ALLEIN
Die lang ersehnte, lauwarme Nacht bricht an. Ja, die Nacht ist mir am liebsten, denn sie allein lässt mich nochmal in meiner Pracht erstrahlen. Sie mag verbergen was nun nicht mehr prachtvoll ist.
Bald sieht man nur noch meine Konturen. Die des ehemals auch bei Tageslicht so schönen „Crowhill“ Anwesens. Meine Herrin, Madame Elisabeth hat mir den Namen gegeben. Sie fand es klingt einfach erhabener als „Krähenhügel“.
„Da klingt so, als hätte jemand hingemacht.“
Sagte sie immer und lachte dann fröhlich. Und mein Herr und Erbauer, Master Justin stimmte dann mit einem ebenso fröhlichen:
„Ja, Liebes. Du hast natürlich wie immer recht.“
in ihr Gelächter mit ein.
Aber nun wieder zu mir. Zum einen ist da die einladende, breite Eingangstreppe, deren Dach mit den ehemals scharlachroten Dachziegeln geschmückt auf zwei, dekorativ verzierten Säulen gestützt wird. Er ist über und über mit Blauregen bewachsen, der im Sommer so wundervoll duftet.
Dann auch noch die schwere, halbrunde Eingangstür mit dem großen verzierten Türklopfer mit dem früher sich die Gäste angekündigt haben. Viele Gäste. Die so vielen schönen Fenster mit ihren verzierten Rundbögen in den zwei Stockwerken. Alle mit roten Fensterläden versehen und natürlich nicht zu vergessen mein Turm, dessen Spitzdach nur leicht über das Haus hinausragt und mit denselben Dachziegeln fein beschlagen wurde. Der Turm, mein ganzer Stolz der die zwei schönsten halbrunden Zimmer in jedem meiner Stockwerke in sich birgt. Unten das Musikzimmer und oben das Atelier. Lichtdurchflutet, da jedes davon mit drei, großen Fenstern, die bis zum Boden reichen versehen worden ist. Meine Herrin macht das Licht. All das und noch viel mehr erstrahlte mal, sorgfältig gepflegt und ließ jeden Besucher staunen.
Ja, eins war ich schön, denke ich. Ich lausche dem Rascheln der Bäume, die summend auch die Geschichten aus guten Zeiten erzählen. Mich überkommt ein wohliger Schauer, die Fensterläden klappern leise und ich flüchte mich wieder in die Vergangenheit.
Noch kann ich mich an die ersten Jahre erinnern. So viel schlimmes ist seither passiert. So viel Zeit vergangen und trotzdem fühlt es sich manchmal wie gestern an, wenn ich an den Anfang denke. Damals waren die liebevoll eingerichteten Räume am Tage von den Sonnenstrahlen durchflutet und am Abend von hunderten warmen Kerzenlichtern erleuchtet. Ich war erfüllt von Kinderlachen, Gesang, glücklichen Menschen, Kunst, Musik und Besuchern. Besuchern, die gerne kamen, Feste feierten und die vielen liebevoll gearbeiteten Details aussen und innen genauso wie die Lichtdurchfluteten Räume innerhalb meiner Mauern bewunderten.
Ich vermissen sie so sehr. Meine erste Familie die mich zu etwas ganz Besonderen machte. Sie saßen, plauderten, lachten, musizierten, die Kinder spielten. Sie füllten mich mit Leben und so viel Liebe. Ich war glücklich. Zumindest eine Zeitlang.
Und so schwelge ich in meinen Erinnerungen als plötzlich ein Geräusch mich daraus reißt.
Ah, Besucher.
Noch ist es zu dunkel und sie noch zu weit auf dem langen, Rabenweg, auf dem schon seit Jahrzehnten die alten Laternen niemandem mehr den Weg erleuchten entfernt, als das ich erkennen könnte wer da auf mich zukommt. Noch haben die beiden anderen sie auch nicht gehört.
Das ist gut! Seid bitte, bitte leise, dann werden sie euch womöglich nicht bemerken.
Langsam werden ihre Silhouetten deutlicher. Eine zierliche, kleine Frau mit langem, lockigem Haar begleitet von zwei Männern. Der eine ein sehr großer, stämmiger Kerl mit Glatze der mindestens eineinhalb Köpfe größer ist als die Frau und noch ein zweiter gutgebauter, nur noch halben Kopf größer Mann, mit braunem, kurzem Haar. Jetzt sind sie gleich an der Haustür. Der große Kerl hat sich an eine der Säulen angelehnt.
