Seitenwind Woche 1: Gäste im Geisterhaus

Das Versprechen

Eben noch war es still und friedlich, wie an so vielen Nächten zuvor. Aber plötzlich ist alles anders. Ich spüre es, noch bevor ich den Grund dafür kenne. Meine Dachziegel richten sich unmerklich auf und die Fensterläden unterbrechen ihr klapperndes Spiel, während ich angespannt in die Dunkelheit lausche. Und dann höre ich sie.

Vier Menschen kommen fröhlich plappernd auf mich zu, zwei lange und zwei kurze. Wie verantwortungslos können Eltern sein, mitten an der Nacht mit ihren Kindern hierher zu kommen? Wissen sie nichts von den Gruselgeschichten, die man sich seit Jahren von diesem Ort erzählt? Ohne mein Zutun kommt wieder Leben in die Dachziegel und sie vibrieren zart im Gleichklang zu den hüfenden Schritten des Jungen. Seine kleine Schwester klammert sich an seine Hand und versucht, mit ihren Beinchen stolpernd Schritt zu halten, um ihn nur nicht zu verlieren. Mutter und Vater sehen ihnen liebevoll nach und lächeln.
»Und, immer noch keine Angst vor den bösen Geistern in diesem Haus?«, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf und atmet tief ein.
»Es fühlt sich gut an, so vertraut irgendwie.«
Dann umarmen sie sich, hier, direkt vor mir! Die Frau legt ihren Kopf an die Brust des Mannes, während er beide Arme um sie schlingt. Mich überkommt ein ungewohntes Gefühl. Was ist das? Ruhig, aber nicht düster und einsam, wie ich es seit diesem traurigen Tag vor fast zweihundert Jahren kenne, sondern gelassen und zuversichtlich. Sollten sie die Richtigen sein, endlich?
Aber ich habe es dem Meister versprochen. Keiner wird dieses Haus in Besitz nehmen, der die drei Prüfungen nicht besteht. Also lege ich los.

Erster Test: Gruselalarm. Denn wer ein solches Haus bewohnen will, darf nicht beim kleinsten Klappern oder Raunen die Flucht ergreifen. Vorsichtig lasse ich die Fensterläden an das alte Gemäuer schlagen. Der Meister wird Verständnis dafür haben, dass ich wegen der Kinder diesmal etwas vorsichtiger vorgehe. Schließlich hat er mich gebaut und seine Seele ist noch immer in mir. Beim Schlagen der Fensterläden sehen alle vier auf. Das kleine Mädchen lacht als erste.
»Hört mal, das Haus macht Musik für uns!«
Und noch ehe ich einen Dachziegel fallen lassen kann oder der Wind unheimlich durch den Schornstein heult, heben die vier ihre Arme und tanzen ausgelassen jauchzend vor mir herum. Das war leicht. Ich entscheide in diesem Moment, dass die erste Prüfung bestanden ist.

Zweiter Test: Verantwortungsgefühl. Ich stelle mich hilflos und lasse mit einem deutlichen Krachen die Regenrinne auseinanderbrechen. Die vier unterbrechen ihre Tanzerei und lauschen in die Dunkelheit.
»Was war das?«, fragt der Junge.
Mutter und Vater zucken ratlos die Schultern, während das Mädchen mit großen Augen und offenem Mund auf mich starrt.
Der Junge läuft aber einfach los in die Richtung des Geräuschs und steht schon vor mir, direkt vor der kaputten Regenrinne.
»Das müssen wir reparieren, sonst wird die Mauer ganz nass«, sagt der Vater, der ihm gefolgt ist. Mit vereinten Kräften ziehen, klopfen und drücken sie an dem Rohr herum, bis es wieder ohne Leck ist. Das lasse ich gelten, die zweite Prüfung ist bestanden.

Dritter Test: Herz. So weit ist noch nie jemand gekommen, denn bisher haben alle vorher die Flucht ergriffen. Ich habe keine Idee, wie man so etwas wie das Herz prüfen soll. Plötzlich bereue ich, dass ich mich überhaupt auf dieses Versprechen eingelassen habe. Aber wie hätte ich es dem Meister abschlagen sollen? Es war ein düsterer Tag und ihn hatte alle Hoffnung verlassen. Tag für Tag, Jahr für Jahr hatte er jede freie Minute genutzt, um mich zu bauen. Für sich und Magda, seine Frau, mit der er eine Familie gründen wollte. Bei jedem Stein, den er auf den anderen setzte, hörte er das fröhliche Kinderlachen vor sich, dass einmal in diesen Mauern erklingen würde. Aber es dauerte einfach zu lange. Magda war einsam und er merkte es bei all der Arbeit nicht. Als ich endlich fertig war, war Magda weg, bei einem anderen Mann, mit Kindern, die nicht seine waren. Ich erzittere, als ich mich an den Knall seiner Pistole erinnere und an die Trostlosigkeit, die mich seitdem nicht verlassen hat. Bis heute. Denn heute ist alles anders.
Ich lasse die Tür aufspringen und lade die vier ein, mich zu betreten. Ehrfurchtsvoll sehen sie sich in allen Räumen um. Die Kinder wissen sofort, welches ihre Zimmer sein sollen. Die Eltern aber bleiben Hand in Hand lange vor dem Bild des Meisters stehen. Sie spüren alles, ohne viele Worte.
»Danke, dass du dieses tolle Haus gebaut hast. Es ist wundervoll.«

Als sie mich wenige Monate später beziehen, können sie ihr Glück kaum fassen.
»Ist das nicht verrückt mit dem Testament?«, fragen sie sich ein ums andere Mal. »Wir hätten einen riesigen Kredit aufnehmen müssen. Wer weiß, ob wir den überhaupt bekommen hätten!«
Ich weiß, was der Meister sich ausgedacht hat, und lasse fröhlich die Dielen knacken. Sollte tatsächlich jemand die drei Prüfungen bestehen und beim Notar nach dem Haus fragen, dann würde der Inhalt seiner Geldbörse für den Kauf ausreichen. Denn alles, was der Meister für mich wollte, war kein Geld. Es war das Leben, das gerade bei mir einzog.

Ungefragt

Könnte ich meinen Standort wählen, wäre ich ein Blockhaus am See oder ein Maiensäss in den Bergen. Ich würde mir einen Wohnsitz mit einer malerischen Aussicht aussuchen. Ihr wisst, was ich meine – etwas für die Ewigkeit.
Vor meinem inneren Auge sehe ich satte, saftig grüne Wiesen und dazu ein verwaschenes himmelblau mit ungeahnten Höhen. Meine Seele würde inmitten dieser Farbenpracht ruhen und mit einem Lächeln würde ich mich dem ruhigen, unaufhaltsamen Zerfall hingeben. Um mich herum würde die raue Wildnis ihr Leben leben und ich könnte ein Teil einer wunderbaren Geschichte sein.

Ja, ja… Würde, hätte, könnte.

Stattdessen stehe ich hier am Rabenweg. Poetisch. Einer dieser ausgedachten Straßennamen, der mir huldigen soll. Er soll mir etwas Mystisches verleihen.
Ich habe keine dunklen Geschichten zu erzählen, ich beherberge keine Geister und ich bin nicht gruselig. Die Wahrheit ist, ich bin alt. Sehr alt. Verbittert und wütend. Wer kann es mir verübeln?
Seit Jahren wird mein Verputz gespachtelt, alles an mir wird übermalt und in die Jahre Gekommenes wird notdürftig geflickt. Alles nur, damit irgendwelche schaulustigen Besucher durch meinen Darm wandern und ihren Dreck in mir abstreifen können. Sie hinterlassen mir ihren Schmutz und mit Schmutz meine ich nicht die Hundescheiße an ihren Schuhen – sie vermachen mir ihre Lügen, ihre tief verborgenen Gelüste und Sehnsüchte.

Besonders an den Wochenenden rieche und schmecke ich diese Flunkereien. Teures Parfum überdeckt ihren abstoßenden Gestank.
„Ich hasse euch!“, möchte ich schreien. Ich will weinen, diese schäbigen Billigkopie-Möbel zerschlagen und dorniges Unkraut im Garten wachsen lassen. Doch ohne Stimme bleibt mir nur der winzige Spaß, hin und wieder die Abflussrohre zu verstopfen – sollen sie in ihrem eigenen Dreck ersaufen!

Mir wurde dieser sogenannte Denkmalschutz aufgezwungen. Ob ich will oder nicht, ich werde hier die Ewigkeit verbringen – dafür wird gesorgt. Wildwuchs wird nicht geduldet. Ständig wuselt jemand mit diversen, teuer aussehenden Gerätschaften durchs Dickicht. Buchsbäume werden zu diesen albern aussehenden Kugeln zusammengestutzt, das farbenfrohe Herbstlaub zusammengekehrt und in der Sonne glitzernde Schneeflocken werden mit kiloweise Salz bekämpft.

Ist es denn zu viel verlangt, mir etwas Raum zu lassen?

