Seitenwind Woche 1: Gäste im Geisterhaus

Ich bin alt. Ich habe schon vieles gesehen. Aber sowas ist mir noch nicht untergekommen. Sie kommen zu fünft. Schwarze Schemen in der Nacht, die ihre Späße mit den Taschenlampen treiben. Als ob das noch irgendwen erschrecken könnte. Wartet ab, bis ihr Robert begegnet, dann wisst ihr, was Schrecken sind.

Die alte Eiche am unteren Tor fängt an zu heulen. Die Gute. Sie will sie warnen. Sie bewegt die Schaukel, langsam vor und zurück. Es ist ihre Art zu sagen ‚Geht nicht hinein‘.

Die fünf lässt das völlig kalt. Sie gehen unbeirrt weiter. Nur ganz kurz zögern sie, als sie vor meiner Tür stehen. Schon seit Jahren ist die nicht mehr verschlossen. Ich habe nichts zu verbergen. Na ja, außer Robert vielleicht. Aber der hat sein eigenes Schloss.

Sie drücken die Tür auf und ich halte den Atem an. Kein Ton kommt aus mir raus.

Dann passieren plötzlich mehrere Dinge gleichzeitig.

Die fünf Gestalten treten über die Schwelle. Meine Bodendielen knarren. Ein altes Haus wie ich kann schließlich nicht ewig still bleiben. Das jedoch schreckt Robert auf, der von seinem Dachboden herunterpoltert. Und was soll ich sagen, auch dieses Poltern scheint unsere Gäste noch nicht zur Umkehr zu bewegen. Zäh sind sie. Aber vor Robert werden sie nicht bestehen. Ich muss sie raus bekommen, bevor er sie sieht. Ich will niemanden hier haben. Ich will nur meine Ruhe.

Läute, meine geliebte Wanduhr, wie du seit Jahren nicht geläutet hast.

Gong, gong, kommt es blechern aus dem alten Wohnzimmer. Der Klang war früher mal voller. Aber wir werden alle nicht jünger.

Unsere Besucher suchen nach der Uhr. Robert ist gleich unten. Ich höre ihn zetern. ‚Du wirst sie nicht retten können. Diesmal nicht.‘

Vielleicht hat er recht. Diese fünf sind viel zu neugierig. Warum nur fürchtet die heutige Generation nichts mehr? Nichts macht ihnen Angst. Vor nichts haben sie Respekt. Vielleicht sollte ich sie wirklich einmal Robert überlassen.

Er ist unten angekommen. Ich höre seinen rasselnden Atem durch die Räume streifen. Dann ein klirrender Schrei, der mir den Putz aus den Fugen bröseln lässt. Hastig schwinge ich die Terrassentür auf, um ihnen die Flucht zu ermöglichen. Sie nutzen sie und laufen um ihr Leben. Die Taschenlampen bleiben zurück und verlöschen nach einer Weile.

‚Du hättest sie mir lassen können.‘, sagt Robert.

Aber ich will doch nur meine Ruhe.

Was macht er denn jetzt?!

Es ist ein herbstlicher Tag. Die hohen Bäume am Rabenweg nehmen gruselige Gestalten an und verstecken sich hinter einer dicken Nebelschicht.
Es klopft an der Tür. In diesem Moment öffnet sich knarred die uralte hölzerne Eingangstür, umgeben von Moos. Ein leises Quitschen ertönt. Schritte. Was nun kommt, lässt mir den Atem stocken. Ein alter Mann betritt mein Reich. Er ist verletzt. Beim Anblick auf sein blutiges Gesicht läuft es mir kalt den Rücken herunter. Stille. Der Alte sieht sich unsicher um. Dann steigt er langsam die jahrhundertealten Stufen zum Dachboden hinauf. Was will er denn dort oben? Als er oben angekommen ist, betrachtet er seelenruhig meine alten Ziegeln. Ich drohe jeden Moment einzustürzen. Der Verletzte geht weiter. Immer noch Stille. Und ich traue meinen Augen nicht: Er geht Richtung Fenster. Waghalsig öffnet er die klappernden Fensterläden. Und springt.

Es gibt solche Häuser und solche.

Hohe, tiefe, neue, alte, grosse, kleine, hässliche, schöne.

Und böse.

Ich bin nicht böse erbaut worden. Niemand hat schlechte Steine oder verdorbenen Mörtel verwendet. Niemand hat irgendeinen Zauber gesprochen oder mich verflucht.

Innerhalb meiner Mauern wurde Betrug, Folter und Mord geplant. Innerhalb meiner Mauern wurde betrogen, gefoltert und gemordet. Jahrhunderte zuhören und zusehen.

So bin ich geworden.

Ich kann Steine aus Mauern brechen, in Böden Abgründe hinab bis zur Hölle öffnen, Flammen durch Flure und Treppenhäuser fauchen lassen, mit Glocken zur Endzeit läuten und die Monster der Finsternis von der Leine lassen.

Oder ich kann nichts dergleichen tun.

Ich bin nicht zum Guten erbaut worden.

Niemand hat Kristalle eingemauert, geheiligte Erde verwendet oder Segnungen gesprochen.

Innerhalb meiner Mauern wurde geliebt, geboren, gelacht, getanzt. Es wurde geholfen und gepflegt.

Jahrhunderte zuhören und zusehen.

So bin ich geworden.

Ich kann kalten Wind abhalten, vor Regen und Schnee schützen, meine Mauern erwärmen und einen geborgenen Rastplatz bieten.

Was ich nicht kann?

Voraussagen, wen die Gruppe neugierig, schauer-fröstelnder Abenteurer, die den dornigen, halb zugewachsenen Weg in meine Richtung einschlagend, heute Nacht antreffen werden.

Paranormal goes digital

Heute ist ein guter Tag der Finsternis. Schwere dunkle Wolken ziehen auf, Blitze elektrisieren in der Ferne das Land, Spannung liegt in der Luft. Die menschliche Seele hängt dem Aberglauben an, dass Freitag der 13. Unglück und Ungemach bringt.
Da kann ich Euch bedienen, eure Erwartungsspannung lässt mich lebendig werden. Wer glaubt, dass Dinge keine Seele haben? In jedem Ding, sei es aus Stein geschaffen, aus Holz geschnitten, aus Ton geformt, steckt ein Stück Seele des Erschaffers. In jedem Tier, jedem Baum, jedem Pilz, steckt ein Stück des Schöpfers.
In meinen Mauern steckt die Bosheit, machtvoll und zerstörerisch. Geschaffen von den Händen eines grausamen Mannes, geduldet von dem Leiden einer unglücklichen Frau. Dieses Haus ist erbaut mit Ziegeln aus Habsucht, Gier und Eitelkeit. Das Dach ist gedeckt mit Lüge und die Fenster sind aus falschen Versprechungen. Die Dielen sind gelegt aus Schuld und Rechtfertigung.
Wer meint, dass Dinge keine Seele haben? Meine Seele ist so schwarz, dass kein Licht der Unschuld es noch erleuchten kann. Wer dieses Haus betritt, wird seine dunkle Seite ins Schwingen bringen.
Seit langem wieder fühle ich, dass sich zwei menschliche Seelen nähern. Die Menschen machen seit Jahrzehnten einen Bogen um das verlassene Anwesen, das mit einem hohen Zaun und giftigen Thujahecken umgeben ist. Im Herbst wachsen Hexenröhrlinge und gelber Knollenblätterpilz in der verwilderten Parkanlage, die das alte Gemäuer umgibt. Würde nicht schon der heulende Wind reichen, Neugierige abzuschrecken, die mich heimsuchen wollen?
Nein, sie rennen in ihr Unglück, suchen den ultimativen Kick, den „tripadvisor“ ihnen vom „Gruselhaus“ verspricht. Das war ein guter Schachzug von mir. Paranormal goes digital. Ein wunderbares Medium, Lichtphänomene, Elektronen, reine Energie. Wie geschaffen für eine paranormale Wesenheit. Die letzten Besucher konnten ihren Laptop nicht zur letzten Ruhe mitnehmen. Da habe ich mich in Wochen der Langeweile intensiv mit auseinandergesetzt. Vielleicht werde ich meine schwarze Seele hochladen.
Da kommen sie auch schon. Wie süß, mit Schlafsack, Tablet, um mich zu fotografieren, ihren Freunden von ihrem Abenteuer zu posten. Kommt, ihr schwachen Seelen, ihr seid Mein. Ich werde eure tiefsten Ängste heraufbeschwören, eure schlechtesten Charaktereigenschaften in Schwingung versetzen und es wird mir ein Festmahl sein, eure Seelen zu verspeisen, wenn ihr euch das eigene Grab schaufelt gleich neben den früheren Bewohnern und den folgenden Besuchern. Obwohl. Es wird ja langsam eng dort. Kommt, lasst euch verstören, betören, außer Fassung bringen. Mit ganz ungutem Gefühl werdet ihr die Augen schließen, euch an einander klammern und entsetzt sein, wenn ihr merkt, dass es kein Spiel ist. Rachsucht ist mein zweiter Vorname. Alles, was euch je verletzt hat, wird euch hochkommen, verzweifelt werdet ihr an euren Schuldgefühlen und Heimlichkeiten langsam zermürben, Misstrauen wird euch zerfressen und schließlich werdet ihr aufeinander losgehen in der Absicht, euch gegenseitig zu vernichten. Dann wird es Zeit, euer eigenes Grab zu schaufeln, in Paranoia und in Agonie.
Mal ehrlich, langsam langweilt mich die Masche. Als hätte ich nichts Besseres zu tun. Ich habe nun zweihundert Jahre Wanderer, Reisende, Flüchtlinge und Liebespaare in die Familiengruft transferiert. Ist ja ein schönes Spielchen, aber eine Bosheit meines Kalibers strebt nach Höherem.
Ich lade mich lieber gleich ins Netz. Hier kann ich mich entfalten. Zwietracht säen, Verzweiflung stiften, destruktives Unwesen treiben. Was soll ich mit zwei Abenteurern, wenn ich die ganze Welt infiltrieren, manipulieren, und korrumpieren kann. Ich fühle mich so herrlich lebendig, elektrisierend kreativ, machtvoll, destruktiv.
„Allow Access.“ Das ist doch mal ein Wort.
Die Abenteurer fanden das Haus verlassen vor und waren ein wenig enttäuscht.