„Oh man, meint ihr wirklich, dass sich diese riesige Tür, einfach so, nur für euch öffnen läßt?“
Fragt er eindeutig gelangweilt und viel zu laut.
„Mal sehen.“
Flüstert der kleinere Mann.
„Musst du so laut sein?“
Fragt leise die kleine Frau, die sich vor der Tür stehend nun zu dem großen Mann an der Säule gewandt hat.
„Ah was, wer soll uns denn schon hier hören. Das Haus ist doch schon seit Ewigkeiten leer.“
Erwidert der große Mann zurück und winkt ab.
Seid doch mal leise, bitte.
Denke ich, kann aber nichts anderes tun als die Eingangstür für sie zu öffnen, damit sie nicht noch mehr Krach machen.
Sie können euch hören!
Will ich sie warnen, aber noch sind Kristin oder Tobi nicht aufgetaucht und ich will die Hoffnung einfach nicht aufgeben mich von meiner besten Seite zu zeigen.
„Eh, na das war ja einfach, Leute. Die Tür ist schon einfach offen.“
Sagt der kleinere Mann, der auch offensichtlich der jüngere von den beiden ist, voller staunen. Die kleine Frau fährt um und steht nun vor der offenen Eingangstür, dessen Flügel der kleinere Mann zu beiden Seiten aufgestoßen hatte. Die alten, nicht geölten Türscharnieren geben knatschende Geräusche von sich, die in der goßen Eingangshalle widerhallenden. Die einziehende Luft wirbelt ein paar auf den Marmorboden liegende Blätter und Staub auf, der durch das Mondlicht bestrahlt sich ganz langsam, wie ein Schleier wieder auf allem niederlegt.
„Du mal wieder, mit deinem unverschämten Glück.“
Faucht der große Mann und setzt sich nun auch in Bewegung.
Ja, kommt ruhig rein. Ich freu mich so, dass ihr hier seid!
Will ich ihnen sagen, aber ich weiss sie werden mich nicht hören.
Die drei betreten ganz langsam, meine große, hohe Eingangshalle mit der Wendeltreppe mit ihrem schönen Gusseisernen Geländer. Ich kann ihr Unbehagen spüren. Die kleine Frau rückt immer näher an die beiden Männer heran, während sie sich neugierig in der Halle umsieht. Einige vernachlässigte Einrichtungsgegenstände zeugen von einst schönen Zeiten. Ihr Blick bleibt an der kunstvoll bemalten Decke haften.
„Ich glaube da hing mal ein Kronleuchter. WOW! Das muss aber mal sehr schön ausgesehen haben.“
Ja, das hat es mal.
Ich muss tief Luft holen und ein langer Seufzer ist die Folge. Aber sie merken nur einen Luftzug.
„Das zieht ganz schön.“
Sagt die kleine Frau, fröstelt und ihr Blick fällt auf das große Gemälde an der Wand zu ihrer linken. Sie geht zwei Schritte näher ran, denn das scheint ihr Interesse besonders geweckt zu haben. Der kleine Mann folgt ihr.
„Oh ja, das denke ich auch, Meli. Es muss mal wirklich sehr einladend gewesen sein.“
Stimmt dieser ihr zu. Sie greift nach seiner Hand, deutet auf das Gemälde und fragt:
„Wer ist das Joe? Weißt du das?“
„Wen interessiert das denn schon?“
Wirft der grosse Kerl ungefragt und schroff ein und stampft Richtung Treppe, die in das obere Stockwerk führt.
„Mit dem Riesenteil können wir doch eh nichts anfangen.“
Also dieser Kerl gefällt mir irgendwie gar nicht. Was meint er damit, frage ich mich.
„Nichts mit anfangen können“, puh, wieso sagt er sowas. Das ist so ein schönes Bild von meiner Familie. Der Typ ist unhöflich und seine Ausstrahlung sehr unangenehm. Ganz anders die beiden anderen. Melanie und Joe, also. So, so jetzt weiss ich wie die beiden, die ich im Gegensatz zu ihm sehr sympathisch finde heißen. Aber weshalb sind die denn hier?