Heute besichtigt mich eine Gruppe Schaulustiger. Sie nennen mich „Museum“. Ja klar, als ob ich eins wäre! Sie betrachten die Möbel, die vor wenigen Tagen extra für diesen Anlass geliefert wurden, und faseln etwas von „vintage“ und „altbacken“. Lächerlich, wie einfach sie zu täuschen sind! Einige flüstern „Spukhaus“ – schön wär‘s! Nur weil mir tonnenschwerer Schnee auf dem Dach lastet, und hie und da etwas knarzt oder der Wind durch die Spalten der uralten Fassadendielen heult? Ach! Kann man euch wirklich so leicht um den Finger wickeln?

Auf meiner Veranda steht eine aufgetakelte Frau. Sie scheint von irgendeinem Unternehmen zu sein. Ständig zupft sie an Ihren Haaren und überprüft mit einem kleinen, pinken Handspiegel ihr Make-up. Zugegeben, die roten Lippen und dieser makellos sitzende, stahlgraue Anzug, stehen ihr hervorragend.
Die spitzen Hacken ihrer Pumps graben sich tief in die uralten Eichendielen meiner wunderschönen Veranda. Die werte Dame zerkratzt mir soeben mein Liebstes und Schönstes.
Es reicht! Dieser kühle und bereits eindunkelnde Winterabend eignet sich perfekt für eine Party. Bin ich versucht, eine Diele brechen zu lassen?

Mein Lachen erhellt diesen zauberhaften Abend.

„Knack“, flüstert ihr zartes Genick.

Willkommen

Stimmen im Garten. Ich schaue durch das zerbrochene Glas des runden Giebelfensters. Besuch, wie schön. Schluss mit der Langeweile, endlich wieder Spaß.
Die Jungs wirken verunsichert, fragen sich wohl, ob es riskant ist, bei mir einzusteigen. Ich grinse, während ein freudig erregtes Zittern durch mein Gebälk fährt.
Ob sie die alte Geschichte kennen?
Als hätte eine Böe sie aufgeschoben, öffne ich lautlos meine verwitterte Tür. Na los, denke ich, kommt schon.
Sie haben Alkohol dabei. Wodka, glaube ich im Licht ihrer Taschenlampe auf den Flaschen zu lesen, und freue mich schon darauf, deren Inhalt in die Fugen meiner Bodendielen sickern zu lassen; das letzt Mal ist so lange her.
Sie kichern, machen sich gegenseitig Mut, lassen mich warten. Verärgert werfe ich einen Fensterladen zu. Ein Fehler. Sie zögern. Verdammt, ich muss leise sein. Dann kichern sie wieder und treten ein. Leichtgewichte, höchstens 60 Kilo, vermelden die gesprungenen Fliesen im Eingangsbereich. Wenigstens sind sie zu dritt, das wiegt es auf, im wahrsten Sinne. Ich feixe.
Alle steigen über die knarzende Treppe nach oben. Einer streift seinen Rucksack vom schwarzen Hoodie, birgt längliche Behälter mit verschiedenfarbigen Deckeln. Noch mehr Alkohol? Er schüttelt sie, lacht und schlägt die Kappen ab. Es kitzelt auf meinem Putz, als mit einem zischenden Geräusch feiner Regen darauf niedergeht. Was ist das? Der Regen dringt in die Risse, er schmeckt widerlich. Noch eine Salve. Wut keimt in mir und wächst. Krachend lasse ich die Haustür ins Schloss fallen. Sie schrecken auf, schreien. Ihre Herzen rasen, ich rieche die Furcht. Herrlich.
Sie poltern über die Stufen nach unten, ruckeln an der Tür. Vergeblich. Ich klappere mit allen Läden, genieße ihre Panik. Eine Flasche fällt zu Boden und zerbricht. Genüsslich sauge ich die berauschende Flüssigkeit auf, schüttele mich wohlig. Die Jungs kreischen, purzeln übereinander wie junge Hunde. Welch ein Vergnügen.
Noch einmal bricht Glas; die zweite Ladung Wodka. Ich verschlucke mich und ein Ruck geht durch alle Mauern. Wieder ein Schrei. Ich schmecke etwas Warmes, begreife, es ist Blut. Einer der Jungs ist in eine Scherbe gestürzt. Dumm gelaufen.
Der Alkohol beschwingt mich, aber das Blut lässt mich an damals denken, erinnert mich an den süßlichen Ruch der Verwesung; es dauert zu lange, ihn aus den Mauern zu lüften. Ernüchtert öffne ich die Tür. Drei Gestalten stolpern verstört aus dem Haus und entkommen. Immerhin bleibt mir der Wodka.

Das Haus der Alten

Sie schimpften mich Hexe!
Sie jagten mich durch die Finsternis des Rabenwaldes und ließen mich brennen. Alles was mir lieb und teuer war, traten Sie, nahmen neben meinem Leben auch meinen Segen mit in den Untergang der einst blutroten Sonne. Bis heute halten sich deren Überlieferungen in meinen Gemäuern wie tiefe Narben.
„Los komm schon du Quälgeist“, Samantha schob ihre kleine Tochter die knarzenden Stufen hinauf und die Augen des kleinen Mädchens füllten sich mit Tränen.
„Ich will nicht in diesem Haus leben Mami.“
„Ich weiß Schatz, ich denke mit etwas Farbe und viel Liebe werden wir es zu unserem Lieblingsort verwandeln, warte nur ab, nur du und ich, wir gemeinsam, okay?“
„Ok.“ Die Stimme des goldblonden Mädchens verhallte wie ein leises Flüstern in der Eingangstür, während sich der Blick ihrer verschwommenen Augen zaghaft vorwagte. Obwohl die Sonne den Horizont erleuchtete und die Luft des Frühlings warm den Tag begrüßte, fühlte sich das Kind von der Dunkelheit des Hauses bedroht. Sie legte sich um den zarten Hals des Kindes und nahm ihm die Luft zum Atmen. So schwer waren die vergangenen Monate. Sam trat in den Flur, der modrige Geruch von schimmligen Holz und verstaubten Vorhängen kroch an ihr hinauf. Sam schüttelte einen kühlen Schauer von sich und knallte den schweren Koffer auf die staubigen Dielen. In diesem Haus sollen sich neue Träume erfüllen.
Ich kann die Verzweiflung der Ankömmlinge riechen, ihre Mutlosigkeit und Erschöpfung. Die Letzten ließ ich einige Monate in mir verweilen, ich nährte mich an ihren trostlosen Gedanken, raubte ihnen jede Hoffnung. Ich genoss ihre Anwesenheit, was für ein Jammer dass sie so wenig standhielten. Das kleine Mädchen gefällt mir, es ist voller Kraft und voller Angst zugleich. Sie wird mich stärken. Ich kann die brennenden Fackeln der einstigen Dorfbewohner noch riechen, ihre schrillen Jubelschreie als sie die sorgfältig getürmten Balken und Heuballen unter mir entzündeten. Mein Haus, das Haus der ungeliebten Alten des Waldes, behielten sie für sich, trieben ihre unzüchtigen Geschäfte in meinen Räumen. Sie dachten, sie wären nun sicherer ohne mich, diese Narren. Ich bediente mich, an deren Lebensgeistern, so wie sie einst die meinen stahlen. Ich war immer gerne mit dem Wald allein, wertschätzte seine Früchte, braute Tränke und Tinkturen für meine seltenen Gäste. Der Wald trug die Kraft und den Zauber in sich, die Kranken zu heilen und die Seelen der ungeliebten zu trösten. Ich störte mich an den stinkenden Dörflern, deren Gedanken so trügerisch wie dumm waren. Im Wandel der Jahrhunderte wurde das Dorf zu einer lebendigen Stadt, die Dörfler sind nun zu geschäftigen Horden aus kopflosen Bürgern gewandelt, deren Gier nach Macht und Geld ihre Umwelt stetig mehr verpestet hat. Ich sehe den Verfall ihrer Epochen, wie sie zerstören und schänden, was die Natur ihnen schenkte. Seelenlose Nichtsnutze voller Neid und Missgunst wie schon die Bauern der frühen Zeit. Mein schöner Wald mit all seinen wertvollen Gaben zertrampelt und zu Straßen geteert. Ich hasse Menschen! Diese gottlosen Biester, deren Götzen seit jeher die Falschen waren. Ich labe mich an ihren Ängsten, sauge sie durch meine Hallen aus, nehme Rache, bis sie innerlich zu faulen beginnen und in meinen Mauern verwesen. So werden sie alle irgendwann ein Teil von mir, von meiner Geschichte. Das Haus der unerwünschten Alten des Rabenwaldes.

