schwelle. Er legt seine Hände auf meine Tür, fährt anerkennend über die Intarsien.
„Altehrwürdiges Haus, ein armer Zimmermann auf Wanderschaft erbittet eine Unterkunft in dieser stürmischen Nacht. Ich werde euch eure Gastfreundschaft mit meiner Handwerkskunst vergelten. Erlaubt ihr, dass ich eintrete?“
Er legt seine warme Hand auf meinen Messinggriff, ich fühle bis in sein Herz und senke die Klinke. Er schließt sachte die Tür und betrachtet mein Inneres im Dämmerlicht des endenden Tages.
Ich bin mir sicher, er ist der Retter, er muss es sein. Vorsichtig öffne ich die Tür zu ihrem Zimmer. Zögerlich tritt er näher. Ich öffne die Fensterläden, ganz leise. Er tritt an ihr Bett und sein Blick wandert über ihre Gestalt. Blondes Haar, wie gesponnenes Gold liegt sie schlafend, die Hände auf der Brust gefaltet. Vorsichtig berührt er ihre Hand, kalt wie Marmor, nimmt sie in seine lebendig warme Hand. Dabei entdeckt er den Stein, dunkel wie die schwärzeste Nacht auf ihrem Herzen.
Erkennt er den Hexenstein?
Er zerschlägt den Holzhocker am Ende des Bettes und entfacht mit ihm ein Feuer im Kamin. Als es prasselt, nimmt er den schwarzen Hut vom Kopf, stülpt ihn über den Stein, sperrt ihn in den Hut und wirft beides ins Feuer. Schwarzer Rauch steigt auf in meinem Kamin.
„Ahhhhhhhhhhhhh, der Fluch ist gebrochen!“

