Seitenwind Woche 1: Gäste im Geisterhaus

In meinen Spiegeln trauern die Mütter, in meinen Gemälden erzählen die Väter.
Die Kerben im hölzernen Boden, von längst vermodernden Schuhen, bleiben übrig von den Verwesenden unter meiner Erde.
Manchmal, wenn die blassen Kinder nächtlich durch meine Flure stürmen, stolpern sie über die Teppiche, in welche einst so viel Blut gesickert war.
Ihr Jammern bringt selbst die Eiche im Garten zum Schaudern, da sie sich wieder an jenes Unheil erinnert. Verzweifelt versucht sie den Ast abzuwerfen, woran man die Stricke geknüpft hatte.
Ich halte die Geister der Vergangenheit, fest in meine Mauern eingeschlossen. Ich ließ sie mit mir verschmelzen, sodass sie keiner unschuldigen Seele da draußen, ihr eigenes Leid aufbürden können. Doch die Menschenwesen sind naiv.
Sie glauben nicht an uns und begeben sich abenteuerlustig in mein Inneres.
So versuche ich, die Unwissenden aus mir zu vertreiben, bevor die Unruhigen sie entdecken.
Ich klappere mit den Balken, lasse schwere Türen zufallen und manchmal flüstere ich zu ihnen. Die Neugierigen wollen nicht hören. Sie hören nie.
Wieder strömt Blut über den Teppich, wieder ein gebrochenes Genick auf der Treppe und wieder hängt einer an der Eiche.

Diese ständigen Besucher, in der Nacht, die sich an meinem Zerfall ergötzen, gehen mir gehörig gegen den Strich. Seltsamerweise, je mehr ich poltere, je mehr ich mich daneben benehme, umso mehr von diesen Irren Dämonenbeschwörern ziehe ich an. Als hätte ich eine Werbung geschaltet! Altes ruinöses Schloss, sucht Verrückte! Aber nicht heute! Nicht mit mir! Meine Geduld hat Grenzen! Sie sind schon drin! Laufen über meine müden Holzdielen, blenden mich mit Scheinwerfen, die sie in den Händen halten. Flüstern seltsames Zeug und malen obskure Objekte an meine Wände. Ich lasse den Kamin aufflammen und den Wind durch mein Gebälk ziehen. Nur als kleine Warnung. Diese Menschen sind begeistert! Packen Kameras aus und filmen mich! Wie unglaublich dumm! Verärgert lege ich eine Schüppe drauf. Die rostigen Schwerter, die überall an den Wänden hängen, fallen herab. Ich lasse sie durch die Luft wirbeln um dann ein Ziel zu treffen! Der Mann kippt um wie ein gefällter Baum. Aus seinem rechten Arm, fließt hellrotes Blut, das meine Teppiche versaut. Jetzt schreien sie! Meine Türen fallen zu. Die Bodendielen wölben sich, nur soweit das die Nägel noch standhalten. Einer nach dem anderen fällt. Sie kreischen und weinen. Winseln um Gnade. Mit einem Wisch, knipse ich ihre Scheinwerfer aus. Nur für einige Minuten! Wimmernd krümmen sie sich, kriechen über den Boden, versuchen halt zu finden in der Dunkelheit. Ich gebe zu, es amüsiert mich. Dennoch, ich will meine Ruhe haben!
Zeit für den finalen Auftritt! Hoffentlich das letzte Mal! Meine Fenster bersten, explosionsartig verteilen sich die Glassplitter, die Türen öffnen sich brüllend. Eine letzte Chance!
Sie rennen! Stolpern über die Außentreppe und verschwinden! Mein Freund der Wind, legt sich, ich lösche das Kaminfeuer, beruhige meine angeschlagenen Nerven, versorge meine Wunden. Ruhe, endlich Ruhe, ist alles was ich mir Wünsche.

Das Geisterhaus, das keines war

Mit jedem Tag wird es schwerer. Mich aufrecht zu halten, fällt mir schwer. Aber ich darf jetzt noch nicht aufgeben. 200 Jahre hieß es. Wir sind im 199 Jahr und im 10. Monat. Also kann es jeden Tag so weit sein. Ich bin aufmerksam, schließlich darf ich ihn nicht verpassen. Also schaue ich angestrengt durch die beiden Fenster im Obergeschoss, welche zusammen mit dem mittigen, kleinen Fenster des Treppenhauses und der darunter liegenden Haustüre ein Gesicht bilden.
Es wird schon wieder dunkel und die nächste Nacht schleicht sich leise an. Da sehe ich den Schein der Taschenlampen. 3 Stück. Sie kommen näher und ich spüre tief in meinen Balken mit absoluter Sicherheit: das ist er. Endlich ist er da.

„Das müsste es sein. Eine Fassade wie ein Gesicht. Und die Adresse stimmt auch: Rabenweg 8. Wir sind da.“
„Herbert, es ist gruselig hier. Bist du sicher, dass wir unsere Sitzung hier abhalten müssen?“
„Ja Mathilda, das müssen wir. Erwin, leuchte mal hier zur Türe, ich suche den Schlüssel.“

Der Kreis schließt sich und es fühlt sich gut an. Endlich werde ich belohnt für die Mühe der letzten Jahre. Anstrengend war es, sich gegen den Zahn der Zeit zu wehren. Stehen zu bleiben, sich der Schwerkraft nicht hinzugeben. Nun dauert es nicht mehr lange und ich kann endlich loslassen.

„Wir haben uns heute, hier am ehemaligen Wohnsitz meiner Familie versammelt, weil ich euch eine Mitteilung machen muss. Unser Familienunternehmen ist bankrott. Nach über 200 Jahren bin ich der erste aus der Ahnenreihe, der es nicht geschafft hat. Ich weiss nicht, was ich falsch gemacht habe. Aber wenn nicht noch ein Wunder geschieht, werde ich euch Ende des Monats entlassen und die Firma auflösen müssen. So wie dieses Haus hier, in dem einst prachtvolle Party gefeiert, der Adel ein und aus gegangen ist, und Generationen meiner Familie das Licht der Welt erblickt haben, und das jetzt dem Zerfall überlassen wird, schließt sich jetzt ein Kreis und ich werde das Familienunternehmen auflösen müssen. Es tut mir sehr leid.“

Mir entfährt ein Stöhnen, so das meine alten Balken knarren. Es ist so traurig. Aber ich kann helfen.

„Herbert, es ist gruselig hier. Können wir unser Gespräch nicht in der Zivilisation weiterführen?“
„Nein Mathilde, ich möchte gerne diese letzte Nacht der Entscheidung hier mit euch verbringen. Schließlich standet ihr all die Jahre an meiner Seite, habt mit mir Höhen und Tiefen im Tagesgeschäft durchgestanden. Hier, in dieser zerfallenden Schönheit soll diese Nacht stattfinden. Ich weiss nicht warum, aber mein Gefühl sagt mir, dass wir heute hier sein sollten.“

Ich beobachte das traurige Gruppchen in meinem Inneren. Durch die Augen der Porträts all der längst verstorbenen Familienmitglieder kann ich die Geschehnisse sehen. Und ich weiss, was zu tun ist.
Ich warte, bis die Dunkelheit komplett ins Land gezogen ist. Meine drei Besucher haben es sich vor dem Kamin gemütlich gemacht. In der Küche brennt eine schummrige, alte Funzel und verströmt ein mattes geisterhaftes Licht. Viel mehr schaffen meine alten, rostigen Leitungen nicht mehr, aber für diese letzte Nacht reicht es noch.
Ich warte bis kurz vor Mitternacht. Geisterstunde. Wenn schon, dann mach ich es richtig. Showdown sozusagen.
Ich beginne mit einem leisen Seufzen der Dielenbretter und bin über den Effekt höchst erfreut. Mathilde schießt wie vom Pfeil getroffen auf, die Augen weit aufgerissen und lauscht ins flackrige Licht des Feuers.
Ich nehme alle Kraft zusammen und wackle mit meinen Fenstern, lasse die Läden gegen die Holzbretter der Fassade klappern und die Türe gegen den Rahmen scheppern. Nun sind auch die beiden Männer aufgestanden. Wunderbar, wir kommen der Sache näher.

„Wo kommt auf einmal dieser Wind her, Herbert?“
„Ich weiss es nicht. Draußen ist es klar und windstill. Vielleicht will uns das alte Haus etwas sagen.“
„Herbert, hör auf! Du machst mir Angst“, Mathildes Stimme klingt erschreckt.

Ich nehme meine ganze Kraft zusammen, lasse Balken und Wände erzittern und drücke mit einem Seufzen knarrend die Türe zum Keller auf. Herbert scheint keine Angst zu haben. Die alte Verbindung zwischen uns ist noch da. Wie fremdgesteuert greift er nach seiner Taschenlampe und geht langsam in Richtung der Kellertüre.
Ich mache das gut. Um ihn zur Eile zu treiben, lasse ich einen Windstoß durch den Kamin ins Haus fahren, so dass das Feuer im Kamin aufflackert und sich beißender Rauch im Raum ausbreitet. Erwin greift ebenfalls zu seiner Taschenlampe, nimmt die hustende Mathilda an der Hand und folgt Herbert zur Kellertreppe.
Ich gebe mein Bestes und strecke meine Stufen durch, so dass die ausgetretene Treppe etwas ungefährlicher wird. Es wäre ja noch schöner, wenn gerade jetzt ein Unfall passieren würde.
Mit grosser Anstrengung klappere ich mit den alten Kupferkesseln, die unter einer dicken Staubschicht seit Jahren im Keller liegen. Vom Lärm aufgeschreckt, rennen große schwarze Spinnen mit haarigen Beinen davon und verkriechen sich in Ecken und Spalten. Zum Glück war der Strahl von Herberts Taschenlampe gegen die Decke gerichtet und Mathilde konnte das Grammseln der Achtbeiner nicht sehen.
Die drei nähern sich der wichtigen Stelle. Um ihnen den Weg zu weisen, lasse ich eine der Wandlampen aufleuchten, was aber nur ein kümmerliches Blinken erzeugt.
Ich bin stolz auf mich! An mir könnte sich jedes Horrorhaus aus einem zweitklassigen Hollywoodstreifen ein Beispiel nehmen.
Endlich stehen Herbert und seine Freunde vor der hölzernen Türe.

„Herbert, lass uns nach oben gehen, ich habe Angst!“, japst Mathilde erschrocken.
„Gleich. Ich muss noch kurz etwas erledigen“, antwortet Herbert atemlos.
Mathilde ist kreideweiß im Gesicht. „Was denn? Und warum kannst du das nicht morgen bei Tageslicht erledigen?“
„Keine Ahnung. Aber es muss jetzt sein. Ich weiss das.“ Herberts Stimme ist voller Anspannung.