Hausbesichtigung

„Geh mal zur Seite. Ich seh‘ nichts!“, drängte das Arbeitszimmer.
Die Schlafzimmertüre öffnete sich einen Spalt breit und Dämmerungslicht strömte über den Flur im 1. Obergeschoss dort hinein.
„Ich bin schon ganz aufgeregt. Endlich mal ein junges Pärchen. Und die sehen so glücklich aus.“, gluckste das Schlafzimmer.
„Hab‘ ich schon mal gehört.“, wetterte das Arbeitszimmer. „Das Letzte hat es keine sieben Jahre zusammen ausgehalten.“
„Und schau mal. Sie zeigt auf mich!“, frohlockte das Schlafzimmer.
„Ich freue mich schon auf einen neuen Gasherd. Das ist heute wieder voll im Trend“, sehnte sich die Küche in Gedanken.
„Ach, was. So wie die beiden aussehen, wird es erst einmal ein riesiges Kino-System für mich geben.“, plusterte sich das Wohnzimmer direkt neben der Küche im Erdgeschoss auf.
„Psst. Seid doch mal still!“, unterbrach das Dach. „Irgendetwas ist da noch!“

Cleo drehte sich auf dem Gehweg erneut im Kreis und betrachtete die Umgebung. Die Dunkelheit setzte langsam ein. Was tagsüber einladend wirkte, bekam einen leicht ungemütlichen Charakter.
Von der Gartenpforte hörte sie, wie Teile des Gebälks im auffrischenden Wind knarzten. Sie schaute auf das große Schlafzimmerfenster, als durch dieses plötzlich ein weiterer Lichtkegel erschien.
Sie zeigte mit einer Hand auf das Schlafzimmerfenster und klopfte mit der anderen Hand an Thomas‘ Schulter.
„Da hat wohl jemand ein Fenster offengelassen, Schatz!“
Thomas lachte und drehte sich zu Cleo hin.
„Ja, lass uns hoffen, dass das nur ein Fenster ist.“
Er nahm sie gewohnt lässig in den Arm und schaute über ihre Schulter auf den Kinderwagen hinter ihr.

„Oh, nein! Ein Kind!“, stellte das Arbeitszimmer mit enttäuschter Stimme fest.
„Ein Kind?“, fragte das Schlafzimmer.
„Toll! Ein Kind!“, feierte das Wohnzimmer diese Neuigkeit. „Dann gibt es zum riesigen Fernseher noch viele Spielsachen. Und vielleicht noch einen Hund.“
„Gemeinsam im Winter Apfelkompott mit Zimt kochen.“, träumte die Küche.
„Ein Kind ist auch noch dabei?“, raunzte das Kinderzimmer.
„Reißt euch ein wenig zusammen! Sie schauen schon ganz verängstigt zu uns! So wird das nichts mit der Renovierung.“, fauchte das Dach alle an.

Das Pärchen wartete geduldig vor der Gartentüre. Oder das, was hier früher mal eine Gartentüre gewesen sein muss. Die Maklerin hatte offensichtlich genug andere Objekte an dem Tag zu vermitteln. Überaus pünktlich war sie nicht.
„Lass uns noch fünf Minuten warten, dann rufe ich sie an!“, beruhigte Thomas seine Cleo.
„Mir musst Du das nicht sagen. Unserer Kleinen hier wird es im Kinderwagen langsam langweilig.“, kicherte Cleo.

„Nein. Nein. Nein. Nicht schon wieder rosa Tapeten, Alter! Allein bei dem Gedanken daran muss ich mich übergeben.“, beschwerte sich das Kinderzimmer.

Ein lautes Klopfen zog die Aufmerksamkeit von Cleo und Thomas auf sich. Sie schauten kurz hoch, um sich zu orientieren und beobachteten, wie ein Fensterladen auf der linken Gebäudeseite erneut auf- und zuklappte. Das wiederholte sich drei, vier Mal. Dann brach die obere Halterung vom Fensterladen ab.

„Kannst du dich nicht einmal benehmen? Was soll der Quatsch mit dem Fensterladen schon wieder?“, ärgerte sich das Dach.
„Du hast leicht reden. Du bekommst sicherlich nicht irgendwelche quietschig-farbigen Papierstreifen, bei denen man dauern reihern muss.“, blökte das Kinderzimmer.
„Ich kann es nicht mehr hören. Du wolltest doch immer ein Kinderzimmer sein. Doch auch das passt Dir nicht. Und mit den anderen Zimmern willst Du auch nicht tauschen. Was willst Du überhaupt?“, donnerte das Dach wütend.
Dabei regte es sich so sehr auf, dass ihm ein Dachziegel entglitt.

Nachdem der halb herunterhängende Fensterladen endlich zur Ruhe kam, klapperte etwas vom Dach. Es war deutlich zu hören, aber Cleo und Thomas erkannten noch nichts.
Dann ein metallisches Klopfen direkt an der Regenrinne.
Die beiden verfolgten einen rötlichen Gegenstand, der dort eben abgetropft war und sich in den freien Fall begab.
Zielsicher traf der Ziegel das letzte Scharnier, an dem der Fensterladen vom Kinderzimmer hing, zersprang in zwei Teile und flankierte den herabfallenden Fensterladen.
Dieser krachte mit einer Ecke auf das Fensterbrett der Küche im Erdgeschoss, zerbrach und landete geräuschvoll im Gestrüpp.

„Ich denke, ich rufe sie gleich an.“, nickte Thomas zu Cleo.

176 Raven Quarters, Nevada 2082

Als ich den Stacheldraht rascheln hörte, ahnte ich bereits, dass es einer dieser Tage werden würde. Meistens verschwanden die Halbstarken wieder, die es geschafft hatten die Mauer meines Grundstücks zu erklimmen, aber heute sah ich, wie zwei Jungen und ein Mädchen in meinem Vorgarten landeten. Man kann es übertrieben finden, dass ich einen Parkplatz als Vorgarten bezeichne, aber seit es die Salzbüsche geschafft hatten, durch die Risse im Asphalt zu sprießen, nannte ich ihn so. Kaum hatte ich die drei Eindringlinge aus dem Blickfeld der Kamera an der Einfahrt verloren, tauchen sie im Treppenhaus wieder auf. Nichts hinderte sie. Das Alarmsystem der Notausgänge funktionierte schon lange nicht mehr, zumindest nicht mehr, seit die ersten Bomben gefallen waren. Vor dem Krieg hatten meinesgleichen und ich auch noch nicht geahnt, dass wir für Menschen gefährlich sein konnten. Sicherlich hatte der eine oder andere Angestellte mich schon als Mordinstrument missbraucht, allerdings immer mit einem Sprung vom Dach oder einem beherzten Schritt aus dem Fenster. Doch nachdem die erste Explosion einen Teil meiner einst so stattlichen Fassade beschädigt hatte, hörten die Menschen in meiner Nähe nicht mehr auf zu husten. Viele von ihnen spuckten Blut, bis sie plötzlich zusammenbrachen. Ich kann kaum in Worte fassen, wie sehr mich das schockierte. Meine Nachbarn berichteten von ähnlichen Szenen. Es dauerte ein paar Wochen, bis eine Gruppe Menschen in Schutzanzügen die Trümmer meiner Thermoputz-Fassade untersuchten. Das, was sie miteinander besprachen, war niederschmetternd. Obwohl ich ein Trendsetter in Sachen Wärmedämmverbundsysteme gewesen war, musste ich erkennen, dass gerade der bahnbrechende Thermoputz mit Nanotechnologie ein echtes Problem darstellte. Der einstige Schaum war schon nach sechzig Jahren porös geworden und jeder Mensch, der seinen Nanostaub einatmete, schien schwere Folgen davon zu tragen. Meine Fassade war also ein gefährliches Experiment und nicht der versprochene Durchbruch in der Materialforschung. Aus diesem Grund hatte man mich mitsamt den restlichen Gebäuden der Raven Quarters zur Sperrzone erklärt.
In der heutigen Nacht hatten die drei Teenager es scheinbar darauf abgesehen, sich in Vandalismus zu üben. Sie schleuderten Bürostühle gegen die letzten intakten Verglasungen der Stillarbeitsplätze und versuchten sich auch daran, einen der Sprinkler durch Zigarettenrauch auszulösen. Natürlich gab es schon lange kein Wasser mehr in den Leitungen. Ich seufzte durch das Entlüftungsrohr meiner Klimaanlage. Irgendwie musste ich sie verscheuchen, bevor sie auf die Idee kamen, die Ostfassade zu besuchen. Dort lagen die meisten der todbringenden Fassadentrümmer herum. Viel meiner damals richtungsweisenden Haustechnik war mir nicht geblieben, also versuchte ich es mit den Jalousien. Hakelnd ließ ich sie hoch- und runterfahren, was dazu führte, dass die drei ungebetenen Gäste plötzlich innehielten und aufhorchten.
Der Junge mit der Zigarette schaute sich entgeistert um. »Wieso gibt’s hier noch Strom?«
»Das ist bestimmt ’n Solar-Dings auf’m Dach«, erklärte das Mädchen angestrengt, »mit Batterie und so.«
Der zweite Junge streckte die Hand nach meiner Jalousie aus und versuchte, seine Kräfte mit ihr zu messen, indem er sie unten festhielt. Da mir nichts Besseres einfiel, ließ ich sie so weit wie möglich herunterfahren.
Schockiert über die Kraft der Motoren zog er seine Hände weg und wich zurück. »Scheiße, was soll das denn?!«
Natürlich hätte ich ihm die Finger nicht eingeklemmt, aber ich musste diese armen Tunichtgute irgendwie loswerden.
»Mann, stell dich nich’ so an!«, belehrte ihn der Zündler.
Die kurze Pause nutzte ich für mein zweites Kunststückchen: Mit einem Mal schaltete ich sämtliche Beleuchtung im Großraumbüro ein, bis auf die großen Pendelleuchten über den Konferenztischen, denn ich befürchtete, der hohe Einschaltstrom könne eine Sicherung springen lassen. Die Teenager schauten sich erschrocken um, vermutlich im Glauben, ein Security hätte sie entdeckt, und rannten in den Flur – leider in den Falschen.
Ich gab ein paar wüste Flüche von mir, die nur wir Gebäudemanagementsysteme verstehen. Das Mädchen und der Junge, den ich mit der Jalousie erschreckt hatte, gelangten als erstes zum großen Loch in der Ostfassade. Sie machten bereits Anstalten, über die Fassadentrümmer zu klettern, um auf das Dach der Eingangslobby zu springen. Wenn es doch nur einfach zu regnen anfinge. Aber ich wusste, dass es an meinem Standort fast nie regnete. Die Wetterstation auf dem Dach registrierte 18°C bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 29% – keine Chance auf Niederschlag. Als der Junge mit den Zigaretten endlich zu seinen Mitstreitern aufschloss, stolperte er so ungeschickt über ein Kabel, dass er mitten in einen Haufen der Bruchstücke fiel. Ich sah die riesige Staubwolke, die er dabei aufwirbelte. Eingehüllt von den silbrigglänzenden Partikeln musste er immer wieder husten, während er sich aufrappelte und den anderen hinterher kraxelte. Das Mädchen, dass inzwischen den Vorgarten erreicht hatte, wedelte gegen den Staub, den er wie eine Schleppe mit sich trug. »Mann, ey! Was’n mit dir passiert?« Auch sie hustete.
Ich beobachtete, wie sich das Dreiergespann mühsam über die Mauer kämpfte. Der Junge, der immer noch silbern glänzte, verließ als letzter mein Grundstück, aber er würde als Erster die Symptome zeigen.
Sie konnten nicht weit gekommen sein, als ein entsetztes Kreischen durch die Nacht hallte. »Ist das Blut?!«
Ja, es war leider wie immer. Ich konnte nur warten und hoffen, dass irgendwann entweder ein Abrisskommando aus Robotern oder der lang ersehnte Schauer kommen würde.

