Seitenwind Woche 1: Gäste im Geisterhaus

Diesmal ist alles anders

Wie weiche Wattebäusche liegen die feinen blassen Nebelschleier um mich her. Sie sehen so warm und gemütlich aus - doch geneigter Leser wird sich erinnern, dass schon so mancher Verwegener seine letzten Atemzüge in kalter nebliger Umarmung tat. Der Boden ist durch den tagelangen Regen der letzten Wochen weich und rutschig geworden und der Fussweg zu der großen Eichentüre mit den gusseisernen Beschlägen erinnert heute nicht an seine Schönheit. Nun steigt auch von ihm das weiße Wabern empor und die einzelne Laterne etwa drei Meter neben dem blattlosen Eichenbaum, der stolz seine nackten Arme in den dunkelgrauen Himmel streckt, beleuchtet mit ihrem blassen Schein die großen Pfützen und einzelne Blätter, die dunkel die Wegränder schmücken.

Die Nacht steht kurz bevor und die letzten Abendstunden werden berauscht durch die Raben, die auch heute wieder den Baum besuchen und mit ihren Erzählungen seine Wartezeit verkürzen. Ihr Krächzen ist so laut, dass ich trotz geschlossener Fensterläden jedes Wort verstehen kann. Ich seufze. Manchmal, so kommt mir in den Sinn, könnten sie auch eine andere Geschichte erzählen. Doch sie erzählen jeden Vollmondabend dieselbe Geschichte. Und ich vermute auch heute Abend wieder, so wie allmonatlich seit zweihunderunddreizehn Jahren und 15 Stunden, dass ihre Geschichte keine einfache Geschichte ist, sondern der Zauberspruch, der erklingen wird, bis der Himmel seine gesamte Farbe verloren hat. Weit hinten im Osten erscheint das erste kleine Leuchten des Mondes, ein feiner leuchtender Strich, dessen fahles Licht eine Nacht voller Mondblumen verspricht.

Stille möchte einkehren, die donnernde Stille, die allspätabendlich eintritt bevor die Verwandlung geschieht. Ich spüre das leis aufgeregte Zittern der Gesamtheit vor einer Vollmondnacht um mich her. Alles ist ganz aufmerksam, harrend der Dinge, die sich nun entwickeln werden.

Etwas ist anders heute, ich kann es in meinen Knochen und meinen Ziegeln spüren. Was ist es nur?
Ich lausche in die Stille und die feinen Nebelschleier hinaus, die sich immer weiter ausbreiten. Weit hinten, da, wo die gusseisernen Tore die Grundstücksgrenze beschließen hat die Stille ein Ende. Etwas lacht dort, es wird gesprochen. Ich kann die Sprache nicht verstehen, doch es ist laut. Und es riecht ungewohnt und aufdringlich. Ist das etwa der Geruch von Altem, Gebrauten? Der Geruch von Tod, überlagert von etwas Süßlichem?

Die Raben unterbrechen ihre Geschichte und lauschen wie ich zum gusseisernen Tor hin. Ich öffne die Fensterläden ein Stück, damit ich besser hören kann. Doch - das wäre wohl gar nicht nötig gewesen, denn die Geräusche und Gerüche kommen näher. Und näher.
Menschen tauchen auf. Ich seufze erneut. Menschen, die hier auftauchen, sind meistens neugierig, unanständig und riechen aufdringlich und werfen überall ihren Müll herum. Eigentlich würde ich mich gerne wegdrehen, aber die Raben haben ihre Geschichte nicht beendet und so bin ich bewegungsunfähig. Und sprachunfähig, was besonders unfair ist. Denn die Raben sind alles andere als sprachunfähig, allerdings sind sie im falschen Augenblick sehr sprachfaul. So wie jetzt. Sie grinsen in meine Richtung und dann in Richtung der Gruppe von Menschen, die da durch das Wabern des Nebels im heller werdenden Mondlicht die Schönheit der Mondblumen zertrampeln, ohne sie überhaupt wahrgenommen zu haben. Es sind fünf von ihnen und drei haben Flaschen in den Händen. Der Geruch, der aus diesen Flaschen steigt übertäubt die weißen Nebelfäden, die von ihren bewegten Füßen nach vorn und hinten zur Seite gestoßen werden und sich hinter ihnen verdichten. In den letzten zweihundertunddrei Jahren waren viele Male Menschen hier. Einige länger, andere kürzer. Und in den letzten dreiundvierzig Jahren waren nur noch selten Menschen da und das auch nur für sehr kurze Zeit. Meine Knochen pieksen mich, während ich den letzten Menschenbesuch kurz in mein Gedächtnis rufe. Ich seufze. Warum nur erzählen die Raben ihre Geschichten nicht zu Ende, wenn Menschen hier auftauchen?

Doch heute ist etwas anders. Ganz anders. Und das kann ich in meinen Knochen spüren.

Ein Rabe beginnt nervös zu plappern. Er ist noch sehr jung und er sieht zerrupft und wild aus. Ich kneife meine oberen Augen zusammen. Habe ich ihn schonmal gesehen? Hat er blaue Augen? Just als ich ihn fast sehe wird er von einem anderen Raben angestoßen und fällt beinah vom Ast. Der Stoß war hart und bestimmt - und er muss ein paar seiner Federn lassen. Lautlos gleiten sie schwarzblauglitzernd durch die Luft - und schweben Richtung Erde. Der Baum folgt ihnen mit seinem Blick - so etwas hat es hier noch nie gegeben. Ein vorlauter Rabe, der plappernd Federn lässt, die außerordentlich langsam zur Erde schweben. Scheinbar ist das Schweben der Federn so laut, dass die plötzlich eingetretene Stille uns auf die Füße fällt. Ein spitzer Schrei durchdringt das grauweiße Wabern - warum schreien Menschen so oft? Die Nebelfäden werden dichter und dichter.

Die Raben sind im großen Baum unsichtbar und die Federn schweben scheinbar aus dem Nichts. Bis der zerrupfte Rabe wieder zu plappern beginnt. Die anderen Raben starren ihn aus ihren orangenen Augen leuchtend an, doch er hat seine Augen zugekniffen und plappert konzentriert drauflos. Er plappert so schnell, dass ich ihm kaum folgen kann. Ich kann fühlen, dass er die Geschichte zu Ende erzählt und ich sehe, wie er die Stöße und Rufe der anderen Raben einfach ignoriert. Die Menschen rufen etwas, der Rabe plappert und ich sehe seine blauen Flecken größer werden und seine Federn sind noch immer nicht auf dem Boden angekommen. Was ist das nur?

Endlich. Der Rabe hat aufgehört zu plappern und wird wieder unsichtbar. Es wird wieder still. Sehr still. Ist das jetzt die große Stille? Die, die diesen Abend kommen muss?

Sind die anderen Raben noch da? Ich sehe, wie der Baum sich leis im Wind schüttelt und die Nebelfäden sich an ihm nach oben schieben. Der Boden ist inzwischen nicht mehr sichtbar und der Mond schon ein Stück weiter ins Sichtfeld gerückt. Die Menschen haben sich offenbar entschieden weiter zu gehen und sie haben den Baum fast erreicht.

Die Federn haben den Boden noch immer nicht erreicht.

Ein leises Knurren tönt an meine Fensterläden. Es kommt aus der Richtung des Baums, der entschieden seine Arme nach oben in das Mondlicht streckt. Erste Mondblumen am Fusse des Baumes lassen ihr blasses Licht erstrahlen, dass sogar die Nebeldichte durchdringt.

Ich fange an zu beben. Es beginnt leise summend tief unter mir, überträgt sich auf meine Seiten und klettert langsam hoch bis in die Spitze des Daches. Schummrig ist mir zumute und ich fühle mich lebendig wie schon lange nicht mehr. Das Beben hat die Stille durchdrungen und alles um mich herum beginnt zu raunen, zu singen, zu klappern. Ich versuche mich an die Worte zu erinnern, die der Rabe mit großer Geschwindigkeit ausgestoßen hat. Was hat er verändert, was passiert?

Klappernd und rasselnd schaue ich zum Baum, der seine Arme im Mondlicht schüttelt. Er genießt es, ganz offensichtlich, seine Äste strahlen im fahlen Mondglanz und der Nebel hat seinen Stamm fast völlig verdeckt. So entgeht den Menschen, dass sein Stamm von innen heraus zu glühen beginnt. Es wird heller und heller - bis es schließlich abebbt - und das Beben ebenfalls. In dem Moment erheben sich alle Raben und fliegen lautlos davon. Nein, ein Rabe sitzt noch auf seinem Platz - der zerrupfte Rabe, dessen herabschwebende Federn mit dem blauen Glitzern den Boden noch immer nicht berührt haben.

Die Menschen machen einen Bogen um den Baum. Sie steuern auf mich zu, auf meinen Eingang. Ich kann es fühlen - gleich, gleich kann ich mich erheben. Ich öffne meine Türen weit einladend für sie, auch alle Fenster, sogar die Gitterstäbe an den Kellerfenstern sind weit geöffnet. Noch etwas tritt mit den Menschen in die riesige Eichentür, ein heller Schatten, diffuses Licht aus dem Nebel gekommen. Doch ich kann es nicht verhindern, denn nun wird mein Inneres lebendig und ich unbändig. Ich schließe Fenster und Türen und Gitter und erhebe mich. Das, was gerade hineingekommen ist wird nun ein fester Teil von mir und gehört zu mir - so wie es schon immer war. Die Erde erbebt erneut, als ich meine Beine durchstrecke, meine Beine aus Wurzeln, Fasern und Steinen. Ich ächze, als ich sie langsam durchstrecke. Endlich, endlich kann ich meinen Weg zur Frau Mond beginnen. Ich drehe mich um, schaue die Mondin an, der nun vollständig sichtbar ist und beginne meinen langen Weg, dicht gefolgt von der Eiche, die zu mir gehört wie mein inneres zitterndes Atmen.

Der Rabe sitzt im Baum und lässt sich von ihm mit forttragen. Die Federn schweben nach wie vor Richtung Erde und die Bewegung des Baumes hält sie nicht im Mindesten von ihrer nach unten strebenden Zielrichtung ab.

Es zieht mich magisch in die Richtung der Mondin. Ich kann die Richtung nicht ändern, mein innerer Wille ist stärker als mein kleinerer Wille diesen Vollmond einfach mal woanders hinzugehen. Einmal woanders hin als in den letzten 213 Jahren, die letzten 2627 Mondphasen. Nur ein Mal. Aber es zieht mich auch dieses Mal wieder in die Richtung der Mondin, der riesig und hell den nächtlichen Himmel erleuchtet und ihr blasser Schein umgibt wie ein tröstlicher Mantel mein Sein. Etwas ist anders diesmal, ich kann es in meinen Knochen spüren und meine zittrigen Ziegel wollen beinah abspringen vor lauter Spannung.

Wiegend bewege ich mich voran. Ein Bein vor das andere, langsam, bedächtig, knarrend und in mir knurrend. Fokussiert auf das Fortschreiten, den Blick Richtung Mondin. So wie es sein muss. Seit 213 Jahren.

In mir ist es unruhig. Hin und her, auf und ab - laute Stimmen und schlimme Gerüche belasten mein Inneres. Es fällt mir immer schwerer mich auf mein Fortschreiten zu fokussieren. Die Menschen machen zuviel Lärm, während sie einen Raum nach dem anderen im Haus erkunden. Jedenfalls die Räume, deren Türen unverschlossen sind. Prinz Mabon, der große Hexer, der mit seiner holden Aglika einst dieses Haus erbaute hat viele Geheimnisse gewebt. Zu viele Geheimnisse. Und nicht alle von ihnen werden sich den Menschen preisgeben. Nur denen, die mit reinem Herzen da sind, nicht aus Neugier. Und diese 5 Menschen, die da in mir Unruhe machen, gehören offenbar nicht dazu. Sie rütteln an den verschlossenen Türen, die jedoch nur zurückrütteln. Sie betrachten die Gemälde, die seit so vielen Jahren hier hängen und stellen fest, dass es Originale sind, die in der Welt da draußen wohl Millionenwert hätten, sich jedoch nicht von den Wänden ablösen lassen. Sie wissen nicht, dass sie ein Teil davon sind, so wie sie selbst es jetzt auch sind. Es sei denn… ja, es sei denn sie entschlüsseln das Geheimnis der Freiheit.

Ich bleibe stehen. Es ist Zeit, ich weiß es. Ich öffne die Vordertür und sofort springt ein Mensch hinaus. Ich schließe die Tür sogleich wieder und drehe mich ein Stück weiter herum. An der zugeklappten Türe wird nun die Schrift erscheinen, die Aglika, auf der Suche nach Freiheit, einst dorthin zauberte. Meine Fasern erzittern, als die Buchstaben am Türinnern erscheinen. Sie leuchten hell auf und werden nun für einige Stunden sichtbar sein. So wie alle Hinweise, die damit zusammenhängen. Die vier verbleibenden Menschen haben nun vier Stunden Zeit etwas in ihrer Lage zu ändern, bevor sie in die Gesamtheit eingehen. Aglika meinte es stets gut mit Menschen. Sie war eine wundervolle Frau, die mich so gut pflegte wie sie konnte. Es standen immer frische Blumen im Haus und verbreiteten ihren wunderbaren Duft. Sie liebte ihre Kräuter im Garten und ihren weißen großen Hund, der ihr auf Schritt und Tritt folgte.

Da - der weiße helle Schatten aus dem Nebel taucht plötzlich neben der Eingangstür auf. Ich erzittere. Was ist das? Doch eigentlich weiß ich es. Es ist der große weiße Hund von Aglika und der zerrupfte Rabe hat etwas damit zu tun. Ist Aglika selbst endlich zurückgekehrt? Wird heute alles ein Ende finden? Ich schaue zum Baum, der seine Arme im Mondlicht ausstreckt. Der Rabe sitzt noch immer da, fast unsichtbar, still, wartend. Die blauschwarzglitzernde Feder hat den Boden noch immer nicht berührt.

Ich muss weiter. Ich überlasse die Feder dem Raben, das Mondlicht dem Baum und die Menschen dem hellen Nebelschatten und setze meinen Weg fort. Sollte es heute - aufgeregt zittern meine Ziegel - sollte es heute wirklich soweit sein? Dann will ich an ihrer Seite sein, an der Seite von Frau Mond. Als ich mein Bein hebe fallen einige Steine zur Erde. Ein dumpfer Schrei folgt - doch ich muss weiter. Ich höre das Flüstern des Prinzen Mabon. Die Unruhe in mir wird zur Stille, die Menschen rücken zusammen und flüstern ebenfalls. Ich fühle ihre Angst und ihr Unwohlsein. Ich fühle auch den großen weißen Nebelschatten vom großen weißen Hund, der Ruhe ausstrahlt und Vertrauen. Wird es reichen?

Ich wende mich ab, hin zu Frau Mond. Meine Geliebte, mein Trost. Ich versuche schneller voran zu kommen, denn ich möchte bei ihr sein. Eine große Sehnsucht durchzieht mein Gemäuer, so groß wie schon sehr sehr lange nicht mehr. Meine Dielen zittern, die Fensterläden klappern. Ich möchte endlich bei ihr sein.

Die erhöhte Schrittgeschwindigkeit meinerseits führt offenbar zur Übelkeit einiger Menschen in mir. Neben den unwohligen Gerüchen, die sie bei sich tragen kommen nun neue unwillige Gerüche und Geräusche dazu, die ich mir selbst lieber erspart hätte. Aber wer könnte schon auf die Aussicht auf Frau Mond langsam sein? Die Zeit vergeht, still und unbemerkt, so wie nur die Zeit das kann. Sie ist wie eine unsichtbare Last auf den Schultern des Universums und wer hinter ihr herläuft, der hat alles verloren. Die wenigsten Menschen wissen das und so werden aus Minuten schneller Stunden, als ein Mensch jemals greifen könnte. Ein Rätsel haben die Menschen tatsächlich gelöst - und der große helle Nebelschatten ist immer dabei. Ich bleibe stehen und werfe einen Blick hinein, in die große Halle mit den vielen bunten Gemälden, die die Wände halten. Es ist ein fröhlicher Raum mit vielen Lichtern und allen Farben, die eine menschliche Farbpalette bieten könnte. Aglika hat diesen Raum sehr geliebt und offenbar haben die Menschen beschlossen hier ihre Besprechungen abzuhalten. Vielleicht ist dieser Umstand dem hellen Schatten geschuldet, oder vielleicht hat auch einer der Menschen ein größeres Magieempfinden, als es die anderen bisher hatten. Dieser bunte Raum ist vor Mabons Hexerei fast komplett geschützt. Man kann es natürlich fühlen, aber die Menschen sind magischen Dingen gegenüber ja nach und nach immer mehr abgestumpft. Erst haben sie alles verbrannt, was nach Magie aussah und dann haben sie es einfach vergessen. Doch Magie lässt sich nicht einfach wegoptimierten. Fast alles kann überschrieben werden, optimiert werden. Doch echte Magie ist echte Magie. Ich betrachte die Menschen eingehend. Sie wirken verloren und ängstlich. Sie sind ganz unterschiedlich, hell und dunkel, haben sehr unterschiedliche Auren. Von tapfer über träge bis hin zu verzweifelt ist alles dabei. Da klopft es an das große Flügelfenster. Der zerrupfte Rabe sitzt davor. Ich werfe einen Blick zum Baum. Doch der Baum ist nicht da. Ist nicht da? Ich drehe mich herum und suche meinen Baum. Er ist nirgends zu sehen. Panisch laufe ich los, zurück zur letzten Pause, doch auch hier ist der Baum nicht. Ich laufe zurück und weiter und rufe, so laut ich kann nach meinem Baum. Doch er bleibt verschwunden. Frau Mond ist schon ein gutes Stück näher gerückt.

