Die gute Seele des Hauses
Tom verschwand letzten Freitag spurlos. Wie jeden Freitag, war er auf dem Weg zum Fußballtraining. Und wie üblich kürzte er den Weg durch die alte Siedlung am Waldrand ab. Dort ist es schon ein wenig unheimlich, nicht nur in der dunklen Jahreszeit. Viele alte Villen, einige davon eher Ruinen oder zumindest heruntergekommen und bei einigen weiß man nicht, ob sie überhaupt noch bewohnt sind. Bis auf eines. Obwohl seit Generationen verlassen, sieht es immer noch recht gepflegt aus. Immer wieder soll man Geräusche aus dem Haus hören können, andere schwören, Lichter und Schatten gesehen zu haben. Doch so wirklich traut sich niemand auf das Grundstück. Zu viele Geschichten gibt es über verschwundene Abenteurer, die angeblich ihre Neugier mit dem Leben bezahlt hätten. Die Eigentumsverhältnisse einiger dieser Anwesen sind nicht geklärt und so kann die Gemeindeverwaltung nichts gegen den Verfall des einstmals wohlhabenden Ortsteils unternehmen.
Yannik, der jüngere Bruder von Tom, wollte nicht länger warten. Es war nicht das erstes Mal, dass Tom für ein paar Tage verschwunden war und so werde die Polizei vorerst nichts unternehmen. Doch beschlich Yannik ein unheimliches Gefühl, irgendetwas stimmte nicht. Er drängte seinen besten Kumpel, Torben, mit ihm die alten Häuser nach Hinweisen auf Toms Verbleib zu durchstöbern. Torben wollte helfen, doch hatte er große Angst und glaubte all die Gruselgeschichten, die man sich erzählte. Also erfand er eine Ausrede und bat stattdessen seinen älteren Bruder Stefan mitzugehen. Stefan ist ein Großmaul, niemand mochte ihn wirklich, weil er sich immer in den Vordergrund drängelte. Für dieses gefährliche Unterfangen war er aber vielleicht dennoch recht nützlich, dachte sich Yannik.
So machten sich die Beiden auf die Socken und fingen natürlich mit den alten Ruinen an. In die unbewohnten Häuser war kein Eindringen möglich. Die Fenster und Türen waren von Ranken überwuchert, so dass da maximal eine Katze durchgekommen wäre. Auch die baufälligen Ruinen zeigten keinerlei Spuren. So blieb nur noch das eine Haus am Ende der Rabenstraße übrig und es wurde auch Zeit, schließlich wurde es bereits dunkel.
Yannik nähert sich vorsichtig dem Haus und kurz bevor er die silberne Klinke des Eingangsportals betätigen kann, hört er einen Aufschrei: „Nein! Nicht! Lauf Yannik, kehre um, schnell!“. Er zuckt zusammen und schaut sich wild um, blickt direkt in das fragende Gesicht von Stefan. „Wat los?“, fragt Stefan grinsend „Haste schiss?“. Erst jetzt realisiert Yannik, dass die flehenden Worte nur in seinen Gedanken zu hören waren. War das nicht die Stimme von Tom? Zu Stefan sagt er, dass er etwas gehört hätte und auf der Rückseite nachsehen wolle. Stefan soll hier am Eingang Schmiere stehen. Als führe er ein stilles Selbstgespräch, fragt er in seinen Gedanken jedoch, „Tom? Bist Du es? Wo bist Du? Was ist passiert?“. Nichts, keine Antwort. Hat er sich das nur eingebildet? Auch die Terrassentür ist verschlossen, stellt er heftig daran rüttelnd fest. „Finger weg! Ja ich bin es und auch wieder nicht. Ich bin in diesem Haus gefangen. Oder …“, stammelt Toms Stimme in seinem Kopf. „Nein, ich bin das Haus!“. Yannik bleibt wie angewurzelt stehen und ist perplex. „Du glaubst mir natürlich nicht. Pass auf, ich lasse im Obergeschoss die Jalousien klappern. Fasse mich aber bloß nicht an!“. Und so scheppert es heftig an den oberen Fensterläden. Tom erzählt seinem kleinen Bruder was passiert ist. Er war auf dem Weg zum Training, als er Licht im Haus gesehen hatte und meinte Musik gehört zu haben. Neugierig herauszufinden, was wirklich an all diesen Märchen dran ist, schlich er sich zum Haus und versuchte durch die Fenster zu spicken. In dem Moment, als er eine Bewegung zu sehen glaubte und seine Nase an ein Fenster drückte, wurde er in das Haus gesogen. Sein Körper fiel durch eine Kohlenrutsche in den Keller, Körper und Geist drehten sich wie in einem Karussell. Als der Schwindel verflog, konnte er sich nicht bewegen und es war so, als schaute er vom Dachboden aus auf Garten und Straße und gleichzeitig in jeden einzelnen Raum des uralten Gemäuers. In dem Bruchteil einer Sekunde durchlebte er wie in einem sehr realen Traum die zweihundertjährige Geschichte dieses Hauses. Die so hoffnungsvoll begann und nun nur noch von Einsamkeit geprägt ist. Er erfuhr, dass der Architekt dem Gebäude mit Hilfe von orientalischer Magie eine Seele gab. Sie behütet das Anwesen wie ein Hausmeister und beschützt die Bewohner. Hält Ungeziefer und Unkraut fern, sorgt dafür, dass alles gepflegt bleibt. Die gute Seele des Hauses ist wie ein Teil der Familie, die dieses bewohnt. Nur leider handelt es sich um eine menschliche Seele, die dauerhaft an das Haus gebunden wird. Bevor der arme Geist nach einem langen Leben dahinscheidet, ist seine letzte Aufgabe, eine neue Seele anzulocken. Sein Vorgänger war bereits weit über neunzig Jahre alt und fast sein gesamtes Leben diesem Haus verbunden gewesen.