Zecken

„Zecken“ hat die Villa von nebenan sie genannt. „Sie nisten sich in dir ein, trampeln auf deinen Böden herum, hämmern und bohren dir die Wände kaputt! Und dieser Lärm! Tagsüber reden sie unentwegt, und nachts schnarchen sie, dass dir der Dachstuhl wackelt!“

Ich mag Menschen. Es kribbelt so schön, wenn sie in mir laufen. Am Schönsten, wenn sie barfuß sind. So patsch, patsch, patsch auf meinen Dielen. Da wird mir ganz wohlig! Da bin ich mit ihnen verbunden. Wie mit dem Regen, wenn er mir aufs Dach platscht. Oder dem Wind, wenn er durch meine Ritzen ein Lied pfeift.

Aber es wohnt schon lange niemand mehr in mir. Ich bin leer. Nutzlos. Hässlich! Abgeplatzter Putz. Zersplitterte Fenster. Schmierereien überall! Menschen, die mich verunstalten, die mag ich nicht! Die hasse ich! Aber ich wehre mich nicht. Die Villa nebenan hat es getan. Hat mit Dachziegeln nach ihnen geworfen. Und was hat es ihr gebracht? Der nächste Sturm hat weitere Ziegel weggerissen. Der Regen kam hinein. Dann kam der Schimmel. Zum Schluss die Bauaufsicht. Letztes Jahr haben sie sie abgerissen. Ich höre noch ihren letzten Schrei, als sie in sich zusammenstürzte: „ZECKEN!“

Ist nicht so schlimm, dass sie weg ist. Ernsthafte Gespräche konnte ich nicht mit ihr führen. Nur Belanglosigkeiten!

Da kommen Menschen! Zu mir! Sie schauen sich um, gestikulieren groß. Ich verstehe nicht, was sie sagen. Aber sie sind sehr interessiert. Das sehe ich. Ja! Kommt rein, schaut euch um, erkennt meinen Charme! Zieht bei mir ein! Ich freue mich auf eure nackten Füße auf meinem Parkett!

Ich verstehe immer noch nichts. Sie falten ein Papier auf. Ein Plan vom Grundstück! Ein Swimmingpool! Sie wollen einen Swimmingpool bauen! Oh, der wird mir gut stehen! Mit einem gepflegten Rasen dazu! „Schaut“, werden die anderen Häuser sagen, „sie hat jetzt einen Pool, und habt ihr diesen tollen Rasen gesehen?“

Ich liebe euch, ihr Menschen!

Wie sie mich wohl anstreichen werden? Weiß, so strahlend, dass es fast schon blendet? Oh, ein pastelliges Gelb wäre ein toller Kontrast zu meinem blauen Dach! Und die Türen bitte zinnoberrot! Mit goldenen Beschlägen! Edel, aber nicht zu pompös!

Sie haben so ein Computer-Dings dabei. Groß wie ein Atlas, aber nicht so schwer. Da schauen sie alle drauf. Sie sehen glücklich aus dabei. Ist das ein Bild von mir, wie sie mich wieder schön machen wollen? Lasst mich sehen! Ich will auch!

Wartet … Das bin doch nicht ich. Das … das passt so doch gar nicht. Zu schlank. Aber eine Etage mehr. Eine Hälfte steh auch gar nicht auf meinem Fundament!

Die wollen doch nicht etwa …?

Ich bewerfe sie mit Dachziegeln.

„IHR ZECKEN!“

»Entschuldigen Sie bitte, ich suche den Rabenweg 32. Können Sie mir sagen, wie ich dahin komme?«
Die ältere Dame taxierte erst den teuren BMW, dann den Fragesteller.
»Der alte Landsitz? Bleibense bloß weg, dort sterben die Leut’!«, antwortete sie mürrisch. Ihr schien plötzlich ein Gedanke zu kommen, denn ihr Gesicht leuchtete vor Interesse auf. »Oder ist schon wieder was passiert? Sind Sie von der Polizei?«, fragte sie mit fast hoffnungsvollem Unterton.
Der Fahrer lachte und schüttelte den Kopf.
»Nein, ich will mir den Bau nur mal ansehen.«
»Ach, wieder so’n Spinner«, murmelte die Dame mehr zu sich selbst. Innerhalb der nächsten zehn Minuten wurde er nicht nur mit einer genauen Wegbeschreibung, sondern auch mit einem Überblick sämtlicher Geschichten versorgt, die man sich im Ort erzählte. Wie guter Wein waren sie erst über die Jahre zu voller Dramatik und vollmundiger Blutrünstigkeit herangereift.

Ich lauschte träge dem üblichen Gezänk der Raben in der Mittagssonne, als ein störendes Geräusch immer näher kam. Eine dieser lauten Blechkisten hielt auf meinem Vorplatz und ein Mann stieg aus.
Wieder so ein lästiger Kerl! Entweder wollten sie ihren Mut beweisen, meine Fenster einwerfen oder etwas stehlen. Einmal waren sogar drei selbsternannte Geisterjäger hier gewesen, die einem seltsamen, schwarzen Kästchen erzählten, dass sie »eine Dokumentation über das hässliche Spukhaus« drehen würden. Überall schnüffelten sie herum. Ein heimlich nach oben verschobenes Dielenbrett am oberen Treppenabsatz sorgte dafür, dass sie einen weiteren Geist jagen konnten. Sogar einen, zu dem sie eine persönliche Beziehung hatten.
Der Kerl zog die Sonnenbrille ab und musterte meine Fassade. Die Gesichtszüge ähnelten denen meines Erbauers, sogar das Haar hatte fast die gleiche Farbe.
Komm nur rein und ich sorge auch für das gleiche Ende.
Doch er hatte es nicht eilig. Er klopfte mit einem kleinen Hammer an verschiedenen Stellen meiner Außenmauern, rüttelte an meinen Balken und machte sich zwischendurch immer wieder Notizen. Danach wollte er die Haustür öffnen. Natürlich verhinderte ich das. Erst als er sich mit der Schulter dagegen warf, gab ich den Widerstand auf, so dass er mit Schwung hereinstolperte und der Länge nach auf dem Boden landete. Leise schimpfend stand er wieder auf und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern.
»Na, na, na! Ein artiger Landsitz macht aber sowas nicht«, tadelte er sanft.
Ich war überrascht. Andere hätten geflucht wie Droschkenkutscher, doch er sprach mich direkt an. Wusste er etwa …? Ich beschloss, abzuwarten und weiter zu beobachten.
Er setzte seinen Rundgang fort. Vorsichtig schritt er um den herabgefallenen Kristalllüster im Salon herum, als wäre er bedacht, keinen zusätzlichen Schaden anzurichten. Da und dort klopfte er mit seinem Hammer Wände ab, prüfte, wie stabil die Balken und Treppen waren, und notierte alles. Weder respektloses Durchwühlen meiner vermoderten Schränke, noch Vandalismus. Ungewöhnlich. Nach ungefähr drei Stunden beendete er seine Inspektion und blickte sich einmal um. Und dann schaffte er es abermals, mich zu verblüffen: Er tätschelte mein gedrechseltes Geländer und sagte fast liebevoll: »Dich bekommen wir schon wieder hin, versprochen! Ich werde mich um dich kümmern und du wirst erneut in altem Glanz erstrahlen.«
Er verließ das Gebäude und fuhr davon. Ich blieb mit vielen Gedanken zurück. Was hatte das zu bedeuten? Meinte er das wirklich ernst? Ich wollte daran glauben, aber meine Erfahrungen mahnten zur Vorsicht. Der Erbauer hatte auch immer freundlich getan und mich doch verraten.

Aber er hielt Wort. In den folgenden Monaten gingen Handwerker ein und aus. Die alten Möbel und der Kronleuchter wurden abtransportiert. Maurer besserten die Lücken aus, brüchiger Mörtel wurde ersetzt. Zimmermänner tauschten morsche Balken aus und entfernten diesen grässlich juckenden Hausschwamm hinter der Holzvertäfelung im Schlafzimmer. Installateure und Elektriker kümmerten sich um meine Adern. Und fast täglich kam er vorbei, meist gegen Abend. Er kontrollierte die Fortschritte und legte immer noch selbst Hand an, nachdem die Handwerker längst gegangen waren. Er summte dabei fröhlich vor sich hin und wenn er sich ein Detail betrachtete, dass nicht fertig war, lächelte er und sein Blick wurde verträumt, als könnte er das Ergebnis bereits sehen.
»Du wirst der schönste Landsitz weit und breit werden! Ich kann den Einzug kaum abwarten!«
Das war der Moment, wo ich meine Vorsicht ihm gegenüber vergaß.

Die Renovierung zog sich dahin. Ich ließ ihn und die Bauarbeiter gewähren, im Ort warteten die Leute sicher schon begierig auf ein neues Unglück, das man sich schaudernd beim Bäcker erzählen konnte. Doch ich verhielt mich mustergültig, versuchte sogar, den Handwerkern ihre Arbeit zu erleichtern, soweit es mir möglich war. Gärtner stießen dazu, die das wilde Gestrüpp entfernten und durch neue Pflanzen ersetzten. Und immer wieder war er da, kümmerte sich um jedes Detail, korrigierte die Handwerker, damit alles seinen Vorstellungen für mich entsprach. Mein Misstrauen war längst verschwunden, ich freute mich, wenn ich ihn sah. Er hätte mein Erbauer sein sollen. Er sorgte sich um mich, konnte es kaum abwarten, dass die Arbeiten abgeschlossen waren. Und ich träumte davon, dass er endlich bei mir einzog, nur der Erbauer und ich. Er würde nach mir sehen und ich würde ihn schützen, vor Wind, Wetter und Menschen, die ihm Böses wollten. Wir würden Empfänge abhalten und rauschende Feste geben, ganz wie in alten Zeiten.