Die blauglitzernde Feder schwebt einsam dem Boden entgegen, weithin sichtbar, ohne den Baum.

Mein Dach hängt herab, immer wieder verliere ich eine Ziegel, die Fensterläden rappeln bei jedem Schritt von rechts nach links und die Knochen im Keller klappern. Die Trauer drückt mich fast in den Boden hinein, aus dem ich doch gerade erst auferstanden bin. Ich weiß nicht, was los ist und das war noch nie so. Ich wusste immer, was los ist. Bis der zerrupfte Rabe auftauchte. Der zerrupfte Rabe! Abrupt bleibe ich stehen. Der weiß sicher die Antwort!

Ich schaue in mich und dort sehe ich, dass die Menschen, scheinbar gemeinsam mit dem Raben, bereits das dritte Rätsel lösen konnten. Doch das interessiert mich im Moment nicht. Ich brauche Antworten! Ich rufe den Raben, zwei-, dreimal rufe ich ihn. Nach dem dritten Mal erhört er mich, doch ich bin absolut sicher, dass er mich schon beim ersten Ruf gehört hat.

Wo ist mein Baum? Wer bist du? Was bedeutet die Feder? Was ist los? Überstürzt purzeln die Fragen aus mir heraus. Der Rabe hört zu und putzt währenddessen sein schwarzblauglänzendes Federkleid. Dann blickt er mir direkt ins Herz. Mit seinen blauen, unfassbar durchdringenden Augen blickt er mir direkt ins Herz. Durch alle meine Schichten hindurch. Ich erbebe bei diesem Blick, doch ich habe keine Angst. Ich hatte noch nie Angst vor uns in der der Alleinsheit. Das weiß der Rabe natürlich. Und doch erklärt er, dass es nicht um Angst geht. Es geht um den Tod. Natürlich geht es um Den. Es geht immer um Den. Ich verdrehe genervt meine Fensterlädenangeln. Wie langweilig. Der Rabe schmunzelt. Ich weiß nicht genau, ob Raben das überhaupt können, aber wenn es ein Rabe kann, dann der zerrupfte Rabe, der hier auf dem alten goldenen Kronleuchter sitzt.

Der Rabe eröffnet mir dann, dass dies ein Rätsel sei. Ein Rätsel der Zeit. Für mich. Zur Abwechslung sozusagen. Denn, wenn alles so weiterliefe wie bisher in dieser Nebelnacht, würden die Wunder geschehen, an die Aglika glaubte und die Prinz Mabon hatte weghexen wollen. Die Raben waren sein Werk gewesen. Sie waren mittlerweile mehrere Hundert Jahre alt und dienten verschiedenen Hexern. Er aber, der zerrupfte Rabe, war von einem anderen Ort gekommen.

Er zwinkert mir zum Abschied zu und fliegt dann wieder zu den Menschen, die verwirrt vor der Kellertür stehen und die Tür nicht aufschließen können. Ich bin auch verwirrt. Ich schüttel mich durch, so gut ich kann, damit ich wieder etwas klarer sehen kann. Dann geht es weiter. Schritt vor Schritt stapfe ich vor mich hin, mit klappernden Ziegel, damit ich besser das Rätsel lösen kann.

Da höre ich sie flüstern - Frau Mond. Sie flüstert mir zu. Sie flüstert immer, wenn ich ihr nah komme und nicht weiter weiß. Ich liebe ihr sanftes Flüstern. Sie flüstert über Odin, sie flüstert über alte Geschichten. Über Raben, die von den Göttern geschickt werden und die alles an seinen rechten Ort bringen. Sie flüstert mir zu, dass ich mich weiter rechts halten soll, dorthin, wo das große leere Feld steht. Dort wird sich heute Nacht etwas manifestieren, etwas, was bereits seit zweihundertdreizehn Jahre vertrocknet war.

Natürlich, Frau Mond hat ja von dort oben einen wunderbaren Blick über alles. Sie ist die Göttin der Zyklen und des erdigen Wissens. Dies ist wohl zum Teil des Rätsels Lösung. Doch warum schickt Odin seinen Raben jetzt? Doch vielleicht ist die Antwort auf diese Frage kein Teil der Lösung. An den Ort, an den ich gehen soll gibt es viele Bäume. Es ist ein Ort der sehr alten Bäume. Jeder kennt diesen Ort, die Macht hier ist so groß, wie sie nur bei sehr alten Bäumen sein kann. Und nun, im vollen Mondschein der Mondin strecken sie alle ihre Arme zu ihr und erfragen ihren Segen. Ich seufze tief auf. Ich wünschte so sehr mein Baum wäre jetzt hier. Es wäre eine solche Freude für ihn, er wäre so glücklich hier!

Ich bin so beschäftigt mit mir selbst, dass ich die Menschen in meinem Gemäuer ganz vergessen habe. Ich werfe einen kurzen Blick auf ihr Tun und sehe, dass sie es nicht schaffen werden. Wieder einmal. Die Zeit ist fast abgelaufen und sie verstehen die Hinweise des Raben nicht. Sie sind so sehr in ihrem Menschsein und ihrer Sprache gefangen. Ich möchte ihnen helfen. Ob es diesmal klappen wird? Diesmal ist alles anders, sogar die Kellerknochen liegen anders. Sie stehen auf dem Kopf.
Beim letzten Mal wurde ich gewarnt als ich half - und das ist alles insgesamt nicht gut gegangen. Der finstere Prinz hat es gewusst, wie auch immer das möglich war, er hat gewusst, dass ich helfen wollte und hat die Menschen in entzückende, dunkle Statuen verwandelt, die nun einen Teil von seinem Vorzimmer schmücken. Und dann hat er daraus ein weiteres Rätsel gemacht. Mabon - der dunkle Prinz, der Gottsohn Loki den Platz streitig machen wollte und immer noch will. Doch nun bin ich hier, habe den Wald mit der Weite daneben erreicht. Die Bäume mustern mich von der Seite her, als fürchten sie um ihren Segen. Doch Teilen verdoppelt stets und hier muss niemand um seine Kraft bangen. Frau Mond weiß bestimmt einen Rat, sie weiß immer einen Rat. Sie hat sicher eine Idee, was die Menschen tun müssen.

Ich schaue mich um, zu dem Platz, an dem mich über zwei Jahrhunderte mein Baum begleitet hat. Die Feder hat den Boden beinah erreicht. Nur noch ein kleiner Hauch, und sie würde ihn berühren. Ich ahne, dass damit alles vorbei ist. So - oder so.

Ich, das alte Haus am Ende der Rabengasse bin nun am Ende eines Seins angelangt. Diesmal ist alles anders. Ich kann es in meinen Knochen spüren.

Das Haus des alten Admirals

Ich bin das Haus. Ich wurde erbaut, ich wurde bewohnt. Viele Generationen sah ich kommen und wieder entschwinden. Früher waren die Jahre gut zu mir. In meiner Erinnerung sehe ich spielende Kinder im Garten; Feste, die in meinen Räumlichkeiten gefeiert wurden. An traurige Momente entsinne ich mich ebenfalls. Dann kam der Tag, es ist viele Winter her, an dem alles anders wurde. Mein damaliger Besitzer, ein Admiral im Ruhestand, erfuhr von seinem Arzt, dass er unheilbar erkrankt wäre und nicht mehr lange zu leben hätte. Der Admiral war kein ängstlicher Mann. Er hatte die Untiefen des Lebens wie die des Meeres umschifft und erfolgreich eine Familie gegründet. Seit dem Tag, am dem ihm der Arzt die Kunde seines nahenden Todes brachte, fing sein Verstand an, dahin zu welken. War er vorher ein ernster, aber energischer Mann, verbrachte er von da an seine Zeit nur in schattigen Zimmern. Die Vorhänge zugezogen, in einem morschen Lehnstuhl sitzend und ins Nirgendwo starrend. Das Lachen wurde weniger in meinen Mauern. Kinder und Enkelkinder verstummten, wenn das Gespräch auf den alten Admiral kam. Die Tage wurden länger und wieder kürzer. Dann verkündete er zur Überraschung seiner ganzen Familie, dass er gedachte, ein Fest für alle seine Freunde und Verwandte auszurichten. Verwundert aber doch erfreut kam an jenem Herbsttag die Schar der ihm Nahestehenden zusammen. Es wurde geplauscht, es wurde gelacht. Der alte Admiral verweilte im Hintergrund und lächelte stumm in sich hinein. Das Abendessen begann damit, das der Gastgeber eine, wie er sagte, Flasche Wein exquisiten Jahrgangs aus dem Keller holte. Er hielt eine knappe Rede, in der er seine Angehörigen und Freunde über alle Maßen lobte und äußerte den Wunsch, sie mögen nie voneinander getrennt sein. Die Versammelten stießen auf sein Wohl an. Kurze Zeit später war keiner von ihnen mehr am Leben. Mein Besitzer hatte die Weinflasche mit einem potenten Gift versetzt. Er hatte erkannt, dass das Einzige, wovor er sich wirklich fürchtete, die Einsamkeit des Jenseits war. Er starb mit einem zufriedenen Lächeln, da er sicher wusste, dass er mit seinen Liebsten für immer vereint sein würde.
Seither ist eine lange Zeit vergangen. Ich fristete das Dasein verlassen am Ende einer Straße; wurde von allen Menschen gefürchtet und gemieden seit jenem verhängnisvollen Herbstabend. Oft, wenn Sturm und Regen in mein gebrechliches Gebälk fuhren, wünschte ich mir, ihrem Groll nachgeben imstande zu sein und einzustürzen. Doch ich existierte weiter, dem Schlafe näher als der Wirklichkeit. Nur die finsteren Raben, die sich in meinen Dachstuhl verirrten, leisteten mir in der Tristesse Gesellschaft.

Eines Abends, es muss wieder Herbst geworden sein, denn das mich umgebende Wäldchen trägt ein goldenes Blättergewand, erwache ich von einem grellen Quietschen. Die Eingangstür schwingt auf, eine scharfe Brise weht Blätter in meine Räumlichkeiten. Ich höre das Geplapper von Menschen. Es scheinen drei oder vier zu sein. Den Stimmen nach stehen sie kurz vor dem Erwachsenwerden. Zwei Jungen und zwei Mädchen sicherlich. Ich bemühe mich, die Trägheit meines Schlummers abzuwälzen. Ein Gefühl der Freude verdrängt die Lethargie; es ist einige Sonnenaufgänge her, seit mir der letzte Besucher seine Aufwartung machte. Sie plaudern und lachen; Geräusche, die mir lange Zeit versagt blieben. Ich versuche, ihren Worten zu folgen. Das Meiste verstehe ich nicht. Was bedeuten „Halloween“ und „Party“? Eines der Mädchen scheint etwas ängstlich zu sein, sie schaut sich mit Unbehagen um und bleibt nahe der Eingangstür. Laura, so wird sie von ihren Freunden genannt. Ein Anderer, ein großgewachsener Bursche, der die ganze Zeit ein kleines, schwarzes Kästchen vor sein Gesicht hält, mahnt sie an, sich nicht zu fürchten. In meinen Mauern gäbe es keine Geister oder Gespenster. Selbst der alte Admiral hätte es vor Langeweile nicht ausgehalten und sei fortgezogen, um woanders zu spuken. Ich bin verwirrt. Der Admiral ist schon lange fort – weit länger, als diese jungen Menschen auf dieser Welt sind. Schnell haben die Besucher mein Erdgeschoss durchsucht, mit Ausnahme von Laura, die nahe bei der Eingangstür stehen bleibt.
„Du musst dich nicht fürchten!“ Möchte ich ihr zurufen. Doch ich bin nur ein Haus und habe keine Stimme. Ich klappere etwas mit den Türen und Fensterläden, um ihr Mut zu machen. Sie wirkt eingeschüchterter denn zuvor. Der Große mit dem schwarzen Apparat, er scheint auf den Namen Matthias zu hören, spottet über ihre Furcht und macht Anstalten, die Treppe hinauf in mein Obergeschoss zu steigen. Die alten Holzstufen knacken und knirschen unter seinen Füßen wie mürbe Knochen. Trotz des Lichts, das aus seinem Kästchen strahlt, bemerkt er nicht, wie seine neuen Fußabdrücke die im Staub bestehenden verwischen. Seine Freunde bleiben unten, rufen ihm etwas zu. Seine Antwort ist lakonisch, dennoch zittert seine Stimme kaum merklich. Der Lichtschein schwenkt im Obergeschoss umher und verharrt kurz auf der lange zerbrochenen Badezimmertür. Der Wind pfeift durch mein undichtes Dach, während die dicken, staubbeladenen Vorhänge nur wenig von der Abendsonne ins Innere lassen. Matthias´ Schritte werden vorsichtiger, er schleicht behutsam den Gang entlang. Jetzt, wo ihn seine Freunde nicht mehr sehen, erlaubt er seinem Gesicht eine unsichere Miene. Ein Knarren ertönt, es kommt aus dem Schlafzimmer; die Tür ist zugezogen. Bedächtig schiebt sich der junge Mann Meter um Meter vor. Er drückt langsam die Tür auf, wobei er sich hinter dem schwarzen Kästchen zu verstecken scheint. Die geschlossenen Fensterläden tauchen das Zimmer in Finsternis. Ein vorsichtiger Schritt bringt den Jungen ins Innere des Raumes. Neben dem leisen Pfeifen des Windes und dem knarrenden, gleichmäßigen Geräusch ist kein Laut zu vernehmen. Matthias´ Fuß stößt gegen etwas; der Schein seiner Lampe huscht über den Boden. Im Licht kullert eine leere Blechdose herum. Der Junge wundert sich und nimmt die Dose auf. An ihren Wänden sind Reste ihres ehemaligen Inhalts sichtbar: ein roter Matsch, der sich schon ins Schimmlig-Grüne verfärbt hat. Das Knirschen ist deutlich zu hören. Es kommt aus der Mitte des Zimmers, in seinem Rhythmus dem Pendelklang einer Uhr nicht unähnlich. Der junge Mensch atmet schwer und lässt das Licht durch den Raum wandern. Er entdeckt den umgerissenen Stuhl; Schleifspuren sind im Staub zu erkennen. Der Schein seiner Lampe fährt nach oben – und enthüllt die verzerrte Fratze des Todes. Matthias fällt vor Schreck rücklings zu Boden, wirbelt dabei schwarze Federn auf. Der Lampenschein erhellt den langsam verfaulenden Leichnam; im Luftzug pendelnd und dunkle Schatten an die Wand werfend.
Der Verstorbene war der letzte Besucher. Der einzige in vielen Jahreswechseln, den die düstere Geschichte über den alten Admiral nicht abzuschrecken schien. Ich war erfreut, wieder eine atmende Seele in meinen Mauern zu beherbergen, auch wenn ihre Verzweiflung von Tag zu Tag größer wurde. Sie hauste hier und vegetierte mehr tot als lebendig, bis sie beschloss, ihrer Existenz in meinen Räumen ein Ende zu setzen.

Matthias wird leichenblass. Ein langer Schrei durchdringt die anbrechende Nacht. Erschrocken erhebt sich ein Rabe flatternd in die Dunkelheit.

