Die schwarze Madonna
Ich will nicht sterben! Die Abrissbirne darf mich nicht zerschmettern. Vier Generationen schenkte ich ein Dach über dem Kopf. Und jetzt soll ich zu Staub zerfallen? Meister, lass mich nicht fallen! Was soll aus Deinem uralten Geheimnis im Kellergewölbe werden? War ich Dir nicht immer ein treuer Hüter? Rette mich Meister, rette mich!
Ich bin so hungrig. Mein Sklave ist sterbenskrank. Er dient mir kaum noch als Nahrung. Freude! Was sehen meine erblindeten Fenster? Ein blutjunges Paar nähert sich meinem Maul. Hat es mein Sklave doch noch geschafft. Oh Meister, Danke, Danke, Danke! Du bist gnädig in diesem dunklen Moment der Verzweiflung.
„Ein Schnäppchen. Natürlich müssen Sie noch in die Renovierung investieren. Es steht eine Weile leer.“
„Ich weiß nicht, Marcel. Es sieht unheimlich aus.“
„Ein neuer Anstrich und schon ist es freundlicher, Madam. Das richtige Haus, um eine Familie zu gründen. Da ist viel Platz für Kinder, hinter dem Haus können sie in dem riesigen Garten toben.“
„Ich finde das Haus hat Charakter, Yasmin. Suchen wir nicht schon lange nach so einem Heim?“
„Ich weiß nicht, Marcel. Können wir uns ein solche Villa überhaupt leisten? Wir sollten uns das nochmal überlegen.“
„Tut mir leid, Madam. Sie müssen sich heute entscheiden. Meine geschiedene Gattin verkauft es sonst an eine amerikanische Investorengruppe. Die wollen das schöne Haus abreißen und ein modernes Hotelgebäude auf dem Grundstück errichten.“
„Lasst uns wenigstens einen Blick ins Innere werfen, Yasmin.“
Der Schlüssel dreht sich. Ich öffne mein Maul. Oh wie süß schmeckt die Frau. Ich kann mein Glück kaum fassen: sie ist im letzten Monat schwanger! Das frische Fleisch betritt die Empfangshalle und die Tür fällt ins Schloss. Jetzt sitzen sie in der Falle. Sie sind in meinen Fängen und ich schleiche mich in das Ohr des jungen Mannes. Er will ein Unternehmen gründen. Das wir deine Firmenzentrale flüstre ich ihm ein. Im Untergeschoss die Büroräume und im ersten Stockwerk wohnt die Familie. Das macht Sinn, sagt er sich. Ich frohlocke, der fette Fisch zappelt an der Angel. Oh Meister, ich verspreche Dir: Er wird mein neuer Diener sein.
Ihr erster Abend im neuen Heim. Die Umzugskartons sind noch nicht ausgepackt.
„Reichst Du mir bitte noch ein Stück Pizza.“
„Du wolltest doch abnehmen!“ Der Hausherrin ist unwohl. Das Baby strampelt mürrisch im Bauch.
„Schon den ganzen Tag nörgelst Du herum. Gönn mir doch mein Appetit.“ Seine Stimme klingt gestresst. Ich weiß warum. Er hat Geldsorgen, hat sich mit dem Haus übernommen. Das trifft sich gut. Zeit, den Köder auszuwerfen.
Eine Woche später sitzen sie am antiken Tisch. Die Neuanschaffung musste sein, denkt der Hausherr, passt zu der Villa. Die Hausherrin ist blass. „Ich habe unserer Nachbarin getroffen. Man munkelt, dass schon mehrere Menschen im Haus spurlos verschwunden sind. Die Frau aus erster Ehe und das Neugeborene unseres Vorbesitzers waren wie vom Erdboden verschluckt. Über dem Haus liegt ein Fluch. Es war ein Fehler, hier einzuziehen.“ Ich konnte ihre Angst riechen. Ein köstliches Parfum. Meine Mauern atmeten es tief ein.