Die Renovierungsarbeiten kamen zum Ende. Er lud die Handwerker auf einen Grillabend ein, für mich ein Vorgeschmack auf die künftigen gesellschaftlichen Ereignisse. Nachdem alle gegangen waren, drehte er alleine eine Runde durch die Zimmer. Hier und da nickte er schweigend und lächelte, strich sanft über die erneuerte Holzvertäfelung und mein renoviertes Geländer. Bevor er ging, wandte er sich in der Haustür noch einmal um, sagte: »Morgen habe ich eine Überraschung für dich« und hinterließ mich kribbelig und voll freudiger Erwartung.
Ungeduldig wartete ich die Stunden ab, erfüllt mit wilden Vermutungen, was er wohl geplant hatte. Der Erbauer war beim ersten Licht zurück. Zwei große, stinkende Blechkisten folgten ihm und Arbeiter begannen sie auszuladen. Meine Möbel! Manche Originale waren aufwendig restauriert worden, neu angefertigte hatten den gleichen Stil kopiert.
Ich war überwältigt. Doch die größte Überraschung stand mir noch bevor. Gegen Mittag kam ein weiterer Wagen. Der Inhalt, eine große Holzkiste, musste durch das neue Panoramafenster hereintransportiert werden. Die Arbeiter öffneten sie und ich war schlicht sprachlos. Mein Kristalllüster, gereinigt, generalüberholt, glitzernd und gleißend in den Strahlen der Nachmittagssonne! Zwei Stunden später nahm er wieder seinen Stammplatz an meiner Decke ein.
»Jetzt bist du perfekt. Oh, ich kann es kaum abwarten, endlich hier zu wohnen!«, sagte er, nachdem die Arbeiter gegangen waren.
Auch ich war voller Erwartungen und Hoffnungen.

Am übernächsten Tag war es so weit. Ich erkannte seinen Wagen inzwischen schon am Motorengeräusch. Nun würde er endlich einziehen und unser gemeinsames Leben konnte beginnen! Meine Laune erhielt einen schweren Dämpfer, als sich die Beifahrertür öffnete und eine langbeinige Schwarzhaarige ausstieg.
»Na, was sagst du dazu?«
»Wozu?«
»Das ist unser neues Zuhause.«
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch, schau es dir mal von innen an.«
Er nahm sie hoch und trug sie über die Schwelle. Er zeigte ihr das Erdgeschoß und als Höhepunkt meinen Salon mit dem funkelnden Kristalllüster. Sie standen genau darunter, als er sie enttäuscht fragte: »Gefällt es dir nicht?«
»Wie kommst du darauf, dass dieser hässliche, alte Kasten mir gefallen könnte? Noch dazu in dieser trostlosen Einöde! Das ist doch gar nicht mein Style!«
»Hey, Schatz, du bist das Schönste und Wichtigste für mich. Dann verkaufen wir den Kasten eben wieder«, sagte er beschwichtigend und küsste sie.

Verrat! Unbändige Wut tobte in mir. Wie konnte er diese Schlampe mir vorziehen? Bebend vor Zorn löste ich die Befestigungen und ließ ihnen meinen Kronleuchter durch den Kopf gehen. Das Blut auf dem Parkett brachte mir eine seltsame Befriedigung.

Nicht jeder Landsitz ist männlich. Ich bin eine anspruchsvolle Geliebte. Und eine eifersüchtige.

Ich weiß, dass ich bald abgerissen werden soll. Zur Zeit wohnt nur noch die alte Frau in mir. Heute kommen ihre missratenen Kinder mit ihren finsteren Zukunftsplänen zu Besuch…

SCHATZSUCHE

„FUCK, ich geh da nicht rein! Es ist mir scheißegal, ob in dieser Geisterruine ein Schatz vergraben ist! Hört ihr, ich scheiß drauf und geh zurück!“
Was sehen meine trüben Augen? Nachschub! Endlich!
Das letzte Mal ist verdammt lange her!
Eine blutjunge Frau schüttelt ihr zartes Köpfchen wild hin und her. Oh,nein schimmern in ihren Augen etwa Tränen?
Was für ein wunderschönes elfenhaftes Gesicht sie hat.
Ich sehe es sofort. Sie ist etwas ganz besonderes…
Bald wird sie mir gehören! Sie weiß es nur noch nicht…
Zwei halbstarke Möchtegernkerle quatschen wild auf sie ein.
Noch ist alles offen.
Werden sie freiwillig über meine Schwelle treten?
Oder muss ich ein wenig nachhelfen?
Zur Sicherheit lasse ich schon mal das rostige Gartentor zufallen…klack…abgeschlossen…
Willkommen Zuhause!!!

Kaltes Haus, unbewohnbar

Nach Außen bin ich abgegrenzt. Solider Stein, Ziegel auf Ziegel, sicher verfugt.
Innen hat sich leider vieles aufgelöst. Seit einiger Zeit weiß ich nicht mehr, wo ein Zimmer beginnt oder endet. Nicht einmal die Stockwerke fühlen sich stabil an. Ich fühle, dass die Decke der zweiten Etage teilweise auf dem Boden der ersten liegt.
Das ist unangenehm. Ich bin zittrig und schwach. Mir fehlen die Menschen. Sie wohnten in mir. Dazu ist ein Haus doch da? Um bewohnt zu werden? Und doch war ich gezwungen, sie zu vernichten. Eine Brut nach der andern musste ich ausmerzen, denn sie wohnten falsch. Es blieb mir keine andere Wahl. Ich bin ein geduldiges Gebäude, doch es gibt Grenzen. Ein Zimmer steht neben dem andern, so wurde ich gebaut. Entnimmt man meinen Wänden das Gebälk, werde ich geschwächt. Ein unangenehmes Gefühl. Natürlich erschlug ich deshalb noch keinen Menschen. Ich bin doch nicht brutal. Nein, ich wies mehrmals dezent darauf hin, dass mir flau in den Wänden war.
Was ist denn jetzt? Ich fühle etwas. An der Vordertür. Eine meiner Schwachstellen. Es wird daran gerüttelt. Könnten das Menschen sein? Neue Bewohner? Wird nun alles wieder gut? Vielleicht reparieren sie mich. Nein. Bewohner rütteln nicht an Türen, oder wie jetzt gerade, an den Fensterläden im Erdgeschoss. Bewohner haben einen Schlüssel. Sie kommen mühelos herein und rufen: „Oh, wie schön! So viel Platz! Diese herrliche Treppe! Ist das Kirschholz?“
Es ist Mahagoni. Leider hab ich nicht mehr alle Stufen beieinander. Die Feuchtigkeit ist schlimm. Sie zersetzt meine Wände. Ein schwarzes Geflecht wächst vom Keller empor. Bald wächst es bis zum Dach herauf. Es wächst aus dem verwesenden Schleim heraus, der den Kellerboden bedeckt. Mein Keller schmerzt. Es tut weh, vom Fundament an aufwärts. Kein Mensch kam und hat die Leichen entfernt. Und man heizt mich nicht mehr. Ich bin so kalt geworden.
Aha. Sie sind eingedrungen. Ein Fensterladen war lose. Das weiß ich schon lange, kann mich schließlich nicht selbst reparieren. Ich fühle ihre Schritte, wie viele sind es? Zwei? Eher drei. Ohne Schlüssel darf ich nicht betreten werden. Diese Menschen sollten nicht hier sein.

Ihr wollt wissen, wie ich glücklich wurde?

Nun, vorerst sei gesagt, dass es recht schwierig ist, die passenden Bewohner zu finden. Zumindest für ein Anwesen, das schon viele Jahrzehnte auf seinem Fundament hockt, dem die Dachschindeln immer spärlicher werden und dessen Farbgestaltung sich ins rustikal-antike verändert hat.

Meine letzten Gäste konnte ich so gar nicht von meinem Charme überzeugen.
Natürlich begrüßte ich sie gleich und öffnete ihnen freudig das Eingangstor. Das krächzende Quietschen dabei hat Charakter, wurde mir gesagt, ich solle es unbedingt belassen.
Auch ließ ich vor Freude die Fensterläden klappern und das Licht im Takt der „Ode an die Freude“ flackern. Doch selbst mein Begrüßungskomitee brachte nicht den gewünschten Erfolg. Dabei war ich doch so wählerisch bei meinen Haustieren: die fetten schwarzen Spinnen, die nachtkschwänzigen und kuschelbedürftigen Nagetiere und natürlich die aktivsten Fledermäuse, um auch nachts, wie sagt man doch so schön, leben in die Bude zu kriegen.

Wahrscheinlich waren die Gäste, wie die davor und die davor, Haustieren nicht sonderlich geneigt. Dabei stand im „Besser Wohnen“, das Haustiere das “must have" sind, um für seine Bewohner der “place to be" zu sein…

Andere Dinge funktionierten auch nicht so gut: das nächtliche, lauschigen Scharren über den Dielenboden wirkt eher kontraproduktiv und nicht schlaffördernd, die lustigen Schattenspiele wurden insofern freudig aufgenommen, wenn man Freude mit Luftanhalten, starren geweiteten Blick und Freudenschweiß definiert, und auch spontanes schnelles Tür zuschlagen, ein Zeichen von Proaktivität und Lebhaftigkeit, wurde scheinbar als Aufdringlichkeit verkannt. Letztlich entpuppte sich auch der Friedhof im Keller als ortsnahe Bestattungsmöglichkeit doch nicht als das Vertriebsbonbon.

Ich wollte ja meine Bewohner aus dem Häuschen bringen, aber doch nicht wortwörtlich.

So wurde ich wieder verlassen. Wozu das führt, kann man beim alten Landhaus am Ende der Straße sehen: einfach zusammengebrochen! Ein Sturmschaden, ein Unfall, so der offizielle Bericht – ja klar. Wenn ihr mich fragt, war es Selbstabriss, aber das darf man nicht laut aussprechen.

Was sollte ich tun? Nur weil ich nicht mehr alle Latten am Zaun habe, einen Dachschaden besitze und es im Oberstübchen zieht ist man doch nicht gleich abgeschrieben. Beim mächtigen Donnerbalken, ich habe alles versucht, glaubt mir, aber letztlich ging ich zum Makler (wer macht das schon gerne?) und er sagte nur: Du bist ne alte verwunschene Bruchbude, leb damit. Also inserierte ich so, genau so.