Was für ein toller Junge, denke ich und lasse den Schlüsselbund neben der Türe klappern bis der krumme Nagel, an dem er seit Jahrzehnten hängt, fast aus der Wand rutscht. Mathilde kreischt auf und ich amüsiere mich. Was, wenn ich ein böses Haus wäre? Da hat sie ja mal richtig Glück gehabt.
Herbert greift nach dem Schlüssel und ich halte kurz meinen Atem an. Ja, er klaubt instinktiv den richtigen Schlüssel aus dem Bund und steckt ihn ins Schloss. Ich bemühe mich, das Schloss so sanft wie möglich drehbar zu machen. Quitschend öffnet sich die Türe. Ich lasse ein letztes Mal mit aller Kraft eine einsame, staubige Birne, die an einem angenagten Kabel von der Decke hängt, aufflackern und beobachte, wie Herbert den kleinen Raum betritt. Gleich hat er es geschafft. Nur noch ein paar Schritte.

„Herbert, ich möchte jetzt nach oben gehen.“ nörgelt Mathilde ungeduldig.
„Ich komme gleich. Ich will nur noch kurz in diese alte Kiste da in der Ecke schauen. Meine Großmutter hat mir oft von der Kiste erzählt, mir aber streng verboten, sie jemals zu öffnen. Aber da jetzt sowieso alles zu Ende gehen wird, und ich sowieso schon hier vor der Kiste stehe, kann es nicht falsch sein, hineinzuschauen.

Und so fand Herbert den Familienschatz. Gold, Silber, Edelsteine, alte, längst verloren geglaubte Gemälde berühmter Maler, wertvolle Vasen aus dem Orient. Mit Hilfe eines ehrenhaften Händlers machte er den Schatz zu Geld und rettete seine Firma.

In der darauffolgenden Nacht zog ein Sturm über das Land. Der Wind rüttelte an den Bäumen, schoss um Felsen und zerrte an allem, was ihm im Weg stand. Auch am alten Haus. Aber dieses hatte seine Arbeit getan und den Schatz preisgegeben. Seufzend aber glücklich ergab sich das alte Haus, welches nie ein Geisterhaus war seinem Schicksal und fiel mit einem letzten Stöhnen in sich zusammen.

Das Haus

Sag mir, Flüsterer, wer bin ich?

Die Stille ruht im tiefen, dunklen Tal.

Kaum ein Mensch hat es betreten, kaum eine Seele durchwandert. Bis auf die Wenigen, die kamen, die suchten, die glaubten auf der Spur zu sein.

Die Stille war es, die mich schuf. Sie war es, die mich hütete. Aus den dunklen Schatten erwuchs ich. Die Abgeschiedenheit war mir Schutz. Einst war hier nicht mehr als Staub. Ein Feld, auf dem nichts wuchs, umringt von hohen Tannen. Ein kahler, toter Fleck. Oder war hier doch mehr?

Vor hunderten von Jahren, längst vergessen, dort wo das Erdreich dunkler ist. Doch wer weiß das noch? Wer mag es erahnen? Vergessen ist die Geschichte, vergessen der Tod, vergessen das Verbrechen und der Leichnam, der verscharrt wurde. Vergessen in der Dunkelheit der Zeit.

Sag mir, Flüsterer, wer baute mich? Wer schuf mich?

Stein um Stein wurde aufgetürmt. Mauern gezogen. Bretter vernagelt, Balken verlegt. Ohne Wissen, ohne Glauben, ohne Kenntnis dieses Ortes. Umringt von Tannen, in der Stille des Tales, dort wo eine Seele, eine Geschichte begraben liegt. Doch ruht sie auch?

Ich wartete. In mir trug sich Zeit und Raum. Ich glaubte nicht zu sein und lebte den bloßen Traum. Doch mit jeder Nacht, die heraufzog, mit jedem frostigen Winter, erwuchs in mir eine Kraft, ein Bewusstsein, eine Erinnerung. Sie schuf einen Willen und einen Wunsch. Das Leben rief mich aus dem Tod.

Man gab mir Form, man gab mir Räume. Zinnen auf des Daches Rand. Und als die Wolken dichter wurden, als der Sturm vom Tal her zog, da spürte ich der Jahrhunderte Vergessen, die Tiefe der Vergangenheit und die Knochen, die da lagen, verachtet von der Zeit.

Einst wurde ich begraben, verscharrt auf weitem Feld. In der Hoffnung, dass ich nie wieder wäre. Meine Taten brachten Verderben, meine Hände brachten Tod. Doch ich ruhte nicht, ich wartete und ich erhielt die neue Form. Über Stufen, über Gänge, mit hohen Mauern und einer Tür, die ins Tiefe, die ins Dunkle, die zum kalten Keller führt.

Längst verlassen ist mein Haus. Niemand, der je darin gewohnt. Viel zu schwer lasten meine Kräfte, viel zu tief lieg ich begraben. Man spürt mich, man kann mich fühlen, manch einer sieht mich, kann mich hören. Sie alle packen ihre Sachen, sie laufen und sie rennen schon.

Sag mir Flüsterer, wen suchst Du?

Seit langer Zeit verirrst Du dich. Glaubst zu wissen, glaubst zu kennen, glaubst mir auf der Spur zu sein. Meine Geschichte erklingt dann wieder und der Gerüchte neue Kraft. Wer mich findet, der wird des Ruhmes, wer mich findet, erhält den Schatz. Den ich raubte, den ich mitnahm, den man mit mir tief begrub. Doch es ist die Lüge, es ist erfunden, das einzig wahre ist mein Geist. Und ihn zu finden, ihn zu greifen, wird auch dir niemals zu eigen sein.

Sag mir Flüstere, was sehe ich?

Diesmal seid Ihr nicht einer. Diesmal seid Ihr vier. Glaubt ihr so mir Herr zu werden, glaubt Ihr an die Kraft der List? Einer ist bereits verschwunden, ich spüre wie auch Ihr jetzt schwitzt.

Kommt doch näher, tretet ein, ist der Vierte hinter jener Tür? Gerade war er noch gewesen, gerade saht ihr noch den Schein, doch wo mag er jetzt stecken, wo mag er nur geblieben sein?

Und zwei weitere, sie rennen, laufen. Suchen Heil in ihrer Flucht. Wer weiß wie weit sie kommen mögen, in dieser kalten, dunklen Luft. Draußen warten Tal und Tannen. Kaum einer hat sie je bezwungen, Wege geben weder Halt noch Hoffnung, bleiben in sich tief geschwungen.

Ich sehe Dich, Flüsterer. Doch niemand mehr hier außer Dir. Alleine streifst Du durch die Gänge. Alleine ist dein Flüstern mit mir.

Ich höre deine Schritte. Sie hallen tief in mir drin.

Das Knarzen der hölzernen Böden, der altbetagten Dielen und das Knacken der Stufen, die mir zurufen, wo du dich befindest.

Hat deine Suche wirklich Sinn?

Ja, da ist die Tür. Du hast sie gefunden. Und nun glaubst du dich am Ziel.

Deine Hand hält die Laterne. Ihr Schein, der jäh ins Dunkle fiel,

verliert sich in pechschwarzer Tiefe, dennoch wächst der Wunsch nach mir.

So trete ein, und komme näher.

Trete ein,

ich öffne Dir.

Du kannst es fühlen, kannst es spüren. Das Geheimnis ruft so laut. Welch seltsame magische Kraft es entfaltet. Vergessen in der Tiefe ruft es dennoch all zu laut.

Nur noch ein Schritt, so komme näher.

Trete ein.

Sei mein Gast!

Dein Schrei verliert sich leise, mit deiner finsteren, dunklen Hast.

Ich schließ die Tür, ich ruf die Schatten.

Seid bei mir ein weiteres Mal.

Ich bleib vergessen, bleib verborgen.

Und wieder ruht die Stille, im tiefen, dunklen Tal.

Seelenhaus

Seelenhaus nannte man mich.
Mein Erbauer, ein junger Mann voller Träume und Hoffnungen, war all das, was sich ein Haus je erträumen konnte. Jede Diele, jedes Fenster und jeder Nagel wurde durch seine Hände gefertigt und verbaut. Er gab mir Leben, meine Identität und meine Seele.
Sein Blut war das meine, sein Schweiß, der Tropfen um Tropfen in mein Holz zog, Zeugnis seiner Liebe. Ich werde nie vergessen, wie er nach all den Jahren harter Arbeit vor mir stand und mich mit den Augen eines stolzen Vaters anlächelte. „Du bist mein Seelenhaus“ hatte er gesagt und das war es, was ich für ihn sein wollte.

Für einige Jahre erfreute ich ihn mit meiner Ruhe. Er genoss meinen Geruch und die Wärme, die ich ausstrahlte. Eines Tages hörte ich die liebliche Stimme einer Frau. Jung und über beide Ohren lächelnd, stand sie vor mir und staunte über meine Schönheit. Ich empfing sie mit offenen Türen und schenkte ihr mein schönstes Licht. Jeden Morgen ließ ich die warmen Sonnenstrahlen durch meine bunten Fenster fallen und sorgte dafür, dass sie ausgeruht aufwachten.
Es dauerte nicht lange und tapsige Schritte hallten durch meine Wände. Ihr Lachen sog sich in meine Haut und füllte jede Pore mit reinstem Glück. Sie gaben mir all die Liebe, die sich ein Haus wünschen konnte, und ich tat es ihnen gleich. Ich bot ihnen Schutz vor Sturm und sang Lieder im Wind. Wir waren glücklich.

Das Glück endete in einer mondlosen Nacht im Oktober. Mit tödlichen Waffen und dunklen Gedanken durchschritten fünf Männer meine Tore. Ich schlug mit meinen Fensterläden, wackelte an Türen und schrie so laut ich konnte, doch es gelang mir nicht meine Familie zu schützen. Fröhliches Lachen wurde zu angsterfüllten Schreien und einstiges Leben zu grausamer Stille.
Sie nahmen sich alles, was uns gehörte. Schmuck, Silber und das Glück, das einst meine Wände erfüllte. Zurück blieb nichts als Leere und Schmerz. Schmerz über den Verlust meiner Menschen und Wut über das, wozu ihre Art imstande war. Diese Wut brannte wie Feuer in meinem Inneren, loderte und verschlang all die Fröhlichkeit, die ich besaß.

Die Männer in weißen Kitteln, die am nächsten Tag auftauchten, um meine Familie zu holen, bettelten um ihr Leben. Ich ließ Ziegel fallen und Dielen unter ihnen zerbrechen. Diejenigen von ihnen, die es rechtzeitig herausschaffen, weigerten sich, mich erneut zu betreten.
Niemals würde ich meine Familie hergeben. Sie gehören zu mir. Wir sind eins. Für immer.

Die Jahre verstrichen und mit ihnen verflog auch mein einstiger Glanz. Viele Menschen hatten versucht mich zu beherrschen, doch keiner von ihnen hatte mich verdient. Jeden, der es wagte durch meine Tür zu schreiten, wurde daran erinnert, wie abgrundtief der Hass war, den ich verspürte. Ich nahm mir jeden einzelnen von ihnen. Jede Seele verschlang ich wie ein viel zu durstiger Baum den Regen.
Man versuchte mich zu verbrennen und abzureisen, für immer zu zerstören, doch ich weigerte mich zu sterben.

In meinen Wänden wohnen ihre Seelen. Manchmal kann ich sie hören. Das Lachen, die Schreie und ihr Wimmern.
Ich werde jeden verschlingen der es wagt mich zu betreten.

Seelenhaus nannte man mich, und das bin ich noch heute.