Wie sie kommen und wie sie gehen

Ich stecke voller Leben – das meiste davon winzig klein, Pilze, an Sparren nagend, Mäuse, eine wimmelnde Brut aufziehend, Asseln, in feuchten Spalten äsend. Ein Waschbär und drei Dutzend Fledertiere sind die größten meiner Bewohner. Zumindest jener, die noch atmen.
Manchmal jedoch finde ich interessantere Ablenkung: lebende Menschen. Sie kommen und sie gehen. Auf der Suche nach einem trockenen Schlafplatz. Für ein Versteck kleiner Schätze oder Drogen. Als Mutprobe. Und manchmal, weil sie auf ihrem Weg zum Sterben fühlen, dass ich nicht nur rastlosen Geistern Herberge biete, sondern auch jenen armen Seelen, die für ihr Ende kein Bett im Kreis der Familie haben. Wenn sie gingen, hoffte ich, ihnen wenigstens eine Winzigkeit Frieden geschenkt zu haben.
Im Laufe der Jahrzehnte kamen auch die, die meine Gäste stören wollten. Sich selbst am Leid der Verdammten aufrichten, ihren Status in der Gemeinde erhöhen, Besitzanspruch auf mich erheben. Nie sind sie allein. Kein Interesse an Erlösung und kein Recht auf Schutz. Wenn sie gingen, sorgten wir dafür, dass sie nach ihrer Mutter schrien und schworen, nie wieder einen Fuß über meine Schwelle zu setzen.
Eine Gruppe wie diese jetzt jedoch kam mir noch nie unter: Wo war der Priester? Wo der Sheriff und seine Constables? An ihnen hängt weder das berauschende Aroma von Weihrauch noch die ins Jenseits weisende Aura von Schießpulver und Waffenöl.
Das aufsteigende Flüstern in meinen Wänden zerfasert in unterschiedliche Richtungen: Eine Gefahr? Verwandte Seelen auf der Suche nach Obdach? Schon krallen sich Fledermausfüße nervös in Dachbalken, Spinnen verlassen ihre Netze und kriechen in finstere Ritzen.
Wir belauschen sie und erfahren von Techniktricks, Clickzahlen und der Hoffnung auf den großen Durchbruch. Sie tragen Kameras, leuchten schamlos mit Lampen in meine intimsten Winkel. Einer von ihnen legt den Ort fest, an dem sie die Erscheinung des Übernatürlichen inszenieren werden.
Die Neugier der Geister wandelt sich in etwas Gnadenloses.
Im Einklang mit ihren Absichten lasse ich die Tür ins Schloss fallen und sperre die Besucher ein. Sieht so aus, als gehörten sie zu jenen, die schreien werden.

Sie sind zu dritt, stehen tuschelnd auf der Holzdiele vor der schweren Eichentür. Die beiden Jungs gaukeln ihrer Begleiterin vor, alles im Griff zu haben, überbieten sich mit markigen Sprüchen und forschem Auftreten.

»Das Haus ist unheimlich«, wispert das junge, hübsche Mädchen.
»Bei mir musst du keine Angst haben, Baby«, tönt der größere der beiden Burschen und streicht sich über seine gegelte Frisur.
»Ich passe auf dich auf«, pflichtet der kleinere Kerl bei und nestelt aus der Hosentasche ein kleines Schnappmesser hervor.

Vielversprechend. Sie gefallen mir.

Gelfrisur beugt sich vor zur Tür und rüttelt an meiner Klinke. »Verschlossen.«
So einer also! Ich sperre nie ab, mein Haus steht allen offen.
»Ja, wirklich schade«, meint Schnappmesser und alle entspannen sich.

Ich öffne die große Eingangstür. Sie springt knarrend auf und Baby wird leichenblass. Gelfrisur flucht und Schnappmesser … macht etwas Pipi.

»Gehen wir rein«, bestimmt der große Bursche mit zittriger Stimme.

Gut so.

Gelfrisur drückt auf den Lichtschalter. Doch nichts passiert. Wie auch, der Strom ist seit Jahren abgeschaltet. Überraschend punktet Schnappmesser mit einer Taschenlampe.

Vorsichtig tasten die drei sich den Gang entlang und betreten das Wohnzimmer. Der Lichtschein der Lampe fällt auf das alte Grammophon, das auf einem staubigen Sekretär steht.

»Oh, eine hübsche kleine Orgel«, entfährt es Baby.

Na ja. Fast.

»So eine habe ich in unserer Kirche schon gesehen«, pflichtet Gelfrisur mit ernster Miene bei. Hat er natürlich nicht. Aber er will ja nicht als dumm dastehen.
Baby starrt auf das Grammophon. Ihre Augen leuchten. »Können wir die mitnehmen? Ich möchte sie Carl schenken. Er hat doch so eine coole Band.«

»Carl?«, echot Gelfrisur überrascht.
»Der Rocker?«, ergänzt Schnappmesser entsetzt.

Finger weg von meinem Grammophon, denke ich und bin nicht amüsiert.

»Ja, mein Freund. Wir sind seit letztem Wochenende zusammen. Er ist megacool.«
»Dein Freund?« Gelfrisur ist fix und fertig.

Sie deutet entschlossen auf das Grammophon. »Mitnehmen« Ihre Stimme lässt keine Widerworte zu.

Die beiden Jungs treten nach vorne. Jetzt wird es ernst. Ich lasse das alte Phonogerät sofort eine Melodie spielen. Die aus der Duschszene in »Psycho«, die hilft immer.

Alle zucken zusammen. »Das ist aus <der weiße Hai>«, schreit der große Bursche auf.
»Quatsch, du Schwachmat, aus Alien«, widerspricht der kleine Kerl.

Sie stürmen aus dem Zimmer.

Ich lasse die Lichter im Gang an und ausgehen. Würden sie darauf achten, würden sie feststellen, dass ich »Auf Wiedersehen« morse. Aber das fällt ihnen natürlich nicht auf.

Sie werden ja auch nicht mehr zurückkommen …

Meine letzten Tage

Wütend klappere ich mit den Fensterläden. Verschwindet! Versuche ich zu schreien. Natürlich beachtet mich keiner. Warum sollte auch jemand den Wunsch meiner alten Wände beachten? Ich werde dafür sorgen, dass sie bereuen, über meine Schwelle getreten zu sein! Blinde Wut packt mich. Man hat mich verlassen, nun wollen sie schauen, was man an meiner Stelle bauen kann. Das ist unglaublich! So viele Jahrzehnte habe ich den Menschen ein warmes Zuhause geboten, jetzt wollen sie mich durch eine Neubaute ersetzen! Als wenn die meinen Charme übertreffen könnten!
Wehmütig denke ich an die Kinder, die in den Schaukeln an den Bäumen gespielt haben, die um mich herum stehen. Ich höre das Wimmern in ihren Ästen, als der Wind durch sie hindurch fegt. Auch sie werden der neuen Siedlung weichen müssen. In der Dämmerung diesen kalten Winterabend kommen Architekten, die in ihrer Spätschicht noch einmal Skizzen durchgehen. Ich werfe mit aller Macht einen Ziegelstein ab, leider verfehle ich.
»Gut, dass wir das alte Ding abreißen!«, ruft einer der beiden erschrocken. Sie suchen unter meinem Vordach Schutz! Ich lasse den Wind meine Fensterläden zuschlagen, doch es hilft nichts. Sie werden ihre Meinung nicht ändern, ich gebe auf. Traurig warte ich auf den Tag der Tage. Ich genieße die Ruhe, als sie verschwunden sind. Die letzten Tage, in denen ich meinen Frieden habe. Keiner der neuen Häuser wird meine Geschichten erzählen können. Die Geschichten von Freude und Leid. Die Geschichten von adligen Familien, ihren besten Tagen und deren Skandalen. Niemand wird sie jemals wieder hören, denn meine letzte Bewohnerin, die mich gepflegt und geliebt hat, wie ich sie, ist in meinen Wänden eingeschlafen. Ich trauere um sie, nicht um mich. Doch ich werde ihr folgen, wenn auch nicht zum gleichen Ort, fürchte ich. Ich hoffe, es geht schnell. Wie bei ihr.

All in one

Draußen senkt sich Nacht hernieder,
über mir erwacht es wieder
dieses Knarzen, dieses Schleichen
und auch ich kann es jetzt hören,
man will uns’re Ruhe stören:

Lautes Lärmen, freches Singen,
durch den Tann hör’ ich es klingen,
und ich strecke mein Gefache
bis der Putz herunterbröselt
lass die Fensterläden knallen
bis vom Dach die Schindeln fallen
bis mein First sich drohend biegt
und, sieh’ da, die Neugier siegt:

Grusel, Spuk ist ja modern,
das haben laute Gäste gern.

Rein jetzt in die gute Stube
unterm Sofa diese Tube
Chilischotenkonzentrat,
was der Herr des Küchenherdes
damit wohl gleich vorhat?

Hiergeblieben,
hingesetzt,
seht, wie er die Messer wetzt,
links und rechts mit Tak-tak-tak
hacken sie gleich zack-zack-zack
Fleisch und Knochen klitzeklein
ach, ich ahne, das wird fein.

Zwiebeln weinen denn sie müssen
in die Masse mit den Füßen
reingestampft und durchgeknetet -
dass sich niemand heut’ verspätet.

Hexenbesen rauscht herbei
Hexer auch - 's ist einerlei
auch die Sternchen in der Mitten
wollen wir zu Tische bitten.

Lange, lange ist es her,
dass Besuch zuletzt mich fand
mich, die Mühl’ am Waldesrand
unterm düstern Rabenstein,
wo die dunklen Tannen wachen
und die Felsen nächtens krachen.

Umso fröhlicher der Reigen
in dem sich heut’ Hexer zeigen
Arm in Arm mit Hex’ und Sternchen
dreh’n sie sich um den Kamin
aus dem schon die Düfte zieh’n.

Manche schockt das,
manche schreckt das,
manche zieht es magisch an,
denn wo man mit Sternchen prunkt,
ist der Gast stets Mittelpunkt.