„Willst Du uns ruinieren. Mein ganzes Erbe steckt in dem Haus. Ich habe deine Schwangerschaftsdepressionen satt. Nimm endlich professionelle Hilfe in Anspruch.“
„Ist das alles, was Dir dazu einfällt? Vorwürfe?“ Sie heult los.
„Ich reiß mir hier den Arsch auf, um unserer Familie ein Heim zu schaffen und Du nervst die ganze Zeit mit deiner Paranoia!“ Oh wie köstlich. Ich genieße den Streit. Gierig sauge ich die negative Energie mit all meinen Ziegeln auf. Das gibt mir wieder Kraft.
Das Kind ist da. Die Frau hat gekalbt. Ein süßlicher Geruch nach Babyfäkalien weht durch die Fluren. Die Mutter der Hausherrin ist bei ihr. Die Alte macht Ärger. Will mir ihre Tochter und das kleine Balg abspenstig machen. Ich muss mich um die Schlampe kümmern.
Meine Mahlzeit kauert mit ihrer Mutter auf dem Bett, das süße Dessert auf ihrem Schoß. Der Hausherr steht muffig neben der Krippe. „Sieh doch ein Marcel, dass meine Tochter und ihr Kind mal raus aus diesem düsteren Gemäuer müssen.“ „Auf keinen Fall, Yasmin.“ Der Hausherr ist wütend, aber die Hexe duldet keinen Widerspruch: „Wir beide haben alles besprochen. Nichtwahr?!“ Die Mutter tätschelt die Hand ihrer Tochter. „Ich packe schnell ein paar Sachen ein und dann ziehst Du eine Weile zu uns.“
Es wird Zeit zu handeln. Die alte Vettel erscheint oben auf der Treppe, das Köfferchen in der Rechten. Sie tritt auf die oberste Stufe. Die Holzdiele gibt nach. Sie rudert mit den Armen. Das Köfferchen poltert nach unten. Sie greift nach dem Geländer. Blitzschnell ziehe ich ihr den Handlauf weg. Die Augen weit aufgerissen, stürzt sie die Treppe hinunter. Der Notarzt bescheinigt mehrere Brüche. Der Auszug meiner süßen Frucht ist erst einmal vom Tisch.
Ein paar Tage später sitzt der Hausherr in der Bibliothek. mein Sklave hockt ihm gegenüber. Der Gestank seines Lungenkrebses dampft ihm aus jeder Pore. Es wird höchste Zeit für den Stabwechsel.
„Ich brauche dringend die nächste Rate. Meine Geschiedene sitzt mir im Nacken.“
„Zwei Kunden haben ihre Rechnung noch offen. Aber ich rechne jeden Tag mit der Überweisung.“
„Das ist nicht mein Problem“, sagt mein Sklave, fummelt dabei nervös am Anhänger seines Halskettchens. Der Blick des Hausherrn streift beiläufig das schlichte Messingschlüsselchen und denkt: Was für ein hässlicher Schmuck. Genug gesehen, meinen Fensterladen knarrt drohend. Hastig lässt mein Sklave das Schlüsselchen wieder im Hemdausschnitt verschwinden. Ich wispere ihm zu: Wirf den Köder aus: „Vielleicht können wir uns beide helfen.“ „Ach ja?“
„Ein reicher Fabrikant hat dieses Anwesen für seine Frau gebaut, hat ihr jeden Wunsch erfüllt und sie mit Juwelen überhäuft. Die Schlampe hat es ihm nicht gedankt, ihn heimlich betrogen und ihm ein Kuckucksei untergeschoben.“ Mein Hausherr spitzte die Ohren. Die Worte meines Sklaven fallen auf fruchtbaren Boden. Wie sagte seine Mutter enttäuscht: Das Kind kommt so gar nicht nach dir. „Das Luder war schuld an seiner Tragödie. Sie…“ Ich stach ihm in sein Krebsgeschwür. Mein Familiengeheimnis geht niemand was an.