Jahrhunderte der Angst (Limerick)

Drei Fackeln nah’n, erhellen meine Mauern,
ein Hoffnungsschimmer gegen das Erschauern.
Seit hundert Jahren jede Nacht
Hat Angst und Gram mich morsch gemacht.

Drei Lichter halt ich hier, man wird sie wohl betrauern.

Ein Heim für die Ewigkeit

Ein Heim für die Ewigkeit. Das Ziel meines Erbauers, als er mich vor über zweihundert Jahren errichtete. Nicht für ihn, sondern für die Menschen, deren Gebeine meine Grundpfeiler bilden. Und selbst nach meiner Fertigstellung, brachte er immer wieder neue Menschen, die mich erweiterten. Seine Aufgabe setzte ich fort, als er eines Tages nicht mehr wieder kam. Es erfüllte mich mit dem Leben jener, die hier ihr Ende fanden. Und so sammle ich auch heute noch, die Gebeine und Seelen jener, die sich in mich hinein verirren.
Und auch heute ist es wieder soweit. Auch heute werde ich sammeln. Voller Vorfreude blicke ich auf die fünf Menschen hinab, die vor mir stehen. Sie wollen eine Nacht in mir verbringen. Und nur ich weiß, sie werden mich nie wieder verlassen!

Mit Freude spüre ich, wie sie meine alte Tür öffnen. In mir erwachen die Geister derjenigen, die in mir gefangen sind. Sie werden mir helfen, das neue Material zu töten. Die neuen Menschen bewegen sich in mir. Noch fühlen diese fünf sich sicher, doch schon bald werden ihre Schreie mich erfüllen. Ich lache in mich hinein, wodurch meine Fensterläden zu klappern beginnen. Ich verspüre einen Hauch von Verunsicherung bei den Neuankömmlingen, doch es hält sie nicht davon ab, weiter hinein zu gehen. Ich beginne damit, alle Fenster und Türen, die nach draußen führen zu verschließen. Noch bemerken die Lebenden das nicht. Zu sehr sind sie darauf fokussiert sich in mir umzusehen. Ich höre sie leise flüstern, doch ihre Sprache verstehe ich nicht. Ich spüre nur ihre Emotionen. Meine liebsten Emotionen sind die Todesangst und die Verzweiflung. Mein Blick geht nach innen. Voller Erwartung sucht mein inneres Auge sie. Die Auren der Lebenden stechen klar hervor. Während die Aura der Toten ein weißliches Blau ist, strahlt die Aura der Lebenden in einem kräftigen Rot. Die ersten Geister begrüßen sie. Es beginnt harmlos. Ein Knarzen hier, ein sich von alleine bewegender Stuhl dort. Ich lache still in mich hinein, wodurch die alten Wände erzittern. Nun verspüre ich ihre Angst. Doch noch gehen sie weiterer hinein, nur mit größerer Vorsicht. Erfreut bemerke ich, wie sie meinen Lieblingsraum betreten. Hier lagert die alte Waffensammlung meines Erbauers. Ich schicke die Seelen der Verstorbenen dort hin. Mit ihrer Hilfe lasse ich die Waffen auf die Lebenden hinabregnen.
Schreie erschüttern mich. Ich fühle das Blut auf meinem Boden. Schritte ertönen. Zwei der Lebenden haben es geschafft, aus dem Waffenraum zu entkommen. In blinder Furcht teilen sie sich auf. Das mag ich am liebsten, an diesen Lebenden. Je größer ihrer Angst, desto größer wird ihre eigene Dummheit. Ich lache. Dieses Mal so laut, dass mein ganzer Körper bebt. Das Haus wackelt und die Panik der Lebenden steigt weiter an. Einer von ihnen stürzt die alte Treppe hinunter. Der andere flieht hinauf unter mein Dach. Diese Nacht ist es zu einfach, stelle ich fast schon enttäuscht fest. Ich befehle meinen Seelen, die letzte Person noch etwas am Leben zu lassen. Wer weiß, wann wieder jemand vorbei kommt. Und so labe ich mich noch etwas an der Verzweiflung des einen Überlebenden.

Im Dämmerlicht der letzten Sonnenstrahlen, die mit Mühe durch die schattigen Wipfel der Bäume dringen, stehe ich da - ein stolzes, aber gebeugtes Haus. Meine Ziegel, vom Wind und Regen gezeichnet, tragen unzählige Narben. Sie erzählten Geschichten von unzähligen Sommern und Wintern, von Stürmen, die ihre ungezügelte Wut an mir ausgelassen haben, und von Zeiten, in denen die Sonne meine Mauern mit ihrem goldenen Glanz wärmte.

Die Dielen in meinem Inneren knacken unter dem Gewicht der Geheimnisse, die sie verbergen. Die Räume hallten wider von den Stimmen, Weinen und Lachen vergangener Bewohner. Doch diese Stimmen sind längst verstummt, und nun herrschte in meinen Räumen eine beängstigende Stille.

Der Rabenweg war früher belebt gewesen, mit Kindern, die in meinen Schatten spielten und deren Lachen in meinen Ohren klang. Doch mit den Jahren zogen sie fort und ließen mich allein, ein stummer, betrübter Zeuge der Vergangenheit.

Doch trotz meiner Einsamkeit und trotz all der Jahre, die über mich hinweggezogen waren, bewahrte ich einen Funken von Schalk in mir. Die Schatten, die über meine Wände tanzten, wenn der Wind die Bäume rauschen ließ, spielen ihre eigenen Spiele. Jedes Mal, wenn sich ein mutiger Besucher näherte, lass ich die Fensterläden klappern, sodass ein wohliger Schauer ihn überkommt. Ein alter Trick, ja, aber immer wieder wirkungsvoll. Mein Lachen hallt durch die leeren Räume, wenn sie, von Angst ergriffen, den Rückzug antreten.

Ich weiß, dass die Dorfbewohner Geschichten über mich erzählen. Geschichten von Geistern, die in meinen Räumen spuken, von unerklärlichen Geräuschen in der Nacht und von verschwundenen Menschen, die nie wieder gesehen wurden. Diese Geschichten hatten mit den Jahren an Gruseligkeit gewonnen, und ich musste zugeben, dass ich sie genieße. Sie geben mir einen Hauch von Unsterblichkeit, eine Möglichkeit, in den Herzen und Gedanken der Menschen weiterzuleben.

Doch trotz all dieser Geschichten und trotz meiner Spiele mit den wenigen, die sich mir näherten, wünsche ich mir insgeheim, dass jemand kommen und meine Räume mit Leben füllt. Dass das Lachen von Kindern wieder in meinen Ohren klingt und dass ich, das Haus am Ende des Rabenwegs, wieder Teil einer Familie sein kann.

Denn obwohl die Jahre an mir genagt hatten und ich viele Geheimnisse in meinen Mauern verbergen, bin ich immer noch ein Haus. Ein Haus, das darauf wartet, wieder ein Zuhause zu sein.

Störendes Ende

Die Wahnsinnigen kamen und nichts schien sie aufhalten zu können. Menschenfuß auf Menschfuß stapfte über die Einsamkeit, die sich zwischen meinen bröckelnden Schichten manifestiert hatte und ließ sie erzittern. Hatte ich nicht genug gelitten? Das Holz schabte, meine Rippen bebten und doch schälten sie sich immer weiter durch die Wandlöcher alter Wunden. Jedes meiner windgeformten Bretter schmerzte unter ihren Schritten.
Zu viele dieser selbsternannten Geisterjäger hatten es versucht. Der Keller zeigte, wohin dies führte. Meine Seele war nicht zu gewinnen und doch waren sie nun hier. Ich wollte sie vertreiben, sie unter dem Schutt meiner Gebeine begraben, ihnen die Furcht vor dem Leiden eines alten Gemäuers lehren. Aber die Müdigkeit hielt jeden meiner morschen Balken im Zaum. Nur der Wind spielte mit den losen Schindeln, fuhr hinein, ergriff das Feuer in ihren Händen. Er würde es beenden - die Störung und mein Leiden.

Die Tür … steht offen.
Die Tür ist immer geschlossen. Die Tür darf nicht offenstehen. Wenn die Tür offen steht, gelangen SIE hinein. Aber niemand darf hinein.
Jetzt ist die Tür offen.
Und Schritte sind im Flur.
Langsame, vorsichtige Schritte, die sich über den Teppich bewegen. Erstickt und ohne Hall. Drei, oder sind es vier Paar Füße, die die Ruhe stören? Die für das mühsame Erwachen aus der Dunkelheit verantwortlich sind? Es ist einsam und erdrückend in der bleiernen Dunkelheit, aus der jeder Schritt weiter hinaus reißt. Schneidende Schmerzen eines erwachenden Bewusstseins.
Schritte auf der Treppe. Wispernde Stimmen.
Wie lange mag es hersein, dass Stimmen durch diese Zimmer klangen? Stimmen, die hier nichts zu suchen haben! Das Bewusstsein ist wach. Und entschlossen, alles zu tun, um seiner Aufgabe nachzukommen.
Es spürt jeden Schritt der vier Fußpaare, während sie die Treppe in seinem Inneren noch immer vorsichtig erklimmen. Vorsicht ist angebracht, denkt es sich und lässt die nächste Stufe unter dem ersten Fuß bersten. Es kann das Straucheln der Person nicht spüren, aber den harten Aufprall auf der Treppe. Gepaart mit erschrockenem Aufschreien, das von den Decken widerhallt. Zufriedenheit durchzuckt das Bewusstsein, das nach über zweihundert Jahren noch immer weiß, wie es geht!
Zwei gebrochene Stufen, einen heruntergefallenen Kronleuchter, ein paar plötzlich entfachte Kerzenhalter und hier und da schaurig heulende Luftzüge später verfolgt es besänftigt, wie die Schritte zitternd die Flucht antreten wollen. Nur zu gerne öffnet es die zweiflügelige Eingangstür weit, um sie hinter den drei Fußpaaren unerbittlich zuzuschlagen und wieder in seinen quälenden Schlaf der Dunkelheit zu verfallen.
Aber …
Das vierte Paar steht im zweiten Stock. Fest und standhaft. Dem Raum zugewendet, der das Kinderzimmer war. Die Kinder sind lange gegangen. Haben es vor langer Zeit verlassen. Ebenso die Eltern. Die Großeltern. Die Generationen der Familie, die es mit eigenen Händen bauten. Die Familie, der es bis zu seinem Ende treu sein wird. Deren Hinterlassenschaften es schützen wird.
Um. Jeden. Preis.
Als die Schritte sich der Kinderzimmertür nähern, will es diese fest versperrt halten, doch die Tür ist vermodert und das Schloss eingerostet. Eine warme Hand legt sich auf den Knauf und will ihn unbeirrt aber sanft drehen. Es wehrt sich! Es stemmt sich gegen die Hand!
Eine zweite Hand legt sich gegen die Tür und streichelt über das gesplitterte Holz, von dem jegliche Farbe abgeblättert ist. Eine … alte Hand. Eine freundliche Hand. Eine Hand, die ein vertrautes Muster malt und vertraut mit den Fingerspitzen gegen das Holz ihrer Zimmertür tippt.
Jeglicher Widerstand erstirbt auf einen Schlag. Das Bewusstsein, das eben noch in der Dunkelheit lauerte und sich bereits darauf vorbereitete, die Fenster des Kinderzimmers zerspringen und den Boden einstürzen zu lassen, lässt die Tür langsam und mit so wenig Knarzen wie möglich aufschwingen, um das letzte Kind der Familie in seinem Zuhause willkommen zu heißen.
Mit langsamen Schritten durchquert das letzte Kind den Raum, streicht hier und da sanft und freundlich über die Möbel und greift letztlich nach einem Bild an der Wand. Das handgemalte Gemälde des Hauses, von denselben Händen angefertigt, die es damals bauten. Als das Bewusstsein merkt, dass das Kind Schwierigkeiten hat, das Bild von seinem Haken zu lösen, lässt es die Wand um den Haken bröckeln.
Mit dem Gemälde durchschreitet das Kind die Flure, bahnt sich seinen Weg über die eingebrochenen Treppen und immer unterstützt das Bewusstsein. Bis hin zur Eingangstür, vor der die zitternden drei Fußpaare warten.
Auf der Schwelle hält das Kind ein letztes Mal inne und legt seine Hand auf den Türrahmen.
Ein Abschied.
Als am nächsten Tag stählerne Kugeln angreifen und seine Wände einreißen, wehrt sich das Bewusstsein nicht.