Durch die Hände meines Erbauers

Am Ende des Rabenwegs, hinter den dunkeln Tannen, steh ich schon seit über zweihundert Jahren. Groß, erhaben, einzigartig. So hat mich mein Erbauer geschaffen. Ich habe bislang alles überstanden. Wind und Wetter, Kriege, Morde. Und Schlimmeres. Von außen und in mir drinnen. Vor allem in mir drinnen. Seit achtundvierzig Jahren ist es still. Nur das Säuseln des Windes, das Rascheln der Bäume dringt durch meine Balken. Begleitet von dem Klagen der gequälten Seelen der Opfer meines Erbauers und seiner nicht weniger gestörten Nachkommen.
Doch gelegentlich wagen sich Menschen an mich heran. Aberwitzige, arrogante Kreaturen, wie mein Erbauer und seine Sippe. Nur mit deutlich weniger Intellekt. So auch heute Nacht.
»Mia«, zerstörte die viel zu kratzige Stimme den Gesang des Windes. »Komm schon. Das wird lustig.«
»Du meinst, das wird unheimlich.«
»Du bist doch sonst immer dafür zu haben.«
Auch ohne sie sehen zu können, konnte ich spüren, wie die beiden näher kamen. Die Äste knackten unter ihren Sohlen. Ich wollte keine ›Besucher.‹
Energisch schob ich den Schlossriegel zu.
»Hast du das gehört?«, fragte die männliche Stimme. »Mach die Kamera an!«
Kurz raschelte etwas, dann strahlte mich ein grelles Licht an. So grell, es drang selbst durch meine geschlossenen Fensterläden.
»Das wird ein Abenteuer! Ein echtes Geisterhaus!«
Oh, wenn das so ist: Kommt herein!
Ich schob den Riegel wieder auf. Und sie liefen, wie die Lämmer zur Schlachtbank, in meine hölzernen Eingeweide hinein. Ich war geschmückt mit unzähligen Porträts von der Sippe meines Erbauers, von ovalen und eckigen Spiegeln. Schön hergerichtet hatte ich die alten Puppen mit ihren weiten Augen, welche den Mädchen dutzender Generationen vergeblich versucht hatten, Trost zu spenden. Große, von Käfern befallene, Holzschränke und Kommoden, reihten sich an den Wänden meiner engen Gänge entlang. Einige davon hielten noch immer seine perfiden Werkzeuge verschlossen. Blind und gierig waren die beiden Menschen unempfänglich für die Aura des Todes, die überall an mir haftete. Es dauerte sogar ein paar Schritte, bis sie bemerkten, dass die Dielen unter ihren Füßen mit eingetrocknetem Blut verfärbt waren. Doch das fachte ihre Begeisterung nur umso mehr an. Selbst die Frau ließ sich mitreißen. Und ich dachte, wenigstens sie wäre vernünftig. Aber nein. Sie mussten unbedingt meine Ruhe stören, in mich eindringen und mit ihren dreckigen Händen alles mögliche in mir anfassen, nur für den ›Kick‹. Hätte ich sie nicht eingelassen, hätten sie mich aufgebrochen. Ich kenne Menschen. Sie sind alle gleich!
Ihr wollt den Kick? Ihr bekommt den Kick!
Ich hatte einiges zu präsentieren. Ich hatte zwei Jahrhunderte grausame Geschichte zu zeigen. Dafür musste ich nur wieder den gequälten Seelen in mir gestatten, sich… ›mitzuteilen.‹

„Das Haus“

Seit Anbeginn der Zeit, erzählt die Menschheit sich bereits Geschichten von dunklen, unheimlichen Orten. Orte, die so unerklärlich furchteinflößend sind, dass man davon ausgehen müsse, dass das absolute, das unermesslich Böse an ihnen herrsche.
Waren es am Anfang vor allem noch Höhlen und Wälder, wurden es später vor allem alte und verfallene Schlösser, also Ruinen und teils sogar Schiffe, denen man Geschichten über unerklärliche Vorgänge und Geister zuschrieb.

So lang die Liste bereits ist, so unvollständig ist sie auch ohne Erwähnung der ganzen Häuser, die nie lang bewohnt bleiben, weil es in ihnen spuken würde. Das ehemals so prunkvolle Hotel Astoria in Leipzig will ich hier als eine der bekannteren Erzählungen erwähnen, in deren Schatten viele kleinere Häuser geradezu verblassen.

Häuser wie jenes kleine verwittert wirkende Anwesen am hinteren Ende des Rabenweges. Selbst in der kleinen verschlafenen Stadt, in der es sich befindet, wissen nur wenige von seiner Existenz und auch ihr musstet eine Ewigkeit nach diesem Haus suchen. Aber was für Spezialisten für paranormale Ereignisse und unerklärliche Phänomene wärt ihr auch, wenn ihr nicht einmal ein kleines Haus finden könnt, oder? Ich meine, die wenigsten Häuser sind dafür bekannt, Suchenden davonzulaufen.

Ihr habt das Haus gesucht, und ihr habt das Haus gefunden.

Mit sechs Leuten seid ihr aufgebrochen, um dieses Haus zu untersuchen, nach welchem ihr so lange gesucht hattet. Sechs Leute. Eigentlich hattet ihr eine Person mehr sein wollen, nein ihr hättet mehr sein SOLLEN. Aber eure siebte Person musste ja unbedingt aufgrund der Folgen eines schweren Autounfalls leider absagen.

Welch eine Ironie des Schicksals, oder? Die Person, die euch fahren sollte, durch eine lebensgefährliche Verletzung dem sicheren Tod entronnen. Nun gut, überleben halt zwei von euch, anstatt nur einer Person. Unschön, aber solche Dinge passieren. Zumindest habt ihr nicht alle überlebt, DAS wäre richtig ärgerlich gewesen.

Zum Glück habt ihr nicht auf die Leute gehört, die euch davor gewarnt haben, dieses Haus am Ende des Weges zu betreten. Und gewarnt haben sie euch alle. Nicht viele wussten davon, und noch weniger waren dazu bereit, ihr Wissen mit euch zu teilen, aber eines hatten sie alle gemein. Sie alle haben euch gewarnt. Selbst jene die angeblich nichts wussten, versuchten es euch auszureden.

Aber ihr wolltet nicht hören. Nein, ihr wolltet euch unbedingt beweisen. Ihr wolltet unbedingt die Menschen sein, die nachweisen konnten, dass es Fluch und Spuk, dass es diese Dinge tatsächlich gibt. Davon konnten euch weder all die Warnungen abhalten, noch die ganzen Bälle, Frisbees und andere Spielzeuge, die im Laufe der Jahre von unachtsamen Kindern über die Zäune geworfen, aber nie abgeholt worden sind. Spätestens DAS hätte euch eine Warnung sein sollen, denn Kinder lassen nie ihre Spielzeuge zurück, wenn sie es nicht unbedingt müssen, und selbst dann …

Aber nein, ihr wolltet unbedingt beweisen, dass es das eine, das absolute Böse gibt. Nicht einmal die vielsagenden mitleidvollen Blicke der Nachbarn oder das hektische Winken der besorgten Briefträgerin ein paar Häuser weiter konnte euch davon abhalten, dieses Haus zu betreten, das ihr doch schon so lange gesucht hattet.

Nein, ihr wolltet das unbedingt. Hier und da gab es zwar das ein oder andere zögerliche Bedenken, die vom Rest der Gruppe aber immer sofort im Keim erstickt worden sind, sobald sie geäußert wurden. Nein, die anderen und du, ihr wolltet das unbedingt.

Und so standet ihr dann, eine Woche später als geplant – schließlich musstet ihr neue Autos mieten – vor dem Haus. Vollbepackt mit Koffern voller elektrischer Geräte, die euch dabei helfen sollten, elektrische und magnetische Werte verschiedenster Arten und Ausprägungen aufzuspüren, zu messen und zu dokumentieren, trat einer nach der anderen durch die schwergängige knarzende Tür und über die über viele Jahre hinweg abgetretene Schwelle in das Haus.

Ihr dachtet, ihr hättet das Haus gefunden, aber in Wirklichkeit hat das Haus auf euch gewartet, und es war dabei überaus geduldig. Über zwei Jahrzehnte hat es darauf gewartet, dass einer von euch jenes Versprechen eingelöst, welches einst gegeben wurde. Und mal ehrlich, du weißt genausogut wie ich, wer dieses Versprechen damals gegeben hat, oder glaubst du etwa an Zufälle?
Also ich nicht.

Aber gut, das Versprechen wurde gehalten. Ihr seid hier aufgetaucht, und nun sind fast alle von euch tot. Einer hat sich vor lauter Angst selbst erhängt, das Pärchen hat sich gemeinsam vom Dach gestürzt, und die anderen beiden hast du erlösen müssen. Erlösen von dem Wahn, in dem sie sich gegen dich verschworen hatten, um dich zu töten. Es war also Notwehr. Es hieß du oder sie, und du hattest kein Interesse, dich ihrem Urteil zu beugen.

Als sechs Freunde seid ihr gekommen, zu sechs Feinden im Wahn seid ihr geworden, und nun sind alle tot.
Nur du lebst noch. Du und diese siebte Person, die wahrscheinlich noch immer im Krankenhaus liegt. Diese Person, die nur dadurch überleben wird, dass sie fast gestorben wäre.
Ironie des Schicksal, ich sagte es bereits.

Und noch etwas sage ich dir, dem Menschen, der diese meine Zeilen nun liest.
Hör auf meinen Rat und … Lauf!
Lauf, so schnell wie du kannst.
Lauf und dreh dich nicht um.
Dreh dich nicht um, sondern lauf.
Lauf fort, und lebe dein Leben.

Um dein Vergessen hier, kümmer ich mich, so wie ich mich bisher immer gekümmert habe. Der geruch des von dir verbrannten Fleisches wird verfliegen, und die von dir ausgehobenen Gräber werden sich dem Grase angleichen, bevor sie sich von ihm überwuchern lassen. Den Rest erledige ich mit meiner guten Freundin, der Zeit.

Auch du wirst mich wieder vergessen, wie schon beim ersten Mal. Du wirst vergessen, und du wirst hierher zurückkehren. Ein letztes erstes Mal. Und wieder wirst du neue Opferlämmer zur Schlachtbank führen. Doch dieses erste Mal wird es dein letztes Mal sein.

Gräm dich nicht, sondern zeig’ Freude und Dankbarkeit. Die meisten betreten das Haus nur einmal, verlassen es aber nie wieder. Nur jene, die sich würdig zeigen, nur jene, die sich dem Haus gegenüber beweisen, dürfen es auch wieder verlassen. Sie dürfen das Haus verlassen und ihr Leben weiterleben, als sei nichts gewesen.

Doch wie alles im Leben, so hat auch die Gunst des Hauses ihren Preis. Den Preis der Wiederkehr, und den Preis der Opfer, die ihr bringen müsst. Ihr die ihr euch als würdig erweist, ihr kommt als junge Menschen, ihr kommt als Erwachsene und ihr kommt, wenn noch etwas anderes gekommen ist … eure Zeit, euer Ende. Doch wie auch du bei deinem ersten Mal an die Stelle eines anderen getreten bist, so wird auch dich jemand beerben.

Wann? Nun, das wird sich zeigen. Wenn die Zeit reif ist, wenn die Zeit der erneuten Ernte gekommen ist, dann werde ich dich rufen. Ich werde dich rufen, und du wirst folgen.

Mit deinen Tributen wirst du wieder vor meiner Tür stehen, und aus eben jenen Tributen werde ich dann ebenso deinen Erben und Henker wählen, wie ich es einst auch bei dir getan habe. So wie ich es seit jeher getan habe und so wie ich es auch weiterhin tun werde, bis die Zeit, meine Zeit, ihren letzten Tribut fordert.

Aber auch dann wird mir wieder etwas einfallen.

Denn ICH bin das Haus, und das Haus … gewinnt … IMMER!

Ich konnte Sie schon auf fünfhundert Meter Entfernung riechen. Den Schweiß, der Ihnen vor Anstrengung, den steilen Weg zu mir hinauf zu gelangen. Dieser kroch aus deren Poren und gelangte durch die zahlreichen Ritze in mein Innerstes. Genüsslich sog ich den Duft auf, der mir mindestens zwei Jahrzehnte lang verwehrt blieb. Den letzten Besuch verzeichnete ich fast auf den Tag genau vor zehn Jahren. Meine Vorfreude erfüllte mich, so dass mein altes Gemäuer vor Erregung bebte und ein Knarzen und Poltern zu vernehmen war. Gleichzeitig blieb die kleine Gruppe im Wald stehen. Der Wind trug mir flüsternd die Worte zu „Habt ihr das gehört?“ Angsterfüllt klang die weibliche Stimme. „Da war nix. Kommt weiter.“ Die Menschlein setzten sich wieder in Bewegung. Für einen Moment befürchtete ich, auf mein Vergnügen verzichten zu müssen. „Kommt nur, kommt nur, meine Kinderlein“ sendete ich die Botschaft hinaus, wie ein Mantra leise vor mich hinmurmelnd. Sie waren keine hundert Meter mehr von mir entfernt. Mein Anblick ließ den Dreien einen Schauer den Rücken hinunterlaufen und die Gänsehaut zum Ausdruck ihres Unbehagens breitete sich über deren Haut aus. Ich jauchzte vor Glück. Wieder vernahm ich die weibliche Stimme „Wollt ihr da wirklich reingehen?“ „Du hättest ja nicht mitkommen müssen“ antwortete einer der beiden Jungs barsch. „Soll ich gleich allen erzählen, was Du für ein Angsthase bist? Das ist ein altes, verwahrlostes Haus, sonst nix. Und all die Schauermärchen sind Blödsinn. Um das zu beweisen, sind wir ja hier.“ „Na, wenn sich da Einer nicht mal irrt“ schoss es mir durch die Eingeweide. Vorsorglich hatte ich schon einladend die Haustüre geöffnet. Sie tappten in die Falle und betraten mein Reich. Kaum waren alle drin, schloss ich die Türe mit einem lauten Knall. Die drei schrien auf. Wie liebte ich es, wenn Angstschreie durch meine Räume hallten, das vermittelte mir das Gefühl von Lebendigkeit. Hysterisch schrie das Mädchen „Ich will hier raus!“, drehte sich um und versuchte, die Türe wieder zu öffnen. „Keine Chance, meine Kleine“, entfuhr es mir laut. Sie hatten es gehört. „Ich schaff das nicht. Helft mir!“ Zu dritt zerrten sie am Türknauf und traten gegen die Bretter der alten Holztüre, die sich auf mein Geheiß nicht einen Millimeter bewegte. „Wir müssen einen anderen Weg finden, um hier rauszukommen. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht“ übernahm jetzt der andere Junge das Kommando. Sie stürmten los und rannten von einem Raum zum Nächsten. Rüttelten an den Türen und Fenstern. Ihr Verhalten erinnerte an Versuchsmäuse in einem Labyrinth, wo am Ende des Weges ein Käsekrümel lag. Ihr Ziel war kein Futter, sondern ein Ausgang. Um das Ganze lustiger zu gestalten, stöhnte ich und amüsierte mich, wie sich ihre Augen weiteten und sich ihr Entsetzen in den Gesichtern widerspiegelte. Das Mädchen fing an zu weinen, dabei war dies erst der Anfang. Die harten Geschütze würden erst kommen. Um mich in eine Art Meditation zu versetzen, schloss ich alle Fensterläden, so dass vollkommene Dunkelheit herrschte. Das Grüppchen rührte sich nicht vom Fleck. Sie befanden sich in Schockstarre. Es gestaltete sich schwierig nach all der Zeit, die notwendige Konzentration zu erzielen, doch mit Anstrengung erschuf ich meine Geister, die zu der Gruppe schwebten, um sie zu erschrecken. Das Mädchen sah die durchsichtige Gestalt als erste, schrie erneut auf und zitterte am ganzen Körper, so dass mich ein Wohlfühlschauer vom Dach bis in den Keller durchfuhr. Bei einem der Jungs bildete sich eine kleine Pfütze am Boden. „Na, wer war jetzt der Angsthase?“, dachte ich mit voller Schadenfreude. Hoffentlich blieb dies beim Mädchen nicht unbemerkt. Der zweite Junge rang nach Luft, sank in sich zusammen und röchelte. „Was war denn mit dem los?“, kam es mir in den Sinn. Sie erfasste die Situation, rief dem anderen zu „Scheiße, der hat einen Asthmaanfall. Wo hat er sein Spräh?“ Gleichzeitig riss sie ihm den Rucksack von der Schulter und suchte energisch nach etwas. Sie zog ein kleines Ding daraus hervor und sprühte ihm einen Art Sprühnebel in den geöffneten Mund. „Die Szene machte mir Kopfzerbrechen. Der würde doch nicht … Oje, das erinnerte mich an den letzten Besuch, als einer zusammenbrach und nicht mehr aufstand. Das würde doch nicht nochmal passieren?“, fragte ich mich angsterfüllt. Der Junge schien sich wieder zu fangen. „Was machen wir jetzt?“, hörte ich ihn flüstern. „Die Frage muss lauten: was mache ich jetzt?“ Das Risiko eines erneuten Todesfalles konnte ich nicht eingehen. Das würde mir die Gesellschaft der Spukhäuser nicht ein zweites Mal durchgehen lassen. Widerwillig schaltete ich das Licht im Haus ein, wohlwissend, dass mein Vergnügen damit zu Ende war. Ich öffnete die Läden und die Haustüre. Die Erleichterung durchfuhr die Kinder, als sie erkannten, dass der Spuk vorbei war. Sie zögerten nicht, nahmen sich an den Händen und stürmten kreischend hinaus. Enttäuscht und irritiert schüttelte ich mich, so dass jeder einzelne Stein vibrierte, und Gefahr bestand, dass mein Äußeres in sich zusammenfiel. Diese neugierigen Menschlein fehlte doch eine gewisse Intelligenz „Was hatten die geglaubt, was man in einem Spukhaus erlebt“. Traurig schaute ich Ihnen hinterher, wie sie fluchtartig den Weg in den Wald davon liefen. „Kommt bald wieder, es war mir ein Vergnügen!“

Rückkehr

Der Rabe hatte mich vorgewarnt und trotzdem ruckte ich überrascht aus tiefstem Schlaf, als meine Eingangstür langsam geöffnet wurde. Die Scharniere quietschten. Ich fühlte es bis ins Fundament. Vier Menschen, hatte der Rabe gesagt. Zwei groß, zwei klein, aber alle noch jung. Menschenkinder. Er hatte sie die letzten Tage beobachtet, wie sie durch die Wälder gestrichen waren, leise wispernd und wohl eindeutig auf der Suche nach mir. Sie hatten mich also gefunden.
Ich schüttelte den Schlaf aus meinen Wänden, so dass meine alten Balken seufzten. Ich konnte fühlen, wie die Kinder vor der Tür erstarrten und dachte zufrieden, dass es einfach werden würde. Kurzentschlossen öffnete ich also mit einem Ruck meine hinteren Fenster. Die Läden schlugen mit einem lauten Knall an meine rückwärtige Hauswand, ein Windzug jagte durch mich hindurch, den Kindern ins Gesicht, darin vermischt der Staub aus vielen Jahren Vernachlässigung. Ich hörte die Kinder schreien, dann husten und schließlich rannten sie auch schon. Der Rabe flatterte über mich hinweg, ließ sich auf meinem Schornstein nieder. „Die hast du gut erschreckt“, lobte er. Ob es an seinem Krächzen lag oder einfach an mutiger Neugierde? Ich weiß es nicht. Doch am Waldrand blieb eines der Kinder plötzlich stehen, sah zu mir zurück. Ein Mädchen mit rotbraunen Korkenzieherlocken. Sie legte die Stirn in Falten und betrachtete mich nachdenklich. Dann ertönte aus dem Wald ein ängstlicher Ruf nach ihr. Das Mädchen warf einen Blick zwischen die Bäume, zögerte, sah noch einmal zu mir und verschwand schließlich in der Dunkelheit.
„Die kommt wieder“, krächzte der Rabe und als Antwort ließ ich noch einmal meine Balken seufzen.