Nun wird fröhlich losgezecht
und das Sofatubenchili
überrascht den Hexer Willi
gut versteckt in einem Gastkloß
brennt es sich in ihn hinein,
er brüllt, die andern lachen
über solchen derben Scherz und
durch den Schmerz vom Chili beißt dann
sich hindurch bis in sein Blut
der Meister meines Küchenherdes
denn das mag er
darauf steht er
mein Vampir vom Rabenstein -
für ihn lass’ ich trotz dem ganzen
Grabesruhestörungsrummel
immer gerne Gäste ein.

Laute Stille

Verdammt, da ist er wieder! Mein Herz schmerzt, in der Nähe der dritten, krächzenden Etage. Dort, wo die altersschwache Tür klemmt, in dem Zimmer, in dem Engelbert umkam …

Nur nicht daran denken, sonst bekomme ich wieder einen Asthmaanfall und fürchte um meine brüchige Lunge. Die langjährigen Nachbarinnen, Malaika Moos und Erika Efeu sind angeschlagen. Es fällt ihnen schwer, mich zu kühlen.

Cosmo nähert sich. Er hat die markanten Gesichtszüge seines Großvaters, die dunklen Augen mit den großen Wimpern hingegen erinnern mich an die zärtliche, hingebungsvolle Art seiner Mutter.

Wie ist er darauf gekommen, dass es hier im Rabenweg passiert ist? Diesmal ist er mit zwei Begleitern da. Mein verfallenes Ohr hört nur gehauchte Wortfetzen, vom verstaubten Dachboden und Briefen ist die Rede.
Ein wochenlanges, trockenes Weinen beutelte meine Seele, als ich das Unsägliche erleben musste. Dazu krümmte ich mich in einer Kolik, danach war es lange still, mir fehlte jahrzehntelang jede Substanz.

Ich erbebe, als Cosmo seine Hände auf meine verwitterte Fassadenhaut legt. Mir entwischt ein behagliches Knarren, doch seine Augen weiten sich und er springt erschrocken zurück. Warum kann es nicht so weitergehen, nur er und ich?

Doch er muss es erfahren. Nur ich weiß, dass dort oben die Dinge lagern, nach denen er sucht. Doch die Treppe zum Dachboden ist marode und spröde.

Jede Zelle meines brüchigen Ziegelkörpers schreit vor seelischem Leid. Ich versuche, ihn zu rufen. Immer lauter, immer verzweifelter. Mein rissiger Fensterladenmund ist trocken, die Augen spinnwebenverhangen, die Wimpern kalkverklebt. Dann lösen sich marode Dachschindeln, zerbersten mir einem durchdringenden Scheppern vor den Füßen der Gefährten.

Wurde trotz meiner Behutsamkeit jemand verletzt?

Wünsche und Ängste

Was bewegt sich denn dort hinten? Da kommt doch etwas!
Verflixt, seit die letzten Bewohner gestorben sind, zündet niemand mehr die alten Gaslaternen am Weg an. Nur noch der Mond scheint manchmal, sonst sind die Nächte furchtbar dunkel und kalt.
Ich habe Angst im Dunkeln und keinen Menschen mehr, der mich wärmt und mich beschützt, wenn die Eulen schaurig-laut durch die Bäume im verwilderten Park rufen oder sich frech auf meinen höchsten First setzen.
Am anderen Ende des Weges stehen kleine Häuschen, ich kann ihre windschiefen Dächer von hier sehen. Früher habe ich sie verachtet, weil sie so mickrig sind und nicht so schön und stattlich wie ich. Doch heute beneide ich sie. Ich bin so schrecklich allein und sie sind immer beisammen und haben nachts Licht und Menschen und Leben.
Da kommt doch wirklich jemand über den Weg hierher. Oder?
Hoffentlich ist es nicht wieder dieser riesige streunende Hund, der mein schönes Anwesen für sein Revier hält. Ich mag es gar nicht, wenn er um meine Ecken schleicht und sich nicht vertreiben lässt, egal wie sehr ich mit den Fensterläden ächze und knarze.
Noch schlimmer sind nur die unheimlichen Fledermäuse, die sich im Dach eingenistet haben, seit ein schlimmer Herbststurm den dicken Ast durch mein schönes Buntglasfenster geschmettert hat. Es war mein größter Stolz, doch nun liegen die Scherben im dichten Gras und glänzen nur noch manchmal, wenn die Sonne hoch am Himmel steht. Ach, wenn die Sonne nur endlich aufginge, die Nacht ist so lang…
Moment mal. Doch, bin ich mir sicher. Da kommt jemand den Weg entlang. Mit Taschenlampen. Ja, das sind Menschen. Mehrere sogar.
Oh, ich bin ja so aufgeregt! Jetzt nur nichts falsch machen, nichts überstürzen.
Die Vordertür einen Spalt weit öffnen, gut. Alle Fensterläden fest zuhalten. Nichts darf klappern, ich will ja niemanden verschrecken. Sie sind schon ganz nah.
Es funktioniert, sie stehen eng beieinander in der großen Halle und schauen sich um. Fünf Menschen, wie wunderbar. Und so jung.
Ganz leise die Tür wieder schließen. Sicher verriegeln.
»Willkommen in Raven Manor! Ich war allein, aber nun seid ihr hier, meine Freunde. Wie schön, dass ihr euer wundervolles, langes Leben zukünftig mit mir teilen werdet!«

Der Rabenweg

Langsam komme ich zu mir. Ich habe geschlafen. Wie lange wohl schon?

Was hat mich aufgeweckt? Suchend tasten meine Sinne durch die Räume, schrecken kleine Insekten auf. Lassen die Mäuse mitten im Lauf erstarren und sich witternd aufrichten. Schon lange sind sie bei mir, haben geglaubt, alleine zu sein. Ob sie wohl erkennen, dass ich ihnen nichts Böses will?

Da spüre ich es. Am Rande meines Seins entsteht Bewegung. Das hat mich also geweckt. Fremdes Leben nähert sich mir. Drei – nein vier – Menschen haben den Weg durch die Nacht und die Wildnis um mich herum gefunden.

Wie lange schon hatte keiner mehr diese Pfade betreten? Ich weiß es nicht. Ich merke den Lauf der Zeit nur daran, dass der Putz und Schmuck der letzten Menschen, die hier gewohnt haben, von mir abbröckelt und verfällt. Auch jetzt, auf der Suche nach den Eindringlingen, löst sich wieder etwas Tapete von meinen Wänden und segelt zu Boden. Jedes Strecken verwischt die Spuren der Vergangenheit mehr. Und ich will nicht mehr an die Vergangenheit denken. Schreckliches ist hier geschehen. Menschen haben hier andere Menschen gequält und umgebracht. Ihre Schreie hallen noch heute in meinen Wänden. Lange ging das Morden, immer wieder kamen sie zurück. Ich stehe am Ende einer langen Straße, einsam und von außen kaum einsehbar. Das hatte sie damals angelockt. Ich war erstarrt und erkannte mit Entsetzen, was sie in mir taten.

Damals spürte ich zum ersten Mal, dass ich nicht nur untätig zusehen musste. Ich lernte, mich zu wehren; versperrte Türen und Fenster. Aber ich war noch jung, ungeübt und schwach. Sie traten die versperrte Haustür ein und zerbrachen die Fenster. Doch ich wurde stärker und das letzte Opfer konnte ich schließlich schützen. Ich versperrte die Türen und Fenster und lies niemanden zu ihm. Löste Ziegel und den Putz an den Decken und ließ sie auf sie fallen. Jedes Mal, wenn sie zu seinem Zimmer wollten, hielt ich sie auf. Aber ich hatte zu lange gewartet, bis ich endlich überzeugt war, dass wirklich keine Gefahr mehr für ihn bestand. Erst dann öffnete ich die Türe wieder. Doch verlassen hat er das Zimmer nicht. Er lag auf dem Bett und starrte blicklos an die Wand. Durch die zerbrochenen Fenster im Nebenraum kamen dann die Raben. Sie besuchten ihn oft. Das fiel auf, doch ich lies keinen hinein. Nur die Raben. So bekam unsere Straße ihren Namen. Der Rabenweg.

Und jetzt kamen wieder Menschen. Einer der Menschen hatte Angst, ich kann es spüren. Ging es doch wieder los? Warum immer hier? Ich wollte das nicht. Sie treten ungehindert ein, trampeln über die alte Haustür auf dem Boden. Sie zerren den ängstlichen Menschen hinter sich her, lachen laut, während dieser immer langsamer wird. Sie sprechen von Halloween und einer Mutprobe im alten Spukhaus. Meinen sie mich damit? Alles in mir sträubt sich. Nicht hier! Niemand sollte hier mehr unschuldig zu Schaden kommen.

Was haben sie vor? Sie gehen in den Keller. Stehen vor einem der alten Lagerräume. Plötzlich stoßen sie ihn hinein, schlagen die Tür zu und sperren diese zu. Der Gefangene schreit und tobte. Seine Angst kriecht in meine Wände. Ich muss ihm helfen. Warum nur habe ich nicht längst alle Schlüssel aus den Türen gestoßen?