Yannik umrundet weiter das Haus ohne eine Gelegenheit zu finden, in das Haus einzudringen. Wieder bei Stefan angekommen teilt er ihm mit: „Nichts. Man kommt nirgends rein. Alles fest verrammelt oder viel zu hoch, selbst für eine Räuberleiter“. Vom Klappern der Jalousien hat Stefan offensichtlich nichts bemerkt.
„Was passiert nun, wie bekommen wir Dich da wieder heraus?“, denkt Yannik, er will seinen Bruder hier nicht einfach zurücklassen. „Lass mich für Dich das Haus übernehmen“, schlägt er ihm vor. Tom lehnt das ab, obwohl er natürlich nicht für den Rest seinen Lebens an das Haus gebunden sein möchte. Vielleicht wäre es eine interessante Aufgabe gewesen, weiß er eh nicht, was er nach der Schule mit seinem Leben anfangen soll. Nicht jedoch in einem verlassenen Haus, an einem mittlerweile so trostlosem Ort. Und dieses Schicksal kann er seinem kleinen Bruder nicht aufbürden.
Stefan wird ungeduldig. „Du hast sicherlich etwas übersehen. Wahrscheinlich bist Du mit geschlossenen Augen einfach um das Haus herumgeflitzt, Du Angsthase“. Kurzerhand geht er los und sucht selbst nach einem Eingang. Das ist die Gelegenheit. Tom öffnet die Kellertür nur einen kleinen Spalt breit an der von Efeu überzogenen Nordseite. Natürlich entdeckt Stefan sofort die Lücke in der Verteidigung und laut lachend steuert er darauf zu. „Wusste ich es doch“. Einen Augenblick später, Stefan hat gerade die Tür so weit geöffnet, um in das Haus einzudringen, dreht sich die Welt von Tom erneut. Er erwacht im Kohlenkeller und rappelt sich sofort auf. Als guter Sportler ist es ein Leichtes für ihn, die seit vierzig Jahren ungenutzte Kohlenrutsche, wieder herauf zu klettern. Er nutzt die wenigen Minuten aus, in der Stefan in den Bann des Hauses gesogen wird und handlungsunfähig ist.
Tom wusste, dass Yannik niemals seinem Plan zugestimmt hätte. Selbst Stefan „das Großmaul“, hätte er nicht leichtfertig geopfert. Er rennt zur Vorderseite und umarmt seinen verdutzten Bruder. „Los, schnell weg. Es gab eine Auswechslung für die zweite Halbzeit“, zwinkert er. Yannik braucht nur kurz um zu realisieren, was passiert ist. Sie beide rennen in Richtung Straße. Da hören sie einen langanhaltenden und ohrenbetäubenden Schrei in ihren Gedanken. „NEEEEEEIIIIIIN! Ihr Dreckskerle! Was habt Ihr getan? Lasst mich hier nicht zurück. Ich hasse Euch. Dafür werdet Ihr büßen!“. Als sie den Torbogen zur Einfahrt durchqueren, wird Stefans Stimme leiser und bittender. „Kommt zurück. Oder nein, sagt Torben wo ich bin. Aber nichts von diesem beknackten Bann. Ich erzähle es ihm sobald er hier ist. Bitte!“. Stefan wird seinem Ruf gerecht. Er würde nicht zögern seinen Bruder hereinzulegen, um selbst freizukommen.
Yannik sagt Torben später, dass Stefan nicht erschienen sei. „War wieder nur große Klappe und nichts dahinter“. Tom nimmt ab sofort den Umweg zum Training gerne in Kauf, weit entfernt von der Rabenstraße. Einige Jahre später wird das Haus abgerissen. Tom und Yannik glauben in dieser Zeit ständig leise Schmerzensschreie in ihren Gedanken zu hören, erwähnen das Haus aber nie wieder auch nur mit einer Silbe.