Ich sah sie kommen und wieder gehen. Manche blieben über Generationen erfüllten die Räume mit Lachen und Freude, doch auch mit Trauer und Gram. Schon lange war niemand mehr da, der sich meiner annahm, mich pflegte und meine morschen alten Balken ausbesserte. Ich spüre die Last der Zeit, die wie eine dicke undurchdringliche Schneedecke auf mir lastet. Mein Geist, entstanden aus der Kraft der Lebenden und zum Tode verurteilt durch das Vergessen. Menschen, Fluch und Segen zugleich. Was wäre ich ohne sie, doch mit ihnen geht es auch nicht. Der Mond erhellt den winzigen Flecken auf dem ich stehe und verhöhnt mich indem er seinen grellen Schein durch alle Ritzen jagt. Ich weiß, ich bin alt und doch will ich nicht glauben, dass mein Ende bevorsteht. Ein letztes Mal will ich den Menschen eine Chance geben. Die Raben krächzen laut und pieken mich. Sie glauben, dass ich nichts wüsste. Blind und taub für die Welt da draußen, doch sie irren sich. Ich weiß wer mich sucht.

Stunden vergehen, doch für mich ist es nur ein Atemzug. Die Raben kreischen aufgeregt auf der dicken Eiche, die heimlich ihre Wuzeln unter mir ausbreitet. Manchmal wird sie übermütig indem sie gegen meine Pfosten drückt, doch meine kleinen Nagerfreunde wissen, wie sie mich schützen können. Die Eiche revanchiert sich in kalten windigen Nächten indem sie ihre Äste gegen meine Wände schlägt bis der putz abplatzt. Es ist ein altes Spiel zwischen uns, sind wir doch die einzige Gesellschaft für den anderen. Ich spüre wie die Frau näherkommt. Ihre Angst eilt ihr weit voraus. Ich richte mich auf, öffne alle Fenster und Türen um den Moder, durch die frisch kalte Briese des Herbstes zu ersetzen. Kurz bevor die Frau den Weg zu mir erreicht, sperre ich meinen launischen Freund wieder aus. Sie stolpert durch das Gestrüpp auf mich zu. Ich spüre ihre Freude und Hoffnung, doch gleichzeitig schaut sie immer wieder panisch hinter sich. Ihre schlammverkrusteten Stiefel hinterlassen abdrücke auf den Dielen der Veranda. Ich helfe ihr dabei die Tür zu öffnen und geleite sie in den Schutz meiner Wände. Sie irrt umher, doch ich bin abgelenkt. Ein Freund, der älter ist als die Zeit selbst, steht draußen vor der Tür und bittet stumm um Einlass. Es war reine Höflichkeit, denn nichts könnte ihn aussperren. Trauer überkommt mich. Ich spüre die Erschütterung im Boden als ein zweiter Mensch sich mit aller Kraft gegen die Tür wirft. Er brüllt, weil ich ihn nicht reinlassen will. Seine Tritte bereiten mir Schmerzen und ein alter Groll steigt in mir auf. Ich kann ihm nicht standhalten und gebe nach. Die Reste längst vergangener Seelen durchfluten mich. Ich atme und spüre wie der Staub aus den Ritzen rieselt. Mein Freund der Tod legt seine milchig weiße Hand auf das Geländer und beobachtet den nichts ahnenden Mann, der wie von Sinnen durch das Haus stürmt und schreiend nach der Frau sucht.

„Elaine, hör mit dem Versteckspiel auf. Das ist nicht witzig. Die Anderen sind schon auf dem Weg hierher. Ich will nur kurz mit dir sprechen."

Elaine zitterte versteckt in einer Nische hinter einer schräg stehenden Kommode.

„Elaine verdammt, komm endlich raus oder ich erzähle allen was du getan hast.“, schrie der Mann nicht weit von ihrem Versteck.

Mein Freund drängt mich zu einer Entscheidung. Wessen Schicksal soll ich besiegeln? Wen werde ich unter meinen Mauern begraben und damit auf ewig an mich binden? Soll ich eine gute Seele zu mir nehmen, damit sie etwas Licht in die Trostlosigkeit meines Daseins bringt, oder die Dunkelheit in den Ecken zu einer undurchdringlichen Schwärze werden lassen.

Ich lasse mich von meinem Gefühl leiten. Befreit atme ich auf und lasse die gesamte Etage einstürzen. Warum wählen? Ich kann auch beides haben.

Die Menschen brechen kreischend ein. Das Blut ihrer aufgespießten Körper sickert in den Boden des Kellergeschosses. Der Tod sieht die Seelen aus ihren Körpern entweichen. Der eine ängstlich und durchscheinend, der Andere grotesk und abstoßend mit Reißzähnen und Klauen. Die Krallen der Frau hinterließen spuren an den Wänden, als sie sich in die Schatten flüchtete.

Rendezvous mit dem Schicksal

Trevors Sneakers gruben sich in den Waldboden. In der Dunkelheit zwischen den Bäumen verlor er Sam und Dylan immer wieder aus den Augen, nur das Knacken von Ästen gab ihm die Gewissheit, dass die beiden noch vor ihm liefen. Seit sie den Wagen verlassen hatten, kämpfte er gegen das Verlangen, sich eine Zigarette anzuzünden, doch jetzt waren es nur noch ein paar Schritte bis zum Ziel.
Ein Pfiff von Sam drang durch die Nacht und Trevor hörte, wie die Laufgeräusche vor ihm verstummten. Als er neben seinen beiden Kumpels zum Stehen kam, bildeten sie ein Trio in schwarzen Hoodies und Baggy-Pants. Sams massige Schultern drehten sich zu ihm. »Ich präsentiere: 13 Corbin Path.«
Trevor versuchte krampfhaft, etwas zu erkennen. Der Wald schien in knapp zweihundert Metern zu enden, dahinter zeichneten sich ein Weg und eine efeubedeckte Mauer ab. »Und du bist sicher, dass niemand da ist?«
»Komm schon, sei nicht so ’ne Pussy! Hier ist keine Sau weit und breit!«
Verärgert über die Zurechtweisung schob Trevor seine Kapuze über die dunkelbraunen Locken. »Und was sind das für Freaks, die hier mitten im Wald wohnen?«
»Irgendso’n altes Ehepaar. Die haben wohl noch ’n Haus in Florida. Leo von der Tankstelle hat mir gesagt, dass sie den ganzen Winter da hocken.«
»Solche Leute haben eh viel zu viel Kram«, klinkte sich Dylan ein. Auch er hatte inzwischen die Kapuze über seine kurzen Stoppelhaare gezogen.
Trevor schüttelte den Kopf und lief weiter. Der Jüngere war manchmal ein Wichtigtuer. Er konnte sich das schadenfrohe Grinsen nicht verkneifen, als er ihn stolpern hörte. Sobald sie die Mauer erreichten, konnte Trevor einen weiteren Pfad sehen, der sich zwischen Büschen zu einem gepflegten Haus schlängelte. Es war zweistöckig mit Holzvertäfelung, die Fensterläden schienen fest verschlossen. Wie Sam versprochen hatte, sah alles verlassen aus. Sie kletterten über die Mauer und pirschten im Schatten der Vegetation weiter an das Anwesen heran, bis ein greller Schrei die Stille durchschnitt.
»Fuck, was …?«, entfuhr es Dylan.
»Das ist nur ’ne Schleiereule.« Obwohl Trevor den Ruf des Tieres sofort erkannt hatte, raste sein Puls. Hastig lief er zur Eingangstür und fummelte sein Dietrich-Set aus einer der Hosentaschen.
Es war ihm bereits gelungen, mehrere der Kernstifte im Schloss einrasten zu lassen, als Dylan ihn unerwartet ansprach: »Und was hast du Milly erzählt, was du heute machst?«
»Zumindest nicht, dass wir im Jimmy’s rumhängen und du mal wieder erfolglos die blonde Kellnerin angräbst.« Selbst wenn er den bösen Blick aus Dylans Krötenaugen nicht sehen konnte, spürte er ihn.
»Mann, Jungs!« Die sich anbahnende Predigt von Sam wurde durch ein Klacken des Schlosses im Keim erstickt.
Trevor verneigte sich grinsend, während Dylan die Gelegenheit nutzte und sich als Erster durch die Tür schob. Mit angeschalteter Taschenlampe folgte Trevor ihm in eine Diele, die mit einer Glastür vom eigentlichen Haus getrennt war. Sein Blick überflog eine Anrichte mit Familienbildern und einer leeren Blumenvase.
»Ich geh’ ins Wohnzimmer«, sicherte sich Dylan ein Filetstück.
»Von hier aus kommt man bestimmt auch in die Garage.« Sam, mittlerweile hinter ihnen, fletschte seine Zähne.
»Ich geh nach oben.« Trevor fragte sich, ob er vielleicht ein hübsches Schmuckstück für Milly finden würde, selbst wenn er vermutete, dass die Besitzer alles Wertvolle mitgenommen hatten. Trotzdem erhoffte er sich zumindest, im Schlafzimmer einen Fernseher zu ergattern. Vielleicht gab es sogar ein Arbeitszimmer mit einem Computer.
Er erklomm die Treppenstufen, während die Schritte seiner Begleiter immer leiser wurden. In der oberen Etage war es völlig still. Den Flur schmückte eine Zeichnung vom amerikanischen Doppelkontinent umgeben von Vögeln und deren Zugrouten. Er schnaubte genervt. Millys Onkel war Tierforscher und sie lag Trevor seit Jahren in den Ohren, er solle sich ihrem Verwandten als Hilfskraft anbieten, nachdem sie zu seinem Leidwesen herausgefunden hatte, dass er sich als Junge für Vögel interessiert hatte. Seine Freundin dachte einfach nicht daran, dass solche Jobs wenig Geld brachten und unsinnig waren, wenn man keine Ambitionen hatte. Die regelmäßigen Ausflüge mit Sam und Dylan kombiniert mit einem Aushilfsjob hier und da waren viel lukrativer. Wenn er nach jemandes Pfeife tanzen wollte, hätte er auch gleich bei seinen Eltern bleiben können.
Er warf einen prüfenden Blick in die verlassenen Räume und fand schließlich das Schlafzimmer. Ein moderner Fernseher mit Flachbildschirm thronte gegenüber dem Boxspringbett. Das war doch ein guter Anfang.
»AHHH!« Das Kreischen aus dem unteren Stockwerk ließ ihn heftig zusammenfahren. Diesmal war es kein Tier, sondern Dylan. »AH! NEIN!«
Zu seinem Entsetzen hörte er Schritte in einem der Nebenzimmer. Entweder war Sam ihm gefolgt oder es war doch einer der Bewohner im Haus. Er machte einen Satz nach hinten, als er einen Schatten durch den Flur zucken sah. Seine Hand fuhr zum Klappmesser in seiner Hosentasche. Unten klirrte eine Scheibe, ein weiteres Kreischen von Dylan folgte. Dann hörte er Sam schreien – sogar Sam! Seine Hände zitterten so stark, dass ihm die Klinge beim Öffnen gegen den Finger schnappte. Er musste hier raus. Das Messer eng vor sich am Körper haltend, betrat er den Flur.
»Trevor …« Die brüchige Frauenstimme schien aus dem Nichts zu kommen. Etwas an ihrem Klang ließ sein Herz rasen. Panisch fuchtelte er mit dem Messer um sich. Als er wieder zur Treppe herumfuhr und etwas Schwarzes auf ihn zuwankte, setzte sein angstbenebelter Verstand für einen Moment aus. Er stach auf dieses Etwas ein, wollte es wie in Rage von sich wegdrängen. Erst ein weiteres Klirren von unten ließ ihn wieder zu Sinnen kommen. Fassungslos starrte er auf die Gestalt, die vor ihm auf den Boden gesunken war. Es war eine Frau, vermutlich um die Sechzig, in einem schwarzen Morgenmantel. Kalter Horror überkam ihn, als er erfasste, wie nass seine Hände waren.
»Ma’am? Madam?«
Hatte er sie getötet? Er kniete und horchte. Kein Atem. Hektisch griff er nach seiner Taschenlampe, die über den Boden gerollt war und an die Wand strahlte. Er richtete den Lichtkegel auf den liegenden Körper. Sein Atem stockte, als er eine Lache Blut sah und in ihr … Die Frau war wie vermutet alt, doch sie hatte das Gesicht von Milly! Für einen Moment drohte ihm schwarz vor Augen zu werden. Im Schein der Taschenlampe sah er jedes Detail des faltigen Antlitzes. An der Augenbraue erkannte Trevor die Bissnarbe, die sich Milly als kleines Mädchen zugezogen hatte, als sie von einem Stuhl auf einen Hund gefallen war. Er … er musste hier weg. Seine Beine gaben fast nach, als er sich aufrichtete. Direkt vor der Treppe fiel sein Blick auf ein Bild an der Wand. Der Mann auf dem Bild erinnerte ihn an sich selbst. Verdattert beugte er sich näher und betrachtete den gemütlichen älteren Herrn, der die jetzt leblos auf dem Boden liegende Frau im Arm hielt. Daneben hing ein Zeitungsausschnitt. »Trevor und Milly Davis auf dem 26. Internationalen ornithologischen Kongress.« Er stolperte rückwärts, fast über das Treppenpodest. Im allerletzten Moment konnte er nach dem Geländer greifen und die Stufen hinunterstürmen. Vor dem Haus traf er auf Sam und Dylan, die ebenfalls verstört wirkten.
»Los, macht schon!« Zusammen rannten sie weiter, weg vom Haus.
Trevors Lunge brannte, als sie den abseits des Forstwegs stehenden Ford erreichten. Sam startete den Motor, wendete und beschleunigte so stark, dass er die Erde unter den Reifen aufwirbelte. Ein paar Minuten später rasten sie aus dem Wald und erreichten den Highway. Sie wechselten kein Wort. Erst jetzt dachte Trevor an das Blut, das noch an seinen Händen und der Kleidung kleben musste. Auch wenn es zu dieser späten Uhrzeit nicht wahrscheinlich war, könnten die Cops durch das Tempo auf sie aufmerksam werden. Zögerlich bewegte er die Finger ans Fenster, um etwas zu sehen. Kein Blut – keine Spur. Seine Hand glitt in die Hosentasche, doch das Messer war nicht mehr da.
Sam räusperte sich plötzlich. »Wollt ihr … wollt ihr noch zu Jimmy’s?«
Dylan schwieg, während Trevor nach wie vor auf seine Hände starrte. Langsam ließ er sie wieder sinken und schaute für einen Moment nach draußen. »Nein, lass mich zu Hause raus.«

Jedes Halloween der gleiche Graus. Meine in die Jahre gekommenen Mauern locken die Menschen wie Limonade die Wespen. Dabei kann ich nichts dafür. Ich stehe hier nur. Unfähig, mich vom Fleck zu bewegen und mir ein ruhiges Plätzchen zu suchen. Ich kenne sie alle. Die Mutigen, die vorweg gehen. Früher mit Petroleumlampen, heute das Licht der kleinen Telefone, dass mich so sehr blendet. Die Ängstlichen, die vielleicht eine Wette verloren haben oder glauben, sich selbst etwas beweisen zu müssen. Früher, da waren es weniger. Da gab es noch mehr Häuser wie mich. Häuser, die eine Geschichte aus längst vergessener Zeit erzählt haben. Von Hexen, die verbrannt wurden und Mannsbildern, deren Köpfe aufgespießt die Allee säumten. Aber jetzt bin ich alleine hier im Rabenweg. Am Ende der Allee stehe ich mit meinen dunklen Ziegeln, den kohlrabenschwarzen Fensterrahmen und dem Gemäuer, das einst ein Pferdestall war. Aus einer Zeit, in der hier Prunk und Pracht an der Tagesordnung standen. Nun denn, diese Zeiten sind vorbei. Die Raben kündigen Besuch an. Als hätte ich das grässlich grelle Licht nicht schon längst wahrgenommen, dass sich eiligen Schrittes zwischen den Bäumen entlang bewegt. Immer ruhig. Weit werden sie nicht kommen. Kein Halloween ohne ein Todesopfer im Rabenweg. Mysteriös. Und niemand ahnt, dass ich es bin.

