Das Versprechen
Eben noch war es still und friedlich, wie an so vielen Nächten zuvor. Aber plötzlich ist alles anders. Ich spüre es, noch bevor ich den Grund dafür kenne. Meine Dachziegel richten sich unmerklich auf und die Fensterläden unterbrechen ihr klapperndes Spiel, während ich angespannt in die Dunkelheit lausche. Und dann höre ich sie.
Vier Menschen kommen fröhlich plappernd auf mich zu, zwei lange und zwei kurze. Wie verantwortungslos können Eltern sein, mitten an der Nacht mit ihren Kindern hierher zu kommen? Wissen sie nichts von den Gruselgeschichten, die man sich seit Jahren von diesem Ort erzählt? Ohne mein Zutun kommt wieder Leben in die Dachziegel und sie vibrieren zart im Gleichklang zu den hüfenden Schritten des Jungen. Seine kleine Schwester klammert sich an seine Hand und versucht, mit ihren Beinchen stolpernd Schritt zu halten, um ihn nur nicht zu verlieren. Mutter und Vater sehen ihnen liebevoll nach und lächeln.
»Und, immer noch keine Angst vor den bösen Geistern in diesem Haus?«, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf und atmet tief ein.
»Es fühlt sich gut an, so vertraut irgendwie.«
Dann umarmen sie sich, hier, direkt vor mir! Die Frau legt ihren Kopf an die Brust des Mannes, während er beide Arme um sie schlingt. Mich überkommt ein ungewohntes Gefühl. Was ist das? Ruhig, aber nicht düster und einsam, wie ich es seit diesem traurigen Tag vor fast zweihundert Jahren kenne, sondern gelassen und zuversichtlich. Sollten sie die Richtigen sein, endlich?
Aber ich habe es dem Meister versprochen. Keiner wird dieses Haus in Besitz nehmen, der die drei Prüfungen nicht besteht. Also lege ich los.
Erster Test: Gruselalarm. Denn wer ein solches Haus bewohnen will, darf nicht beim kleinsten Klappern oder Raunen die Flucht ergreifen. Vorsichtig lasse ich die Fensterläden an das alte Gemäuer schlagen. Der Meister wird Verständnis dafür haben, dass ich wegen der Kinder diesmal etwas vorsichtiger vorgehe. Schließlich hat er mich gebaut und seine Seele ist noch immer in mir. Beim Schlagen der Fensterläden sehen alle vier auf. Das kleine Mädchen lacht als erste.
»Hört mal, das Haus macht Musik für uns!«
Und noch ehe ich einen Dachziegel fallen lassen kann oder der Wind unheimlich durch den Schornstein heult, heben die vier ihre Arme und tanzen ausgelassen jauchzend vor mir herum. Das war leicht. Ich entscheide in diesem Moment, dass die erste Prüfung bestanden ist.
Zweiter Test: Verantwortungsgefühl. Ich stelle mich hilflos und lasse mit einem deutlichen Krachen die Regenrinne auseinanderbrechen. Die vier unterbrechen ihre Tanzerei und lauschen in die Dunkelheit.
»Was war das?«, fragt der Junge.
Mutter und Vater zucken ratlos die Schultern, während das Mädchen mit großen Augen und offenem Mund auf mich starrt.
Der Junge läuft aber einfach los in die Richtung des Geräuschs und steht schon vor mir, direkt vor der kaputten Regenrinne.
»Das müssen wir reparieren, sonst wird die Mauer ganz nass«, sagt der Vater, der ihm gefolgt ist. Mit vereinten Kräften ziehen, klopfen und drücken sie an dem Rohr herum, bis es wieder ohne Leck ist. Das lasse ich gelten, die zweite Prüfung ist bestanden.
Dritter Test: Herz. So weit ist noch nie jemand gekommen, denn bisher haben alle vorher die Flucht ergriffen. Ich habe keine Idee, wie man so etwas wie das Herz prüfen soll. Plötzlich bereue ich, dass ich mich überhaupt auf dieses Versprechen eingelassen habe. Aber wie hätte ich es dem Meister abschlagen sollen? Es war ein düsterer Tag und ihn hatte alle Hoffnung verlassen. Tag für Tag, Jahr für Jahr hatte er jede freie Minute genutzt, um mich zu bauen. Für sich und Magda, seine Frau, mit der er eine Familie gründen wollte. Bei jedem Stein, den er auf den anderen setzte, hörte er das fröhliche Kinderlachen vor sich, dass einmal in diesen Mauern erklingen würde. Aber es dauerte einfach zu lange. Magda war einsam und er merkte es bei all der Arbeit nicht. Als ich endlich fertig war, war Magda weg, bei einem anderen Mann, mit Kindern, die nicht seine waren. Ich erzittere, als ich mich an den Knall seiner Pistole erinnere und an die Trostlosigkeit, die mich seitdem nicht verlassen hat. Bis heute. Denn heute ist alles anders.
Ich lasse die Tür aufspringen und lade die vier ein, mich zu betreten. Ehrfurchtsvoll sehen sie sich in allen Räumen um. Die Kinder wissen sofort, welches ihre Zimmer sein sollen. Die Eltern aber bleiben Hand in Hand lange vor dem Bild des Meisters stehen. Sie spüren alles, ohne viele Worte.
»Danke, dass du dieses tolle Haus gebaut hast. Es ist wundervoll.«
Als sie mich wenige Monate später beziehen, können sie ihr Glück kaum fassen.
»Ist das nicht verrückt mit dem Testament?«, fragen sie sich ein ums andere Mal. »Wir hätten einen riesigen Kredit aufnehmen müssen. Wer weiß, ob wir den überhaupt bekommen hätten!«
Ich weiß, was der Meister sich ausgedacht hat, und lasse fröhlich die Dielen knacken. Sollte tatsächlich jemand die drei Prüfungen bestehen und beim Notar nach dem Haus fragen, dann würde der Inhalt seiner Geldbörse für den Kauf ausreichen. Denn alles, was der Meister für mich wollte, war kein Geld. Es war das Leben, das gerade bei mir einzog.