Nicht viel später klingelte eine Interessentin. Ich bot ihr gleich das komplette Programm: quietschende Tore, klappernde Fenster, flackernde Lichter, niedliche Tierchen und ein frischer süßlicher Duft aus dem Keller, ihr wisst schon, vom Friedhof.
Zu meiner Freude lächelte sie maliziös mit spärlich besetzte Zahnreihen. ihre blickfüllende Warze dominierte ihr nach Grünspan schimmerndes Gesicht, sofern man das unter der breiten Hutkrempe erkennen konnte.
Sie berührte mich mit ihrer schwieligen Hand am Türrahmen, strich sanft darüber, kratzte leicht (aber sehr angenehm) mit recht ungepflegten Nägeln, und hauchte in der Melodie eines Reibeisens: Du bist perfekt!

Besucher in der Nacht:

Ich mag diese kühlen Abende nicht, in denen ich allein dahinvegetiere. Warum hat man mich verlassen? Habe ich denn nicht alles getan, um gemütlich zu sein? Damit meine Bewohner sich wohlfühlen? Jetzt bin ich hier, die Natur versucht, mich sich zurückzuholen. Immerhin will mich keiner mehr, man hat mich schon vor langer Zeit verlassen. Ich denke an die spielenden Kinder zurück, die Familien, die hier schöne sowie harte Zeiten verbracht haben. Jetzt Efeu der frisst meine Fassaden, die Risse schmerzen. Meine Fensterläden klappern traurig im Winde.
Plötzlich höre ich Schritte. Gemurmel nähert sich mir. Doch ich bin mir sicher, sie werden vorbei gehen. Ich werde keine Bewohner mehr beherbergen, dessen bin ich mir sicher. Ich verschließe mit aller Kraft meine Fensterläden und stelle mich auf eine feuchte kalte Nacht ein.
Plötzlich berührt mich etwas. Eine Hand, die meinen Türgriff unterdrückt. Ich glaub es nicht! Sie haben mich nicht übersehen!
»Seht mal, was für ein schöner Lost-Place!« Sagt eine angenehme weibliche Stimme. Sie holt eine Kamera raus und fotografiert meine abgetretene Treppe, die in das dunkle Obergeschoss führt. Zwei weitere Personen treten über meine Schwelle.
»Und einen Kamin gibt es hier auch«, ruft einer der männlichen Besucher erfreut. Ein Feuer, das wäre jetzt etwas wirklich schönes. Lange habe ich die Wärme meines Kamins nicht mehr spüren dürfen. Ich bemühe mich, möglichst gemütlich zu wirken. Hoffentlich bleiben sie, wenigstens für eine Nacht, hoffe ich inständig. Zwei weitere Abenteurer betreten mich. Einer schaut skeptisch, doch ich bin nicht einsturzgefährdet. Wirklich nicht! Ich werde euch nicht verletzen! Versuche ich zu sagen. Natürlich hört mich keiner. Zu meiner Freude breiten sie eine große Decke vor dem Kamin aus und machen tatsächlich ein Feuer! Ich genieße es, wie die Trockenheit in meinen Wänden weniger wird. Wie schön es doch ist, nicht alleine zu sein!
Es wird gelacht, fotografiert, Spiele gespielt und viel gesprochen. Tiefsinnige Worte fallen, über Sachen, die ich nur zum Teil verstehe. Nach einem langen Abend gehen meine Besucher schlafen. Ich genieße die Gesellschaft in vollen Zügen. Beobachtend passe ich auf, dass keinem meiner Gäste was passiert. Eine Ratte, die sich an den Essensresten zu schaffen machen will, verjage ich mit einem leichten Windhauch. Erbost quiekend rennt sie davon. Ansonsten ist es ruhig.
Am Morgen merke ich mit bedauern, dass sie sich für den Aufbruch bereit machen. Sie lichten mich noch mehrmals ab, diese Aufmerksamkeit tut meinen alten Wänden wirklich gut! Mit einem letzten Schulterblick verlassen sie das Gelände und treten aus dem gebrechlichen, rostigen Tor, dass mein Anwesen eingrenzt.
Jetzt heißt es warten. Wann wird wohl wieder jemand vorbeischauen und mir Gesellschaft leisten?

Neulich im Penrhyn Castle in Llanfairpwllgwyngyll

„Jaa, lauft ihr nur ihr Pfeifen! Huiii! Mein Gott was für langweilige Angsthasen. Ein einziger affiger, leicht von links eingedrehter Worchester-Brüller mit gerade einmal 143 Dezibel und weg sind sie! Wenn ich richtig gezählt habe, dann ist das mit nur 75 Sekunden eine neue britische Jahresbestzeit im Abhauen! Ich sollte das echt mal der Zeitung melden. Ein Skandal! Solche Luschen sind keine Herausforderung, sondern verplempern nur meine kostbare Zeit!“

Das halb zerfallene Penrhyn Castle rüttelt sich, schüttelt sich, klopft im Regen mit dem Schornstein den Taubendreck vom Dach und lässt sich wie ein junger müder Hund, der sich erst umständlich dreimal vor dem Kamin dreht, in seine fotogen-düstere Ausgangsstellung eines amtlichen Geisterschlosses zurückfallen.

Rumms!

„Du bifft gar nift so böfe, wie du tufst.“
Das Schloss reißt die Fensterläden auf und schaut grimmig um sich. Wer war das?
„Iff glaube Du biffst nur allaiiin und ganff doll traurig“
Wütend zieht sich Penrhyn Castle erst zusammen, um dann sofort weit die Höhe zu schnellen. Jetzt erst entdeckt das Schloss durch die dampfende Nässe ein kleines Mädchen mit rotem Regenmantel direkt vor sich und biegt sich mit einem grässlich quietschenden Ton bedrohlich hinunter zu ihr ans Eingangstor. Sie steht mit leichten X-Beinen einfach so da und schaut sich durch ihre Brille unbeeindruckt mit großen Augen das ganze Spektakel an.
„Iff bim Liffy un Duu?“, nuschelt das Mädchen, nimmt den riesigen runden Lolly aus dem Mund, lächelt entschuldigend zum Turmfenster hinauf und wiederholt noch mal verständlicher: „Entschuldigung! Ich bin Lilly und wie heißt Du?“
Einen kurzen Augenblick hält das Schloss irritiert inne, um dann routiniert grässlich zurück zu donnern: „Ich bin Llanfairpwllgwyngyll. Der gruseligste Ort auf Anglesey!“
Lilly neigt den Kopf ein wenig zur Seite und versucht, den Namen auszusprechen. Auf halber Strecke stockt sie und verhaspelt sich, hat eine Idee, zwinkert keck und steckt sich den Lolly wieder in den Mund. Diesmal klappt es.
„Llanfairpwllgwyngyll“, brüllt sie dem Schloss entgegen. „Was ist das nur für ein doofer Name? Das kann doch kein Mensch aussprechen! Hast Du vielleicht auch einen Spitznamen?
Der Schornstein von Penrhyn Castle muss dreckig lachen und spuckt einen Schwall kalten Rauchs aus dem Kamin. „Also hör mal“, klappert es jetzt aus den Kellerfenstern. „Ich bin ein respektables konservatives Spukschloss! Ich habe doch kein Kosenamen. Schließlich muss ich ja auch Angst machen!“
Lilly klatscht vergnügt in die Hände und lacht. „Mit einem solch lustigen Namen kann man doch keine Angst machen! Du bist bestimmt eine Mata Forgana! Ich weiß so etwas, weil Mama mir nämlich immer aus einem Buch vorliest, in dem es Scheinriesen gibt. Alles Fata Morganas! Bist Du auch so etwas?“
„Nein, bloß nicht! Das sind alles Stümper im Vergleich zu mir. Ich bin ein amtliches britisches Qualitätsgespensterschloss der Klasse A-12 mit der Lizenz zum Hüpfen auf der Stelle und der Zusatzqualifikation das Wetter im Umfeld von 1,3 Meilen verändern zu dürfen.“
Nach einer kurzen Pause dann:“ Soll ich es für Dich mal gleichzeitig regnen, donnern und blitzen lassen?
„Nee Llanfairdingensda, warte noch!“ Lilly trippelt hin und her. „Zeig es mir gleich. Ich muss vorher aufs Klo! Muss schon die ganze Zeit! Hast Du vielleicht so etwas bei dir da drin?“ Sie deutet auf das alte hölzerne Hausportal.
„Hmm“, überlegt Penrhyn Castle, „eigentlich steht in meinem Arbeitsvertrag eindeutig im Paragrafen 14a Abs. 2, dass ich auf keinen Fall jemanden reinlassen darf. Das muss strikt unterbunden werden. Ist irgendwie so ein Versicherungsding, weißt schon.“ Lilly macht ihre Augen so groß sie nur kann.
„Büddee, Büddee! Kriegst auch den Rest von meinem Lolly!“ Entschlossen streckt sie den Lolly in die Höhe. Das Schloss schaut ihr tief in die Augen, seufzt irgendwann und öffnet schließlich geschlagen die Tür.
“Naa gut, aber mach schnell und leise, aber danach darf ich dafür mal so richtig mieses Wetter machen, ja? Und du musst dann wenigstens so tun, als hättest Du Angst davor. Sonst kriege ich anschließend wieder Ärger wegen unnötiger Ressourcenverschwendung.“

Während die kleine Lilly jetzt im Inneren des dunklen Schlosses verschwindet, knackst es plötzlich auffällig in der Holunderhecke.
„Lilly! Lilly! Wo bist Du?“, zischen zittrig flüsternd zwei Stimmen durcheinander aus dem Unterholz. „Hier ist Mama und Papa! Du brauchst keine Angst haben! Wir kommen Dich retten!“

„Ach ja?“, dröhnt Llanfairpwllgwyngyll ironisch vom Gartenhaus rüber. „Ihr schon wieder! Wie kann Lilly bloß so peinliche Eltern haben!“

Pharynx

Ein Hauch von Wind streicht durch den dichten Wald. Entfernt ist ein Kauz zu hören. Mehr aber auch nicht. Das grelle Licht stört den Frieden. Es kommt näher, wird größer. Es zielt auf meine Haustüre. Halb offen. Wie immer schon. Verschwindet. Lasst mich in Ruhe.
Aus dem Schwarz der Nacht treten drei Schatten in das Mondlicht. Vorsichtig setzen sie einen Fuß vor den anderen. Ich lasse die Dielen der Veranda kräftig knarzen. Sie bleiben stehen. Gut. Verschwindet.

„Kommt schon, lasst uns umkehren.“, sagt einer der Schatten mit leiser Stimme.
„Der Kleine hat Schiss“, lacht einer der anderen.
„Alles nur Gespenstergeschichten. Los weiter“, stimmt ihm der Dritte zu.
Daraufhin stoßen sie die Tür weit auf und treten in mich ein.