Ich bin das Haus,
im Rabenweg da kennt man mich,
bringt Leid und Tod unumstößlich,
du kommst hier nicht mehr raus.

So so, ihr seid also auch neugierig und denkt mutig genug zu sein?
Nun gut … jeder darf sein Glück herausfordern … also auch ihr …
Allerdings solltet ihr alle wissen worauf ihr euch einlasst und meine Geschichte kennen

Nun denn …

Mein Fundament wurde in mitten von Knochen gegossen
An meinen Mauern klebt das Blut Hunderter versklavter Seelen
Und meine Bewohner … vom Ersten bis zum Letzten … kein Einziger verdient ein gutes Wort
Die schrecklichen Gräueltaten die sie begingen und ich gezwungen war tatenlos mitanzusehen, machten mich zu dem, was ich bin …

Dem berüchtigtsten Geisterhaus des Landes

Wollt ihr also wirklich an meine Türe klopfen???

Klopf! Klopf! Klopf!

„Liebes Haus es geht los!!!“

Freudestrahlend hüpft Carmelita die Treppe herunter und Richtung Eingangstür. Sie dreht sich im Kreis und lacht. Ihr schwarzes Gewand flattert um sie herum und fast wäre ihr hoher spitzer schwarzer Hut heruntergefallen

Carmelita …

Auf dem Tag genau … heute vor einem Jahr kam sie auf mich zu … und schlug mir einen Deal vor

Sie würde einziehen und renovieren und ich hätte nichts zu befürchten

Danach sollte ich ihr all meine Geschichten erzählen und sie würde jede Einzelne aufschreiben

Zum ersten Mal seit Jahrhunderten spürte ich nichts Böses und ich wurde neugierig auf Carmelita

Also ging ich auf ihren Vorschlag ein

Heute sind wir Freunde

Carmelita hat mit ihrem ersten Roman sofort die Bestsellerlisten gestürmt und ist über Nacht eine gefeierte Autorin geworden

Ihre Geschichte über ein Geisterhaus soll sogar verfilmt werden

„Bist du bereit?“

Sie öffnet die Tür und draußen stehen mehrere kleine Skelette, Geister und Zombies

„Süßes oder Saures“

Die Mysterien von Schloss Rabenschön

Was ist Ewigkeit? Als ich gebaut wurden und Harald von Rabenklau mich auf den Namen Schloss Rabenschön taufte, meinte er zu seiner Gemahlin Hedwig, geborene von Steinbrech, er hätte nun ein Anwesen für die Ewigkeit geschaffen. Ich erinnere mich, das als meine Mauern neu waren und das Dach mit glänzenden schwarzen Schiefern bedeckt, das die beiden hochgewachsenen Menschen, meine Bewohner, vor der Tür standen und sprachen.
Hedwig schaute am Haus empor. „Warum hast du es so benannt, Gemahl? Hätte es nicht einen besseren Namen verdient?“ „Warum, Hedwig. Der Name ist passend. Raben sind schöne Tiere. Tragen wir sie nicht im Wappen?“ „Gewiss, Harald. Aber trotzdem – ich hätte mir etwas anderes gewünscht. Es ist mir – zu gewöhnlich.“
Harald lächelte verhalten. Dann strich er sich den Bart. „Hm, gewöhnlich. Der Gedanke wäre mir nie gekommen. Schau, es heißt, dass unsere Familie von Hugin und Munin berührt wurden. Das ist das Eine. Das andere ist, das unser Grundstück an das Rabenwäldchen grenzt. Du hast die großen Kolkraben gesehen. Es sind hoch scharfsinnige Tiere. Und – ich finde sie schön. Wenn die Sonne ihr Gefieder richtig trifft, leuchtet es, wie mein schwarzer Kürass.“ Hedwig von Rabenklau nickte.
Noch einmal schaute sie abschätzend an dem Gemäuer empor, das nun ihr Zuhause sein sollte. Zwei große Raben kamen aus dem angrenzenden Forst und ließen sich auf zwei der vier Ecktürme niederließen. Ihr Gefieder glänzte in der Sonne. Als sie sich mit einem Schrei erhoben, um davon zu fliegen, sank ein der schwarzen Federn herab. Vor Hedwigs Beinen blieb sie liegen. Sie bückte sich, um sie aufzuheben. War es ein gutes Omen? Sie wusste es nicht.
Was sie auch nicht wusste, was beide nicht ahnten, war die Tatsache, dass ihr Schloss auf einer der großen Energielinien lag, die diese Welt durchzogen. Genauso, wie der Wald, an den das Grundstück grenzte.
Es kamen gute Tage und harte Jahre. Das erhoffte frohe Kinderlachen, das durch die hohen Räume tönen sollte, blieb ihnen verwehrt. Ich aber, gebaut, als ein Heim für Menschen, begann mich zu verändern. Jene Energie, die mein Fundament berührte, sickerte in mich ein. Ich begann zu fühlen, zu spüren, zu erwachen. Als Erstes spürte ich den Gram der beiden Menschen, die mich bewohnten. Sie litten unter der Kinderlosigkeit. Sie konnten es nicht begreifen.
Die Raben waren immer da, Sie hatten ihre Jungtiere, die sie aufzogen, die irgendwann aus dem Nest flohen.
Die beiden, die in mir lebten, nahmen ihr Schicksal nicht klaglos hin. Sie gaben sich gegenseitig die Schuld und neben ihrem Gram fraß sich ihr Zorn und ihre Verbitterung in meine Mauern.
Sie hatten Wohlstand. Sie hatten sogar eine Schatzkammer im Keller. Wohl gesichert mit einer eisenbeschlagenen Tür. Aber der Wohlstand war nur äußerlich. Innerlich war da eine bittere Armut. Alles, was einst schön war, war schließlich verdorben. Die gegenseitigen Vorwürfe wurden zu Hass. Am Ende standen sie sich gegenüber und brüllten sich an. Um das fehlende Kind ging es schon lange nicht mehr. Aus all der Wut, der Verbitterung und den ungerechten Vorwürfen, war erbarmungsloser Hass geworden.
Das war der Moment, als ich erwachte, als, aus der Energie, die mich durchfloss, und den dunklen Schwaden der Emotionen dieser beiden Menschen, meine Persönlichkeit geboren wurde.
Einen Moment später lag Harald von Rabenklau tot in auf dem Absatz der Treppe. Ein schwerer Schlaganfall hatte ihn getötet. In einem letzten Aufbäumen hatte er seine Hedwig die Treppe hinab gestoßen. Mit gebrochenem Genick lag sie unten, in der Eingangshalle.
Mein erster bewusster Gedanke war: „Stille. Endlich Stille.“ Nur die Raben saßen krächzend auf den Türmen.
Aber es war nicht das Ende. Ich spürte eine Präsenz. Nein, es waren zwei. Ich begann mich zu konzentrieren. Nebel bildeten sich, wo die beiden Toten lagen. Sie kondensierten zu Gestalten. Harald und Hedwig waren tot. Aber ihre Wut, ihr Hass, zwang ihre Seelen, zu verweilen. Hatten sie auch von der Energie gekostet? Sie schauten sich um. Sie erblickten einander und kreischten, wie nur verlorene Seelen kreischen können.
Ich wusste, das meine Präsenz und, nun ja, Macht, weit über das, was diese toten Seelen hatten und konnten, hinaus ging. Ich grollte: „Ruhe, ihr zwei!“ Sie erstarrten. Dann blickten sie zu ihren toten Körpern und erkannten erst wirklich, in welcher Lage sie waren. Ich spürte so etwas, wie Humor in meinem Gebälk, als ich spürte, wie es sie erschütterte, als sie den Tod realisierten. Ich überlegte, ob ich eine Möglichkeit finden würde, mich ihnen deutlicher zu zeigen, verwarf das aber, denn ich bin nun einmal ein Gebäude. Aber ich konnte auf energetischer Basis mit ihnen kommunizieren und sie auch die Macht meiner Präsenz spüren lassen.
Es erfüllte mich mit Genugtuung, als ich ihnen verdeutlichte, dass sie nun an mich gebunden waren. Ihre seelische Substanz, geprägt von der Dunkelheit ihrer Gefühle, band sie an diesen Ort. Für immer.
Der Rest? Es dauerte einige Tage, bis jemand kam, um nach dem Rechten zu sehen. Schon lange hatten die zwei sich von der Gesellschaft entfernt und auch ihr Personal hatte sie verlassen. Man fand ihre Leichen und sie wurden in der Gruft beigesetzt, die zur Kapelle des Hauses gehörte. Dann übernahm irgendein entfernter Neffe das Grundstück und das Haus. Er sah es sich einmal an, dann entschied er, dass er kein Interesse hatte, und verkaufte es an einen Kaufmann aus der nächsten kleinen Stadt. Der zog mit Sack und Pack ein. Zu dem Pack gehörte auch seine Sippe und zum ersten Mal hörte ich Kinderlachen. Es kam Krieg und der Kaufmann verlor alles, als die Stadt geplündert wurde, in der seine Geschäfte waren. Er musste das Haus verschleudern. Ein Grundbesitzer, dem das anliegende Gebiet und auch der Rabenforst gehörten, erwarb es. Mit ihm zog der Geiz ein. Sein Ende war fast so unrühmlich, wie das der ursprünglichen Besitzer und so sollte es niemanden wundern, das auch er schließlich zu meinem „lebenden Inventar“ wurde. Aber was mir das brachte, war vor allem Verdruss, denn die drei Geister mochten sich nicht. So lange Harald und Hedwig allein hier waren, herrschte meist verdrossenes Schweigen. Der Neue, Gunther Helfersleben, wurde von ihnen als Eindringling bewertet und sie fauchten und fluchten, wenn sie ihm begegneten. Aber auch als Geist war er dickfellig genug, das zu ignorieren. Ihre gegenseitige Abscheu sorgte dafür, dass niemand mehr Interesse an dem Haus hatte. Es galt als Spukschloss. Der Rabenweg wucherte zu und das Haus geriet, mehr oder weniger, in Vergessenheit.
Ich jedoch erstarkte und die Energie, die mich durchfloss, regenerierte Mauerwerk und Balken. Die Raben aber, flogen weiter und hin und wieder setzten sie sich auf die Türme, wie sie es immer getan hatten. Sie waren es, die mich, wie einst Hugin und Munin es für Odin taten, mit dem Wissen um die Welt versorgten.