Ich werde wütend. Kein Unschuldiger würde hier mehr sterben und mein Sein damit belasten. Die Anderen jedoch…

Ich warte, bis sie im Nebenraum sind. Sie haben Flaschen dabei und betrinken sich noch mehr. Ich sammle alle Kraft. Die Tür beginnt sich langsam zu bewegen, wird immer schneller und schlägt zu. Der alte Schlüssel im Schloss drehte sich.

Auch der Schlüssel in der anderen Tür dreht sich, schließt auf und lässt den Gefangenen frei. In Panik läuft er über die Kellertreppe hinauf. Ich lasse ihn ruhigen Gewissens ziehen.

Die Anderen hingegen…

Das gierige Haus

Ich bin das Haus, ich habe ein Geheimnis.

Es ist der Abend vor Allerheiligen. Im Garten wiegen sich die Bäume kahl im Wind und verheißungsvolle Dunkelheit liegt über allem. Jede einzelne meiner Fasern vibriert vor Erwartung, denn ich habe nur diese eine Nacht, und es gibt so viel zu tun.

Als sich eine einsame Gestalt nähert, ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren, erwacht meine Hoffnung. Alt genug, um nicht vor jedem unerwarteten Geräusch die Flucht zu ergreifen, gleichzeitig noch so jung, um Unerklärliches zu akzeptieren. Er könnte geeignet sein.

Mit geräuschvollem Knarren lasse ich die Eingangstür aufschwingen, gerade so weit, dass sich mein unschlüssiger Besucher hindurchzwängen kann. Immerhin, mutig ist er, an dieser Stelle scheitern sonst die meisten.
Dann der entscheidende Moment. »Willst du ein Geheimnis erfahren? So geh noch ein kleines Stück weiter. Du wirst eine gewaltige Entdeckung machen.« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Hauch, doch er kann sie vernehmen. Zu meiner großen Freude siegt seine Neugier über die Furcht.
Ob er wegen einer Mutprobe unter Knaben hier ist, oder seiner Angebeteten seine Tapferkeit beweisen will, ist mir einerlei. Er ist hier, und nur das zählt.

Die Tür zur roten Galerie öffnet sich beinahe von selbst, ich lasse ihm Zeit, den hohen Raum mit den zahlreichen Gemälden zu betrachten, die die Wände reihum zieren. So viele Männer und Frauen, alle todtraurig, alle uralt. Und eine Leinwand, die noch darauf wartet, gefüllt zu werden.
»Dort ist jetzt dein Platz«, wispere ich, als sein Blick auf das leere Bild fällt.
»Was soll das, wer spricht da?« Panisch schaut er sich um und sieht lediglich, wie sich die Zimmertür lautlos schließt und gleich darauf spurlos verschwunden scheint.
Er rennt los, streckt sich danach aus und schreit voller Entsetzen auf, denn die Haut seiner Hand hat ihre jugendliche Straffheit verloren und sich in die verhutzelte Klaue eines Greises verwandelt. Er ist nicht dumm, der Junge, das sehe ich, als er sein Gesicht betastet, zu fassungslos, um sich zu wehren und zu ungläubig, um zu weinen. Er hat verstanden.
»Sieh her, so hättest du mit 92 Jahren ausgesehen, im Moment deines Todes«, sage ich, und mit seinem letzten Blick erkennt er in dem uralten Mann auf der jetzt gefüllten Leinwand sich selbst.
Einen Moment später ist sein Körper verschwunden.

Herrlich, endlich habe ich wieder Kraft! Die zersprungenen Fenster im oberen Stock beginnen bereits zu heilen, auch die durchhängende Decke im Musikzimmer zieht sich zurecht. Es gibt noch viel zu tun, aber ein Anfang ist gemacht.

Ich bin das Haus, ich habe ein Geheimnis. Und jetzt kennst du es.

Wenn man so lange leer steht wie ich, sehnt man sich nach Nähe. Ich habe es satt, Leute zu erschrecken. Ich will mehr. Ich will mich wieder fühlen. Nachdenklich strecke ich die alten Balken, die mein Dach tragen. Wie gerne würde ich die Spinnentiere von den Ziegeln kratzen. Überall spüre ich ihre dünnen Beine. Besonders wenn es dunkel wird, krabbeln und kriechen sie durch jede Ritze meines alten Gemäuers.

Aber diese Art von Nähe vermisse ich nicht. Ich vermisse die sanften Hände liebender Bewohner, die träumend über meine Mauern streichen, weil sie sich wohlfühlen in mir und mich lieben. Wie soll ich sie finden, wenn ich sie regelmäßig verscheuche?
In meinen Eingeweiden wohnen nur Spinnen und … Geister. Gruselige, transparente Energiegebilde, die auch durch alle Ritzen kriechen, nur spüre ich sie nicht. Gott sei Dank!

Ich bin so vertieft in meinen Schmerz, dass ich die Menschen erst spüre, als sie vorsichtig in die große Halle huschen. Menschen! Plötzlich bin ich hellwach.

Schweigend bildet die kleine Gruppe einen Kreis. Es sind sechs junge Leute, Frauen und Männer, in lange, weiße Gewänder gehüllt, die selbst in der Dunkelheit leuchten. Sie fassen sich an den Händen, schließen die Augen und beginnen zu singen, erst ganz leise, fast unhörbar, dann immer kräftiger.

Sprachlos beobachte ich das Geschehen. Spontan gefallen sie mir, diese Menschen. Ihr Gesang berührt etwas in mir, das längst vergessen scheint. Er ist voller Lebendigkeit.

Plötzlich erstrahlt in ihrer Mitte eine Lichtsäule, die durch mein Dach in den Himmel steigt. Und dann kriechen die Geister aus allen Ecken. Zum ersten Mal erkenne ich die Seelen in ihnen, sehe ihre Sehnsucht nach dem Licht. Wie Motten streben sie darauf zu, werfen sich hinein und werden hinaufgetragen. Immer höher, bis sie meinem Blick entschwinden. Ihre strahlenden Augen und die Freude, die ich darin entdecke, auch sie berühren mich.

Dann wird es still. Der Kreis löst sich auf und die Menschen streben dem Ausgang zu, wollen leise verschwinden, wie sie gekommen sind. Voller Wehmut möchte ich sie aufhalten. Es ist das erste Mal seit Jahrhunderten, dass mich etwas derart anrührt. Aber wie?

Während mein Verstand noch nach Möglichkeiten sucht, bleibt eine der Frauen plötzlich stehen. Sie stellt sich direkt vor eine meiner Mauern, ihre Hand hebt sich und berührt mich ganz sanft. Vor Ehrfurcht halte ich den Atem an.

„Hab keine Angst“, flüstert sie mir zu, „ich komme wieder und dann räumen wir richtig auf.“

Sie hat gesagt, ihr fehle die Luft zum Atmen. Immer wieder hat sie das gesagt. Ich habe nie verstanden warum. Stets blieb ich offen (für sie), einladend (für ihre Gäste), habe ihr nie den Weg versperrt (außer, sie hat ihn selbst verschlossen). Wo immer sie hinwollte, ob hoch hinaus (auf die Dachterrasse), steil bergab (in den Keller nach zu viel Wein), ich habe sie gelassen. Natürlich habe ich sie gelassen. Wie könnte ich auch nicht? Sie war mein Ein und Alles. Sie hat mich großgezogen. Sie hat das Fundament erschaffen, auf dem ich throne. Hat mein Rückgrat gestärkt, meine Flügel wachsen lassen (nach Ost und West). Sie hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Noch immer. Egal, was die anderen sagen: Ich bin noch immer so schön, noch immer so wertvoll wie damals, als wir noch glücklich waren. Sie hat gesagt, das kleine Zimmer an meinem Ostflügel, es würde nun endlich Verwendung finden. Ihre Stimme war mit Sehnsucht belegt. Ein kleines Bett hat sie hineingestellt, einen kleinen Tisch mit weicher Oberfläche. Doch ein Winter jagte den nächsten und das Bett blieb leer. Dann fing es an. Mit der fehlenden Luft. Sie schlich auf Dielen herum. Schmiss um sich. Ich versuchte, die Fassade aufrecht zu halten, doch ihr Ausdruck von Schmerz hinterließ tiefe Narben. Keine Narbe davon hinterließ jedoch eine so tiefe Wunde wie an dem Tag, an dem sie beschloss, dass sie einen Tapetenwechsel brauche. Sie. Nicht ich. Dann war sie fort.

Nun stehe ich hier. Tagein, tagaus. Und warte. Mancher wollte ihren Platz einnehmen. Doch keine ist so wie sie. Keine.

Immer noch vergehen so viele Winter. Stets warte ich auf das Vogelzwitschern, das den milden Frühling ankündigt, die sanfte Hoffnung auf Rückkehr. Doch niemand kehrt zurück. Niemand.

Manchmal, nachts, wie jetzt, da halte ich es nicht mehr aus und jammere. Jammere meine Traurigkeit heraus in die kalte Dunkelheit. Das Geräusch zieht die Ratten an. Sie kommen mit Rucksäcken und Taschenlampen, nagern sich durchs Haus und kichern. Kichern über mein Leid. Ich lasse sie. Bis sie das kleine Zimmer erreichen. Bis sie die Grenze überschreiten. Erst dann schlage ich um mich. Alles erbebt in mir, ich heule durch die Gänge, stoße die Fenster auf, schließe sie wieder. Ich kann es kaum kontrollieren, so wenig wie sie ihre Angst. Sie nehmen Reißaus, verkriechen sich in ihren Höhlen. Sollen sie nur. Sollen sie fortlaufen. Sollen sie noch so oft wieder zurückkommen, an mir zerren, versuchen, mich zu brechen. Niemals werden sie es schaffen. Nicht, solange ich noch Hoffnung trage. Nicht, solange es noch Frühlinge gibt.