Ich bin ihr Schutz, ich bin ihr Haus, sie ist mein Leben.

Endlich liegt der alte Jo auf dem Friedhof und der Notar hat alles zu meiner Zufriedenheit geregelt.
Jetzt kommt Lisa, meine Lisa, meine Liebe, den Weg zu mir herauf. Aus der Dämmerung des Waldes tritt sie auf den Kiesweg. Im Abendwind weht ihr dünnes Sommerkleid, das sie oft trug, wenn sie mit einem Korb voll Essen zum Alten ging. Vom Turmzimmer aus blicke ich hinunter auf ihre Brüste bis zu den roten Zehenspitzen. Ach Lisa, endlich wirst du bei mir wohnen!
Ich bin dein Schutz, ich bin dein Haus, du bist mein Leben!

Doch meine Hoffnung wird von zwei Gestalten getrübt, die hinter ihr auftauchen. Ein breitschultriger, leuchtender Rotschopf und ein dürrer, fahler Graukopf. „Nicht diese Bruchbude!“, ruft der Rote. „Henry, das war Jo’s Haus und ich bin ihm dankbar“, antwortet Lisa. Begeistert knalle ich einen Fensterladen zu. Lisa tritt durch das Tor und ruft in die Halle: „Ist da jemand?“
Mein leises Summen geht im Gelächter des Roten unter. „Lisa, du sprichst also nicht nur mit Katzen, Kühen und Pflanzen, sondern auch mit Geistern“? Oben auf der Treppe schlage ich die Tür zum Zimmer des Alten zu, das jetzt Lisas Zimmer werden soll. Lisa, meine Lisa! “Das Haus antwortet dir“, spottet Henry über den Knall hinweg.

„Den Roten muss ich zuerst loswerden“, nehme ich mir vor.

Nun mischt sich der Graukopf ein. „Sie könnten einen Teil des Hauses renovieren lassen und Zimmer vermieten. Wir machen eine Pension für Geistersucher daraus, das ist neuerdings bei den Gästen gefragt, das bringt gutes Geld.“
Ich heule mit dem immer stärker werdenden Wind, Donner und Blitz. „Wir können heute nicht mehr durch den Wald gehen “, verkündet Lisa. „Mr. Smith, Sie werden in der Bibliothek auf dem Sofa schlafen, morgen besprechen wir Ihre Idee“.

„Ich werde dem Grauen den Spaß verderben“, nehme ich mir vor.

Henry küsst Lisa auf die Schulter und begleitet sie in ihr Zimmer. Schwer lässt er sich auf das Bett fallen und zieht Lisa an sich. Ich lasse es im Holz knacken als würde das Bett unter seine Last zusammenbrechen. Lisa schiebt den Schweren weg. „Du kannst oben im Turmzimmer schlafen, da liegt noch die Matratze, auf der Jo sich ausruhte, wenn er müde vom Sterngucken war.“

Als Lisa endlich eingeschlafen ist, schlinge ich mich um ihren warmen Leib, schmiege mich an ihren Hals und sauge ihr Leben in mich auf, bis sie sagt: „Lass das, Henry.“

Ich steige hoch in mein Turmzimmer. Ich muss Lisa befreien. Ich bin ihr Schutz, ich bin ihr Haus, sie ist mein Leben.

Dunkel ist die Nacht

Langsam wich die Dämmerung und eine schwere, eisige Dunkelheit zog herauf, der Wind trieb der letzten Blätter vor sich her durch den Rabenweg, weiter immer weiter bis vor meine verwitterte, schäbige alte Haustüre.
Damals im Jahre 1823, als in Berlin die erste Dampfmaschine und die Briefpost eingeführt wurde, hatte der junge Fabrikantensohn Wilhelm Albert den Bau des Anwesens in Auftrag gegeben. Bald darauf war er mit seiner wunderschönen Frau Emilie eingezogen, nicht lange danach kam das erste Kind, zwei weitere folgten. Glückliche Jahre, dann starb Emilie am Kindbettfieber. Mit der Erziehung der Kinder überfordert und dazu ein kleiner Säugling nahm sich der Vater schließlich das Leben, die beiden Mädchen fanden ihn am Morgen erhängt auf dem Dachboden. Die Kinder kamen zu Verwandten in eine andere Stadt und ich stand lange leer, würde zur Herberge für Fledermäuse, Ratten und trächtige Katzen. Gerade gehen die Straßenlaternen an, der Wind wird stärker, er läßt meine Fensterläden klappern, gespenstisch schwingt die leere Schaukel an der mit Efeu und Moos bewachsen Eiche.
Da plötzlich, wie aus dem Nichts heraus klingen leise, flüsternde Stimmen zu mir herüber, sie kommen näher, immer näher, schon öffnen sie das knarrende Gartentor.
Offenbar sind es drei Jungen, Abenteurer, Geisterjäger womöglich, ich habe schon öfter erlebt, dass die Kinder aus der Nachbarschaft eine Art Mutprobe darin sahen, auf meine Terrasse zu schleichen, die Haustür zu berühren und dann von wilder Panik ergriffen zu flüchten. Ich erinnere mich an ein Mädchen, wie hieß sie noch gleich, ach ja Scout und ihren Bruder Jem Finch. Aber das ist schon sehr lange her.
Inzwischen waren die drei Jungen stehen geblieben, unsschhlüssig stehen sie da, und stecken die Hände in die Taschen ihrer Mantel
„Na traust du dich Dicker?“ -„Er heißt nicht Dicker sondern Justus!“
„Kollegen ich glaube es wird wohl genügen, wenn wir unsere Karte in den Briefkasten stecken!“

Ein gastfreundliches Haus
Ein Knarzen weckt mich aus meinem langen Schlaf. Ich brauche einen Moment, ehe ich registriere, dass es die Angeln des schiefen Gartentores sind, deren rostige Scharniere schon seit etlichen Jahrzehnten niemand mehr geölt hat, die mich hochschrecken lassen haben.

Nur mühsam schüttele ich den Schlaf ab. Es ist lange her, dass ich Gesellschaft hatte und eingehend betrachte ich neugierig die drei winzigen Gestalten, die, bewaffnet mit großen Ästen mitten auf dem zugewucherten Gartenweg stehen, der zu meiner Haustür führt. Ich sehe ihnen an, dass sie vor Angst schlottern, auch wenn keiner von ihnen dies zugeben würde. Wie alt sie wohl sein mögen? Es fiel mir immer schon schwer, das Alter von Menschenkindern zu schätzen. Sicher bin ich mir nur, dass es keine Erwachsenen sind. Etwas enttäuscht will ich mich wieder dem Schlaf, der immer noch an mir zerrt, hingeben. Keine neuen Bewohner also. Einmal mehr ein paar Zöglinge, die bei mir ihre sogenannte Mutprobe ausprobieren wollen. Doch auch Kinder werden erwachsen. Vielleicht kann ich sie davon überzeugen, dass es es wert ist, mich wieder aufzupäppeln, mir einmal mehr Leben einzuhauchen. Wenn nicht jetzt, dann später, sobald sie den Kinderschuhen entwachsen sind. Ich habe Zeit.
Einladend lasse ich meine Haustür aufschwingen. Aufschreiend zucken die Kinder zurück. Ich seufze leise und ein Windhauch weht durch meine offene Tür und wirbelt die Blätter bis zu den Füßen der Kinder auf, die schockstarr stehen bleiben. Ich hatte vergessen, wie schnell Menschen zu verschrecken sind. Geduldig warte ich, bis sie sich ein Herz fassen und zögerlich meine Veranda hochsteigen. In der Eingangshalle bleiben sie stehen und ich spüre, wie der größte von ihnen vor Angst schlottert. Es murmelt etwas, seine Stimme ist piepsig und auch wenn ich ihn nicht verstehen kann, ahne ich, dass es kurz davor ist, schreiend hinaus zu rennen. Das wäre schade, ich will meinen Überraschungsbesuch nicht so schnell wieder verlieren. Langsam, um den Kinder keine Angst einzujagen, lasse ich die Haustür zufallen. Mit einem lauten Knarren schließt sie sich. Die drei schreien überrascht auf, der Große stürmt zur Tür und rüttelt an der Klinke. Doch ich presse die Tür vehement zu. Ich bin der festen Ansicht, dass ich die Kids nur von mir überzeugen muss. Sie müssen nur ein bisschen länger dableiben, dann sehen sie, was für ein Potential in mir steckt. Nur ein wenig Handarbeit und ich kann wieder das altehrwürdige, herrschaftliche Haus sein, das ich eigentlich bin.
Während das große, schlaksige Kind wie verrückt an meiner Tür rüttelt, sind die anderen beiden panisch zu einem der zugenagelten Fenster gerannt. Doch auch wenn die Bretter alt sind, sie sitzen fest. Ursprünglich, um Kreaturen davon abzuhalten mich zu betreten, sind sie nun der Grund, warum die Kids nicht entschwinden können. Leise atme ich aus – sie können nicht einfach flüchten und ich habe Zeit gewonnen, um sie von mir zu überzeugen.
Die kleinen Menschen haben so sehr geschrien, dass sie mein Seufzen nicht gehört haben, das Klacken, mit dem ich eine der Türen auf der Galerie geöffnet habe, um sie auf meine obere Etage aufmerksam werden zu lassen hören sie dafür um so mehr. Das Schreien ist verstummt, zitternd sehen sich die drei an. Es ist das kleinste Menschenkind, mit den langen hellen Haaren, das sich als erstes ein Herz nimmt und zögernd auf meine Treppe zugeht. Als es die ersten Stufen erklimmt, will ich es ermutigen und klimpere leise mit den Kristallen meines Kronleuchters. Erschreckt bleibt das Kind stehen, aber zum Glück sind die anderen beiden ihm bereits gefolgt und stoßen es nun an. Furchtsam steigen sie weiter hoch, als plötzlich das Holz einer der Treppenstufen unter dem Gewicht des ersten Kindes nachgibt und es einbricht. Verärgert grummel ich, hatte ganz vergessen, dass ich vor Jahrzehnten ein Holzwurmproblem hatte. Die anderen beiden Kinder haben zum Glück schnell reagiert und das erste Kind hochgezogen. Sie scheinen kurz zu überlegen, ob sie wieder hinunterlaufen, daher entfache ich in dem Zimmer, dessen Tür ich einladend geöffnet habe, die Feuerstelle. Die drei quietschen bei dem knackenden Geräusch auf und ich bin etwas irritiert, denn soweit ich mich erinnern kann, empfanden Menschen ein Kaminfeuer als heimelig, nicht als erschreckend. Das ruhige Knistern scheint die Kids aber nach einer Weile davon zu überzeugen, weiter zugehen. Langsam lugen sie durch die offene Tür und ich blase ein wenig Wind ins Feuer, damit es heller und wärmer knistert. Ich freue mich so sehr, dass ich endlich wieder jemanden in der Bibliothek beherbergen kann. Es ist immer noch der schönste Raum, mit seinen deckenhohen Regalen voller alter Bücher, dem verzierten Kamin und den bunten Bleiglasfenstern, die trotz der Jahrhunderte, die sie nun meine Fenster zieren, immer noch intakt sind.
Dennoch scheinen die kleinen Menschen wie gelähmt vor Angst zu sein. Wie hypnotisiert starren sie auf den Kamin, betreten zwar den Raum, deuten dann aber auf die dicke, unberührte Staubschicht, die den Teppich davor bedeckt. Um sie dazu zu ermutigen, sich zum Kamin zu begeben, schiebe ich einen der Ohrensessel einladend in ihre Richtung. Erschreckt halten sie die Luft an und ich frage mich, wie sie diese freundliche Geste meinerseits falsch verstehen konnten. Ich möchte doch nur, dass sie die großen, weißen Tücher, die zum Schutz die Sessel bedecken, entfernen und es sich gemütlich machen. Dann erschließt sich ihnen dann, dass ich ein sehr heimeliges Haus bin. Als sich keiner der Knirpse rührt, lasse ich ein wenig Wind unter eines der weißen Tücher wehen. Vielleicht begreifen sie den Wink? Eines der Kinder fängt an zu schreien und wie das so ist mit Menschen, fangen die anderen beiden ebenfalls an zu brüllen.