Die Jahre zogen dahin. Wurden zu Jahrhunderten. Das Haus selbst wurde vergessen, wurde vielleicht zu einer Legende. Es verschwand nicht. Die Stadt war im Laufe der Zeit immer weiter gewuchert, hatte ihre Ausläufer bis an den Rabenforst herangeschoben. Das Anwesen selbst war nie berührt worden. Es lag unverändert am Ende des Weges. Der Rabenforst selbst war eben wegen seiner schwarzen Bewohner unter Schutz gestellt. Hin und wieder schauten neugierige Menschen zu dem verwunschenen Schloss und staunten, dass es immer noch so gut erhalten schien. In das Gebäude selbst trauten sie sich nicht. Ich ruhte, eingehüllt in den Kokon der Kraftfelder, die mich durchströmten. Es war ein langweiliges Dasein. Aber was soll ein Gebäude tun, außer sich zu langweilen. Das gilt auch für meine geisterhaften Bewohner. Wenn nicht hin und wieder die Raben etwas zu berichten gehabt hätten, wäre es glatt zum verfallen gewesen.
Doch es sollte der Tag kommen, an dem sich das änderte. Am frühen Morgen schon war eine schwere Limousine vorgefahren. Zwei Männer verließen sie und kamen, sich durch den überwuchernden Weg kämpfend, auf das Haus zu. Beide waren groß und trugen legere Kleidung. Einer hatte einen dichten Bart, während der andere eine Glatze hatte und rasiert war. Sie schienen noch jung. Vielleicht so alt, wie es einst Harald gewesen war, als er das Schloss, na ja, für die heutige Zeit eher ein großes Herrenhaus, errichten ließ. Sie gingen um das Gebäude herum. „Paul,“ sagte der Bärtige, „es sieht, für das Alter, sehr gut erhalten aus. Weiß der Geier, aber eigentlich sollte es nur noch eine Ruine sein.“ Der andere nickte. Amüsiert betrachtete ich die zwei. Ich war beileibe keine Ruine. Selbst vieles, was mal Inventar war, war durchaus noch gut in Schuss. Die Energie hatte es ermöglicht. Der Glatzkopf, der Paul genannt worden war, nickte. Dann zog er ein seltsames Gerät aus der Tasche. Er blickte auf eine Anzeige, schüttelte den Kopf. „Rainer, irgendetwas ist hier merkwürdig. Ich lese Werte ab, die einfach nicht mit dem, was hier vom normlane Magnetfeld der Erde möglich wäre, übereinstimmen.“ Der andere lachte auf. „Doch nicht etwa deine merkwürdige Laylinienenergie.“ „Und wenn doch?“
Ich stutzte. Sollte es Menschen geben, die um jene Energieadern wussten, von denen eine mich nährte? Mein Interesse war geweckt.
„Paul, lass es, das führt zu nichts. Wir wollten uns das Grundstück ansehen, weil wir ernsthaft etwas suchen, wo wir unsere Zentrale einrichten können. Aber, wenn ich mich so umschaue und sehe, wie verwahrlost alles ist, habe ich meine Zweifel.“ „Nicht so hastig. Das Gestrüpp und all das ließe sich schnell entfernen. Das Gebäude selbst sieht doch gut aus. Eine neue Heizung, vermutlich eine neue Inneneinrichtung. Vor allem glaube ich wirklich, dass dieses Gebiet hier meinen Forschungen entgegenkommt.“ Rainer knurrte. „Du und dein Traum von einer interdimensionären Energie. Ich glaube so etwas nicht. Vielleicht auch noch Magie oder Hexerei.“ Paul lächelte. „Weißt du, vor einigen Jahren wäre auch ein Smartphone so etwas, wie „Magie“ gewesen und ist es wohl bei einigen Leuten immer noch.“ Jetzt lächelte auch Rainer. „Hast ja irgendwie recht. Aber ich möchte unsere Entscheidung nicht von so etwas abhängig machen.“
Gut, ich bin ein Haus und draußen sah es wirklich ziemlich wild aus. Brombeerranken, andere Sträucher, die wild gewuchert waren, Brennnesseln und ein Gestrüpp aus Salbei und Thymianpflanzen, die sich frei entwickelt hatten und dank der Energien, die, von meinen Grundmauern auch in das Umland sickerten, erstaunlich gediehen waren. Aber es stimmte, der Aufwand, dass alles zurückzuschneiden war gewiss nicht groß. Ich spürte bei beiden Menschen echtes Interesse. Und, was ja auch nicht unwesentlich ist, sie interessierten mich. Ein Mensch, der sich mit Energielinien befasste? Menschen, die aus mir etwas machen wollten, eine Zentrale? Für was auch immer. Natürlich war das interessant. Ich musste sie näher kennen lernen, musste sie testen. Aber dazu würden sie wohl oder übel, durch meine Tür treten müssen. Wenn sie in der großen Halle wären, könnten die Spiele beginnen. Aber wie könnte ich sie dazu bringen, meine Hallen zu betreten?
„Man sollte sich mal das Innenleben ansehen.“ meinte Paul. Rainer schüttelte den Kopf. „Morgen vielleicht. Es ist schon Abend und das Haus ist zu. Wir müssten erst jemanden anrufen, wegen des Schlüssels. Aber morgen können wir ja gleich früh mit dem Makler telefonieren.“
Verdammt, sollte ich wirklich bis morgen warten müssen? Ich dachte nicht lange nach. Schlüssel, Makler? Wozu? Die beiden standen ja direkt vor der großen Tür zur Halle. Hatte ich nicht die Energie? Ich ließ die Tür aufspringen. Ein wenig. Genug, dass die beiden es sehen konnten. Sie wollten sich gerade abwenden. Paul warf noch einmal einen Blick zurück. „Moment, Rainer. Sieh mal zur Tür. Ich glaube, sie ist nicht verschlossen.“ Rainer drehte sich um. „Also ich möchte wetten, dass sie vorhin noch geschlossen war. Irgendwie stinkt mir das.“ Komm, sei nicht memmig. Wenn das keine Einladung ist, wenigsten mal rein zu schauen, weiß ich auch nicht. Los, komm schon.“
Ich sah Rainers zögern. Aber er wollte sich auch nicht irgendwie als feige zeigen und folgte Paul die Stufen nach oben. Paul hatte schon wieder sein merkwürdiges Messgerät in der Hand. Er schaute aufmerksam auf die Anzeige. Dann stieß er entschlossen die Tür auf. „Komm schon!“ sagte er. Zögernd folgte ihm Rainer. Sie betraten meine Halle und schauten sich um.
Nun hatte ich sie. Die Tür fiel wieder ins Schloss. Der Raum wurde dunkel. „Oh Shit.“ Hörte ich und wusste, dass eben Rainers Ängste bestätigt worden waren. Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen, obwohl ich wusste, das ein kicherndes Haus nicht eben eine beruhigende Erfahrung für die beiden sein dürfte. Aber ich wollte sie ja nicht völlig verschrecken. Ich hatte mir dafür zu viel Mühe gegeben, sie hier rein zu führen. Also musste erst einmal Licht her. Ich zog Energie aus dem Untergrund und ließ das Feuer im großen Kamin auflodern. Ich wusste, dass er gleichzeitig mit den vier großen Fenstern, die freilich nicht eben sauber waren, genügend Licht geben würde. Die Fensterladen hatte ich aufgemacht. Na ja, ein wenig blass sahen sie schon aus, die zwei. „Rainer, meine Anzeigen werden gesprengt. Das hat wohl noch niemand erleben können oder gar messen.“ „Scheiß auf deine Anzeigen, Paul. Wir müssen hier raus. Das geht nicht mit rechten Dingen zu.“ „Ja, ja, hier ist etwas los, das gebe ich zu. Aber es bedeutet doch nicht, das es was Schlimmes ist. Wir verstehen es nur nicht.“ „Und das Geräusch? Ein leeres Haus kichert doch nicht.“
Ich beschloss, dass es an der Zeit wäre, ein wenig deutlicher zu werden. Also nahm ich meine Steine zusammen und sagte: „Wer sagt denn, das ich ein leeres Haus bin.“ Rainer murmelte: „Häuser sprechen nicht.“ „Ich schon. Hatte ja genügend Zeit, es zu lernen. Pau ist, fürchte ich, schon weiter, als du.“ „Nicht wirklich.“ Sagte Paul, mehr zu sich selbst. Aber dann sah er von seinen Messungen auf und blickte sich um. Zum ersten Mal schien er die Halle richtig wahrzunehmen. „Ei der daus, wie sieht es denn hier aus! Ist ja alles irgendwie, wie geleckt, nur ein wenig staubig.“ Ich gebe zu, gegen den Staub habe ich in all den Jahrhunderten, trotz der Energie, kein echtes Mittel gefunden. Natürlich fiel sein erster Blick auf den Kamin. „Aha, Energie manifestiert sich.“ Dann sachte er auf das Wappen über dem Kamin und ließ den Blick über das Inventar streifen. Der große Tisch, die Sitzgruppe vor dem Kamin. „Dürfen wir uns setzen?“ fragte er höflich. „Bitte darum.“ antwortete ich. Er zog seinen Kumpel zu der Sitzgruppe, schwere, aber gemütliche Eichenstühle, holte ein großes Taschentuch hervor und wischte den Staub an. Er schob Rainer in den einen Sessel und setzte sich selbst in den anderen. „Gemütlich.“ sagte er. Rainer schwieg. Dann meinte Paul: „So, Sie sind also ein Haus, das spricht. Liegt das an der Energie, die ich hier messe?“ Er nahm mich ernst. Das ließ hoffen. „So wird es sein. Ich wurde vermutlich unbewusst auf einer der großen Energielinien errichtet, die diese Welt durchziehen und die wohl nur ein Ableger eines weit größeren Netzwerkes sind.“ Paul nickte. Rainer sagte zum ersten Mal auch was. „Dann ist das, was man in bestimmten Büchern liest, die meist Fantasieabenteuer beschreiben, nicht völlige Spinnerei?“ „Warum sollte es? Ich bin nur ein Haus und nicht so belesen, aber ich kann vieles spüren und noch viel mehr erzählen mir die Raben.“ „Na gut. Wie soll es nun weiter gehen?“ fragte Paul. Ich überlegte. Das war eine gute Frage. Wie soll es weiter gehen. Was erwartete ich eigentlich? Ich hatte in der letzten Stunde mehr Vergnügen verspürt als in Jahrzehnten zuvor. „Ich gebe zu,“ sagte ich, „ich habe bisher nur gedacht, dass ich Interesse an ihnen beiden habe. Ich habe ihnen natürlich zugehört, als sie draußen sprachen. So erfuhr ich, dass sie ein Gebäude suchen, um es zu nutzen. Was für eine Zentrale, ist mir natürlich nicht klar, aber allein die Tatsache, dass sie, Paul, einen gewissen Zugang zu dem zu haben scheinen, was mein Wesen geprägt hat, ist mir wichtig genug, um sie darin zu bestärken, zu bleiben.“ Rainer lachte auf. „Ein Haus, das um unsere Gesellschaft bittet. Das ist nun wirklich mal was anderes.“ Ich war ein wenig indigniert. „Erlauben sie mal, mein Herr, ich bin nicht ganz neu und ja, vermutlich etwas einmalig, so viel ich weiß. Aber ich hatte bisher durchaus Gesellschaft.“ „Mehr, als die Raben?“ Es war Paul, der das gefragt hatte, und er hatte eine Augenbraue dabei hochgezogen und ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Dann meinte er: „Weißt du, Rainer, das Haus gilt als Spukhaus.“ Rainer verdrehte die Augen. „Nicht auch das noch.“ Ich kicherte. „Oh doch. Tut mir leid, aber da sind einige Mitbewohner.“ Ich wusste, dass alle drei irgendwo in der Nähe herumlungerten. Noch ließen sie sich nicht sehen. Also bedurfte es eines gelinden energetischen Anstoßes meinerseits. „Hinter ihnen.“ sagte ich nur. Die beiden standen aus und drehten sich um. Während Paul sofort nach seinem Messgerät griff und es auf die drei nebulösen Gestalten richtete, hörte ich von Rainer nur ein erschrockenes „Hund und Sau, was soll denn der Mist!“ Bevor Harald und Hedwig anfangen konnten, rumzugeifern – Gunther sah nur gelangweilt aus seinem Anzug – knurrte ich: „Benehmt euch.“ Die drei sahen sich an, dann die Gäste, dann wieder sich. Schön, sie waren still. Ich merkte, dass ich den Laden ein wenig moderieren musste. „Da wir jetzt alle hier versammelt sind, wäre es gut, wenn sich alle mal miteinander bekannt machen würden. Oder sollte ich das tun?“ Auch Paul und Rainer sahen sich an, blickten dann aber neugierig auf die drei, die da so ätherisch an dem großen Tisch schwebten. „Kurios,“ sagte Paul, „ich messe auch bei den dreien eine bestimtme Energiemenge.“ Jetzt war es Rainer, der die Initiative ergriff. „Ich bin zwar auch ein wenig verwirrt, aber ich nehme mal an, das wir uns einfach zusammen nehmen sollten. Daher werde ich den Reigen beginnen. Ich bin Rainer von Rabe. Mir gehören einige Unternehmen der Informatikbranche und wir waren aus der Suche nach einem Ort, an dem wir eine neue Zentrale aufbauen könnten, um unsere Aktivitäten zu bündeln. Ich bin unverheiratet, 36 Jahre alt und eigentlich ein recht offener Mensch.“ „Von Rabe?“ sagte Harald. Rainer nickte. Harald sprach weiter: „Dann ist es an mir, mich vorzustellen. Ich bin Harald von Rabenklau, der Bauherr dieses Gemäuers. Neben mir ist mein Gemahlin, Hedwig. Wir sind verheiratet, aber kinderlos, was uns zerfressen hat. Wir sind, nun ja, Jahrzehnte reichen nicht, um das zu beschreiben. Aber könnte es sein, dass sie, mein Herr, irgendwie mit meiner Familie verwandt sind?“ Seine Ehefrau, Hedwig, schwieg, nickte aber den beiden zu. Jetzt war es Paul, der das Wort ergriff. „Meine Name ist Paul Richter. Ich bin Physiker, Informatiker, Ingenieur und Bastler. Das beschreibt es einigermaßen, denke ich. Mein Alter beträgt immerhin schon 32 Jahre, nicht verheiratet, außer mit der Firma meines Freundes. Ich bin erfreut, sie alle kennen zu lernen und bitte um entschuldigung, dass ich hier so rummesse.“ Er lächelte. Gunther stand auf, strich seinen Anzug glatt – was bei einem Geist zugegebenermaßen seltsam aussieht. „Nun, mein Name ist Gunther Helfersleben und ich war einst Grundbesitzer in der Region. Immer alleinstehend. Was nicht bedeutet, das ich nicht vielleicht irgendwo Nachwuchs habe. Mein Laster war Geiz. Das habe ich aber erst begriffen, als ich hier festsaß.“ Ein Lächeln überzog seine halb durchscheinenden Züge. „Na ja, rumgeistern ist nicht eben was, was erfüllend ist und was anderes hatte ich in den letzten hundert Jahren nicht.“
Ich räusperte mich, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich zu richten. „Nun, da wir uns kennengelernt haben, vielleicht auch noch einige Worte zu mir. Ich bin Schloss Rabenschön. Ich bin ein altes Haus. (Ich musste kichern, denn die Raben hatten mir erzählt, welche Bedeutung das bei den Menschen auch haben konnte) ich stehe hier nun schon ein wenig mehr als zweihundert Jahre, was ich dem Herrn von Rabenklau verdanke, der mich bauen ließ. Das wir hier auf einer Energielinie sitzen, wusste er nicht, aber das war es, was mich wach werden ließ und nährte.“ Harald nickte ein wenig gedankenverloren.
„Tja“, sagte ich, „da wir uns nun ein wenig kennen, würde es für unsere beiden lebenden Freunde eine Option sein, hier einziehen zu wollen? Trotz der ein wenig seltsamen Gesamtsituation?“
Die beiden sahen sich an und auch meinen drei Geistern sah man zumindest Neugier an. Paul rieb sich über seine Glatze. „Was meinst du, Rainer?“ Rainer schaute die drei auf der Gegenseite an. Dann blickte er zu Paul. „Ich weiß nicht so recht. Von der Größe her wäre es, so denke ich, gut. Aber es ist ja elend alt und wer weiß, wie stabil es wirklich ist und ob sich nicht plötzlich alles nur als Illusion entpuppt.“
Es war Harald, der das Wort ergriff. „Ich geistere ja nun schon gute zweihundert Jahre durch diese Mauern. Ich weiß, dass sie so stabil sind, wie am erstenTag und sie können mir glauben, dass ich nur erstklassiges Material verwendet habe. Die Balken sind alles beste, abgelagerte Eiche. Der Granit für die Grundmauern und die Außenwände ist damals in der Nachbarschaft gebrochen worden. Wir wollten ja etwas für die Ewigkeit für unsere Familie errichten.“ Rainer schaute ihn an. „Gut und schön. Aber wir müssten doch einiges machen. Das Haus hat noch keine ordentliche Elektrik. Wir haben Computer und Geräte, die viel Strom verbrauchen. Ich glaube nicht, dass wir sie mit eurer Energie aus dem Untergrund betreiben können. Wir brauchen eine Heizung. Bäder und so weiter.“
Jetzt sagte Hedwig zum ersten Mal was. „Ich war immer der Meinung, das mal, was verändert werden müsste. Aber wir waren so in unserem Hass verbohrt, das wir einander nicht zugehört haben. Gunther, sag doch mal.“ Harald blickte auf. Seine Gestalt verdunkelte sich. „Gunther? Hast du etwas was mit diesem Knausergeist angefangen?“ Hedwig giftete: „Ich bin zwar tot, aber doch nicht so, das ich keine Bedürfnisse mehr habe und du, du hast mich ja weggestoßen gehabt.“
Das schien aus dem Ruder zu laufen. Ich knurrte und ließ den Boden ein wenig beben. „Lasst den Mist. Das könnt ihr, wenn es sein muss irgendwann im Keller ausdiskutieren.“
Harald normalisierte sich wieder. Ist doch schön, wenn das Haus mehr Energie und Macht hat als der alte Hausherr. Gunther sah ein wenig verlegen aus. Auch Paul und Rainer schauten etwas belämmer aus der Wäsche. Na ja – „Bedürfnisse“ hörte sich für Geister doch merkwürdig an. Aber Gunter nahm es mit Würde. „Harald, lass es, da war nichts weiter. Sie brauchte nur jemanden, der zuhört. Ich konnte immer besser zuhören, als reden. Und es stimmt, das, was Rainer gesagt hat, dürfte wohl hinkommen. Ich war der letzte, der hier mal was gemacht hat, aber ich war zu knausrig, um mehr zu tun, als ein Bad einzubauen, das heute kaum mehr als modern gelten dürfte. Da ich mein Geld immer recht eng zusammen gehalten habe, weiß ich, das es nicht umsonst sein dürfte, wenn ich höre, was verändert werden müsste.“
Paul meldete sich. „Was die Energiefrage anbelangt, habe ich keine Ahnung. Aber ich denke, es müsste nur genauer untersucht werden. Eine neue Elektrik brauchen wir auf jeden Fall, denn selbst wenn ich etwas untersuchen will, benötige ich konventionellen Strom. Trotzdem gefällt mir das Gebäude und seine Möglichkeiten. Rainer, trotz des ganzen Mysteriums, und trotz der drei Mitbewohner, halte ich es für geeignet.“
Ich atmete auf. Auch meine drei Geister schienen nicht unglücklich zu sein. Nur Rainer war noch nicht so ganz überzeugt. „Ich weiß nicht, Paul. Es wird nicht einfach und nicht billig.“
Seltsamerweise war es wieder Hedwig, die den Ausschlag gab. Sie war recht patent, wenn sie nicht gerade verärgert oder wütend war. „Harald, die Kammer.“ Harald blickte auf. „Die Kammer?“ „Harald, die Schatzkammer. Wir brauchen das alles doch nicht mehr. Wollen wir nicht…?“ Harald seufzte ein hohles Geisterzeufzen. „Dann erhob er sich. „Gut. Wenn ihr es wollt und dieses Schloss Rabenschön zu eurem Mittelpunkt machen wollt, dann werde ich euch den Zugang zu meinem Reichtum gewähren. Hedwig hat recht. Wir brauchen ihn nicht.“ Gunther hob die Hand. „Ich hätte einen Wunsch. Bedingung wäre zu viel gesagt. Lasst uns weiter hier leben und, wenn möglich Anteil an eurem Tun nehmen.“
Die beiden junge Männer sahen sich an. Jetzt lächelten sie beide. Paul sagte: „Ich denke, damit können wir leben. Und du, altes Haus? Musst du erst die Raben fragen?“
Ich kicherte. „Ich glaube, ich bin begeistert. Vielleicht können wir gemeinsam noch manches lernen. Aber alles das, wird die Zukunft zeigen.“
Was ist Ewigkeit? Ich glaube, soeben wurde ein neues Kapitel in meiner Existenz aufgeschlagen. Aber Tempus fugit. Was es bringen würde, müsste die zeit zeigen.