„Das ist, soweit ich das rausfinden konnte ein Bild der Adelsfamilie, die dieses Haus hat bauen lassen. Das ist schon ewig her. Danach war das Haus in vielen Händen, aber niemand blieb lange. Es haben sich immer wieder böse Unfälle und merkwürdige Ereignisse wohl hier zugetragen und so haben alle nach kürzester Zeit das Haus verlassen.“
Antwortet Joe leise.
Ja, genau
Stimme ich zu.
Aber hey ihr beiden, genau das wünsche ich mir wieder und ihr gefällt mir sehr. Ihr seid bis jetzt die ersten, die nicht nur das Dunkel sehen. Wollt ihr nicht bleiben?
„Und seitdem hängt es hier? Immer noch? Du hast doch gesagt, dass das Haus schon viele Eigentümer hatte.“
Fragt Melanie weiter.
„Na ja, die Leute erzählen, dass man es ganz oft schon abgenommen hatte, aber es auf wundersame Weise immer wieder den Weg an seinen Platz zurückfand, also hat man es schliesslich einfach dort hängen lassen.“
„Na und? Niemand interessiert das heute mehr.“
Unterbricht ihn der grosse Mann auf einmal und stellt den Fuß auf die erste Stufe der fein gearbeiteten, eins weissen Rundtreppe hin.
Oh, man, der ist so laut. Wenn er so weiter macht, dann wird dieser Besuch wieder sehr kurz werden.
„Mich schon, Ben. Mich interessiert das sehr. Die sehen alle vier wirklich sehr glücklich aus.“
Sagt Mel, diesmal ziemlich schroff.
„Das waren sie wohl auch. Sehr sogar, den Sagen nach, scheint es. Bis dieses Unglück geschah.“
Ergänzt Joe einfach ohne auch nur eine Sekunde auf Ben einzugehen, dann wenden sie sich der Treppe zu und während Joe Melanie langsam zu Treppe führt, nutze ich meine Chance und lasse sie alle einen kurzen Blick, wie durch einen Schleier auf die wunderschön erleuchtete und mit Blumen geschmückte Eingangshalle, mit dem glänzenden, kunstvoll gestalteten Marmorboden, die sich an einem Ballabend mit schönen Damen und eleganten Herren füllt werfen. Ganz kurz kann ich diese Illusion aufrechterhalten und dann zerfällt sie auch schon und wird zu Staub, wie fast alles langsam hier.
Joe sieht Melanie an und dann zu Ben rüber, aber keiner sagt auch nur ein Wort. Vermutlich wollen sie nicht für verrückt gehalten werden, denke ich bei mir.
Melanies Blick schweift im Gehen in das zu ihrer Rechten liegende halbrunde Zimmer, in dem immer noch der alte, nun nicht mehr so weiße Flügel steht, auf dem früher so viel gespielt worden ist.
Und mit dem letzen Vorrat an positiver Energie, denn die brauche ich, um diese Bilder erscheinen zu lassen, lasse ich den Raum für ihre Augen in seiner früheren Pracht erstrahlen.
Die Sonnenstrahlen fallen durchs Fenster, und lassen den frisch polierten Marmorboden schimmern. Mehrere helle Teppiche, Sitzkissen, Sofas und Stuhle mit hohen Lehnen und gemütlich mit rotem Samt beschlagenen Sitzflächen, die im Halbkreis entlang der Raumhohen Fenster aufgestellt sind, laden zum Ausruhen und Zuhören ein. Und in der Mitte, am schneeweißen Flügel, auf einem kleinen goldenen Hocker sitzt die schöne Elizabeth, ihre Augen genussvoll geschlossen, ein Lächeln auf ihren Lippen und sie spielt. Am Flügel angelehnt ihr geliebter Justin der sie liebevoll betrachtet.
Melanie kann ihre Augen nicht loslösen, aber da zerfällt auch diese Illusion schon.
Schade noch ein bisschen länger wäre besser gewesen. Ob, das ausgereicht hat?
Melanie sieht Joe an.
„Meinst du man kann noch drauf spielen?“
Fragt sie und zeigt mit dem Finger auf den Flügel.