Nie werde ich aufhören zu warten. Warten, bis sie wieder zurückkehrt. Und das kleine Bett endlich die Verwendung findet, nach der sie sich so gesehnt hat.

Zeit ist eine komische Sache.
Was früher frisch lackierte Dielen waren, knarzt nun mit jedem Schritt, verräterisch in ihrer Lautstärke. Treppen, einstmals die Verbindung zwischen den Stockwerken, eine tückische Falle für Beine, die in ihr versinken. Die Kinder haben es geliebt, so zu tun, als wäre sie ein Portal in die unterschiedlichsten Welten, voller Abenteuer, Gefahren und Ruhm. Die Mutter hatte die Kletterpartien verboten, nachdem der Junge einmal stolperte, fünf Stufen auf einmal nahm und mit dem Kopf auf der zweiten Stufe landete. Der Blutfleck, den er hinterlassen hatte, ist heute noch im Holz zu erkennen. Dabei ist das alles so lange her.
Zeit ist eine verwirrende Sache.
Viele Besucher sind schon vorbeigekommen, während die Familie noch hier wohnte, und hin und wieder auch danach. Immer wieder ein freudiger Anlass. Wären sie nur etwas vorsichtiger mit der Art, mit der sie in den Eingangsbereich eintreten. Der Türrahmen nämlich ist mittlerweile verbogen, und die Tür, deren Farbe mehr und mehr abblättert, schleift über den Boden. Nichts was man mit etwas Kraft nicht lösen könnte, aber der ohnehin schon beanspruchte Eintritt wird dadurch nur noch mehr belastet. Es wäre schön, wenn sich mal jemand darum kümmern würde. Der Zustand ist traurig.
Einmal kam ein Mann, aufwendig gekleidet in langen, weißen Roben, an der eine einzelne silbern verzierte Schärpe herunterhing. Ungewöhnliche Kleidung. Der Herr des Hauses hatte so etwas nie getragen, nicht mal, wenn seine Frau verlangte, dass er sich „herausputzen“ sollte. Ein merkwürdiger Ausdruck, da sie ja zumeist das Putzen übernommen hatte. Abschweifende Gedanken. Sie kommen häufiger in letzter Zeit. Vielleicht ist es mehr ein Ausdruck der Einsamkeit und nicht der Jahre, die sie verursachen.
Zeit ist eine doofe Sache.
Der Mann, den die Familie als „Pater“ bezeichnete, ging mit ernstem Gesicht durch jeden Raum, seine rechte Hand erhoben, die Linke einen Anhänger an einer langen, silbernen Kette umklammernd. Seine Augen huschten dabei durch jede Ecke, so als wäre er auf der Suche nach etwas. Spinnweben waren es mit Sicherheit nicht, die Frau vergaß immer, die Ecken an der Decke mit zu reinigen, sodass sie voll davon waren. Nein, was immer es war, er fand es im Zimmer der Kinder. Er blieb an der Tür dazu stehen und sprach mit lauter Stimme: „Es ist hier!“, worauf die Frau in Tränen ausbrach und auf dem damals noch sauberen Teppich zusammenbrach. Der Herr half ihr auf und umarmte sie, während das kleine Mädchen sich an seine Hose klammerte. Sie hatte in der Zeit davor sehr viel geweint. Das hatten sie alle. Nicht aber der „Pater“, der nun, mit noch ernsterem Gesicht durch das Zimmer huschte, vorbei an dem frisch bezogenem Bett zu dem, das mittlerweile eine leichte Staubschicht aufwies. Die Frau weinte immer noch heftiger, wenn sie da putzen wollte, und ließ es dann gänzlich sein.
Was danach passierte, ist in Dunkelheit getränkt. Der „Pater“ zog das Bett beiseite, und fing an, den Teppich darunter aufzuschneiden. Darauf folgte etwas, was man als Wut bezeichnen konnte. Wer war er, dass er sich erdreistete, das Eigentum der Familie kaputt zu machen. Wer war er, dass er sich herausnahm, etwas von Ihnen wegzunehmen, dass sich doch so verzweifelt an sie klammerte, nicht gehen wollte, noch nicht bereit war?
Er hatte dazu kein Recht.
Niemand hatte das.
Aber es dauerte nicht lange, und er hatte es begriffen.
Was darauf folgte, waren stille Jahre. Niemand, der mehr pfeifend durch die Räume ging, mit einem Besen in den Händen. Niemand, der sich, wenn er nach Hause kam, ein Getränk aus der Glaskaraffe einschüttete und dann auf dem Sofa niederließ. Und kein Lachen mehr, dass durch die Räume schallte, wenn die Wirbelwinde von oben bis unten durchfegten. Es war ruhig. Nur noch die Besucher hin und wieder.
Wie nun diese drei.
Sie kamen bei Einbruch der Nacht, rüttelten an der Tür und wählten dann die Muskelmethode, um die Tür zu öffnen. Das laute Geräusch schreckte ein paar Fledermäuse auf, die es sich im Gebälk gemütlich gemacht hatten und nun kreischend aus dem Eingang flatterten, was einen der drei, einen kurz gewachsenen, jungen Mann mit rötlichen Haaren und Fell von gleicher Farbe an seinem Schwanz ebenfalls aufschrecken ließ. Einer seiner Hände umklammerte das Hosenbein von dem Mann vor ihm. Sehr nostalgisch.
„Sag mir bitte nochmal wie viel wir hierfür bekommen?“ Ein gewisses Zittern in seiner Stimme konnte er nicht verbergen.
„Auf jeden Fall genug, um endlich die Überfahrtkosten zu bezahlen. Und da bleibt noch was über!“ Der Mann hatte eine sanfte Stimme, die im Kontrast zu seinem Aussehen stand: hochgewachsen, lange, braune Haare und einen Stoppelbart, den der Herr niemals zugelassen hätte. Er strich dem Jüngeren über seinen Kopf und die katzenähnlichen Ohren, woraufhin er sich zu beruhigen schien. Der Stoppelbart lächelte und wandte sich an die dritte Person neben ihm: „Wie sieht’s aus, Zarina?“. Die hochgewachsene Frau, die offenbar Zarina hieß, hob ihre Hand und schloss die Augen, und für einen Moment war es wieder still. Dann öffnete sie ihre Augen wieder, deren Glanz für einen kurzen Moment den Eingangsbereich erhellten, und sprach: „Es ist hier. Aber tiefer. Nicht im Kinderzimmer, wie vermutet.“ - „Ungewöhnlich,“, der Mann runzelte die Stirn, “man sollte erwarten dass ihr Anker näher an dem Ort ist, wo sie sich wohlfühlten.“ Dieses Gespräch ging noch eine Weile weiter, bis sich der Rothaarige von den Zweien löste und seinen Kopf in die Luft reckte, wie es die Kinder manchmal gemacht hatten, wenn die Frau etwas in der Küche zubereitete, was sie als „lecker“ bezeichneten. Er verharrte so einen Moment, und schließlich sagte er nur ein einziges Wort: „Keller“.
Nein.
„Du bist ganz sicher?“, sagte die Frau, die nun ihre langen, silbernen Haare hinter ihre spitzen Ohren gesteckt hatte.
„Ganz sicher. Dieser Geruch ist unverwechselbar. Es ist mit Sicherheit von ihm. Direkt von ihm.“
Der Mann verzog das Gesicht und nickte, und sie gingen zur Kellertür, wo der Mann mit einer Hand einen reich verzierten Dolch aus seinem Gürtel zog und die andere auf den Türknauf legte.
Nein!
Sie folgten der alten Kellertreppe hinunter, geführt von dem schwebendem Licht, dass die Frau erzeugt hatte, und betraten den kalten Steinboden, das Fundament, auf dem alles stand. Ein einzelner Raum, eingeteilt nur durch die Kisten voller alter Erinnerungen, die sich dort stapelten. Der Rothaarige ging voran, seine Nase so nah am Boden, dass er fast auf allen Vieren ging, und führte sie vorbei an einem alten Puppenhaus, der Favorit des Mädchens, und einer Kiste voller Fotoalben aus lauteren Zeiten, bis sie an einem Stapel Kisten ankamen, die teilweise eingeschnitten und von Decken und Kissen bedeckt waren. Stoppelbart kniete sich zu einer Decke hinunter und hob sie an, dann lächelte er. „Ein Fort“.
„Der Ort wo sie sich am wohlsten fühlten“, sagte die Frau. Sie sah traurig aus.
Hört auf.
Sie begannen, das Fort auseinanderzunehmen.
Hört auf!
An einer Stelle hielt der Rothaarige inne. Er bückte sich herunter und mit dem Ruf „Ich hab´s!“ hielt er ihn in die Höhe. Alles begann, dunkler zu werden.
„Ist das…?“ begann die Frau, doch der Rothaarige unterbrach sie.
„Sein Finger? Ja“ er blickte auf den Finger und verzog das Gesicht, weniger aus Ekel, mehr aus Traurigkeit. „Entweder wollte einer seiner Familienmitglieder ein Stück von ihm behalten oder er selbst hat einen von ihnen heimgesucht, bis sie es getan haben“
„Die Mutter?“ Der Stoppelbart zog eine Phiole mit klarer Flüssigkeit heraus, die im Licht schimmerte.
„Wer kann das nach so vielen Jahren noch sagen?“ Die Frau nahm ein rotes Tuch und wickelte den Finger darin ein. „Aber sobald der Anker gereinigt ist, dürfte er Frieden finden“
Der Keller begann zu knarzen, während der Stoppelbart den Inhalt der Phiole über das Tuch goss. „Besser schnell als schön, Zarina!“
Die Frau begann, etwas zu murmeln, worauf das Tuch begann, langsam seine Farbe von rot nach weiß zu wechseln. Was auch immer sie taten, es war falsch. Abscheulich. Er würde verschwinden.
Und ich wäre allein.
„STOP!“ Eine Stimme, tiefer als der Schatten, der sich um die Drei geworfen hatte, hallte durch den Keller, sodass dem Rothaarigen die Haare zu Berge standen und er instinktiv zurücksprang. Vergeblich. Der Stützbalken rauschte nieder und erschlug ihn an Ort und Stelle. Der andere Mann sagte etwas, doch in meiner Wut hörte ich es nicht, wollte es nicht hören. Die Frau als Nächstes. Ihr Mund verzog sich zu einem überraschten „Oh“, als sie den Boden unter ihren Füßen verlor und in dem endlosen Loch verschwand, dass sich unter ihr aufgetan hatte. Stoppelbart fiel auf die Knie, seine Augen blickten verzweifelt umher, bis sie auf ein schwaches Glimmern in der Ecke fielen. Mein Junge schwebte in der Luft, sein Kopf blutbedeckt von dem Sturz von damals, und sah ihn an. Und lächelte.
Im nächsten Moment verschwand das Licht der Frau, und die Dunkelheit stürzte auf den Mann herein, erstickte seine Schreie, erstickte seine Sicht. Und erstickte ihn.
Und das letzte Geräusch, dass man von außen hören konnte, war meine Haustür, die, laut scharrend über den Boden ins Schloss fiel.
Niemand nimmt mir meine Familie weg.
Er wird immer bei mir bleiben.
Ich bin nicht gerne allein.