Die einzige Nacht

Leises anhaltendes Vibrieren durchströmt mich. Zarte warme Laute zupfen an mir, wieder und wieder, sie stupsen mich unaufgefordert an. Langsam lächelnd nehme ich die dunkle, sanfte Melodie des Cellos in mir auf und lasse sie wirken. Vom Salon mit dem schon warmen Kamin über die noch kalten Flure, die Treppen hinauf in jeden Raum, jede Kammer, jeden Winkel spüre ich die Schwingungen, es erfüllt mich vollkommen und mit plötzlichem Erkennen bin ich wach und weiß: Es ist wieder soweit.
Diese Nacht. Diese eine besondere Nacht im Jahr. In der wir uns erheben. Freude durchdringt mich. Ich sehe sie endlich alle wieder. Ein Jahr haben wir geruht, jeder für sich, allein. Sofort spüre ich die Veränderungen an mir, den Verschleiß. Den luftigeren Zug durch das einst stattliche Dach, zerplatzte Steine im alten Gemäuer, wo das Wasser ungehindert eindringt, zerschlissene Tapete, die in Fetzen von den Wänden hängt. Doch heute kümmert es mich kaum. Wie könnte es. Der Schein früherer Festlichkeiten durchdringt mich vollkommen und verdrängt die jährlich stärker werdenden Zeichen des Verfalls.
Wenn die Madame das Cello spielt, überträgt sich ihre reine freudige Erregung auf alle anderen. Wir sind eine Familie. Nicht freiwillig natürlich. Das ist allein meine Aufgabe. Ich verbinde sie alle miteinander. Nur durch mich haben sie etwas gemeinsam. Sie alle haben in mir ihr Ende gefunden. Die wunderschöne Madame, die bei der Geburt ihres so innig gewünschten Sohnes plötzlich verstorben ist. Die drei Mädchen, die sich in ihren wirklichen Leben gar nicht kannten, aber heute zusammen scherzen und tanzen werden. Der Bub, der so kurz nur in seinem Leben war und in dieser Nacht wieder seine kleinen Streiche an den anderen ausprobieren wird. Das ältere Paar, das gemeinsam bei einem Brand in einem meiner schönsten Zimmer ums Leben kam und den Abend Arm in Arm wiegend miteinander verbringen wird. Die Burschen, die sich manchmal nicht vertragen, werden sich heute wohl besinnen und gar ein Tänzchen mit den Mädchen wagen. Auch der Alte wird hier sein, ja, da sitzt er schon. Altersschwäche war es, es wurde aber auch Zeit, hatte die Familie ganz schön terrorisiert. Aber schaut, wie friedlich er dabei sitzt und den ein oder anderen mal wieder zu einem ganz kleinen Gläschen seines erlesenen Whiskeys überreden wird. Es sind heute dreiundzwanzig hier, wie ich sehe. Gut, fast alle. Dass der traurige Dichter sich nicht blicken lässt, ist nichts Neues, aber es ist ja noch Zeit. Es ist gerade erst dunkel geworden und wir haben die ganze Nacht vor uns. Diese einzige Nacht im Jahr. Unsere Nacht. Seit wenigen Jahrzehnten erst gehört uns diese Nacht zum Beisammensein, denn solange richtiges Leben in mir beherbergt war, hatten wir diese Möglichkeit nicht. Dann blieben sie verborgen. Diese Seelen in mir. Auch in dieser Nacht des Jahres. Überwiegend jedenfalls. Kleine Ausnahmen gab es natürlich hier und da. Aber richtiges Leben ist eben stärker, lässt keinen wirklichen Raum für die Seelen, deren Leben vergangen ist.
Wie üblich spielt die Dame ihr Cello und alle sind beisammen. Es ist friedlich, fast besinnlich, wie an einem der harmonischen Weihnachtstage vor ewiger Zeit. Die Kerzen brennen. Die Vorhänge wehen leicht im Luftzug. Das helle und lebensfrohe Lachen der Mädchen hallt durch den hohen Saal und bringt mir ein wohliges Schauern.
Plötzlich öffnet sich in der Vorhalle die Eingangstür. Sie ächzt und stöhnt dabei. „Siehst du, ich habe gesagt, wie kriegen das schon auf“. Ein junger Mann dreht sich zu seinen beiden Miteindringlingen um und grinst. Wie frech. Zutiefst erschüttert plustere ich mich auf. Die Wände wackeln jedoch nur leicht. Auch die Treppe knarzt, aber das ist so leise, dass es in den Geräuschen der kleinen Gruppe untergeht, die gerade ihr Gerümpel an meine Wand lehnt und sich umsieht. „Ich habe erwartet, dass die Hütte viel schlimmer aussieht“. Viel Schlimmer? Nun ja, er sollte mich mal an einem anderen Tag sehen. Aber heute, heute gebe ich mein Bestes für uns alle. Es soll doch perfekt sein. Diese eine Nacht im Jahr, wir haben schließlich nur sie. Und was machen die? Kommen hierher und stören unsere kurze Lebendigkeit. Ha, aber schau nur, wie sie sich ansehen, als ihnen plötzlich der Hauch der Cellodramatik ins Bewusstsein dringt. Ich freue mich so, dass es noch einige Grad wärmer wird. Sie werden ganz blass. Sie spüren es! Die Tür zum Salon öffnet sich und eines der Mädchen kommt misstrauisch doch neugierig heraus. Während die drei Störenfriede wie versteinert dastehen und wie dümmliche Tölpel den Mund offenstehen lassen, geht sie ihnen langsam, fast schwebend, entgegen. Das Mädchen nimmt die Hand des größten Jungen, welcher die Tür mit Gewalt geöffnet hatte, und zieht ihn vorsichtig aber doch fordernd mit in den Salon. Jetzt werden die anderen beiden davon flitzen wie die Angsthasen. Sie schauen sich ängstlich an und zögern einen Moment. Dann zucken sie mit den Schultern, grinsen und schleichen etwas unsicher hinterher. Im Salon tanzt das Mädchen bereits auf der kleinen Freifläche mit dem total verkrampften Kerl. Ach Mensch, der Arme. Weiß gar nicht wie ihm geschieht. Seine großen Augen blicken ängstlich zu den zwei anderen. Die Gespräche meiner Bewohner sind verstummt, alles wird ruhig. Niemand weiß gerade, wie er sich verhalten soll. Doch die Madame spielt weiter ihr Cello, ruhig, betörend. Der Zauber dieser Nacht wirkt. Alle entspannen sich. ALLE. Die Burschen winken die zwei weiteren Eindringlinge heran und setzen sich zu dem Alten. Der zückt sofort erfreut seinen Whisky. Ich traue meinen Wahrnehmungen kaum. Drei Menschen sind hier eingedrungen und sitzen jetzt gemeinsam mit meinen Bewohnern und genießen eine ungewöhnliche Nacht. Der nervöse Tänzer legt ganz langsam seine Arme um das Mädchen und winkt der Madame zögerlich zu. Diese lächelt und spielt weiter ihr Cello. Die Burschen holen sich das einsame Mädchen dazu und stoßen miteinander an. Irgendwann steht einer auf und bespricht sich mit Madame. Diese beendet traurig ihr Cellospiel und ändert ihr Spiel mit den Saiten. Fröhliche Musik ertönt und gemeinsam trinken und tanzen sie. Sie scherzen und lachen und erfreuen sich an den Streichen des Bubs. Und ich? Tue nichts. Schaue zu. Nachdenkend. Nachsichtig. Wie oft schon wird es nochmal eine Nacht wie diese für uns, für mich geben? Langsam lasse ich mich anstecken von der Fröhlichkeit und wiege mich im Takt. Das merkt ja doch keiner. Jeder fühlt hier nur das, was er möchte. Für diese Nacht. Die einzige Nacht im Jahr. Bevor wir uns wieder zurückziehen. Jeder für sich und allein. Nur die drei Burschen werden morgen noch sein. Vermutlich.

Ich wusste, dass sie mich besuchen würden, bevor sie selbst es auch nur ahnten. Ich hatte ihnen schon eine Weile aus meinen Fenstern zugesehen. Eine Familie, die beiden Kinder hungrig und die Eltern erschöpft vom langen Tag. Perfekt!
Sie hatten eine Weile gebraucht, sich zu entscheiden, aber dann waren sie in das kleine italienische Lokal eingetreten. Die Pizza weckte die Lebensgeister der vier, die Bäckchen der beiden Kinder, Marc und Simone, waren mittlerweile gerötet von der Wärme. Die Eltern hatten sich ein Viertel vom günstigen Rotwein geteilt. Ich wusste, bald würden sie unternehmungslustig werden. Ich war bereit. Wenn mein Türknauf nicht so verrostet wäre, würde er einladend funkeln.
Als sie „Il Corvo Nero“ verließen, war ich bereit. Sie würden meine düstere Verschlossenheit als einladend empfinden, denn ich war ein Profi.
Tatsächlich zeigte der kleine Marc in meine Richtung. Ich hatte vermutet, dass er es sein würde, der als erster schwach werden würde. Die kleinsten waren immer am neugierigsten. Seine Eltern schüttelten skeptisch den Kopf, aber Simone nahm ihren Bruder kurzentschlossen an die Hand. Die beiden liefen zu mir, denn natürlich hatte ich sie in meinen Bann gezogen. Und ihre Eltern folgten ihnen. Das tun sie immer, was sollten sie auch sonst tun. Es war geradezu unvermeidlich.
Die erste Überraschung erlebte Simone, als sie die Tür öffnen wollte. Ich ließ den Türknauf vibrieren, und mit einem hohen Entsetzensschrei zog sie ihre Hand zurück. Ich liebe das! Meine Tür schwang weit auf. Den Flur hatte ich nur mit einer funzeligen Glühbirne beleuchtet. Als die ganze Familie meine Türschwelle überschritten hatte und der leisen Musik lauschte, schloss ich langsam und leise die Haustür. Und dann löschte ich das Licht. Alle vier schrien sie lauthals. Ich merkte, wie mich diese ganz besondere Kraft durchströmte, und lebte auf. Ich war ein Künstler und sie waren … nein, nicht Zuschauer. Sie waren Teil der Aufführung.
Mit flackernden Kerzenschein lockte ich sie in Richtung des Musikzimmers, in dem ich wie von Geisterhand das Klavier spielte. Simone hatte große Augen. Wie es sich für eine Mutter gehörte, beobachtete Mama besorgt den kleinen Marc. Papa tat so, als ob er keine Angst hätte.
Er war der größte, und so erwischte ich ihn mühelos mit einigen klebrigen Spinnenweben. Volltreffer, er ekelt sich vor Spinnen! So schön, dieser Gesichtsausdruck und dazu der ganz und gar unmännliche Schrei.
Mama spürt etwas an ihrem Knöchel, das sie für eine Hand hält, macht einen unbedachten hastigen Schritt und stolpert über die Matratze, die nicht zufällig da liegt. Zufälle gibt es bei mir nicht. Mama reißt Simone mit sich und beide fallen auf das Matratzenlager. Licht aus, Geisterheulen an! Alle vier schreien mit, was für ein süßer Chor des Schreckens.
Jetzt sind sie wirklich entsetzt, und es gibt kein Halten mehr. Die vier sind auf der Flucht Richtung Ausgang. Ich lasse sie entkommen, nicht ohne sie mit eiskalter Druckluft und Flügelschlägen des ausgestopften Rabenvogels über der Ausgangstür zu verabschieden.
Ich weiß, dass sie auf der Heimfahrt im Auto noch lange von ihrem Besuch bei mir erzählen werden. Immerhin haben sie es geschafft, dem unvergleichlichen „Spukhaus im Rabenweg“ zu entfliehen. Ich habe Ihnen einen gelungenen Abschluss ihres Besuchs im Erlebnispark bereitet – das ist meine Bestimmung.

Pech gehabt

Hier am Rabenweg stehe ich seit über 200 Jahren und schaue auf das Meer hinaus. Ein Sturm zieht auf und mir schaudert es jetzt schon. Die Jahre haben mir die Kraft genommen und ich fürchte mich jedes mal, wenn der Wind an meinem gebrechlichen Balken zerrt.
Früher war ich stark und trotzte jedem Wetter, doch die Zeiten, wo lachende Kinder in mir lebten sind schon lange vorbei. Heute schmerzt mir jeder Balken und jede Sparre. Überall hab ich Schimmel angesetzt und Holzwürmer, Ratten und Käfer zerfressen mich. Mein Dach läßt Ströme von Wasser auf die Dielen prasseln und bei Sturm knarre ich vor Schmerzen. Ich bin alt und zerbrechlich geworden, die Zeit hat mich verfallen lassen und jetzt warte ich nur noch auf den Tag, an dem ich zusammenbrechen werde.
Der letzte Winter war hart für mich, aber ich habe ihn überstanden. Als die Kälte kam, knarrten die Stufen der alten Treppe, als würde ein Pirat mit Holzbein sie erklimmen. Ja erklimmen, denn es fehlen viele der Tritte. Das gute alte Eichenholz ist einfach zerfallen.
Ich bin, bis auf die Haustiere, die ich beherberge, alleine und ich mag es auch nicht, wenn Besucher kommen. Sie können sich nicht benehmen. Schaffen Unordnung, besprühen die Wände und treiben sonstige Schandtaten in mir. Mir reichen schon die Termiten, Würmer und Käfer.
Sorgenvoll blicke ich auf das Meer. Kann ich dem Sturm standhalten? Doch nein, da kommen Menschen, Jugendliche auf mich zu gerannt. Sie sind laut, lachen, haben Schlafsäcke dabei, schleppen Kisten mit Bier und diese stinkenden Spraydosen mit Farbe, sind mit von der Partie.
Nein, heute muß Freitag der Dreizehnte sein! Jedenfalls vermute ich das, denn die Dame, die als erste bei mir einzog, sagte immer wenn sie Pech hatte: „Ja ist denn heute Freitag der 13! Soviel Pech kann man nur an einem Freitag den 13 haben!“ Tja und heute hatte ich wohl das Pech gepachtet. Sturm und randalierende Jugendliche. Eben Freitag der Dreizehnte.
Die letzten Strahlen der Sonne versanken hinter den Wolken und eine kalte Schauer huschte mir über das undichte Dach. Der Wind nahm an Fahrt auf und die Jugendlichen rannten los und stürmten in mein Inneres. Ich ächzte und meine Balken und Bretter knarrten vor Entsetzen über die ungebetenen Gäste.
Jeder Schritt von ihnen tat mir weh. Ich war einfach nicht mehr belastbar, in keinster Weise. Doch über meine Klageschreie machten sie sich nur lustig.
"Die Dielen hören sich ja gespenstisch an, da haust bestimmt der Hausgeist drin*, sagte ein großer Junge mit langen blonden Haaren mit schlaksigen Körperbau. Ein Mädchen kicherte über seinen Satz und sah bewundernd zu ihm auf. Ich sah sofort, sie fühlte sich in mir nicht wohl. Dachte aber, der blonde Ritter würde sie vor allen Gefahren schützen. Ein anderes Mädchen meinte, dass sie hofft, dass der Boden nicht einstürzt oder das Dach auf sie fällt. Der große Blonde gab nur von sich: „Wenn du abergläubisch bist, passiert eins von beiden bestimmt, denn heute ist Freitag der Dreizehnte. Also mach dich auf alles gefasst! Hier spukt es, das weiß doch jeder, aber wenn wir es schaffen, diese Nacht hier zu überleben und morgen das Haus durch die kaputte Eingangstüre verlassen, an der das Schild mit Betreten verboten Eltern haften für ihre Kinder steht, dann haben wir eine Wette gewonnen! Und den Preis kennst du ja!
Also mach dir nicht die Hosen voll Kaja.“
Kaja hieß also die kleine mit der blassen Haut und der dunklen Lockenpracht. Sie war klein und schmächtig, höchstens 13 Jahre alt, wirkte verängstigt und ihre Augen blickten hin und her, selbst in der einfallenden Dunkelheit konnte ich es erkennen und sie zitterte am ganzen Körper. Fast tat sie mir leid, aber was ließ sie sich auch auf einen solch kriminellen Halbstarken ein. Selbst schuld und Mitleid aus!
Der Junge sprang auf einem morschen Dielenbrett herum. Immer wieder sprang er darauf. Jedesmal war es für mich, als würde ein Beil in meinen Körper fahren, ich schrie auf. Der Junge lachte wieder. Ein Sadist ist er auch noch! Langsam wich in mir die Angst und wandelte sich in Wut um. Ich bäumte mich auf und jede Faser in mir spannte sich an. Das Geräusch was ich von mir gab, war laut, unnatürlich und hörte sich gespenstisch an. Die beiden Mädchen schrieen wie am Spieß und ließen alles fallen und ergriffen die Flucht. Rannten zur Haustür, doch diese hatte sich durch mein Aufbäumen verzogen und ließ sich nicht mehr öffnen. Der zweite Junge war zur Hintertür gerannt, doch da fehlte ein Stück des Bodens, er sah das Loch nicht und stürzte in den 5 Meter tiefen Keller. Genau auf die Reste des ehemaligen Flurs. Ein zerbrochenes Brett fing seinen Fall auf, indem es ihn aufspießte. Sein Blut mischte sich schnell mit dem Wasser das sich vom Regen sammelte. Seine Schreie verklangen nach kurzer Zeit. Das Brett hatte seine Lebenslicht gelöscht.
Mit dem Verklingen seines letzen Schreis, wurde es mucksmäuschen still in mir. Ich hielt inne, denn das war mein erster Mord! Ja, Mord, denn ich hatte in meiner Wut beschlossen, ihn zu töten. Erst ihn, dann die Mädchen und als Sahnehäubchen den kessen Blonden. So plante ich es jedenfalls in Gedanken. Wenn die Menschen schon sagen, ich bin ein Spukhaus, dann muss ich die Erwartungen der Menschen erfüllen! Ich bin kein Spukhaus, nur ein sehr altes Haus mit erheblichen Dachschaden. Und dieser Dachschaden hat mich halt morbid gemacht und nun bin ich ein Mörder mit Ambition ein Serienkiller zu werden. Karrierewechsel ist angesagt, vom feudalen Wohnhaus, zum Spukhaus und nun zum Serienkiller! Man muss mit der Zeit gehen, so hatte es Herr Berger gesagt, der dritte von meinen Bewohnern. Ich stimme ihm bei dieser Aussage voll zu.
Aber jetzt zu den Mädchen, mein Plan: Die Temperatur sinkt und gleich kommt mein Pirat auf den den Treppenstufen ins Spiel. Ich merke schon die Spannung in meinen Bretten. Gleich beginnt es, Der Pirat mit dem Holzbein wird sie hinaufgehen. Das erste Klack halt durch den großen Flur. Selbst Blondie kann seine Angst nun kaum noch beherrschen. Er rennt vom Flur in den Saal. Gute Wahl, denn dahinter wird es leicht gefährlich für ihn. Die Mädchen werden am Spieß gebraten, zumindest hört es sich so an, wie sie schreien. Ängstlich umklammern sie sich. Dann der Schrei von dem Halbstarken. „Kommt her, hier ist ein Fenster, das ist zerschlagen, da können wir raus“, ruft er ihnen zu. Langsam ziehen sich die Mädchen an der Tür gegenseitig hoch und wagen vorsichtig einen Schritt nach dem anderen durch den Flur auf die Tür zum Saal zu. Der Pirat macht den zweiten Schritt. Erschrocken bleiben die Mädchen stehen und über ihnen im Gebälk schreit mein Vogel, die Eule und fliegt auf. Der Sturm fährt in das Dach und reißt ein paar Ziegel in die Tiefe. Die Mädchen schauen erstarrt zu der Eule und den herabstürzenden Ziegeln. Doppeltreffer! Von Dachziegeln erschlagen, beide!
Ich bin ganz schön effektiv als Mörder, muss ich schon sagen. In weniger als 10 Minuten 3 Jugendliche. Aber einer fehlt noch. Halb hängt er im Fenster und versucht zu flüchten.
Verdammt, nach wenigen Sekunden hat er es geschafft. Er ist mir in den verwilderten Garten entkommen. Ein Krachen und Splittern ist zu vernehmen. Dann ein kräftiger Rums. Nicht die Nachtigall hat ihn getroffen, sondern die alte Lärche. Auch sie hatte befürchtet beim nächsten Sturm einzuknicken und dabei hat sie ihn mit sich gerissen, in den Tod.
Eine Bö reißt mir den Rest des Daches weg. Nur noch ein Stück vom Turm steht noch. Balken und Steine prasseln nieder. Der Himmel wird hell erleuchtet und ich fange Feuer, durch einen Blitz, der in den Turm eingeschlagen ist. Ein letztes Strahlen, hell wie die Sonne, schenke ich meiner dunklen Umgebung am Ende des Rabenweges und verglühe.
Eben Pech gehabt.