„Ist Ihnen nicht gut. Sie sind weiß wie eine Wand.“
„Geht schon besser. Die Frau und ihr Liebhaber wollten mit der Schmuckschatulle durchbrennen. Er ist ihr zuvorgekommen und hat die kostbaren Kleinodien im Haus versteckt.“
Mein Hausherr sah elektrisiert auf. Gehört etwa der unscheinbare Schlüssel an der Halskette zur Schatulle?
„Ich habe eine Vermutung, wo. Bin aber zu schwach den Schatz zu heben. Die Krankheit kam dazwischen.“ „Verraten Sie mir das Versteck. Soll Ihr Schaden nicht sein.“ Sie einigten sich auf Halbe-Halbe.
Am Abend sitzt er mit seiner Frau zusammen. Sie streiten sich wie so oft in letzter Zeit. „Marcel, es geht so nicht mehr weiter. Ich verlasse Dich.“ „Wo willst Du wohnen?“ „Ich ziehe erstmal zu einem Freund.“ Hab ich doch gewusst, denkt der Hausherr. „Wovon willst Du leben?“ „Du wirst das Haus verkaufen müssen. Die Hälfte gehört mir.“ Das darfst Du nicht zulassen, flüstre ich ihm ein.
Die Sonne verblutet am Horizont. Es klingelt. Mein Sklave steht mit glasigen Augen vor der Haustür. Die Nacht der Wachablösung bricht an. Der Hausherr rümpft die Nase, „Was willst Du mit dem Zeug?“ und sein Blick wandert vom Eimer Mörtel, über die Kelle, über das gefaltete Bettlaken auf den Schultern seines späten Gastes: „Brauchen wir alles, um den Schatz zu heben.“
Mein Magen knarrt als beide die Kellertreppe hinuntersteigen. Beklommen betreten sie meine Eingeweide. Ich kann es kaum erwarten, mir endlich wieder mit frischer Lebensenergie den Bauch vollzuschlagen. Sie stapfen durch das modrige Gemäuer, zuerst durch den Weinkeller, vorbei an spinnenbewebten Regalen, durchqueren den Kohlekeller, mein kranker Diener strauchelt. Sein Blick streift kurz die verstaubte Schaufel in der Ecke. Er atmet schwer.
Sie ducken sich, um in meinen After zu kriechen: das hinterste Gewölbe, es ist natürlichen Ursprungs, eine Höhle im Fels unterm Haus. Eine Spitzhacke lehnt gegen einen Haufen aufgeschichteter Ziegel. „Nimm sie. Mir fehlt die Kraft.“ Er zeigt auf eine zugemauerte Nische in der Felswand. „Dahinter ist der Schatz versteckt.“ Mein Sklave leuchtet die Wand mit einer Taschenlampe aus, der Hausherr schlägt in hastigen Hieben mit der Spitzhacke ein Dutzend Ziegel heraus. Als das aufgestemmte Loch groß genug ist, um hinein zu kriechen, fällt der Lichtkegel in die Öffnung.
Der Hausherr weicht ein Schritt zurück. Das Entsetzen tobt in seinem Gesicht. Auf einem gemauerten Sockel sitzend, erkennt er schemenhaft die Skulptur einer Madonna, geformt aus rußgeschwärztem Gebein. Ihre Knochenhände halten das Skelett eines Säuglings auf ihrem Schoss. „Hallo Gertrud. Sehe ich dich wieder, nach so langer Zeit?“ und mein Sklave streicht versonnen lächelnd über den Säuglingsschädel.
„Wo ist der Schatz?“, kreischt der Hausherr hysterisch. „Ich verrat es Dir, wenn Du beide im Garten begräbst.“ Der Hausherr hebt drohend die Spitzhacke. „So wirst Du das Versteck nie erfahren.“ Der Hausherr bricht weitere Ziegel aus der Wand, vergrößert das Loch. Gemeinsam räumen sie die Gebeine aus und wickeln sie in das mitgebrachte Leintuch. Klappernd wirft sich der Hausherr das Bündel über die Schulter, auf ein Kopfnicken meines Dieners ergreift er die Schaufel. Im Schutz der Nacht schleichen sie aus dem Kellergewölbe in den Garten. Das fahle Mondlicht weist den beiden den Weg durchs Gebüsch. Versteckt hinter Sträuchern liegt ein kleiner Friedhof. Auf ein Zeichen meines Sklaven stößt der Hausherr die Schaufel in den Boden. Während er die letzte Ruhestätte der Schwarzen Madonna und ihrem Kind aushebt, zertrümmert er versehentlich das Skelett eines Säuglings.