„Wie schon gesagt: interessiert doch keinen mehr.“
Antwortet Ben grimmig, obwohl sie die Frage gar nicht an ihn gerichtet hat und fängt an die Treppe hinaufzugehen.
Oh nein, Vorsicht! Die vierte Stufe!
Aber noch bevor ich mir auch nur überlegen kann, wie ich ihn dazu kriegen könnte auf die ganz äussere Seite diese Stufe zu treten ist er schon, mit seinem ganzen Gewicht darauf gestampft.
Kann diese mensch sich nicht leise bewegen?
Das Geräusch ist so schrill und laut, dass Melanies Augen ganz groß werden, und im selben Augenblick ertönen einige wenige Noten einer Melanie auf dem Klavier.
„Habt ihr das gehört?“
Fragt sie die beiden Männer erschrocken. Aber die Geräusche haben sich überlagert und so antwortet ihr Ben, wieder mal, in diesem gelangweilten Ton.
„Was denn? Ich habe gar nichts gehört ausser dieser dämlichen Treppe. Die fällt ja bald auseinander.“
Sagt er, nachdem er sich in ihre Richtung gewandt hat und Joe fügt hinzu:
„Nein, ich habe auch nichts gehört Meli. Was meinst du denn?“
„Ach nichts.“
winkt sie ab,
„dann habe ich mich vielleicht verhört.“
Sagt Melanie ganz tapfer, aber ich ich fühle ihr wachsendes Unbehagen.
Oh nein, liebe Melanie du hast dich nicht verhört. Ihr habt die Zwillinge auf euch aufmerksam gemacht. Ich habe so gehofft, dass das nicht geschieht.
„Halt dich aber bitte lieber am Gelände fest Meli. Diese Treppe scheint mir tatsächlich ganz schön morsch zu sein. Ich will nicht, dass dir was passiert.“
Fügt Joe ganz ernst hinzu.
„Ja, das mache ich, Joe.“
Erwidert Melanie und schenkt ihm ein einwenig verlegenes Lächeln.
„Könntest du bitte mit diesem ständigen „Meli“ aufhören. Davon wird ja einem schlecht.“
Sagt Ben ganz langsam in einem echt wiederlieben Ton und verdreht dabei die Augen.
„Ich mag das aber, wenn er mich so nennt.“
Wirft Melanie, nun ganz verlegen ein und Joe wirft Ben einen wirklich bösen Blick zu.
Oh nein, es fängt schon an zu wirken. Kaum sind die Zwillinge in der Nähe werden die Menschen angriffslustiger und ihre schlimmste Seite kommt zum Vorschein.
Jetzt ist auch mir klar, warum Ben hier ist. Nicht nur wegen mir, oh nein. Es ist auch Melanie auf die er abgesehen hat. Vielleicht wollte er sie beeindrucken. Das schein aber nicht wirklich zu klappen. Eifersucht ist eben ein schlechter Nährboden, denke ich bei mir und gar nicht gut, wenn die Zwillinge in der Nähe sind.
„Master Tobi hört auf damit. Ihr machst ihnen Angst!“
Sage ich mit Nachdruck zu dem kleinen Master, der am Klavier sitzt. Der wie ein Abbild des Jungen vom Gemälde ist bei den sich lediglich die Gesichtszüge von freundlich zu bösartig gewandelt haben. Er lächelt hämisch.
„Und wenn ich nicht will? Was willst du dann machen du altes Haus, das keiner mehr haben will.“
Antwortet er frech.
Aua, das hat weh getan. Aber das ist ja auch Masters Absicht gewesen.
„Du kannst doch rein gar nichts machen. Außer ein paar Türen und Fenster öffnen oder schließen, mit den Fensterläden zu klappern oder ein paar Bildchen entstehen lassen. Zu was Anderem bist du doch nicht zu gebrauchen. Aber wir, wir können viel, viel mehr.“
Er lacht ein unnatürliches und völlig überzogenes Lachen.
„Hör auf, ich mag die beiden. Ich will das sie bleiben.“
Versuche ich ihn zu beschwichtigen.
„Ja, das kann sein, aber wir mögen sie nicht.“
Höre ich Kerstin, seine Zwillingsschwester vom Rand der Treppen im zweiten Stock stehend rufen. Dieses früher liebliche kleine Mädchen vom Bild hat nun einen sehr ernsten, ja unnachgiebigen Gesichtsausdruck angenommen.
