Zeit ist eine komische Sache.
Was früher frisch lackierte Dielen waren, knarzt nun mit jedem Schritt, verräterisch in ihrer Lautstärke. Treppen, einstmals die Verbindung zwischen den Stockwerken, eine tückische Falle für Beine, die in ihr versinken. Die Kinder haben es geliebt, so zu tun, als wäre sie ein Portal in die unterschiedlichsten Welten, voller Abenteuer, Gefahren und Ruhm. Die Mutter hatte die Kletterpartien verboten, nachdem der Junge einmal stolperte, fünf Stufen auf einmal nahm und mit dem Kopf auf der zweiten Stufe landete. Der Blutfleck, den er hinterlassen hatte, ist heute noch im Holz zu erkennen. Dabei ist das alles so lange her.
Zeit ist eine verwirrende Sache.
Viele Besucher sind schon vorbeigekommen, während die Familie noch hier wohnte, und hin und wieder auch danach. Immer wieder ein freudiger Anlass. Wären sie nur etwas vorsichtiger mit der Art, mit der sie in den Eingangsbereich eintreten. Der Türrahmen nämlich ist mittlerweile verbogen, und die Tür, deren Farbe mehr und mehr abblättert, schleift über den Boden. Nichts was man mit etwas Kraft nicht lösen könnte, aber der ohnehin schon beanspruchte Eintritt wird dadurch nur noch mehr belastet. Es wäre schön, wenn sich mal jemand darum kümmern würde. Der Zustand ist traurig.
Einmal kam ein Mann, aufwendig gekleidet in langen, weißen Roben, an der eine einzelne silbern verzierte Schärpe herunterhing. Ungewöhnliche Kleidung. Der Herr des Hauses hatte so etwas nie getragen, nicht mal, wenn seine Frau verlangte, dass er sich „herausputzen“ sollte. Ein merkwürdiger Ausdruck, da sie ja zumeist das Putzen übernommen hatte. Abschweifende Gedanken. Sie kommen häufiger in letzter Zeit. Vielleicht ist es mehr ein Ausdruck der Einsamkeit und nicht der Jahre, die sie verursachen.
Zeit ist eine doofe Sache.
Der Mann, den die Familie als „Pater“ bezeichnete, ging mit ernstem Gesicht durch jeden Raum, seine rechte Hand erhoben, die Linke einen Anhänger an einer langen, silbernen Kette umklammernd. Seine Augen huschten dabei durch jede Ecke, so als wäre er auf der Suche nach etwas. Spinnweben waren es mit Sicherheit nicht, die Frau vergaß immer, die Ecken an der Decke mit zu reinigen, sodass sie voll davon waren. Nein, was immer es war, er fand es im Zimmer der Kinder. Er blieb an der Tür dazu stehen und sprach mit lauter Stimme: „Es ist hier!“, worauf die Frau in Tränen ausbrach und auf dem damals noch sauberen Teppich zusammenbrach. Der Herr half ihr auf und umarmte sie, während das kleine Mädchen sich an seine Hose klammerte. Sie hatte in der Zeit davor sehr viel geweint. Das hatten sie alle. Nicht aber der „Pater“, der nun, mit noch ernsterem Gesicht durch das Zimmer huschte, vorbei an dem frisch bezogenem Bett zu dem, das mittlerweile eine leichte Staubschicht aufwies. Die Frau weinte immer noch heftiger, wenn sie da putzen wollte, und ließ es dann gänzlich sein.
Was danach passierte, ist in Dunkelheit getränkt. Der „Pater“ zog das Bett beiseite, und fing an, den Teppich darunter aufzuschneiden. Darauf folgte etwas, was man als Wut bezeichnen konnte. Wer war er, dass er sich erdreistete, das Eigentum der Familie kaputt zu machen. Wer war er, dass er sich herausnahm, etwas von Ihnen wegzunehmen, dass sich doch so verzweifelt an sie klammerte, nicht gehen wollte, noch nicht bereit war?
Er hatte dazu kein Recht.
Niemand hatte das.
Aber es dauerte nicht lange, und er hatte es begriffen.
Was darauf folgte, waren stille Jahre. Niemand, der mehr pfeifend durch die Räume ging, mit einem Besen in den Händen. Niemand, der sich, wenn er nach Hause kam, ein Getränk aus der Glaskaraffe einschüttete und dann auf dem Sofa niederließ. Und kein Lachen mehr, dass durch die Räume schallte, wenn die Wirbelwinde von oben bis unten durchfegten. Es war ruhig. Nur noch die Besucher hin und wieder.
Wie nun diese drei.
Sie kamen bei Einbruch der Nacht, rüttelten an der Tür und wählten dann die Muskelmethode, um die Tür zu öffnen. Das laute Geräusch schreckte ein paar Fledermäuse auf, die es sich im Gebälk gemütlich gemacht hatten und nun kreischend aus dem Eingang flatterten, was einen der drei, einen kurz gewachsenen, jungen Mann mit rötlichen Haaren und Fell von gleicher Farbe an seinem Schwanz ebenfalls aufschrecken ließ. Einer seiner Hände umklammerte das Hosenbein von dem Mann vor ihm. Sehr nostalgisch.
„Sag mir bitte nochmal wie viel wir hierfür bekommen?“ Ein gewisses Zittern in seiner Stimme konnte er nicht verbergen.