Mein Groll lässt mich erzittern. Ich schlage die Türe hinter ihnen zu. Verriegle das Eisenschloss. Sie sitzen fest in meinem finsteren Schlund. Die Eindringlinge rütteln vergebens an der Tür. Der saure Geruch der Angst steigt auf. Die Lichtkegel jagen wild durch den Raum, suchen nach einer Tür, einem Fenster, irgendeinem Weg in die Freiheit. Endlich bleibt ihr Licht an der Schnur kleben und folgt ihr nach oben. Mein Zorn weicht der Vorfreude.

„Ich kann die Decke nicht erkennen.“

„Ist sicher für das Licht. Soll ich?“

Einer greift nach der Schnur. Er zittert.

Zieh schon, rufe ich ihm still zu. Zieh.

Und dann endlich: Er zieht.

Ich spürte ein leichtes Kratzen, nicht unangenehm, als der Straßenbesen die halbvermoderten Blätter von der Treppe fegte.
„In Ordnung, das rutschige Zeug ist weg, tragt die Kiste rein!“, rief eine junge Frau und lehnte den Besen neben der Tür an die Wand. Sie machte etwas an den Scharnieren und dann zog sie die Tür auf. Es quietschte gar nicht. Sie hatte sie geölt. Irritiert klapperte ich ein wenig mit den Fensterläden. Solche Eindringlinge hatte ich noch nie.
Jetzt schleppten zwei Männer eine große Holzkiste herein, stellten sie mitten im Salon ab und holten Lampen, einen Akkustaubsauger und Putzutensilien daraus hervor. Verwundert beobachtete ich, wie sie das Haus putzen, während draußen die Dämmerung in die Nacht überging.
Die Frau hängte draußen über der Tür eine Lichterkette auf und pikste mich mit Nägeln in die Tür, was ich mit einem Knarzen des Vordachs quittierte. Sie klopfte probehalber an einen Balken, der das Dach stützte, und zuckte die Achseln. „Scheint stabil zu sein.“
Ein Rabe flog näher und beäugte das Plakat, das sie aufgehängt hatte. „Da steht etwas von einer Mitternachts-Pop-Up-Party“, verriet er mir und flog hoch zu seinem Lieblingsplatz auf meinem Dachfirst.
Gäste! Eine Party wie in alten Zeiten! Ich konnte mein Glück kaum fassen. Genüsslich ließ ich mich schrubben und schön machen.
Zum Klang der nahen Kirchenglocke, die Mitternacht schlug, tauchten die ersten Besucher auf und füllten das Haus mit Leben. Ich genoss den Trubel und die merkwürdige Musik, die aus einer kleinen Kiste kam. Es war so schön, gemocht zu werden.

Als die Morgendämmerung kam, war das Haus wieder still. Plastikbecher lagen auf dem von verschütteten Drinks klebrigen Parkett und die Büste meines Erbauers trug ein albernes Papiertütchen. Jemand hatte sich in den Schirmständer im Flur übergeben und der Spiegel an der Garderobe hatte einen Sprung. Niemand kam, um aufzuräumen und mich zu reinigen. Zutiefst gedemütigt wartete und hoffte ich, aber sie hatten mich schon vergessen. Die Zeit verstrich und ich wurde immer wütender. Man hatte mich eiskalt ausgenutzt. Die nächsten Besucher würden es bereuen, mich jemals betreten zu haben.

Besessen

Ich spüre sie. Mit diesem einzigen Windhauch, der durch meine morschen Wände hindurchkriecht – nass, kalt und unheilvoll – spüre ich sie. Wie ein Schauer, der über den Körper wandert, erzittern meine Fensterläden, Jahrhunderte alter Staub rieselt von den schiefen Regalen und sogar das alte, zartrosa bemalte Geschirr im Empfangssaal klirrt. O ja, sie spüren mich ebenso. Ich rieche ihre Angst, ich höre ihren schnellen Herzschlag und fühle ihre nasskalten Hände, die zitternd über den von Schimmel befallenen Putz streichen.
Aber ich muss mich gedulden. Noch haben nicht alle die Schwelle übertreten. Zwei von ihnen warten im Vorgarten, unruhig und ängstlich. Doch als ich meine Aufmerksamkeit nach draußen richte, erstarre ich. Mit einem Mal herrscht eine absolute Stille auf dem gesamten Anwesen. Kein Vogel kreischt, kein Lüftchen weht, selbst die Teller in meinen Schränken haben aufgehört, zu klappern.
Sie ist es.
Die, auf die ich über zweihundert Jahre gewartet habe.
»Ich habe ein ungutes Gefühl«, sagt sie und deutet dabei auf mich. Ihr Gesicht – es ist so unglaublich zart, so rein und unschuldig! Selbst ihr Haar, das im Mondlicht beinahe silbern glitzert, wirkt engelsgleich. Bei allen Göttern! Sie ist es wirklich. Ich höre es am Klang ihrer Stimme, ich spüre es am Blick ihrer durchdringenden weißblauen Augen, die sie nun auf mich richtet. Sie ist es!
»Lasst uns bitte zurückkehren!«
Nein! Neeein!, brülle ich, doch natürlich kann mich niemand hören. Stattdessen antwortet er für mich. Der Junge, der mich zuerst betreten hat. Dessen Gesicht immer ein schiefes Lächeln trägt, obwohl ich seine Angst gerochen habe, noch bevor er das Gartentor geöffnet hat.
»Komm schon, Ivy, willst du wirklich aufgeben? Ausgerechnet jetzt?«
Ja, Ivy, hör auf deinen Freund. Hör auf ihn und komm zu mir!
Ich höre ihr Seufzen und betrachte ihren zusammengepressten Mund. Diese wunderschönen Lippen, die bei Tageslicht gewiss kirschrot leuchten.
»Ich habe ein ungutes Gefühl. Bitte glaubt mir, wir sollten umkehren.«
O nein, das solltet ihr ganz gewiss nicht! Es kostet mich all meine Willenskraft, ruhig zu bleiben. Denn ich weiß, sobald sich nur das kleinste Möbelstück regt, oder drei weitere Staubkörner wie von Geisterhand auf den Boden regnen, wird sie mich verlassen, noch bevor sie mich betreten hat. Und, bei allen Göttern, das werde ich verhindern! Ich werde gewiss keine weiteren zweihundert Jahre auf solch eine Gelegenheit warten.
»Sei kein Angsthase, Ivy. Fünf Minuten, okay? Wir gehen hinein, durchqueren die Hütte ein einziges Mal und hauen wieder ab. Was soll schon passieren? Das ist nur ein leer stehendes Haus.«
Nun, das würde ich zwar nicht behaupten, aber ich widerspreche dem Jungen lieber nicht. Soll sie ruhig glauben, dass ich nichts weiter als ein verlassenes Gebäude bin. Alt und harmlos. Dass all die Mythen und Legenden, die um mich gesponnen wurden, nichts weiter als Schauermärchen sind. Erfunden und gewiss nicht real.
»Sehen wir so aus, als wären wir verflucht?«, fragt das andere Mädchen, das bereits auf meinen alten Dielen steht und die Hände ausbreitet. Tatsächlich schlägt ihr Herz ruhig und gleichmäßig, als würde sie mich überhaupt nicht fürchten. Dummes Gör! Wenn ich wollte, wäre sie längst zu Staub zerfallen. Ich könnte alle Spinnweben um ihren zarten Körper spinnen und langsam ihren Lebensgeist aussaugen, als wäre ich eine Spinne und sie meine Beute. Ich müsste nur einziges Mal meine Macht durch ihre Glieder gleiten lassen, so dass sie mit einem Angst verzerrtem Schrei im Gesicht sterben würde. Und das innerhalb weniger Augenblicke. Sie hat nur Glück, dass mein Interesse nicht ihr gilt. O nein. Ich will nur Ivy.
Diese kommt einen Schritt auf mich zu. Ja, Ivy! Komm zu mir! Trau dich!
Ein weiterer Schritt in meine Richtung.
Oh, Götter! Es fällt mir immer schwerer, das Zittern zu unterdrücken. Wenn die beiden kleinen Menschlein etwas feinfühliger wären, würden sie gewiss das sanfte Vibrieren unter ihren Füßen bemerken.
»Nur fünf Minuten«, höre ich Ivys zitternde Stimme. Sie ergreift die Hand des anderen Jungen, der ebenfalls noch draußen steht. Sie sieht ihm in die Augen und ich erkenne das sanfte Nicken seinerseits. Ja, ja! Komm zu mir!
Noch ein Schritt. Ihr rechter Fuß ruht bereits auf meiner Schwelle und ich kann es nicht mehr verhindern, dass der Staub erneut aufwirbelt und durch die Räume tanzt.
Sie atmet tief durch und ich höre sogar ihr Schlucken. Ganz langsam dreht sie sich zu dem Jungen um und versucht, ihm ein zuversichtliches Lächeln zu schenken. »Bereit?«
Jaaa! »Ja«, antwortet zu meinem Glück auch er. »Fünf Minuten! Los!«
Dann, endlich, ist es soweit.
Sie ist hier.
Bei mir.
Wie eine Welle breitet sich meine Freude, meine Erleichterung aus. Alle Fensterläden klappen gleichzeitig zu, ein Beben wandert durch die Dielen hindurch und das Geschirr in all meinen Schränken zerspringt in tausend Scherben. Möbel fallen zu Boden, die Balken biegen sich und ich genieße ihr Schreien. Ihre blanke Panik. Sie rennen. Blind und verzweifelt und wissen doch nicht, wo sie sich befinden oder wie sie den Ausgang finden sollen.
Ich spüre den wilden Flügelschlag der Raben, die plötzlich aufgeregt und kreischend um mein Dach herumflattern, ich höre das Aufschlagen und Ächzen des eisernen Gartentors, immer und immer wieder. Der Wind pfeift befreiend durch die Wände.
Ein letztes Mal genieße ich das Gefühl dieser unermesslichen Macht, gefüttert durch die Angst meiner Besucher. Ein letztes Mal lasse ich alle Mauern erzittern und schlage den Gong der alten Standuhr an, dessen Klang sich kreisförmig im gesamten Gebäude ausbreitet.
Und endlich …
Stille.
Ich zwinkere. Einmal. Zweimal.
Dann lache ich laut auf.
»Das war krass«, sage ich. Die Stimme klingt noch immer engelsgleich. Unschuldig und rein. So wunderschön! Die anderen nicken zustimmend und einer der Jungen packt mich mit zittrigen Händen.
»Lass uns abhauen!«, schreit er und ich folge ihm vergnügt hinaus in die dunkle Nacht.
Keiner von ihnen hat es gemerkt.
Keiner hat den Wandel erkannt.
Natürlich nicht.
Im Garten meines einstigen Anwesens bleibe ich stehen und drehe mich ein letztes Mal um. Ich betrachte das morsche Holz, die abgeblätterten Ziegel auf dem Dach. Ich werfe einen Blick auf die zerstörten Fenster und die klappernden Fensterläden. Ich erkenne den aufwirbelnden Staub, ja ich spüre die panische Erkenntnis und den Zorn im Inneren dieses Gebäudes. Wenn sie könnte, würde sie schreien.
Dann lächle ich.
Leb wohl, Ivy!, rufe ich ihr gedanklich zu.
Und zum ersten Mal seit über zweihundert Jahren verlasse ich das Anwesen am Ende des Rabenwegs.
Lebendig und frei.