Sie beerdigen die Frau und das Baby in geweihtem Boden. Als es vollbracht ist, stöhnt mein Sklave erleichtert auf: der sentimentale Schwachkopf denkt an Vergebung. Auf dem Rückweg zum Haus, krallt der Hausherr seine Finger in den Oberarm meines Sklaven: „Wo ist der Schatz?“ „Dafür musst Du ein Opfer bringen.“ „Welches?“ „Das gleiche wie ich.“ Der Hausherr steht wie betäubt, ihn beschleicht eine dunkle Ahnung. Mein Sklave schubst ihn durch die Eingangstür. Beide sind wieder unter meinem Einfluss und ich flüstre dem Hausherr ins Ohr: „Sie hat es verdient, die Schlampe. Willst du den Schatz an einen Bastard verschwenden?“ Ich ergötzte mich an seinem Zorn.
Sie schleichen sich ins Schlafzimmer. Er schaut auf seine schlafende Frau, auf den schlummernden Bastard in der Krippe neben ihr. Ihn packt die Wut. Er hebt die Schaufel und schlägt zu. Auf den Schultern schleppt er seine bewusstlose Frau bis zur Höhle. Mein Sklave schlurft hinter ihm, das schreiende Kind auf dem Arm. Keuchend hievt der Hausherr seine Frau auf das Podest. Mein Diener legt ihr den Säugling in den Schoß. Sie mauern Mutter und Kind ein. Oh wie köstlich schmeckt das wabernde Böse. Als der letzte Ziegel seinen Platz in der Mauer gefunden hat, schreit der Hausherr „Wo ist der Schatz!“ „Es gibt keinen.“ „Du krankes Schwein.“ Der Hausherr ist außer sich und schlägt meinem Sklaven die Spitzhacke in den Schädel.
Geistergeheul fegt wie ein Sturm durch das Gewölbe. Die frisch gemauerte Wand wird gläsern. Ein Tor zur Hölle öffnet sich, das seit Urzeiten in der Höhle lauert. Feuer schlägt heraus, Mutter und Kind verglühen und aus den Flammen schält sich ein Dämon. Oh Meister, ich grüße Dich auf das untertänigste. Der Dämon packt die Leiche meines Sklaven und reißt ihm den schmucklosen Schlüssel vom Hals. Er reicht ihn dem schlotternden Hausherrn: Hier hast Du den Schatz. Dein Schlüssel zum Reichtum, höre ich seine donnernde Stimme.
Dann richtet sich mein Meister an mich: Sag ihm beizeiten was er zu tun hat! Zu guter Letzt verspricht er noch das Langersehnte: noch sieben Seelen und du bist frei. Mein Mauerwerk weint vor Glück. Dann greift der Dämon in die Brust der Leiche und zerrt die schwarze Seele heraus. Er schleift sie durch das Höllentor, an dem rußgeschwärzten Skelett der schwarzen Madonna vorbei und mein neuer Diener sieht mit Grausen, wie er die Seele meines alten Sklaven über eine Brücke führt. Und er sieht den rotglühenden Lavafluss darunter fließen und er sieht in den brennenden Fluten verdammten Seelen schwimmen, schreiend in ewigem Schmerz.
Mein Flüstern wispert in meinem neuen Sklaven: Jetzt hast Du Deinen Schatz. Er war immer vor Deinen Augen. Oft ist es das Unscheinbare, was den meisten Wert hat, sage ich ihm lachend. Und ich sehe wie die erste Zelle in seinem Körper entartet. Meine Stimme schneidet: Wenn dein Ende naht, such eine neue Familie für mich. Sonst wirst Du auf ewig im Fluss der Verdammten brennen.