Wunderschöne Stille

Ein Windhauch schleicht durch das dunkle Zimmer und bringt meinen Schleier ein wenig in Unruhe. Vorsichtig schwebe ich zum Fenster und blicke auf die von fahlem Mondlicht beschienene Mauer am Ende einer schwarzgrauen Wiese. Der unebene Grund des Anwesens bietet zahlreiche Verstecke und die verfallene Hütte war ohnehin schon immer mein Lieblingsplatz, schon damals, als es noch hell war.

Ein erneuter Luftzug lässt mich erschaudern, denn nun wird er von einem Laut begleitet, der Unheil verspricht. Ein leises Rumpeln, als würde jemand einen Stuhl oder einen kleinen Schrank um einige Zentimeter verschieben, zerreißt geradezu die perfekte Stille der Nacht. Aufgeregt husche ich im Raum umher, unentschieden, ob und wenn ja, wo ich mich verstecken soll. Kurzentschlossen verschwinde ich durch die größte Lücke, die sich mir bietet - den Kamin. Damals, als ich das Licht der Dunkelheit noch vorzog, mochte ich den alten Kamin sehr. Inzwischen erinnert er mich nur an die Wärme, die er einst ausgestrahlte und dieser Gedanke bereitet mir Unbehagen. Aber er war in diesem Augenblick nun mal die erstbeste Möglichkeit, Schutz zu suchen. Zum Glück muss ich nicht lange in dem schwarzen Schacht bleiben. Vorsichtig drücke ich mich gegen die Wand, spüre die unangenehme Ausstrahlung der Vergangenheit, werde mit ein wenig Überwindung dennoch Eins mit Mauersteinen, Poren und Staub und gleite sanft hindurch.

Den Fehler, den ich damit beging, bemerke ich kurz bevor meine Sinne die alte, verwitterte Tapete auf der anderen Seite erreichen. Grelles Licht scheint durch das faserige Papier und versengt mich ein wenig. Huschende Strahlen tanzen auf dem groben Muster umher. Fußgetrappel auf knarrendem Holz bringen Unruhe in die Mauern, die sonst ein ebenso vollständiges, wie belebendes Schweigen beherbergen. Dann ein Krachen, so laut, dass mich der Schrecken beinahe das schützende Wehr des Mauerwerks verlassen lässt. Doch die Aufregung weckt auch meine Sinne und ich beschließe, den alten, den stillen Zustand wieder herzustellen.

Flüsternde Stimmen schweben durch den Raum und verfangen sich direkt vor mir in der Wandverkleidung. Ich greife nach ihnen, drehe sie ein wenig, verändere ihre Struktur und lasse sie langsam und verzerrt zurückfließen. Plötzlich Stille! Das beinahe geräuschlose Rascheln von Kleidung ist noch zu vernehmen, dann erneut ein Flüstern, noch leiser, zaghafter. Wieder werfe ich den Ton zurück und beschließe in einem Anflug von Wagemut, mich zu zeigen. Zögernd lasse ich mich als amorphes Glimmen durch die Struktur der modrigen Tapete gleiten und schwebe schließlich als schemenhaftes Flirren vor drei Personen. Das Licht ihrer Leuchtstäbe durchdringt mich brennend, doch ich bemühe mich, den Schmerz zu ertragen. Es gelingt mir nicht und meine Konsistenz beginnt sich zu verändern. Ich versuche, den Strahlen auszuweichen, dehne mich aus, schrumpfe sofort wieder zusammen und fliehe in Panik von Ecke zu Ecke, von Wand zu Wand. Auf den Gedanken, erneut im Mauerwerk zu verschwinden, komme ich nicht.

Gleichzeitig kommt rastlose Bewegung in die drei Personen im Raum. Lautes Stolpern, heftiges Atmen, fliegende Arme und wildes Getrappel groben Schuhwerks auf Jahrhunderte altem Holz zerfetzen den sonst so tiefen Frieden dieser Mauern. Dann der viel zu hohe Schrei eines Mannes oder einer Frau. Es ist nicht zu erkennen. „Ein Geist!“ Die letzte Silbe langgezogen und sich selbst überschlagend, verhallt gemeinsam mit dem leiser werdenden Getrappel schnell in den Tiefen der Nacht.

Es ist wieder wunderschön still. Ein Windhauch schleicht durch das dunkle Zimmer und bringt meinen Schleier ein wenig in Unruhe. Ich genieße es.

Einsamkeit

Furcht, Anspannung, freudige Erregung, leise aufgeregte Stimmchen und das Rascheln von Tüten lagen in der Luft – es war Halloween, die Zeit des Jahres, zu der sich die Menschen entgegen aller anderen Tage ihres Lebens nahezu vergnügt für den Grusel entschieden. Aber seien wir ehrlich, nur für den Grusel, den sie selbst unter ihren eigenen Bedingungen hervorriefen. Nicht für den Grusel, den sie sich nicht erklären konnten. Und trotzdem schlichen sich immer wieder einige von ihnen hinter meine Türen…

Ich gab mir wirklich Mühe, die Menschen von mir fernzuhalten, indem ich düster, dunkel und verfallen am Ende des Rabenweges stand, eingesperrt hinter einem verrosteten verschnörkelten Metallzaun und umgeben von hohen stämmigen Eichen, die bestrebt darin waren, vor allem nachts ihre Äste unheimlich im Wind schaukeln zu lassen. Dann machte ich noch den ganzen Kram mit den knarrenden Türen, knarzenden Dielen, zerborstenen Fenstern, Spinnenweben und heulendem Wind…aber keine Anstrengung hielt lästig neugierige Menschen von mir fern.
So auch heute nicht, obwohl ich an Halloween einen ganz besonderen Schauer ausstrahlte, der Atmosphäre dieses Tages sei Dank. Oder eben auch nicht, denn auf mein verrostetes Zauntor schlichen gerade zwei menschliche Wesen zu. Ich schnaubte angesichts dieser Tatsache, was sich als mäßig kräftiger Windzug bemerkbar machte, der durch die Bäume fuhr und die restlich am Baum verbliebenden Blätter unheimlich rascheln oder herabfallen ließ. Ich spürte, wie den Menschen ein Schauer über den Rücken fuhr, als das Rascheln und der Luftzug ihre Sinne erreichte, gerade dann, als sie das Zauntor quietschend aufdrückten. Ich nutzte ihren Schauer, um die Wolken über mir zusammenzuziehen und das Grundstück für einen Moment in nahezu schwarze Dunkelheit zu hüllen. Eines der Menschenwesen keuchte erschrocken auf. Gut so.