Na toll, jetzt sind beide wieder da. Mein Seufzen lässt einen kalten Luftzug durch alle Zimmer Fegen, sich in der Halle versammeln und dann die Blätter die Treppe hinauf wirbeln. Wunderbar, jetzt trage ich selber auch schon dazu bei die drei zu erschrecken, denn alle drei fahren nun zusammen.
Kerstin lacht laut auf.
„Danke, altes Haus für die Untermalung!“
Bringt sie immer noch lachenderweise heraus.
„Bitte tut ihnen nichts!“
Flehe ich nun die beiden jungen Herrschaften an.
„Wir tun doch gar nichts.“
Erwidert Tobi und lässt die Finger, in wilden Bewegungen kurz über den Tasten schweben.“
„Nein, Master Tobi, bitte nicht.“
Da schlägt er aber schon wieder in die Klaviertasten und lacht erneut.
„Ja, genau wir sind doch ganz brav. Wir mögen nun mal keine Besucher. Wir wollen sie hier nicht haben. Das ist unser Haus. Basta.“
Stimmt Kerstin ihren Bruder zu.
Diesmal haben alle drei auf der Treppe das Klavier gehört und bleiben in der Bewegung wie eingefroren.
„Was zum Teufel war das denn?!“
Ruft Ben herunter, der inzwischen nur noch eine Stufe vor sich hat, um das weitere Stockwerk zu erreichen. Leiser sieht er die direkt vor ihm am Treppenrand stehende Kerstin, die ihm fast Nase an Nase ins Gesicht sieht nicht. Was für ein bizarres Bild.
Joe und Melanie, die einige Stufen weiter unten entfernt sind sehen sich gegenseitig an. Melanie greift wieder nach der Hand von Joe, die sie zwischenzeitlich losgelassen hatte, um sich am Geländer festzuhalten, wie er es ihr geraten hat. Ihre Hand zittert und Joe greift stärker zu, um ihr die Angst zu nehmen.
„Joe, was ist hier, in diesem Haus damals denn eigentlich passiert?“
Fragt sie nun ganz leise, fast so als ob sie die beiden Kinder sehen könnte. Kerstins Blick geht nun von Ben auf Melanie rüber und wechselt dann zu Joe, der ihr antwortet:
„Eines Tages tobten die beiden Zwillinge, die du auf dem Bild gesehen hast, rum. Sie sind auf die Idee gekommen, durch eine ganz kleine Lücke, die fast nicht zu sehen und nur für die Reinigung der Dachziegel eingebaut worden ist auf den Turm zu klettern.“
Melanie schlägt sich die Hand vor dem Mund.
„Oh nein.“
Sagt sie ganz leise hinter vorgehaltener Hand.
„Niemand weiss wer von den beiden als erster oben war, oder wie genau das passiert ist, aber…“
Er spricht nicht weiter und das muss er auch nicht, Melanie und Ben haben es schon verstanden.
„Oh man, dass wußte ich nicht. Hättest du das nicht schon früher sagen können?“
Sagt Ben als erster mit echtem Mitgefühl in der Stimme.
Hmm, vielleicht ist dieser Kerl doch nicht ganz so falsch, denke ich.
Melanie schaut wieder zum Gemälde, auf dem man die beiden Geschwister zu Füßen ihrer Eltern spielen sehen kann.
„Die armen Eltern.“
„Es heißt, dass die Mutter gerade am Klavier saß…“
Fügt Joe hinzu.
Und dieser Satz ist wie ein Auftakt für Master Tobi.
„Nein, tut das bitte nicht, kleiner Master. Bitte nicht.“
Rufe ich ihm zu, aber da spielt er schon die ersten Akkorde, die sie, meine Herrin, Liz seine Mama so gerne gespielt hat und lacht. Nochmal und nochmal. Immer lauter und lauter.
Nun ist es zu viel. Jetzt wollen Ben, Melanie und Joe so schnell es geht raus hier. Ben dreht sich als erster auf der Treppe um.
„Mir reichst! Ich weiss ja nicht, wie ihr beiden das sieht, aber ich für meinen Teil bin nun raus.“
„Es ist doch deine Idee gewesen!“
Ruft Melanie.