Die unschuldige Seele

Im Schatten umsäumt von großen Eichen fühlte ich mich am wohlsten. Es war kalt und der Wind sauste um meine Dachziegel herum. Wie ich dieses Geräusch liebte, wenn durch meine kaputten Fensterscheiben der Luftzug pfiff. Es gab mir ein wohliges Gefühl, das Lied des Leidens, was in diesem Haus passierte, zu teilen. Noch immer hörte ich die Schreie der vielen Opfer. Sie waren in mir eingemauert mit all ihren Qualen, Ängsten und ihrem Zorn. Manchmal lockte ich, mit klappernden Fensterläden und quietschender Haustüre, Wanderer zu mir, um die verdammten Seelen in mir, mit ihnen zu füttern. Sie liebten die Angst in ihren Augen und die Hoffnung hier wieder lebend rauszukommen, doch niemand schaffte es bisher. Aber all diese Opfer brachten ihnen keine Befriedigung, sie ächzten, nach immer mehr Seelen und ich wusste warum. All diese Wanderer waren befleckt durch Intrigen, Missgunst und Hass. Sie waren das Futter der Verdammten und nicht die Erlösung. Wie sollte ich es nur schaffen ihnen diese zu geben? Da hörte ich plötzlich eine Gruppe von Leuten am anderen Ende des Weges. Sie bewegten sich in meine Richtung. Aus jedem meiner mit blutverschmierten Zimmer drang der Ruf nach ihnen. Ihre Schreie ließen meine Scheiben erzittern und der Wind transportierte diese direkt zu ihnen. Ich wusste was nun kommen würde. Jedes Mal, wenn sie das taten, endete es mit einem grauenhaften Tod und auch diese neuen Seelen verzehrten sich dann wieder nach mehr. Je näher die Stimmen der Gruppe kamen, desto mehr spürte ich die Aufregung der Toten. Sie wollen essen und zwar gleich. Doch bevor es soweit sein würde, spielten sie mit ihnen, wie ein Pingpongball hin und her und wenn die Angst am größten war, schmeckten sie am besten. Nach zwei Jahrhunderten hatte ich alles gesehen und gespürt. Von der alten Großmutter bis hin zum tapferen Ehemann, sie verschlangen alles in sich hinein. Meine Wände vibrierten schon und mir war klar, die neuen Besucher hatten das Tor am Ende des Rabenweges erreicht. Diese mutigen Menschen mit ihrer schwarzen Seele waren angekommen. Es erwartete sie die Qualen, des eigenen schäbigen Verhaltens aus ihrem Leben zurück zu bekommen und als Erlösung den Tod begrüßen zu dürfen. Wenn ich darüber nachdachte, war es ein Geschenk der Verdammten diese Menschen zu töten, so mussten sie nicht weiter mit der Dunkelheit in ihren Herzen auf Erden wandeln. Doch die Art und Weise wie sie sie umbrachten war grausam, blutig und vor allem langsam, so konnten sie lange genug an ihrer schwarzen Seele fressen.
Endlich war die Gruppe angekommen. Sie traten auf den knarzenden Dielen der Veranda um mich herum und staunten durch die Löcher der Fensterscheiben, während mein Inneres, vor Anspannung zu platzen drohte. „Hunger“, schrieen sie alle und freuten sich diesen gleich stillen zu können. Die Menschen nahmen die Worte als ein Surren war und freuten sich sogar noch daran. Wieder standen sie vor der Türe und ich bemerkte in der Mitte der Gruppe eine junge Frau, die angsterfüllt auf die Türklinke starrte.
„Ich will das nicht machen“, flehte sie in die Gruppe von lachenden Männer, während einer von ihnen sie mit der Hand am Nacken packte und sprach „öffnen, sofort“. Mit zitternden Fingern drückte sie die Türklinke nach unten und schloss dabei die Augen. „Verdammt, warum geht die nicht auf“, wütend verpasste ein anderer Mann der Frau eine Ohrfeige. Schreiend krachte sich auf das brüchige Holz und flehte um Gnade, doch der Nächste kam und zog sie wieder nach oben. Jetzt schrieen sie noch lauter aus jeder Ritze, aus jeder verfluchten Wand. Lass sie herein flehten sie mich an und fletschten dabei ihre Zähne. Diese Männer waren der Inbegriff an Boshaftigkeit und ihre dunkle Aura umhüllte mich wie eine wohlig warme Decke. Oft hatte ich sogar Mitleid mit den Unwissenden, doch heute freute ich mich auf ihre flehenden Schreie, endlich getötet zu werden und so öffnete ich die Pforte des Grauens für sie. Die Männer wunderten sich nicht, warum die Türe plötzlich aufging. Das knarzen der Dielen, das Pfeifen des Windes, das klappern der Fensterläden und sogar das Surren der Verdammten, konnte ihre gute Stimmung nicht trüben. Der Größte von ihnen packte die Frau am Kragen, stieß sie hinein und schloss wieder die Türe. Lachend standen sie da und rätselten begeistert, ob die Geschichten die man sich erzählte wahr waren. Voller Spannung standen sie da und hielten grinsend ihr Ohr an mir. Die Frau lag mit blutender Wunde am Knie auf dem Boden und bewegte sich kein Stück. War sie tot? Doch ich spürte ihr Herz durch meinen Holzboden schlagen. Ich war einerseits froh, dass sie lebte und andererseits hatte ich Angst um sie , was nun mit ihr passieren würde. Langsam stand sie auf und sah sich um.
„Hallo?“ Zitternd hallte ihre Stimme durch das Foyer in all die anderen Zimmer.
Aber keines meiner verfluchten Seelen meldete sich. Sie hatten doch Hunger und hier war ihr erstes Opfer. Warum stürzten sie sich nicht auf sie? In all den Jahren hatte ich so etwas noch nie erlebt. Normalerweise zerfleischten sie ihre Opfer und zogen ihnen die Haut am lebendigen Leibe ab. Doch sie rührten sie nicht an. Sie war etwas Besonderes.
In der Zwischenzeit wurde die Männergruppe ungeduldiger und klopfte an meine Türe „lebst du noch?“
Doch die Frau gab keine Antwort und entfernte sich mehr und mehr vom Eingang. Ich wusste ich musste sie beschützen, vor dem was gleich passieren würde, sobald ich die Haustüre erneut öffnete. Schnell lockte ich sie mit einem knarzen aus dem Flur in die anliegende Bibliothek. Es war der einzige Ort, an dem noch niemand umgebracht wurde. Ein heiliger Ort, den mir die Verdammten überlassen hatten. Dort schloss ich hinter ihr die Türe und öffnete gleichzeitig den Hauseingang durch die das bisher beste Futter eintrat.
Bestimmt würde die Frau ihre Schreie nie wieder vergessen, aber dafür war sie die einzig Lebende die mich jemals verließ.

Das Gericht im Innern

Wie eine Nabelschnur führt dieser lange gewundene Pfad in mich hinein. Wie ein Schlauch, der mich unregelmäßig, aber verlässlich mit dem versorgt, was ich brauche, um zu sein.

Die Menschen, die sich mir nähern, um durch eine meiner Türen zu gehen, werden von ihren ganz eigenen Geschichten und Gefühlen dazu getrieben.

An dem Tag, an dem ich mich zu spüren begann und mich bewegte, obwohl ich mich nicht bewegen konnte, waren es Menschen mit bizarren Fantasien, die in wirren Worten unaussprechliche Dinge taten und hinter meinen Wänden Schutz vor den Augen der Außenwelt suchten. Und vermutlich waren es auch jene, die für meine Existenz verantwortlich sind - lange nachdem Hände mich aus Holz, Stein und Glas formten.