Meine Bemühungen reichten leider nicht aus, um die Zwei von meiner Eingangstür und meinem Innersten fernzuhalten, denn sie hatten trotz einbrechender Treppenstufe und von selbst aufschwingender knarrender Tür gewagt, mich zu betreten. Immer dasselbe. Doch ich konnte ihre Anspannung spüren. Spüren, wie sich ihre zarten Härchen an Armen und Nacken aufstellten und ihre kleinen Herzen aufgeregt klopften. Hörte sie aufgeregt miteinander flüstern, und als sie es wagten, ein paar Schritte weiter hineinzutreten, ließ ich die Eingangstür mit einem lauten Knall zuschlagen, gefolgt von einem schauerlichen Heulen, ausgelöst durch einen starken Luftzug, der durch mich hindurch und aus den Fenstern hinausfegte. Meine Mühen wurden mit einem Aufschrei belohnt, dann spürte ich, wie einer der Menschen aus einer Mischung aus Angst, Anspannung und Ärger fast platzte, dem anderen Menschen etwas zufauchte und kurz darauf aus mir heraus, den Kiesweg herunter und von meinem Grundstück sprintete. Da war es nur noch Einer!

Fast unangenehm präsent spürte ich das zurückgebliebene Menschenwesen, das nun noch mit seinen Füßen auf meinen Dielen und in meinem heiligen Innersten stand, und es wagte, meine Treppe zu betreten, um nach oben zu gelangen. Irritiert fegte ich einen erneuten Luftzug über den Menschen hinweg, ließ die Treppenstufen unangenehm Knarzen und einige fette Spinnen aus allen Ecken krabbeln. Ich ließ Türen zuknallen und zum wiederholten Mal den Wind Heulen, dieses Mal lauter und unheimlicher.

Doch der Mensch ging weiter die Stufen hinauf, angespannt, doch ich nahm kaum Angst oder Furcht wahr, und das machte mich auf seltsame Weise zornig, denn ich fühlte ein unbekanntes Gefühl der Ohnmacht, woraufhin ich in meiner Verwirrtheit unbewusst den verstaubten mit Spinnenweben behangenen Deckenleuchter von der Decke stürzen ließ, der mit einem dumpfen Knall auf dem Dielenboden in Stücke zerbarst und Holzsplitter sowie Wachsstücke heruntergebrannter Kerzenüberreste herumfliegen ließ. Ich spürte mein Bedauern, doch als ich das Zusammenzucken und Erstarren des Menschenwesens wahrnahm, war ich zufrieden mit meiner Tat. Meine Zufriedenheit war leider nur von kurzer Dauer, denn der Mensch verblieb nur etwa drei Sekunden in seiner Schockstarre, murmelte etwas und schritt weiter, betrat den ersten Stock und ging ungeachtet meiner umheimlichen Atmosphäre den Flur entlang.

Langsam reichte es mir, ich wollte dieses menschliche Wesen hier nicht haben, doch ich hatte gleichzeitig wenig Lust, mich selbst weiter zu beschädigen. Ruhe in Frieden liebster Deckenleuchter. Also nutzte ich meinen letzten Ausweg, zu dem ich nur alle paar Jahrzehnte fähig war, doch dieser Mensch ließ mir keine Wahl, denn er schritt auf mein heiligstes Zimmer zu.
Erst langsam, dann schneller trieben Luftzüge durch mich hindurch, Wände begannen sachte zu Vibrieren, dann zu Wackeln, Türen und Schubladen schlugen auf und zu, ein leises ansteigendes Heulen fuhr durch mich hindurch und mischte sich mit flüsternden Stimmen. Kerzen begannen zu Brennen, flackerten im Wind und die Temperatur in mir fiel um etwa zehn Grad. Dann tauchten erst nahezu unsichtbar, ganz blass, dann immer deutlicher schimmernde nebelartige Gestalten auf, die aus den Wänden und dem Boden drangen. Jetzt konnte ich deutlich das Klopfen des Menschenherzens spüren, das in dem Körper schlug, der weiterhin tapfer Richtung Tür marschierte, inzwischen vor Kälte leicht zitternd, durch die Geister des Hauses hindurch. Zornig zischte ich und wehte einen Windzug, der den Menschen schwanken ließ, doch ich konnte ihn nicht aufhalten.

Das Menschenwesen legte seine Hand an meine heiligste Tür und mich durchfuhr ein Schmerz, als ich plötzlich dessen Stimme hören konnte. „Ich sehe dich“, sagte der Mensch, und mehr Worte brauchte es nicht, damit ich diesem Wesen glaubte, denn ich konnte damit geradewegs in dessen Seele blicken.
Bereitwillig, ohne Zorn, erleichtert, öffnete ich diesem Menschen die Tür und den Zugang zum Heiligsten, das ich zwei Jahrhunderte lang beschützt hatte. Ich spürte eine vertraute Wärme und Erleichterung, als der Mensch den Familienraum seiner Vorfahren betrat und ich mich nicht länger einsam fühlte.

Sie machen Scherze und kichern. Angst feuert diese Art nervöser Freude an, aber nichtsdestotrotz bringen meine fünf Besucher Wärme, die hier so selten hauste.
Das Pärchen tanzt Walzer im Wohnzimmer des ersten Stocks und ihre Füße malen dabei Bilder in den Staub. Der junge Mann mit Brille streicht andächtig über die Holzverzierung der Tür, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, und die Zwillinge durchstöbern die zurückgelassenen Schränke und Kommoden und stoßen einen Siegesschrei aus, als sie den zerbrochenen Handspiegel entdecken.
So viel Leben. Alles in mir ist erstarrt, um es auch ja nicht zu stören. Ich wünschte, sie würden für immer bleiben.
Aber wie das Licht die Motte, lockt auch diese Wärme etwas an. Etwas dunkles, schmerzverzerrtes, eiskaltes. Es sickert durch die Wand im Keller, Tropfen für Tropfen.
Vielleicht. Vielleicht könnten diese fünf endlich Ruhe bringen.
In mir zieht sich etwas zusammen und das Gebälk stöhnt. Meine fünf Besucher halten inne, starren hoch zum Kronleuchter, der allen Widersprüchen zum Trotz Licht spendet.
Die Entscheidung, was sie mit meiner Warnung anfangen, liegt bei ihnen.

Draußen heulen die Wölfe

Es ist Vollmond. An der Straße recken sich Schattenrisse der nackten Platanen filigran in den Himmel. Mein Garten ist verwildert. Die Tagestouristen mit ihren aufdringlichen Kameras sind wieder verschwunden. Stille ist eingekehrt. Eine Elchfamilie zieht gelassen an mir vorbei. In der Ferne höre ich meine Freunde, die Wölfe.

An meiner Hintertür kratzt etwas. Kaum wahrnehmbar. Dann ein Krachen, als jemand die Tür aufbricht. Koschka schrickt hoch, sträubt ihr Fell und zieht sich verstohlen in meine alte Küche zurück. Dort, wo eine meiner Glasscheiben gesprungen ist und sie jederzeit aus- und eingehen kann. Sprungbereit sitzt sie auf meinem ausgebleichten Fensterbrett. Zwischen den abgelösten Tapeten sind die Wände immer noch blau. Im Mondlicht wirkt das Blau dunkler als bei Sonnenlicht. Mein alter Ofen ist kalt, das Emaille abgeplatzt. Auf dem Dielenboden liegen Tonscherben. Ein billiges Foto mit einer Ikone hängt an einer Reißzwecke über meiner Verandatür.

Schritte schleichen durch mich hindurch. Lichtkegel wandern unverschämt über mein Innerstes. Ich warte ergeben. Es kommt immer. Aus einzelnen knackenden Geräuschen werden immer mehr. Es knackt immer lauter, immer schneller. Jetzt haben sie mein Wohnzimmer erreicht. Das Dach ist schon 1986 eingestürzt. Ein kleiner See hat sich gebildet. Auf dem billigen Teppich üppiges Moos. Das Knacken überschlägt sich.

Draußen heulen die Wölfe.

Abriss

Sie sind da. Schon wieder. Die letzten Wochen über habe ich sie ignoriert, doch ihre Gespräche lassen darauf schließen das es ernst wird. Ich muss um Leib und Leben fürchten, sie gedenken mich abzureißen.
Am schlimmsten ist der, den sie Bauingenieur nennen, er führt den ganzen Sauhaufen an.
Heute ist der Tag an dem ich etwas gegen sie unternehmen muss, denn mir läuft die Zeit davon. Vor einigen Jahrzehnten musste ich mich schon einmal verteidigen und ich bin bereit dazu.
„Sieh dir dieses Bild an, verdammt gruselig oder?“, fragte der Aasgeier der Immobilienfirma, als er ein Bild eines geköpften Bauarbeiters betrachtete.
So endest du heute auch, dachte ich düster, während ich die Badezimmertür öffnete und ihm gegen die Stirn schlug.
„Verflucht, wie ist das denn passiert?“ schimpfte er, während er seine blutende Stirn betastete.
„Es wird echt Zeit das der alte Kasten abgerissen wird“, murmelte der Bauingenieur, ehe er in ein Loch im Boden fiel.
Er fiel tief - es war ein weiter weg vom zweiten Stock in den Keller. Alles was von ihm übrig bleiben würde, war ein Bild im ersten Stock welches seinen Sturz zeigte.
Weitere Gemälde würden folgen.