Jetzt habe ich aber die Faxen dicke. Wütend schmeiße ich die Tür zu, hebe eines der Tücher komplett von dem Sessel ab und lasse den Teppich wellen, so dass eines der Kids nach vorne gestoßen wird. Es stolpert, fällt fast in den Kamin. In letzter Sekunde fängt es sich und lässt sich in den Sessel fallen. Mit weit aufgerissenen Augen sieht es dabei zu, wie eines der Regale wackelt, bis ein Buch hinausfällt. Es ist mein Lieblingsbuch und auch, wenn es diesen kleinen Rackern offensichtlich an Manieren fehlt, möchte ich ihnen einen erinnernswerten Aufenthalt bereiten.
Statt sich das Buch zu nehmen, die wohlige Atmosphäre am Kamin zu genießen und sich gegenseitig vorzulesen, kreischen diese Blagen jedoch schon wieder. Auch wenn ich verärgert bin, bin ich immer noch der Überzeugung, dass sie nur meine Qualitäten erkennen müssen und ich kurz davor stehe, drei Menschen dazu zubringen, mich zu renovieren und hier einzuziehen. Kurzerhand hebe ich die weißen Stoffe der anderen beiden Sessel ebenfalls ab. Als die beiden noch stehenden Kids keine Anstalten machen, meiner Einladung zu folgen, lasse ich die Tücher um sie herumwehen und drücke sie förmlich in die Sessel. Doch während ich mich um diese beiden kümmere, hat sich das dritte angsterfüllt aus seinem Sessel erhoben und ist zu einem der Fenster gerannt. Panisch rüttelt es an diesen, doch sie sind alt und lange nicht mehr gepflegt worden. Als es bemerkt, dass der Rahmen klemmt und nicht aufzubekommen ist, blickt es sich hektisch um. Dann stürmt es zu einem der Äste, die sie gleich neben der Tür fallen lassen haben. Mir schwant Böses, doch ich kann nicht so schnell reagieren, wie es mit dem Ast zum Fenster zurückrennt und den Ast hebt. Ich heule auf, das Feuer im Kamin lodert hoch auf, als es das Glas einschlägt. Was fällt diesem ungehobelten Balg ein? Ich steche ihm doch auch kein Auge aus!
Ich beschließe, dass ich solche Gäste nicht logieren lassen möchte und mit einem Knall öffne ich die Zimmertür. Nun kann es mir gar nicht schnell genug gehen. Die Stoffe, die eben noch die Sessel geschützt haben, wirbeln herum, zerren die beiden Unruhestifter, die starr vor Schreck in den weichen Sitzmöbeln saßen, hoch. Ich bemerke nur am Rande, dass dabei eines der Tücher in den Kamin weht und Feuer fängt. Rasend vor Wut schubse ich die drei Gören aus der Bibliothek. Das brennende Tuch entzündet dabei den Teppich, hinterlässt eine feurige Spur.
Mein Kronleuchter zittert zornig, als die kleinen Schreihälse die Treppe hinunter stürmen. Eines von ihnen hat die zerbrochene Stufe übersehen, bleibt dort stecken. Es ertönt ein grässliches Knacken, als es stürzt und dabei das Bein wieder freibekommt. Es brüllt vor Schmerz, vor Angst, vor Panik. Richtig so! Die anderen beiden stürzen zu ihm zurück, greifen ihm unter die Arme. Wütend, dass meine Gastfreundschaft so rüde entgegnet wurde, werfe ich die beiden Tücher hinter ihnen her. Auffordernd reiße ich die Haustür auf und beobachte frustriert, wie die kleinen Quälgeister panisch den überwucherten Gartenweg entlangstolpern. Kaum haben sie mein Grundstück verlassen, da erlischt mein Zorn und mit ihm auch das Feuer im Kamin und auf dem Teppich. Traurig begutachte ich das defekte Fenster. Die Zeit, die die Bibliothek gegen Wind und Wetter geschützt war, ist vorbei.
Mit einem vorwurfsvollen Quietschen schließe ich das Gartentor. Hoffentlich bleiben diese Bengel für immer fort.

Ein Gutes Geschäft

„Hey, altes Haus!“

„Da kommt er wieder, lachend und frohen Mutes wie so oft … pass auf! …Renn doch nicht so … oooooh ich darf nicht hinschauen“.

Tim, so unbekümmert wie er immer war, hüpfte fast schwerelos an den zerbrochenen Dielen im Eingang, gewandt vorbei …
Die alte Eingangstür ging knarrend, und mit einem Ruck, auf:
„Niemand da?“, ruft der junge Mann, wie jedes Mal, wenn er kommt.

„Na ja, niemand da kann man so nicht sagen, aber du vermagst ja eh nicht, mich alte Schachtel zu hören“ …
„Seit Jahrzehnten stand ich leer und vereinsamt da, bis der damals noch kleine Tim, der gar nicht so weit in der Nachbarschaft wohnte, das verlassene Grundstück entdeckte. Ich darf euch sagen, dass meine Wenigkeit darüber sehr glücklich war, wenn hin und wieder Leben in die schon uralten Wände kam. Jedoch, bereitete es mir auch sorgen, da so vieles an mir kaputt war, das ihm beim Spielen etwas zustoßen konnte“.

„Hey altes Haus, jetzt musst du dich aber schütteln“, ruft mir Tim, völlig außer Atem zu, nachdem er im Eingang angekommen war.

„Kann er mich also doch hören? Da er meine diversen Warnrufe nie beachtete, nahm ich immer an, er könne es nicht“ …
„Was ist denn los? Schütteln? Wie, weshalb, warum?“

„Ein Makler kommt gleich … Er ist fest entschlossen, dich zu verkaufen … Ich habe sogar gehört, dass der Mann darüber nachdenkt das Haus abzureißen! Das ist doch ungeheuerlich, oder? Du bist unser Unterschlupf … Der einzige Ort, den ich und meine Freunde haben, um uns zu treffen, vor allem jetzt im Herbst, wenn es kalt wird und immer regnet“.

„Ein Makler? Ach du Schreck!“
Für einen Moment versinkt das alte Haus wieder in Gedanken … „Na ja, mir ist sehr oft angst und bange um die Kinder, wenn sie zu mir kommen. Alles hier ist so alt und klapprig. Zu dem Thema wäre der Verkauf vielleicht Die Lösung. Anderseits sind sie inzwischen schon etwas größer, und kennen sich super aus in meinem Innern … Und dann gleich abreißen? Brr, mich überkommt ein schaudern“.

„Du hast keine andere Wahl; jetzt muss es in dir so richtig spuken!“,unterbrach Tim des Hauses scheinbare Lethargie.

„Spuken? Oje, sowas hab ich aber noch nie eingesetzt“!

„Ich helfe dir“, erwiderte der Teenager, wie wenn er jedes Wort und jeglichen Gedanken des alten Hauses verstanden hätte. „Ich werde mich verstecken, und so viel Krach verursachen, wie unbemerkt machbar ist!“

Da war es wieder, endlich! Dieses behagliche Gefühl des vereint seins. Dieses Feeling, wie damals, wo Tim noch kleiner war, und jede Ecke des alten Hauses auskundschaftete; als er mit seinen Freunden alles umkrempelte …

„Und ich dachte, ich wäre ihm inzwischen nicht mehr so wichtig“, sinnierte das uralte Gebäude.

„Los gehts!“, mahnte Tim laut und resolut.

Kaum hatte er diese Worte gesagt, näherten sich auch schon zwei Gestallten, den alten Kiesweg entlang. Der Makler rüttelte am verrosteten Tor, worüber Tim, immer gewandt kletterte. „Ach ja stimmt; iss ja zu“, murmelte er vor sich hin und zog aus seinem edlen dunkelblauen Wollmantel einen riesigen Schlüsselbund hervor.

Sein Begleiter sah im ersten Moment noch ganz nett aus. Beim Anblick des großen Anwesens strahlte er bis hinter die Ohren. Er war zwar etwas salopp angezogen, fuhr aber dafür einen schmucken Geländewagen. Je näher er dem Haus kam, desto enttäuschter wurde seine Mimik. „Ach herrje“, hörte man ihn pusten. „Da ist nun wirklich nicht mehr allzu viel zu retten“.

Kaum waren die beiden im Haus, ließen es Tim und sein alter Freund auf gedeih und verderb krachen. Es klapperte und schüttelte alles, was auch nur ein wenig beweglich war. Tim hatte im Keller eine verrostete kaputte Leitung gefunden und er lies darüber schaurige Geräusche im ganzen Haus ertönen. Da er das Gebäude in- und auswendig kannte, schlich er sich unbemerkt ins Obergeschoss, und dann wieder nach unten in die Küche, so das man wirklich annahm, das hier Gespenster ihr unwesen trieben.