„Wir wollten nicht unbedingt nachsehen, ob es sich noch lohnt hier einzubrechen Ben. Ich fand nur das Haus einfach an sich so schön, dass ich es mir ansehen wollte.“
Ja, also war mein Gefühl genau richtig was die beiden, Melanie und Joe angeht. Wie schade, dass sie Ben mitgebracht haben.
„Und ich bin ihr nur, wegen der Sicherheit gefolgt.“
Fügt Joe hinzu.
„Ja, ja, ist mir schon klar. Das ist ja nicht auszuhalten mit euch beiden.“
Und während er noch spricht, nimmt Ben Schwung und macht einen Schritt nach vorn, um die Treppe runterzulaufen. Ich sehe das kleine, mal so liebliche und freundliche Mädchen an und ihre Bewegung.
„Nein, nein Miss Kerstin!“
Rufe ich. Da sieht sie noch einmal hoch.
„Oh doch.“
Antwortet sie und lächelt bevor sie auf die Knie geht und die erste Treppenstufe, die aus dem ersten Stock nach unten führt mit ihrer Hand nur leicht berührt.
Bens rechtes Bein bricht, beim Versuch den Fuß aufzusetzen durch die Treppe durch. Durch den Schwung, den er genommen hatte, wirbelt er herum und verliert die Balance. Er schreit auf und im selben Moment läßt Kerstin ihre Konturen aufblitzen. Bens Augen werden noch größer. Joe, der nur zwei Stufen entfernt ist lässt Melanie los, greift mit der linken Hand nach dem Geländer und versucht mit der rechten Hand Bens rechte zu greifen. Vergeblich. Noch bevor er es schafft, die wild in der Luft fuchtelnde Hand zu ergreifen, grinst Kerstin Ben nochmal an, schüttelt den Kopf und schlägt mit der Faust auf die Treppenstufe, die ganze Treppe bebt, ihr Bruder schlägt ein paar schräg wilde Töne auf dem Klavier als Untermalung dazu und die beiden Stufen auf denen Ben zu stehen hätte kommen können brechen gleichzeitig ein. Ben fällt. Fällt in die Tiefe. Noch ein lautes:
„Hilfe!!!“
und dann abrupt Stille. Absolute Stille.
Joe konnte gerade so noch das Gleichgewicht halten und schaut nun in die Tiefe des Kellers, in dem auf den Boden Bens toter Körper im Schein der durch die Kellerfenster fallenden Mondlichtstrahlen zu sehen ist.
Eine Wolke aus Schutt und Staub erhebt sich in die Luft und Joe schaut zu Melanie rüber, die sich völlig verängstig, nachdem sie Kerstin ebenfalls gesehen hatte am Treppengeländer, das das einzige zu sein scheint, das noch halt auf dieser Treppe bieten kann zusammen gekauert hat. Sie sieht ihn nur mit weit aufgerissenen Augen an. Die sich langsam mit Tränen füllen. Nur noch ein Fragezeichen darin. Joe schüttelt langsam den Kopf.
„Laßt die beiden bitte gehen. Bitte, ja? Ich werde auch besser aufpassen, versprochen!“
Flehe ich die Kinder an.
„Versprochen?“
Fragt Kerstin.
„Ja, ja und die hier, die kommen doch bestimmt jetzt nicht mehr wieder.“
Die Zwillinge stehen nun an der Eingangstür.
„Nein, das werden sie sicher nicht.“
Sagt Kerstin zufrieden und sie lassen die völlig verstörte, weinende Melanie die sich auf Joe stützt, ahnungslos an ihnen vorbeiziehen.
„Jetzt!“
Ruft Master Tobi seiner Schwester zu und sie werfen die grossen Flügel der Eingangstür hinter ihnen zu. Hand in Hand stehen sie nun vor den Turmzimmer Fenstern und mit einem verstörend zufriedenen Lächeln auf den Lippen sehen sie den beiden nach, wie sie eifrig zum Tor eilen.
Zum aller letzten Mal dreht sich Melanie mit ihren immer noch weit aufgerissenen Augen um und jetzt kann sie beide Kinder winken sehen.
Die beiden lachen schallend und die Bäume summen nun ein trauriges Lied.
Und ich? Ich wünschte sie wären geblieben. Nun bin ich wieder allein!
Bis zum nächsten Mal…