Der Plan

Der Sturm wehte um meine alten Gemäuer und wieder einmal flog krachend eine der Dachschindeln davon. So langsam verfiel ich. Wir mussten etwas unternehmen. Dringend!
„Hui Buh!“, rief ich. „Komm her, du alter Handtuchhalter.“
„Nenn mich nicht so und schrei nicht so. Ich bin Graf von Zappenduster und nicht so ein billiges Fernsehgespenst. Und das ist kein Handtuch, sondern ein Bettlaken. Ein so blödes Haus wie dich habe ich noch nie betreten."
„Jaja, du kommst auch nicht davon“, murmelte ich. „Du bist an mich gebunden, verfalle ich weiter, bist du bald so mausetot, wie ich. Die Stadt will mich eh bald abreißen.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte Zappenduster, der sich gerne als Schlossgespenst bezeichnete. Allerdings war ich eher eine gräfliche Stadtvilla gewesen und Zappenduster war hier dummerweise gestorben. Seitdem ging er mir auf die Nerven. Okay, er war da und das machte mich weniger einsam. Eigentlich mochte ich den alten Knaben recht gerne, aber wir kabbelten ständig miteinander. Irgendwie mussten wir ja unsere Zeit vertreiben.
„Weil ein Stadtheini mit gelber Warnweste einen Aufkleber an die Eingangstür geklebt hat. Wenn sich der Besitzer dieser Bruchbude nicht bis zum 30.12.2023 bei der Stadt meldet, dann werden Grund und Boden beschlagnahmt und die olle Kiste wird dem Erdboden gleichgemacht. Das haben die geschrieben.“
„Das haben die geschrieben? Nie und nimmer,“ sagte Zappenduster.
„Ich habe es dir übersetzt, den Behördenquatsch versteht ja kein Stadtvillengespenst.“
„Jaja“, winkte Zappenduster ab. „Wir haben ein Problem.“
„Yes! Wir haben ein riesiges Problem.“
„Welches Datum haben wir?“
„Keine Ahnung“, antwortete ich. „Der einzige Kalender, den wir haben, ist zwanzig Jahre alt. Du hättest ruhig ein paar Jahrhunderte vorausdenken und auch zukünftige Kalender kaufen können.“
„Ja ja, mach mir nur Vorwürfe, weil ich viel zu früh abgenippelt bin. Ich war erst neunundsiebzig“, beschwerte sich Zappenduster, der sich damals gegen das obere Treppengeländer gelehnt hatte. Ein Fehler, wie sich nach vier Sekunden Fall bewahrheitet hatte.
„Peace!“, ging ich dazwischen. „Wir müssen dieses Problem jetzt gemeinsam meistern.“
„Und wie?“
„Wir brauchen neue Bewohner, die mich renovie … ich befürchte fast, dass sie mich sanieren müssen. Dann verjagen wir sie.“
Zappenduster dachte nach. Angestrengt und konzentriert. Es dauerte eine Nacht und einen Tag, bevor er „Is ja geil!“, sagte. „So machen wir es. Und wie machen wir es?“
In diesem Augenblick spürte ich etwas … Im Flur vielleicht? Ich hatte so viele Beschädigungen, dass ich mir keine weiteren Gedanken machte.
„Erst einmal: Wir müssen ab sofort zusammenarbeiten. Keine dummen Worte mehr Hui …“
„Wag es nicht, mich so zu nennen“, brüllte Zappenduster.
„War nur ein Scherz“, sagte ich. „Peace?“
„Peace!“
„Und wie machen wir es?“, wiederholte Zappenduster seine Frage.
„Hast du Ideen, Hasi?“
„Da gab es doch dieses neumodische inter … Dingsda.“
„Internet“, half ich ihm weiter. „Geht nicht, die Telefonleitung ist schon letztes Jahr abgefallen.“
„Was bist du denn für einer?“, fragte plötzlich jemand. Zappenduster erschrak so sehr, dass er fast an die Decke sprang. Mir fiel ein Bild von der Wand. Ausgerechnet der Picasso, den ich so liebte. Sein Rahmen zersprang und das Blatt wurde durch den Windzug der offenen Tür in die Ecke geweht.
In der Tür stand eine junge Frau.
„Wer bist du? Was machst du hier? Wie kommst du hier rein? Was soll das? Wie kannst du es wagen? Warum bist du hier? Wieso …“
„Zappi, wer soll sich denn diese ganzen unnützen Fragen merken? Sie ist hier und hat dich gesehen“, sagte ich.
„Und dich gehört, du verblödeter Schweinekoben.“
Autsch! So hatte er mich noch nie bezeichnet. Dummerweise hatte Zappenduster recht. Das war sehr dumm von mir gewesen. Wir waren den Umgang mit Menschen einfach nicht mehr gewohnt.
„Ich bin Elvira“, sagte die nicht allzu adrett gekleidete junge Dame. „Ich habe mir einen Unterschlupf für die Nacht gesucht. Ich habe eine kleine Scheibe der Haustür eingeschmissen und die Tür von innen geöffnet. Ich weiß jetzt nicht, wie ich die Frage beantworten soll, was das soll, aber … naja … die Polizei sucht uns. So mussten wir es wagen, hier einzubrechen und uns zu verstecken. Warum ich hier bin, habe ich ja schon erklärt. Wieso, auch. Jetzt bin ich mit der Fragerei dran, bist du so was wie ein Schlossgespenst in einer heruntergekommenen Ruine? Ein Ruinengespenst?“
„Ha!“, rief ich. „Das gefällt mir. Ein Ruinengespenst.“ Ich stutzte. „He? Meinst du mich, mit der Ruine?“
„Ich rede also mit einer Ruine und einem Ruinengespenst? Sachen gibt´s.“
Elvira schien ziemlich cool zu sein. „Ja, genau das machst du. Mein Name ist Villa Rabenweg und das ist mein ehemaliger und eigentlich noch immer anwesende Bewohner Graf Zappenduster“, stellte ich uns vor. „Seit seinem viel zu frühen Ableben, geistert er hier herum und nervt mich. Nein, eigentlich sind wir gute Kumpels, aber manchmal nervt er.“
Zappenduster mischte sich ein. „Beeindruckt dich das eigentlich gar nicht, Elvira?“, fragte er ein wenig zu drohend.
„Nein, eigentlich nicht. Ich komme gerade von einer Reise zurück, die mich mehr beeindruckt hat“, antwortete sie und zuckte mit den Schultern.
„So?“, fragte ich. „Ich liebe Geschichten.“
„Wir waren …“
„Wer ist wir, ich sehe nur dich“, fragte Zappi noch düsterer.
„Meine Freundin und ich natürlich. Also wir waren in Manjajoto und …“
„Wo ist das? In Japan?“, fuhr Zappi dazwischen. Er wollte die junge Dame sicher mit seinen Spukereien verängstigen. Aber Elvira zeigte sich weiter unbeeindruckt.
„Nein, Manjajoto ist ein Land, das noch kein Mensch entdeckt hat. Ein Zauberreich sozusagen. Es ist für fast alle Menschen unsichtbar. Außer für mich.“
„Haha! So ein Unsinn!“, lachte Zappenduster.
„Nein, Herr Graf, das ist kein Unsinn“, fuhr Elvira auf.
„Er ist eigentlich kein Herr Graf, seit seinem Ableben ist das Graf sozusagen divers. Irgendwann ist nämlich sein kleiner Pimmel abgefallen.“
Zappenduster blickte mich bösartig an. „Das geht niemanden etwas an“, fauchte er. Fauchen konnte er, das muss man ihm lassen.
„Deswegen heißt es ja auch das Gespenst und nicht die oder der Gespenst“, fand ich ein paar erklärende Worte. „Wie war das denn jetzt in Manjadingsda?“
Elvira blickte auf Zappenduster herab und kicherte leise. „Tut mir leid, gräfliches diverses Gespenst. Ich war mit Susi dort und sie hat an der jährlichen Olympiade teilgenommen. Platz zwei im Feuerspucken, Platz vier im Rolle rückwärts fliegen, nur beim Hundert-Meter-Spurt ging es daneben. Susi ist gegen eine Palme geflogen. Pech. Ansonsten ist Susi fast schon auf Malaika-Mihambo-Niveau. Nächstes Jahr räumt sie in allen Disziplinen ab.“
„Susi kann also fliegen. Sie ist deine Freundin, die allerdings nicht auf der Flucht vor der Polizei ist?“, fragte ich interessiert.
„Ja doch, also eigentlich sucht die Polizei nach Susi. Sie hat einem Polizisten in den Hintern gebissen. Als der sie erschießen wollte, prallten natürlich alle Kugeln an ihrem Panzer ab. Das hat den Polizisten ziemlich gedemütigt. Seitdem läuft eine Großfahndung.“
„Susi hat also einen Panzer. Wo ist sie eigentlich?“
„Hier in meiner Tasche“ Elvira zeigte uns ihr kleines Handtäschchen.
„Zeig sie uns mal, ich bin neugierig“, sagte ich neugierig.
„Das geht hier nicht. Gibt es einen größeren Raum?“, fragte Elvira.
„Meinen Festsaal“, riefen Zappenduster und ich gleichzeitig. „Komm mit, ich zeige ihn dir.“ Dieses Mal hatte nur Zappi gesprochen, mir war es nur schwer möglich, jemanden in einen meiner Räume zu bringen.
Kaum angekommen, öffnete Elvira ihre Tasche. „Susi, komm mal raus, ich möchte dir jemanden vorstellen.“ Ein kleines rotes Köpfchen erschien aus dem Inneren. Es blickte sich um und sah dann Elvira fragend an. „Soll ich den Schuppen niederbrennen?“
„Nein, denn wir haben hier ein Versteck gefunden. Das brauchen wir, weil du keine Polizisten magst.“
Zwei kleine Pfötchen mit Krällchen kamen aus der Tasche, dann zwei Flügel und plötzlich schwirrte Susi durch den Festsaal.
„Och wie süß“, rief Zappenduster begeistert. „Das ist ja ein Minilindwurm!“
„Seh ich etwa aus, wie ein Lindwurm, du wanderndes Bettlaken? Ich kann dir mal zeigen, was ein dämlicher Lindwurm nicht kann. Nämlich Feuer spucken.“
„Sie ist ein Drache!“, flüsterte Elvira uns zu. „Sagt niemals Lindwurm zu ihr. Lindwürmer hasst sie, wie die Pest. Noch mehr als Polizisten. Komm Süße, mach dich mal groß.“
Susi sog Luft ein und wuchs und wuchs.
„Halt!“, schrie ich. „Die sprengt ja den Saal!“
„Keine Angst“, meinte Elvira. Sie ist gleich ausgewachsen. „Sie ist ein Minimaxidrache, das ist sehr selten.“
„Ach so“, sagte ich wenig beruhigt. Als Susi etwa auf die halbe Saalgröße angewachsen war, hörte ihre Maxi-Phase endlich auf.
Der Panzer glänzte rot schimmernd und Susi drehte sich einmal im Kreis. Aus ihren Krällchen waren Riesenkrallen geworden und ihr Köpfchen war in etwa so groß, wie ein Schaufelbagger. In ihrer Schnauze blinkten Riesenhauer. „Diese Bude könnte mal eine Renovierung vertragen. Soll ich?“
„Nein, ja. Also nicht durch Abbrennen“, antwortete ich schnell. Und dann hatte ich die Idee. Ich war so begeistert, dass ich – wenn ich welche gehabt hätte – in die Hände geklatscht hätte. So ließ ich lediglich die Wandleuchter gegeneinander schlagen. „Elvira, wir geben euch Unterschlupf. Es wäre furchtbar nett, wenn ihr uns bei etwas helfen könntet.“
Elvira lächelte Susi an. „Herzlichen Dank, Villa Rabenweg. Das machen wir gerne, nicht wahr, Susi?“
Wenn ich hätte lächeln können, hätte ich es getan. „Elvira, Susi“, sagte ich und stellte ihnen meinen Plan vor. „Habt ihr Internet?“
„Klar, habe ich“, sagte Elvira und zeigte uns ihr Smartphone.
„Genial!“, sagte Zappenduster. „Das hätte von mir stammen können.“
„Nein, Hui Buh, das glaube …“
„Nenn mich nie wieder Hui Buh! Sonst brenne ich dich nieder.“
„Uns“, sagte ich. „Außerdem kannst du nichts niederbrennen. Du kannst nämlich kein Feuerzeug anzünden.“
„Kann ich doch.“
Elvira zündete sich eine Zigarette an.
„Gib mir mal das Feuerzeug“, sagte Zappenduster genüsslich. Es fiel ihm durch die Geisterhand.