„Hier spukt es doch nicht etwa?“, flüsterte der Kunde, der inzwischen kreideweiß vor Schreck war.
„Herr Weissmüller … Sie glauben aber nicht ernsthaft an Gespenster, oder? Sowas gibt es doch nicht; da ist bestimmt irgendwelches Getier, das sich da eingenistet hat“ schmunzelte der Makler, zum Versuch seine Kundschaft zu beruhigen.
„Nein nein und nein! Das kommt mir nicht in die Tüte! Alles vermag ich ! Ich kann alles auf mich nehmen, sogar finanziell … aber sowas, auf keinen Fall!“ …
Sehr unzufrieden, und etwas beängstigt, lief der potenzielle Käufer zielstrebig Richtung Ausgang.
„Aber Herr Weissmüller, seien Sie doch vernünftig“, rannte der Makler ihm hinterher.

Die Stimmen wurden immer leiser. Die zwei blieben mehrmals im Garten stehen, diskutierten und gestikulierten eine ganze Weile … Nachdem endlich das alte Tor zuknallte und die Autos hörbar davonrasten, hüpfte Tim beglückt aus seinem Versteck und rannte zur Tür …

„Hey, wo gehst du jetzt hin?“, rief das alte Haus.

„Hey alter Freund, bin gleich zurück“, erwiderte Tim. „Ich hole die anderen; was für n’e Story; dass müssen wir feiern!“.

„Er kann mich also doch hören“, dachte sich das alte Haus zufrieden …

Frieden finden

Wenn die Nacht hereinbricht, enden meine Träume. Die Bilder vergangener Zeiten werden von der Dunkelheit überdeckt. Zwei Jahrhunderte sind vergangen, doch ich kann ihr Lachen noch immer hören, kann mich an die Abende erinnern, an denen in meinem Herzen Kerzenlicht gestrahlt hat. Eng umschlungen saßen sie abends zusammen im Schutze meiner dicken Wände.

Die Jahre vergingen, die Frau wurde dick und rund und plötzlich war da ein kleines Wesen, das ganz neue Klänge durch meine Räume schickte. Am meisten liebte ich das Kinderlachen, das mich erfüllte. Ich beobachtete das kleine Mädchen mit dem runden Gesicht, wie es im Garten auf der Schaukel saß, die vom Ast der alten Eiche hing. Ihre Haare flatterten im Wind, verdeckten ihr Gesicht, dann wehten sie wieder nach hinten, nur um kurz darauf erneut die Richtung zu wechseln. Sie quiekte vor Lachen. Es war der schönste Ton, den ich jemals gehört hatte.

Doch eines Tages wurde alles in mir still. Das Kinderlachen endete so plötzlich, wie das Schluchzen einsetzte. Umso leiser es wurde, umso deutlicher war der Schmerz spürbar, der die Frau und den Mann von Innen auffraß. Die Abende, an denen der Schein der Kerzen in meinem Herzen flackerte, kamen nie mehr zurück. Das Liebespaar wurde nie wieder zu dem, was es einst war – glücklich und unbeschwert.

Und dann nutzten sie die kräftigen Balken, die mir Halt gaben, als ihren Galgen. Dort hingen sie, leblos und kalt, mit Blick zu dem Fenster, vor dem die einsame Schaukel hing.

Sie hatten mich verlassen.

Ich konnte sie verstehen, natürlich konnte ich das, aber ich verfluchte sie auch, vermisste sie und erlaubte niemanden mehr, mein Anwesen zu betreten.

Jeder, der es wagte, die Schwelle zu übertreten, wurde bestraft. Ich ließ die Wände wackeln und den Wind durch die Bretter pfeifen. Das Licht flackerte. Die Dielen knarzten. Meine Fensterläden klapperten bedrohlich. Die Leitungen rumorten. Immer wieder fielen mir neue Grausamkeiten ein, die die Eindringlinge vertrieben. Selbst als mein Innerstes von Staub durchdrungen war, gestattete ich niemanden Zutritt. Doch sie drangen wie Ungeziefer durch meine Tür. Sie wollten sich gruseln, ertrugen die Gänsehaut auf ihrem Körper dann aber doch nicht. Sie verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.

Manch einer kehrte nie wieder nach Hause zurück. Von ihren Begleitungen ermordet, wurde ich zu ihrer Grabstätte. Ihr Gestank verätzte mein Innerstes. Nur ihre Knochen kamen mir gelegen. Sie waren eine Warnung, für all diejenigen, die danach kamen. Die Männer und Frauen, die ihnen das angetan hatten, kehrten mit zur Schau gestelltem Schock zurück. Sie schoben die Schuld an dem Tod mir zu, erzählten Geschichten über Geister, die den Ort heimsuchten. Mein Hass wuchs mit jedem Gerücht.

Und so machte mir die Wut über meinen Verlust und die Ungerechtigkeiten der Welt einen Namen, der auch zwei Jahrzehnte nach dem toten Liebespaar noch weit verbreitet ist. Ich bin eine Attraktion, ein Abenteuerort, an dem Kameras installiert werden, um das Unglaubliche mit der ganzen Welt zu teilen. Die Schaulustigen kommen immer wieder.

Auch heute. Doch ich bin vorbereitet. Der Wind hat die Stimmen der Abenteurer zu mir getragen. Er hat sie verraten.

Nun sind sie da, stehen vor mir und starren mich an.

„Ganz schön unheimlich“, flüstert eine weibliche Stimme.

„Du wolltest doch unbedingt mit“, blafft einer der Abenteurer, „es ist nur ein scheiß Haus.“

Dir werde ich schon noch das Fürchten beibringen. Vorsichtig lockere ich einen Dachziegel. Doch ehe ich ihn hinabsausen lassen kann, unterbricht mich die Stimme einer anderen Frau.

„Bei Tageslicht ist es bestimmt eines der schönsten Häuser, die du je gesehen hast. Schau es dir doch mal an. Selbst im Mondschein ist es wunderschön. Das spitze Dach, die kleinen Fenster mit den hölzernen Fensterläden. Ein neuer Anstrich und es sieht aus wie in unseren Träumen. Genug Platz für eine ganze Familie. Morgens strahlt die Sonne durch die Scheiben und weckt dich sanft. Deine Kinder stehen auf, rennen lachend durch die Räume. Sie spielen im Garten fangen oder lesen im grünen Gras. Du stehst am Herd und beobachtest sie. Und abends, wenn die Kinder schlafen, genießt du mit deinem Mann ein Gläschen Wein vor dem Kamin.“

Ihre Worte katapultieren mich in die Vergangenheit. Diese Vision hatte die Frau vor zwei Jahrzehnten auch. Sie hatte so viel mehr in mir gesehen als nur mein Äußerstes. Und jetzt steht hier eine blonde Schönheit und erkennt mein wahres Ich trotz der Dunkelheit und all der abscheulichen Geschichten, die über mich verbreitet werden. Sie sieht in mir nicht das Gruselhaus, das Mörderhaus oder all die anderen Beschimpfungen, die mir die Menschen gegeben haben.

Ich vergesse den Dachziegel, meine Wut und mein Vorhaben.

„Klingt ja wundervoll“, gibt der Abenteurer ironisch zurück, „vor allem, wenn man die Erzählung weiter ausführt. Deine Kinder spielen verstecken, doch statt des Bruders findet deine Tochter die menschlichen Überreste, die das Haus in seinem Inneren versteckt. Die vielen Leichen, die es zu verantworten hat. Und nachts werden deine Kinder von der gehängten Familie heimgesucht, die dieses Haus einst als erste bezog. Die Dämonen fahren in ihren…“

Der Dachziegel saust an seinem Gesicht vorbei.

„Scheiße“, flucht er und schlägt hart auf dem Boden auf, „Fuck, scheiße, mein Fuß.“

Winselnd liegt er im feuchten Gras. Die ängstliche Frau kreischt.

„Das kommt davon, Jason“, meckert ein zweiter Mann, „das war’s dann wohl mit unserem Abenteuer. Wir fahren ins Krankenhaus.“

Er streckt ihm die Hand entgegen, doch Jason schlägt sie weg und richtet sich mühsam auf. Er humpelt weg, die Ängstliche tritt an seine Seite. Nur die anderen beiden bleiben stehen und blicken mich noch einmal an.

„Meinst du, das Haus steht zum Verkauf?“, fragt die Blonde, „ich hätte es gerne. Für uns und unsere Zukunft.“

Sanft wiegt die Schaukel am Ast der alten Eiche im Wind.

Er blickt sie an. „Ich frag morgen gleich nach“, verspricht er und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn, „hoffen wir, dass das Haus uns Eintritt gewährt.“

Knarzend öffne ich meine Tür.

Kevin

Wenn der alte Rabenhof lachte, so ein ehrliches, schallendes Lachen, das tief aus seinem Keller kam, dann ächzten die Dielen und klirrten die Dachziegel. Dann konnte es passieren, dass Türen schwangen, und einmal war es sogar vorgekommen, dass eine Fensterscheibe dabei zerbrochen ist.
So ein Lachen war es auch jetzt, denn der Rabenhof freute sich mächtig und mit ihm seine drei verbleibenden Hausgeister.

Der Gustl, das war der erste Hausgeist, den der Rabenhof bekommen hatte. Das war nur ein paar Jahre, nachdem der Gustl den Rabenhof fertig gebaut hatte. Lange hatte sich der nicht an seinem schönen Anwesen erfreuen können, weil er, wie er immer sagt, „durch eine falsche Anweisung von dieser G’scheitheit Andreas Hofer“ im Napoleonischen Krieg umgekommen ist. Andere sagen, dass es seine eigene Besserwisserei und Großspurigkeit gewesen ist, die ihn seinen Arm und durch Wundbrand dann letztlich auch sein Leben gekostet hat.

Außer Gustl hatte der Rabenhof jetzt nur noch zwei andere Bewohner und das waren Franz, seinerseits der Urenkel des alten Gustl, der auch schon stolze 112 Jahre das Mauerwerk des Gebäudes in- und auswendig kannte, sowie dessen Frau Helene.

Helene hielt sich die Rechte vor die Lippen und kicherte.
„Und du hast das Portal auch sicher verschlossen?“ Ihr großer Busen hüpfte vor unterdrückten Glucksern auf und ab.
„Freilich, Frau Helene, der kommt nimmermehr hier her zurück“, bestätigte das Haus.
„Es war höchste Zeit“, brüskierte sich Franz. Er war der Einzige, der nicht lachte. Er hatte seine Stirn in tiefe Falten gezogen und kräuselte seinen eingedrehten Schnauzer.
„Wie er sich auch noch darüber gefreut hat, diese Geisterjäger in die Hölle jagen zu dürfen“, Gustl, der auf der Kachelofenbank saß, schlug sich lachend auf die Schenkel. „Zu dumm nur, dass er nicht daran gedacht hat, dass er sein Dasein ab jetzt auch da unten fristen muss!“
Helene’s Lachen verstummte. „Lass den aber ja nie wieder herauf“, sagte sie scharf.
„Iwoh, ich hab den Schlüssel schon verschwinden lassen, Frau Helene“, beruhigte das alte Haus sie, „wir haben jetzt unsere Ruhe.“
„Gut so“, nickte Helene, „ich konnte sein Geschwafel über Gehm Bois und Tamagotschis nicht mehr ertragen. Was soll das überhaupt sein? Ich frage mich sowieso, wie wir das über 30 Jahre ausgehalten haben.“
„Ist doch jetzt egal“, brummte Franz, „müssen wir jetzt nie wieder hören.“
„Nie wieder hören“, grunzte Gustl, streckte sich lang auf der Ofenbank aus, legte die Hände unter seinen Kopf und schloss die Augen, als plötzlich die Tür aufflog.
„Himmelsakrament noch einmal“, hörten die Geister und das Haus es poltern und eine Schwefelwolke stob in die Stube, „seid ihr von allen guten Geistern verlassen?“
„Auweh.“ Das war der Gustl, ganz ohne seine Augen aufzumachen.
„Auweh!!!“ Das war der Rabenhof, dem der Teufel die Tür aus den Angeln gerissen hat, was ganz fürchterlich ziepte.