„Auf jeden Fall genug, um endlich die Überfahrtkosten zu bezahlen. Und da bleibt noch was über!“ Der Mann hatte eine sanfte Stimme, die im Kontrast zu seinem Aussehen stand: hochgewachsen, lange, braune Haare und einen Stoppelbart, den der Herr niemals zugelassen hätte. Er strich dem Jüngeren über seinen Kopf und die katzenähnlichen Ohren, woraufhin er sich zu beruhigen schien. Der Stoppelbart lächelte und wandte sich an die dritte Person neben ihm: „Wie sieht’s aus, Zarina?“. Die hochgewachsene Frau, die offenbar Zarina hieß, hob ihre Hand und schloss die Augen, und für einen Moment war es wieder still. Dann öffnete sie ihre Augen wieder, deren Glanz für einen kurzen Moment den Eingangsbereich erhellten, und sprach: „Es ist hier. Aber tiefer. Nicht im Kinderzimmer, wie vermutet.“ - „Ungewöhnlich,“, der Mann runzelte die Stirn, “man sollte erwarten dass ihr Anker näher an dem Ort ist, wo sie sich wohlfühlten.“ Dieses Gespräch ging noch eine Weile weiter, bis sich der Rothaarige von den Zweien löste und seinen Kopf in die Luft reckte, wie es die Kinder manchmal gemacht hatten, wenn die Frau etwas in der Küche zubereitete, was sie als „lecker“ bezeichneten. Er verharrte so einen Moment, und schließlich sagte er nur ein einziges Wort: „Keller“.
Nein.
„Du bist ganz sicher?“, sagte die Frau, die nun ihre langen, silbernen Haare hinter ihre spitzen Ohren gesteckt hatte.
„Ganz sicher. Dieser Geruch ist unverwechselbar. Es ist mit Sicherheit von ihm. Direkt von ihm.“
Der Mann verzog das Gesicht und nickte, und sie gingen zur Kellertür, wo der Mann mit einer Hand einen reich verzierten Dolch aus seinem Gürtel zog und die andere auf den Türknauf legte.
Nein!
Sie folgten der alten Kellertreppe hinunter, geführt von dem schwebendem Licht, dass die Frau erzeugt hatte, und betraten den kalten Steinboden, das Fundament, auf dem alles stand. Ein einzelner Raum, eingeteilt nur durch die Kisten voller alter Erinnerungen, die sich dort stapelten. Der Rothaarige ging voran, seine Nase so nah am Boden, dass er fast auf allen Vieren ging, und führte sie vorbei an einem alten Puppenhaus, der Favorit des Mädchens, und einer Kiste voller Fotoalben aus lauteren Zeiten, bis sie an einem Stapel Kisten ankamen, die teilweise eingeschnitten und von Decken und Kissen bedeckt waren. Stoppelbart kniete sich zu einer Decke hinunter und hob sie an, dann lächelte er. „Ein Fort“.
„Der Ort wo sie sich am wohlsten fühlten“, sagte die Frau. Sie sah traurig aus.
Hört auf.
Sie begannen, das Fort auseinanderzunehmen.
Hört auf!
An einer Stelle hielt der Rothaarige inne. Er bückte sich herunter und mit dem Ruf „Ich hab´s!“ hielt er ihn in die Höhe. Alles begann, dunkler zu werden.
„Ist das…?“ begann die Frau, doch der Rothaarige unterbrach sie.
„Sein Finger? Ja“ er blickte auf den Finger und verzog das Gesicht, weniger aus Ekel, mehr aus Traurigkeit. „Entweder wollte einer seiner Familienmitglieder ein Stück von ihm behalten oder er selbst hat einen von ihnen heimgesucht, bis sie es getan haben“
„Die Mutter?“ Der Stoppelbart zog eine Phiole mit klarer Flüssigkeit heraus, die im Licht schimmerte.
„Wer kann das nach so vielen Jahren noch sagen?“ Die Frau nahm ein rotes Tuch und wickelte den Finger darin ein. „Aber sobald der Anker gereinigt ist, dürfte er Frieden finden“
Der Keller begann zu knarzen, während der Stoppelbart den Inhalt der Phiole über das Tuch goss. „Besser schnell als schön, Zarina!“
Die Frau begann, etwas zu murmeln, worauf das Tuch begann, langsam seine Farbe von rot nach weiß zu wechseln. Was auch immer sie taten, es war falsch. Abscheulich. Er würde verschwinden.
Und ich wäre allein.
„STOP!“ Eine Stimme, tiefer als der Schatten, der sich um die Drei geworfen hatte, hallte durch den Keller, sodass dem Rothaarigen die Haare zu Berge standen und er instinktiv zurücksprang. Vergeblich. Der Stützbalken rauschte nieder und erschlug ihn an Ort und Stelle. Der andere Mann sagte etwas, doch in meiner Wut hörte ich es nicht, wollte es nicht hören. Die Frau als Nächstes. Ihr Mund verzog sich zu einem überraschten „Oh“, als sie den Boden unter ihren Füßen verlor und in dem endlosen Loch verschwand, dass sich unter ihr aufgetan hatte. Stoppelbart fiel auf die Knie, seine Augen blickten verzweifelt umher, bis sie auf ein schwaches Glimmern in der Ecke fielen. Mein Junge schwebte in der Luft, sein Kopf blutbedeckt von dem Sturz von damals, und sah ihn an. Und lächelte.
Im nächsten Moment verschwand das Licht der Frau, und die Dunkelheit stürzte auf den Mann herein, erstickte seine Schreie, erstickte seine Sicht. Und erstickte ihn.
Und das letzte Geräusch, dass man von außen hören konnte, war meine Haustür, die, laut scharrend über den Boden ins Schloss fiel.
Niemand nimmt mir meine Familie weg.
Er wird immer bei mir bleiben.
Ich bin nicht gerne allein.