Dann gab es solche, die Zuflucht suchten, als große Kriege über dieses Land fegten. Während einige in mir ihr Glück und ihre Zukunft zu finden glaubten, gab es andere, die meine Zukunft verhindern, mich ersetzen wollten. Unzählige Geschichten.

In den letzten Jahren waren es dann irgendwelche Fotografen, Abenteurer oder Menschen, die in der heutigen Gesellschaft ihren Platz verloren haben und in mir einen Platz zum Ausruhen suchten.

Wo auch immer all diese Leben und Geschichten begannen, sie endeten hier in mir.

An diesem Tag ist es die Geschichte eines jungen Paares. In ihr schlummert noch ein weiterer Mensch.

Drei junge Leben bewegen sich auf mich zu.

Meine Hülle sieht nach etwas aus, das sie kennen – die Form eines großen Hauses. Und doch kennen sie mich nicht. Niemand kennt mich wirklich.

Der Wind weht ihren Geruch zu mir rüber und ein Gefühl von Hunger durchdringt mein verfallendes Inneres und zugleich die Vorfreude auf eine Mahlzeit, auf ein gutes Gericht, das meine ausgetrockneten Räume mit Leben füllt.

Ich möchte leben. Ich will leben. Leben, um zu warten, um zu essen, um zu leben, um zu warten…

Ich habe mir dieses Leben nicht ausgesucht. Ich bin nicht dafür verantwortlich, dass ich existiere.

Ich weiß nur, dass ich leben will. So, wie meine Besucher.

Sie hängen an ihrem Leben. Sie kämpfen um ihr Leben.

Jedes Mal, wenn ich die Wände um sie herum kleiner werden lasse, wenn meine Treppen sie verschlingen, wenn die plötzliche Türenlosigkeit sie in den Wahnsinn treibt, spüre ich, dass sie ihr Leben nicht hergeben wollen. Doch ich brauche es, um meines wieder auflodern zu lassen.

Meine knarzenden Dielen saugen ihren roten Lebenssaft auf, meine Tapeten ihren vor Aufregung flirrenden Odem, der ihren Lungen entweicht. Und dann darf ich für kurze Zeit ein warmes Gefühl in mir empfinden, als wenn der Kamin an ist und Licht meine Flure durchflutet. Und ich weiß, dass ich mich den Menschen zu erkennen geben konnte. Wenn auch nur für einen kurzen, ihren letzten Augenblick.

Mittlerweile stehen die zweieinhalb Besucher im Eingangsbereich mit der großen Treppe.

„Oh Liebling, schau dir dieses schöne große Haus an!“ sagt die junge Frau und tänzelt erregt von einer Seite des Raumes zur anderen.

„Ist es nicht wunderschön?“ ruft sie nochmal.

Dann geht sie langsam, fast bedächtig die Treppe hinauf und streicht mir ihrer Hand übers Geländer.

„Du bist wunderschön“ flüstert sie dabei.

Galt das mir? Redet sie mit mir? Ich fange bei dem Gedanken fast an zu vibrieren.

Als sie oben angekommen ist breitet sie die Arme aus, schaut nach unten und ruft dem jungen Mann zu: „Lass uns dieses Haus wieder mit Leben füllen! Ich will hier mit dir leben. Und mit…“

Sie streichelt lächelnd ihren Bauch.

Der junge Mann grinst.

„Lass uns doch erstmal den Rest des Hauses anschauen.“

Während die beiden einen meiner Räume nach dem anderen durchschreiten, breiten sich unbekannte Gedanken in mir aus, wie Schimmel, der an den Wänden wuchert.

Wie würde es sich anfühlen, mit Leben erfüllt zu werden, ohne Leben zu nehmen? Kann ich meinen Hunger bändigen? Wer hat mir das Recht gegeben, auf Kosten anderer zu leben? Wollen mich die Menschen wirklich kennenlernen?

Wut steigt in mir auf. Wut über mich selbst und die vielen vergangenen Jahre und Chancen.

Hoffnung steigt in mir auf. Hoffnung auf ein neues Leben.

Hunger steigt in mir auf. Hunger nach sofortigem Genuss.

„Na Schatz, ich glaube wir haben alles gesehen. Wollen wir dann?“ fragt der junge Mann.

Sie lächelt und nickt ihm zu.

Beide gehen zur Tür.

Er betätigt die Türklinke.

„Alles in Ordnung?“ fragt sie.

„Ist ein altes Haus. Anscheinend klemmt wohl die Tür.“