„Ach Sven-Nils, endlich sind wir fertig geworden. Das waren zwei anstrengende Monate, nicht wahr?“
„Ja Beatrice-Bernadette, die Sanierung hat zwar eine Stange Geld und jede Menge Arbeit gekostet. Aber morgen können wir einziehen.“
Könnt ihr nicht, wetten?, dachte ich und weckte Zappenduster. Der begann sofort mit seinen Spukereien und erschreckte Beatrice-Bernadette so sehr, dass sie hysterisch aufschrie. Dann flog Susi ein paar Runden durch die Küche und landete auf Sven-Nils´Wurstbrot.
„Igitt! Was ist denn das für eine eklige Fliege?“ Er griff nach der Zeitung, die auf dem Tisch lag, rollte sie zusammen und schlug nach Susi. Die verbrannte die Gazette und sog Luft ein.
Unsere beiden Retter waren etwas zu geschockt, um sofort zu fliehen. Dann watschelte Elvira in die Küche. Sie hatte Gesicht und Hände weiß geschminkt, sich ein paar blutrote Narben auf die Stirn gemalt und hielt die Arme von sich gestreckt. „Hu … uhunger!“, knurrte sie.
Hysterisch schreiend rannten unsere Retter aus mir raus.
„Das war vielleicht nicht besonders fair von uns“, meinte Elvira und holte eine Zigarette aus ihrer Schachtel. „Aber jetzt haben wir es doch verdammt gemütlich, oder?“
Susi gab ihr Feuer und ich fühlte mich stolz wie Bolle.

Der Infekt

Verdammt, jetzt hat es mich schon wieder erwischt!
Immer im Herbst. Ausgerechnet.
Ich hab’s so satt!
Bis ich das wieder loswerde, das dauert.
Aber was soll man machen? Kaum dass die Tage dunkler werden, die Temperaturen kälter und das Wetter trübe, treten sie auf.
Letztes Jahr, das muss ich sagen, toi, toi, toi! Da bin ich mal verschont geblieben. Hab gedacht, das bleibt mir jetzt dauerhaft erspart. Aber dieses Jahr – gleich zweimal!
Die Kastanienallee 28, die hatte mal eine echt üble Infektion. Da hast du förmlich hören können, wie die anderen Häuser von ihr abgerückt sind.
Die jungen Häuser, die haben das nicht so. Das kommt eher mit dem Altern. Wenn der Garten erstmal Moos ansetzt, die Dielen morsch werden, der Putz bröckelt und die Farben verblassen. Das zieht das Virus regelrecht an.
Die Nummer 26, die hat erzählt, sie hätte es mal mit Renovierung versucht. Neuer Anstrich, neue Fenster, alles war gleich heller und freundlicher. Da fühlt sich das Virus nicht so heimisch. Scheint zu funktionieren. Da muss ich mal drüber nachdenken.
Aber der junge Kerl, der da jetzt am Balken in meinem Stiegenhaus baumelt, von dem hätte ich es nicht erwartet. Am Anfang, da hat er so fröhlich gewirkt. So aufgeweckt und voller Pläne. Keine Ahnung, was da schon wieder passiert ist. Ich versteh es echt nicht. Aber jedenfalls hängt er nur. Nicht wie der davor. Der sich das Hirn weggeschossen hat. Was für eine Sauerei! Bis das gereinigt war, ich mag nicht mehr daran denken. Und auch sein Geist war gar nicht schön anzusehen. Mit nur halbem Schädel. Weil das nehmen sie immer mit in ihre neue Welt, die Gespenster. Und ich hab dann den Dreck. Bis ich die wieder loswerde!
Da muss ich jetzt wohl warten, bis die Nächsten einziehen. Und früher oder später bringen sie dann auch einen Exorzisten. Wenn ich Glück habe. Aber bis dahin muss ich mich damit rumschlagen. Mit diesem Gespenstervirus. Wie ich es hasse!
Wie gesagt, vielleicht probier ich es tatsächlich mal mit Renovierung!

Das Ende

Schon lange stehe ich hier – das Haus am Ende des Rabenweges. Die Großeltern der Großeltern der alten Leute, die sich beim Spazierengehen mit ihrem Rollator hierher verirren, waren noch nicht geboren, als ich erbaut wurde.
Anfangs wohnten hier Leute, später hatte ich meine Ruhe. Das ist gut so. Ich habe mir einen Schutzschild aus wildem Gestrüpp, kniehohem Gras und knorrigen Bäumen wachsen lassen. Es schirmt mich von der Straße ab.
Selten traut sich jemand hierher. Der Grundstücksmakler empfängt seine potenziellen Kunden mit fröhlichem Gesicht, kann aber nicht verhindern, dass das aus der Vorfreude geborene Lächeln seiner Gäste schon beim ersten Blick auf meine Fassade in sich zusammenfällt.
Mein Putz bröckelt. Das ist gut, denn dann kann mein Mauerwerk atmen. Manchmal, wenn der Wind um die Ecken pfeift, helfe ich etwas nach, lasse die Fensterläden schlagen. Dann rieselt der Kalk nur so. Das gibt mir Freiheit.
Selten schafft es eine mutige Natur bis zur Eingangstür. Sie knarzt so herrlich beim Öffnen. Die Dielen stimmen in die Sinfonie des Grauens ein, wenn die Eindringlinge darüber schleichen, so als könnten sie jeden Moment einbrechen und in meinem Keller wie in einem dunklen Schlund verschwinden, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.
Die Besuche enden schnell – spätestens nachdem das Wort „Denkmalschutz“ gefallen ist. Danach setzt auch der Makler sein fröhliches Gesicht ab, steigt in seinen Wagen und wirft mir diesen Auf-Nimmerwiedersehen-Blick zu.
Das lässt mein altes Herz vor Freude springen.

Letzens waren ein paar Leute hier, die länger als üblich hängengeblieben sind. So eine junge Familie. Die Kinder haben sich mit heruntergefallenen Putzbröckeln beworfen. Das war irgendwie – wie soll ich sagen – lustig. Jetzt ist alles wieder ruhig. Auch gut.
Doch es währt nicht lange. Eines Vormittags hasten die Spaziergänger mit ihren Rollatoren eilig zur Seite. Ein LKW bahnt sich den Weg durch die Straße. Und noch einer. Dann kommt noch ein Kran.
Kräftige Gestalten schwärmen aus. Sie packen sich Stangen von den Lastwagen, holen sich Werkzeug, bohren garstige Löcher in mein Gemäuer, befestigen die Stangen. Bald bin ich von einem Wald aus Eisen umringt. Bekomme ich ein Korsett? Sie schnüren mich ein! Ich kann nicht atmen!
Sie hacken, sie holen noch mehr Maschinen, sie mauern, sie verspachteln, schließlich kitzeln sie mich mit Pinseln. Ich kann nicht mehr! Eine Ohnmacht übermannt mich.

Ich erwache langsam. Die LKWs sind weg. Gut!
Mir ist warm. Ich habe eine neue Haut in einem hellen, freundlichen Farbton. Dieser Kragen ist zu eng! Mir wird heiß. Ist das eine Panikattacke? Ich muss mit den Fensterläden schlagen, der neue Putz muss weg! Ich brauche Luft!
Doch wo sind die Fensterläden? Sie sind weg! Stattdessen sind die ausgetauschten Fenster mit automatisch hoch- und runterfahrenden Jalousien bewehrt.
Und die Eingangstür? Schon kommen die Kinder von damals gelaufen, die mit den Putzbröckeln, öffnen sie – so leise, dass ich es nicht hören kann. Und die Dielen? Die sind frisch gehobelt und neu befestigt. Nichts knarzt mehr. Skandal! Man hat mir meine Instrumente für die Sinfonie des Grauens genommen!

Was bin ich eigentlich? Oh Graus – ich bin renoviert! Das ist mein Ende!
Oder ist es ein neuer Anfang?