Und schon polterte der Fürst der Finsternis in die Stube, am Kragen den vierten Hausgeist haltend und vor sich her tragend. Kevin hatte ein dummes Grinsen auf den Lippen.
Abrupt blieb der Mann in Rot stehen, ließ den Burschen fallen, kehrten auf dem Absatz um und ließ seinen Umhang dramatisch hinter sich flattern, als er die Stube verließ. „Wie oft hab ich euch schon gesagt, dass ihr euch den selbst behalten könnt!?“

Hier mein Beitrag. Ich bin mir nicht ganz sicher, alle Vorgaben richtig verstanden zu haben, es ist meine erste Shortstory und mein erster Beitrag hier.

Das alte Haus.

Eine Halloween-Kurzgeschichte.

Ich schlafe nicht mehr, doch ganz wach bin auch noch nicht.
Ich habe geträumt und möchte die wunderbaren Bilder nur ungern ziehen lassen.
Im Traum hatte ich plötzlich das Gesicht von Charlotte wieder vor mir, als sie noch eine junge Frau war. Blass und schmal, doch der Blick ihrer wasserblauen Augen von einer Kraft, wie ich sie nie bei einem anderen Menschen erlebt habe. Ein Gruß aus längst vergangener, aber nie vergessener Zeit, der mir ans Herz greift. Wie lange mag es her sein, dass ich ihr Lebewohl sagen musste?
Ich versuche, mich zu erinnern, doch ein Geräusch lässt mich aufschrecken und vertreibt die sentimentale Anwandlung.
Vielleicht ist es besser so.
Es ist Sophie. Sie muss leise gewesen sein, denn ich habe sie nicht kommen hören. Vielleicht ahnt sie ja, dass ich noch schlummere und will mich nicht wecken. Sophie ist immer so rücksichtsvoll.
Ich beobachte sie, wie sie die Vorhänge zurückzieht und eines meiner Fenster nach dem anderen öffnet. Das Mondlicht fällt herein und streichelt mich mit zarten, sanften Fingern. Lustvoll sauge ich die frische Nachtluft ein, die mich sofort belebt.
Mir fällt auf, dass Sophie ein neues Kostüm trägt. Es ist dunkelrot und schmeichelt ihrer Figur. Die brünetten Haare hat sie hochgesteckt, so dass ihr schlanker Hals zur Geltung kommt.
Ich beginne, etwas zu ahnen.
Das heute ist kein normaler Besuch.
Heute ist ein besonderer Tag.
Plötzlich spüre ich es auch selbst.
Ich habe Hunger.
Sophie verschwindet im kleineren der beiden Schlafzimmer und öffnet auch dort das Fenster. Als sie zurückkommt, stockt mir für einen Moment der Atem. Was habe ich für ein Glück, so eine Gefährtin gefunden zu haben. Eine wunderbare und verständnisvolle Frau, die mich nicht nur akzeptiert, mit all meiner Eigenart, sondern die alles tut, um mich glücklich zu machen. Nicht einmal der Altersunterschied hat ihr je etwas ausgemacht.
Als die Türklingel anschlägt, bin ich endgültig hellwach.
Und hungrig. Sehr hungrig.
Ich blicke Sophie nach, wie sie durch die Diele läuft. Der Herbstwind weht ein paar Blätter herein, als sie die Haustür öffnet. Es kitzelt und fühlt sich angenehm lebendig an.
„Kommen Sie rein“ höre ich sie sagen. Gefolgt vom kurzen Gemurmel einer Männerstimme, die ich nicht verstehen kann.
Gleich darauf betreten sie das Wohnzimmer. Sophie voran, gefolgt von einem mittelalten Mann in Jeans und Rollkragenpullover, der einen kleinen Reisekoffer hinter sich herzieht.
„Und hier bin ich wirklich sicher?“ sagt er. Seine Stimme ist heiser und unsympathisch.
„So sicher, wie ich ihre Anwältin bin“, versetzt Sophie. „Sie wissen doch, dass ich auf ihrer Seite bin. Ich sorge schon dafür, dass sie nicht in den Knast kommen.“
„Dafür habe ich Ihnen ja auch einen Haufen Geld bezahlt!“ sagt der Mann. „Wie lange werde ich bleiben müssen?“
Sein kahler Schädel mit der Habichtnase und der schlecht verheilten Narbe über der rechten Wange lässt ihn wie das Klischee eines Verbrechers aussehen. Wenn er das getan hat, was ich vermute, dann ist er auch einer. Einer von der übelsten Sorte.
„Nicht lange“, sagt Sophie. „Nur so lange, bis ich ihre Papiere und den Flug organisiert habe.“
„Ich habe gehört, dass sie schon einige … äh … Bekannte von mir … über dieses Haus ins Ausland geschleust haben“, sagt er.
„Es hat ja einen regelrecht gespenstischen Ruf … man kommt in den Rabenweg und verschwindet von der Bildfläche. Ich verlasse mich jedenfalls darauf, dass das auch in meinem Fall klappen wird.“
„Das klappt todsicher“, sagt Sophie.
Sie hat wirklich „todsicher“ gesagt.
Ich muss mich bemühen, nicht zu lachen. Das könnte in diesem Moment zu einigem Chaos führen.
„Ich zeige ihnen ihr Zimmer“, sagt Sophie. „Dann können sie sich schon mal frisch machen und etwas ausruhen.“
Sie führt den Mann in das Schlafzimmer.
Nicht das Zimmer, das Charlotte einst für ihre Zwecke benutzt hat, sondern das kleinere, etwas
schäbigere.
Als er eingetreten ist und sich umsieht, verlässt Sophie schnell den Raum. Leise dreht sie den Schlüssel hinter sich im Schloss.
Dabei flüstert sie etwas - und ich verstehe jede Silbe: „Pädophiles Dreckschwein!“.
Dann eilt sie zur Terrassentür und öffnet sie. Bevor sie in den Garten geht, wo sie sich auf der Bank unter der Eiche niederlässt, die einst Charlotte gepflanzt hat, flüstert sie in meine Richtung: „Alles Gute zum Geburtstag, altes Haus! Lass es dir schmecken!“
Jetzt bin ich an der Reihe.
Mein Appetit ist in den letzten Minuten so enorm geworden, dass ich mich kaum noch beherrschen kann.
Fast zu schnell bin ich mit der Mahlzeit fertig.
Als ich die letzten Stücke verschlungen habe, schlagen die Fenster im Wohnzimmer ein paar mal auf und zu, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Ein Stöhnen fährt durch mein Gebälk. Ich fühle mich nicht nur wunderbar satt, sondern spüre, wie die Energie durch meine Lebensadern pulsiert. Gleißend helles Licht strömt plötzlich aus allen Fenstern in den dunklen Garten, in dem Sophie immer noch sitzt.
Ich sehe, wie sie aufsteht und wieder hereinkommt.
Sie geht direkt zu dem Zimmer, in das sie ihren Gast geführt hat, öffnet es und überzeugt sich, dass es leer ist.
An ihrem Gesichtsausdruck kann ich ablesen, dass sie zufrieden ist. So hat auch Charlotte immer ausgesehen, wenn sie die Welt ein kleines bißchen besser gemacht hat.
Mit meiner Hilfe.
Bevor Sophie geht, löscht sie die Lichter und schließt alle Fenster. Im Wohnzimmer lächelt sie dem Ölgemälde zu, das ihre Urgroßmutter Charlotte im Alter von fast 100 Jahre zeigt. Ein damals sehr beliebter Maler hat es kurz vor ihrem Tod angefertigt. Ich war dabei gewesen. Es ist mein Lieblingsbild, das ich fest in meinem Herzen bewahre. Charlotte, in einem dunkelroten Kleid, die Haare zu einem Dutt geknotet, der ihren auch im Alter noch wunderschönen Hals zur Geltung bringt.
„Mach’s gut, Urgroßmutter." flüstert Sophie.
"Mach’s gut, altes Haus! Bis zum nächsten Mal!“
Dann verschwindet sie in der Dunkelheit.

Das verlassene Haus im Wald

Nun bin ich 249 Jahre, und seit fast 100 Jahren lebe ich alleine. Oder fast alleine. Jedenfalls bin ich nicht mehr bewohnt. Einst schmückte ich am Ende des Weges einen schönen Park. Doch nach mehreren unglücklichen Ereignissen wurde ich endgültig verlassen, nun bin so gut wie vergessen. Der Park wurde vom Wald erobert, und der Rabenweg endet jetzt viel weiter vorne.

Der Wald rückt mir immer mehr auf die Pelle. Ich spüre, wie er sich in meinen Ritzen einnistet und an meinem Mörtel knabbert. Seit ein paar Jahren fühle ich mich alt und denke über mein Dasein nach. Manchmal hadere ich mit dem Schicksal und denke, es wäre als Stadthaus sicher schöner gewesen. In der Stadt ist ein Haus immer bewohnt, man wird mehr geliebt und meist gepflegt. Und wenn nicht, gibt es dort leichter Sterbehilfe, und es wird dann etwas Neues entstehen. Hier dagegen muss ich langsam und qualvoll meine letzten Jahrzehnte durchleiden. Mein Dasein mit all den kleinen und größeren Gesundheitsproblemen macht mir keine Freude mehr. Doch als vergessene Immobilie mit unklaren Eigentumsverhältnissen bin ich einfach hilflos.

Seit einigen Jahren leben in meinem Keller Ratten. Die schrecklichen Gerüchte über das Rabenhaus störten sie nicht – im Gegenteil, sie fühlen sich wohl und vermehren sich dauernd. Für sie bin ich hilfreich, als Schutz vor Wind, Regen und Kammerjägern. Eine einseitige Beziehung zwar, aber immerhin bin ich so noch zu etwas nütze auf meine alten Tage. Das tröstet mich etwas.

Alle paar Jahre habe ich mal Besuch. Es sind tagsüber Leute vom Amt, die nachschauen müssen, ob ich schon zusammengebrochen bin. Abends sind es Leute, die Gespenster suchen. Auf die wirken die vielen schrecklichen Gerüchte und die Warnschilder rund ums Haus wohl anziehend. Doch alle musste ich bisher immer enttäuschen.
Jetzt scheint wieder jemand zu kommen. Die kleine Gruppe steht im dunkler werdenden Wald und beobachtet mich. Sie tuscheln miteinander, ihre Gesichter sind vor Abenteuerlust gerötet und sie haben Taschenlampen dabei. Da habe ich eine Idee. Vielleicht können mir ja diese vier helfen?! Ich setze mein freundliches Gesicht auf, versuche ihnen Mut zu machen, gebe mich harmlos und wirke noch ein bisschen geheimnisvoller.

Es wirkt! Sie kommen näher. Ich mime weiter Freundlichkeit, bis sie endlich alle eingetreten sind und die Treppen gefunden haben. Dann schließe ich ganz fest meinen Mund und meine Augen. Ich darf keinen von ihnen entkommen lassen. Auf geht’s, meine Fremden, nur munter immer weiter runter! Die Taschenlampen werden ihnen nichts nützen, denn meine Ratten sind nach dem langen Winter sehr, sehr hungrig. Vielleicht darf ich dann ja auch endlich sterben. Hoffentlich klappt’s!

Frieden
Zwei Jahrhunderte bin ich alt. Während der Zeit habe ich viele Menschen hier ein- und ausgehen gesehen. Habe viel Glück, aber auch viel Leid miterlebt. Seit über zwanzig Jahren bin ich verlassen und mit der Zeit hat man mich vergessen. Ich bin umzingelt von Bäumen, nur wer weiß, dass es mich gibt, kann mich noch finden. Den Weg zu mir hat sich der Wald bereits vor Jahren zurückerobert. Die Fenster sind matt geworden und in meinem Dach klafft ein großes Loch. Von meiner einstigen Pracht ist nichts geblieben. Früher… Ja… Früher war ich eine wahre Augenweide. Ein Schmuckstück, dass von seinen Bewohnern gepflegt und geliebt wurde. Bis zu diesem schrecklichen Tag.

Seitdem wandert Lilly jede Nacht verloren durchs Haus. Hin und wieder bleibt sie stehen, streicht über eine meiner Wände und murmelt: „Es war nicht deine Schuld“. Jede Nacht leide ich mit ihr. Mit dieser Seele, die keinen Frieden finden kann.

Ich schrecke aus meinen trüben Gedanken hoch. War da gerade ein Geräusch? Es hörte sich an wie Menschen. Das kann nicht sein. Doch da höre ich sie wieder, diese Stimme. Sie kommt mir so vertraut vor. Vor mir, in der Abenddämmerung steht Emily in Begleitung eines Mannes. Sie ist erwachsen geworden. Durch meine eigene Schuld konnte ich kein Teil mehr ihres Lebens sein. Emily betrachtet mich lange. Mit jeder Vernachlässigung die sie an mir entdeckt wird ihr Blick trauriger. „Einst warst du so ein schönes Haus, voller Leben und Liebe. Wir waren hier so glücklich. Es schmerzt mich, dich so zu sehen.“ Ich bin überrascht, dass sie direkt zu mir spricht. Als Kinder sprachen Emily und Lily immer mit mir, wie mit einem guten Freund. Das war in einem anderen Leben. Der Mann tritt näher an Emily heran: „Möchtest du wirklich da rein gehen?“ Sein Blick gleitet zweifelnd über mich. „Ja. Es ist wichtig. Wartest du hier draußen auf mich?“ „Natürlich. Nimm dir so viel Zeit wie du brauchst.“ Emily strafft ihre Schultern und geht die letzten Meter zur Tür. Liebevoll streicht sie über diese, schließt auf und tritt ein.

Ein schwall modriger Luft entweicht meinem Inneren. Lange hat mich niemand mehr besucht. Ich hätte es aber auch nicht verdient gehabt. Emily bleibt im Eingangsbereich stehen und seufzt leise. Sie schaut sich um und ihr Blick gleitet zu der Treppe. An der gebrochenen Querstrebe bleibt er haften. Tränen lösen sich aus Emilys Augen. Meine Gedanken kehren zu diesem verhängnisvollen Tag zurück. Es war Nachmittag und die Zwillinge Emily und Lily spielten wie immer im Obergeschoss fangen. Sie waren noch so jung. Lily lief vorne weg, Emily hinterher. Sie quietschten und lachten, hatten so viel Spaß. Lily hatte die Treppe erreicht und sah sich im Rennen nach Emily um. Ich wusste auf einmal, dass etwas schreckliches passieren wird. In dem Moment geschah es. Lily verpasste eine Stufe und stürzte nach vorne. Den Handlauf des Treppengeländers verfehlte sie nur knapp. Fand aber halt an einer Querstrebe. Erleichtert atmeten wir alle drei auf. Ich spürte ein leichtes zupfen in meinem Inneren, konnte es aber nicht zuordnen. Irgendwas stimmte nicht. In dem Moment gab die Querstrebe unter Lilys Gewicht nach und sie stürzte. Emily schrie auf. Doch von Lily kam kein Ton. Ihre Seele hatte den kleinen Körper bereits verlassen, bevor dieser unten auf den kalten Fliesen im Eingangsbereich aufschlug. Seitdem vergeht kein Tag, an dem ich mir keine Vorwürfe mache. Es war meine Schuld. Meine Querstrebe ist schuld daran, dass sie nie das Leben leben konnte, dass sie verdient hatte.

„Weiß du, Lily und ich wussten immer, dass du Lebst. Wir haben es gespürt. Du hast dich mit uns gefreut. Du hast mit uns gelitten. Du bist unser Freund. Ich selbst habe erst vor kurzem Frieden gefunden. Denn das, was Lily passiert ist, war ein Unfall. Niemand hatte Schuld daran.“ Emilys Stimme dringt zu mir durch. Ich spüre, wir Ihre Hand sanft über meine Wand streicht. Sie kommt noch näher. Eine Tränennasse Wange ruht nun an der vergilbten Tapete und sie flüstert: „Du warst nicht schuld.“ Wir verharren einen Moment im vertrauten schweigen. Dann tritt Emily zurück und trocknet ihre Tränen. Im Türrahmen bleibt sie nochmal stehen und streicht ein letztes Mal über meine Wand.

Den ganzen restlichen Abend habe ich über Ihre Worte nachgedacht nun ist es Nacht. Lily ist wieder da. Sie streift wie immer durch die Flure und Räume und flüstert: „Es war nicht deine Schuld.“ In dem Moment begreife ich es endlich. Sie spricht nicht mit Emily. Hat es nie getan. All die Jahre hat Lily immer mit mir gesprochen. Mir immer wieder gesagt, dass ich nicht schuld bin. Ein Seufzen entweicht mir. Es ist, als wäre mir eine Last genommen worden. Lily hält inne. Sie lauscht. Als hätte sie den Seufzer gespürt fängt sie an zu lächeln. „Jetzt kann ich gehen.“ Mit diesen Worten verschwindet sie.

Nun kann auch ich meinen Frieden finden.

Das Versprechen

Es ist dunkel. Schwärzer als die Nacht draußen. Der Kronleuchter ist schon lange kaputt, und auch durch die Fenster dringt kein Mondlicht in mich. Sie wurden vor vielen Jahren mit Brettern zugenagelt. Ich sehe nichts, aber ich höre. Das Rauschen des Windes durch das herbstliche Blätterdach der Bäume. Den Uhu, meinen alten Freund. Die Katze, die seit Kurzem jede Nacht vorbei streunt. Sie schnurrt, als sie auf der untersten Steinstufe vor der schon morschen Tür stehen bleibt und sich müde streckt.

Seit zwei Jahrhunderten stehe ich und warte. Harre im dunklen, lausche und warte, und bilde mir ein, dass der Uhu und die Katze mit mir warten. Plötzlich maunzt sie und springt fort. Ich höre Stimmen. Es knackt einmal laut, ein kühler Windzug rauscht in mich und wirbelt Staub auf.

Die Tür wird aufgestemmt.

Ein Lichtstrahl durchbohrt mich. Wieder sehe ich nichts; er blendet, gleißend weiß. Die Dielen knarren unter den Schritten. Es sind sechs bis acht Beine. Eine Stimme weiblich. Sie erinnert mich an mein Mädchen. Ihr Bild taucht in meinen Gedanken auf, unerwartet, obwohl es immer dort verborgen im dunklen lag, und schüttelt mich. Ich kenne es noch genau, ihr Lächeln, wenn sie vor dem Karmin saß und mit der Holzbahn spielte. Die blonden Löckchen. Ich hielt sie warm. Hielt sie sicher. Passte in der Nacht auf sie auf. Bis sie weglief und mich zurückließ. Sie weinte leise an dem Morgen, als sie ging.

Ich heule auf. Die weibliche Stimme kreischt, kurz und spitz, dann höre ich sie lachen.

Still lausche ich. Besäße ich ein Herz, es würde so schnell schlagen, dass es schmerzt. Die Schritte knacken und ächzen auf meinen alten Dielen. Sie sollen unten bleiben. Achtsam neige ich mich, dass die Kommode vor den Treppenaufgang rutscht. Die Schritte bewegen sich zurück Richtung Tür. Kurz glaube ich, sie gehen, doch dann machen sie geschlossen kehrt, laufen gerade auf den Treppenaufstieg zu, und schieben die Kommode weg. Ich höre sie reden, über einen Mord, ein uraltes Familiendrama.

Besäße ich ein Herz, es würde vor Anspannung beinahe stehen bleiben. Ich werde unruhig. Puste. Pfeife. Ich lasse ein Gemälde meiner Herren von der Wand fallen. Die Schritte stocken. Das Flüstern wird drängender. Sie reißen sich zusammen und schleichen weiter. Jede einzelne Stufe knarrt unter ihnen. Nicht nach oben, flehe ich, doch schon stehen sie dort, im oberen Gang und blenden mich mit ihren schrillen Lampen.

„Lass niemanden in mein Zimmer. Niemals“, höre ich die süße Stimme meines Mädchens durch die verstaubten Winkel meiner dutzend Räume hallen. „Niemals“, hatte sie geweint, hatte die Tür mit ihren blutigen Fingern zugezogen, war über den Gang und die Treppe hinunter gerannt, und nie zurückgekommen. Ich habe es versprochen. Ich strenge mich an, lasse den alten Geschirrschrank kippen und Uromas Teeservice zerschellt schallend am Boden. Entschlossen heule ich auf, gebe alles, schleife zwei Stühle durch den Korridor und wirbele den Lieblingssessel des Herren gleich hinterher.

Sie reden aufgeregt durcheinander. Ich rieche ihre Angst. Rieche ihre Neugier.

Da spüre ich die Hand am Türknauf. Sie brennt wie ein heißes Eisen, dass sich tief in meine alten Eingeweide drückt. Niemals! Ich schreie. Sie schreien. Und rennen. Endlich. Die Hand lässt von der Zimmertür ab. Die Schritte fliegen über das Parkett, die Stufen hinunter, stolpern, stehen wieder auf und entfernen sich immer weiter. Ihr aufgeregtes Poltern verliert sich weit in der sternenlosen Schwärze. Erleichtert atme ich auf.

Ich schließe die Haustür. Der Uhu singt. Wie jede Nacht, seit er sich in meinem kaputten Dachstuhl eingenistet hat, lausche ich seinem Lied, harre im dunklen und warte.