Der letzte Ball

Wer spielt an meinen Türknäufen, rüttelt an meinen schütteren Läden, was geht hier vor? Ich höre Stimmen vor meiner Haustür, hastiges Flüstern, Lichtkegel aus Taschenlampen versilbern den Efeu. Menschen, Menschlein an meinem Gemäuer. Es ist Jahre her, seit sich die Letzten hergetraut haben. Sie tuscheln, diskutieren, streiten gedämpft. Soll ich ihnen helfen? Ach, sie werden doch nicht bei mir bleiben. Seit jenem Abend im Jahre 1905 kann ich niemanden hier halten, niemanden an mich binden. Sogar Kriegsflüchtlinge, die ich versteckte, wollten fort. Mit noch blutigen Verbänden humpelten sie davon. Mich ein Geisterhaus geschimpft. »Lieber sterbe ich Feld als in diesem Schuppen!« Ein Schuppen, ich! Das musste ich mir anhören und konnte nur klagend mit der Regenrinne quietschen.

Ich habe solche Schmähungen nicht verdient, war ich doch einst das erste Haus am Platz, vor dem die elegantesten Kutschen hielten und befrackte Herren glitzernden Damen beim Aussteigen halfen. Rauschende Bälle habe ich gesehen, meine Kronleuchter schimmerten im Glanze so zahlreicher Kerzen, dass ich mich schon lichterloh in Flammen sah. All meine Pracht, meine Herrschaftlichkeit, verloren. Verloren, an einem einzigen grausigen Abend. Als burgunderrotes Menschenblut von meinen Seidentapeten troff, in Rinnsalen über das Eichenparkett rann, gegen die Schwellen schwappte, bis zur Pforte floss und unter dem Türspalt hindurch gierig ins Freie quoll. Danach wurde es nie wieder gut.

Ein Herrenhaus bin ich trotz aller Widrigkeiten geblieben, vom Grundstein bis zum First. Und darum, ihr flüsternden lichtschwenkenden Zittergestalten auf meiner Schwelle, lade ich euch ein. Mit mit sanftem Klicken gibt die Türklinke der Pforte beim Druck eurer weichen Hände nach und ich lasse euch in meine stattliche Halle.

Eure Stimmen werden leiser, weil mein Staub euch in die Lungen dringt. Ich will euch erfrischen und schicke einen kräftigen Luftzug über die Empore, um euch zu erfrischen. Schon werden eure Stimmen kräftiger. Eure Lampen huschen suchend und finden nur die Gemälde mit den weggeschnittenen Gesichtern. Ihr schreit, ja, das finde ich auch schrecklich, ein Frevel an der Kunst. Generationen eines Geschlechts wurden hier ausradiert. Nein, nicht ich habe dies zu verantworten, sondern die grauenvollen Eindringlinge, die aus mir ein einsames Anwesen gemacht haben. Ich versuche, euch, meine verehrten Gäste, zu beruhigen, indem ich samtige Laken zarter Spinnweben auf euch herabschweben lasse, die euch umhüllen wie Brautschleier.

Doch ihr könnt euch nicht beruhigen, wie gut ich das verstehe. Niederträchtige Schurken haben hier gewütet, seht nur, das Blut klebt immer noch auf den Dielen. Ich lasse die Lampen aufblitzen, damit ihr mich besser versteht, aber nicht zu lang, damit ihr den schauerlichen Anblick nur kurz ertragen müsst. Schaut nur, meine lieben Freunde, wie fürchterlich ich zugerichtet wurde. Ich kann euer Entsetzen nachvollziehen, ich weiß, warum ihr wimmert. Doch ich will euch vollkommen beruhigen, die Geister der Opfer, wie der Schuldigen, die sich jahrzehntelang gegenseitig zwischen meinen Mauern anheulten und durch die Kamine jaulten, ich habe mich gegen sie gewehrt.

Wendet eure Augen nach oben, verehrte Gäste, dort seht ihr sie baumeln, die Leichen der Leichen, die getöteten Geister. Seht sie euch an, niemand kann euch jetzt mehr etwas tun. Mit einem alten Herrenhaus legt man sich nicht an, ich lasse nur freundliche Gäste durch meine Gänge streifen, lebendige Gäste, wie euch. Kommt, ich öffne euch meine Flügeltüren weit, reiße die weißen Laken von den Sesseln, lasse den Konzertflügel aufspielen und fahre die Servierwagen mit den silbernen Sektschalen herein. Willkommen, liebe Gäste, willkommen im Gut Rabenfels!

Nein, verlasst mich nicht, warum habt ihr es so eilig? So bleibt doch! Ihr habt eure Lampen verloren, ihr lauft in die falsche Richtung, der Ballsaal ist doch dort, ich schlage die Türen zu, so früh könnt ihr nicht gehen, das Fest beginnt grade erst. Meine Tränen fließen als Wasserbäche von den Wänden, umschmeicheln eure Fesseln. Ihr hebt die Füße, wirbelt, tanzt ja, feiert mit mir, ich spiele Walzer auf dem Flügel, die Kronleuchter geben das Glockenspiel dazu. Tanzt mit mir, meine Freunde, geht nie wieder fort!

Valentina hatte sie zuerst gesehen.

Oben am - oder besser im - Rundfenster am Dachboden war sie.

Ein Mädchen und ein Junge, die gerade über den Zaun gestiegen waren und sich nun dem Haus näherten. Langsam, denn Sträucher und Büsche, die den Garten seit Jahren eroberten, stellten sich den Beiden in den Weg.

Ich war in der Glastür zum Wintergarten und genoss die letzten Sonnenstrahlen. Ich spürte Valentinas Aufregung durch die Wände wandern. Auch Ferdinand musste es bemerkt haben. Er schoss durch die Scheiben des Wintergartens zu mir in die Tür. Durch Glas gleitet man hindurch wie durch Wasser. Holz und Stein bremst uns. Es ist mühsam sich darin zu bewegen.

Für uns Körperlosen. Ermordet und gefangen in diesem Haus.

Ferdinand wusste was zu tun war! Er quälte sich durch die Mauern zur Eingangstür. Schlupfte hinein und schob den Sperrriegel heraus. Doch zu spät. Der Junge, mit rundlicher Figur und roten Haaren, stieß die Tür auf und der Riegel verpasste knapp das Schloss. Dann traten sie ein.

Zaghaft. Flüsternd. Ängstlich. Neugierig.

Vertreibt sie! Teilte uns Valentina mit, die nun im Boden steckte und mit den Dielen knarrte.

Das Mädchen schrie kurz auf und sprang zur Seite.

Ferdinand war in der Wand zum Esszimmer und begann wie wild mit den Bildern daran zu wackeln. Eines fiel zu Boden.

„Scheiße!“, schrie der Rotschopf, „Was geht denn hier ab?“

Ich kroch in eine der vielen Türen und lies sie krachend zuschlagen.

Bei den Eindringlingen: Keine Neugierde. Kein Flüstern. Nur noch Angst und Panik.

Dann spürten wir ihn.

Den Alten.

Unseren damaligen Peiniger. Unseren Mörder.

Erschossen von der Polizei. Hier auf den Dielen. Und so wie wir, gefangen in diesem Haus.

Ein Teil von ihm. Meist steckte er in den modrigen Kellerwänden. Einen Ort, den wir drei mieden. Denn dort verbrachten wir die letzten Tage unseres Lebens. Ein kurzes Leben. Kinder waren wir.

Zu jung zum Sterben.

Zu unschuldig, um solche Qualen erleiden zu müssen.

Der Alte war immer noch kräftig. Immer noch hatten wir furchtbare Angst vor ihm.

Obwohl er uns nichts mehr anhaben konnte. Denn er hatte uns schon alles genommen.

Der Alte schoss durch die Wände und rein in die Haustür.

Ferdinand wollte dagegenhalten.

Vergebens.

Die Tür schlug zu und nun fand der Riegel sein Schloss.

Sie waren gefangen – im Todeshaus.

Der Junge flüchtete zum Fenster. Der Alte aber schneller, rein ins Glas und sprengte die Scheiben. Splitter drangen in die blasse Haut des Buben.

Dann schlüpfte er in die Bodendielen. Ein hölzerner Dorn durchstieß den rechten Fuß des Mädchens.

Es ging wieder los!

Einen Moment glaubte ich seinen widerlichen Geruch wahrzunehmen.

So wie damals, als er zu mir in den Keller kam. Unmöglich! Körperlose stinken nicht mehr!

Aber sie können noch töten. Oder dieses verhindern.

Der Junge hielt sich die Hände vors Gesicht. Scherben haben seine Augen verletzt. Das Mädchen umklammert ihren durchbohrten Fuß. Die Wunde blutet stark.

Gefangen! Eingesperrt! Verloren?

Nein!

Ferdinand schlupft wieder in die Eingangstür und zerrt am Riegel, der sich im Schloss verklemmt hat.

Die Eindringlinge, vom Klackern des Riegels angezogen, nähern sich dem Ausgang.

Hoffnung auf Rettung.

Der Alte hinterher in die Tür hinein! Ferdinand raus und wir drei Körperlosen sprengen mit all unserer Kraft die Eingangstür aus den Angeln! Tosend landet die Tür einige Meter weit vom Haus entfernt in den Büschen. In ihr gefangen - der Alte.

Weit genug vom Haus entfernt.

Das dachten wir zumindest.

Doch dann …

Ist es Kühnheit oder Arroganz?

Welch eine Unverfrorenheit!
Welch eine Verachtung!
Wer wagt es, die nächtliche Stille zu stören?
Wer wagt es, die Verborgenen zu belästigen? Empörung. Was für Gesindel!
Ihr stammt aus der Welt der Lebenden.
Hinfort mich euch. Abschaum.
Ihr seid es nicht wert.
Euch steht es nicht zu, diese unergründliche, verborgene Welt zu betreten.
Diese Zuflucht gebührt einzig und allein den Ruhelosen, sucht das Weite, sofern ihr nicht wünscht ein Teil, meiner Wenigkeit zu werden. Viele haben es gewagt diese Pfade zu beschreiten, doch niemandem war es vermocht meinen Fängen zu entkommen.
Nun suchen auch sie, Nacht für Nacht, nach dem Licht, nach der süßen Erlösung.
Allein ein Mensch, eines ungeteilten reinen Herzens, vermag es ihnen Ruhe zu verschaffen. Doch lasst euch gesagt sein.

Euer Leben von nun an verdammt.
Schwierig die Aufgabe die vor euch liegt.
Viele Begegnungen euch verfolgen.
Verbitterung und Leid euch erwartet.

Die Nacht ist jung! Eilt!
Tretet ein, wenn ihr es wagt.
Einverleibt. Mein Eigen werdet auch ihr sein, nach Anbruch des Tages.
Doch seit gewarnt, den Groll des ruhelosen Ungetüms, entkommt ihr Hinfort nie mehr.

Tick Tack - die Zeit läuft ab.
Euer Leben ist verwirkt,
die Seele fährt hinab.

Geschichtenerzähler

»Bist du sicher?«, wollte sie von ihm wissen.

»Na klar, weißt du wie krass das ist, wenn du da drin auch nur die kleinste Bewegung im Augenwinkel wahrnimmst oder ein Knacken dicht an deinem Ohr hörst? Das ist ein atemberaubendes Gefühl«, antwortete ihr Freund begeistert und sprang vom Fenstersims ins Innere des Hauses.

»Ich weiß ja nicht.«

»Nun mach dir doch nicht immer gleich ins Hemd. Wenn uns jemand bemerkt hätte, dann wäre uns das schon aufgefallen.«, warf ihre Freundin ein und tat es ihm gleich.

Auch sie setzte nun zu dem Versuch an, durch das Fenster unter der Feuertreppe einzusteigen, rutschte jedoch ab und wurde nur von ihm aufgefangen, der ihr hinüberhalf, seinem Freund ihr Kameraequipment über die Fensterbank reichte und anschließend selbst hinüberkletterte. Sofort packte sein Freund die Kamera aus, schaltete sie ein und begann auf die Treppe, die in das erste Obergeschoss führte, zuzusteuern. Seltsamerweise sah hier nichts besonders alt aus oder war kaputt.

Als sie am Ende der Treppe ankamen, stockten sie kurz. Oben brannte Licht. Sehr seltsam. Das Haus sollte doch verlassen sein. Sein Freund sah ihn über die Mädchen hinweg an, zuckte mit den Schultern und setzte dann seinen Weg unbeirrt fort. Die anderen folgten ihm. Oben angekommen, konnten sie auch die Quelle des Lichtes ausmachen. Es kam von einigen Kerzen, die entlang des Flures an der Wand befestigt waren. Irgendjemand musste die gleiche Idee gehabt haben wie sie und Ihnen zuvorgekommen sein. Sie lauschten kurz, konnten jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen und liefen weiter. Im Vorbeigehen warf er sicherheitshalber einen Blick in jedes Zimmer.

Als sie gerade den Weg in das 2. Obergeschoss antreten wollten, schritt ihnen ein junger Mann auf der Treppe entgegen. Er war ordentlich gekleidet – ein bisschen altmodisch vielleicht, aber es ergab ein stimmiges Bild.

Als der Fremde sie registrierte wandte dieser sich ruhig an sie: »Oh, ich wusste gar nicht, dass wir Gäste haben«. Der Unbekannte wirkte allerdings nicht wirklich überrascht.

Er fand seine Sprache als erster wieder: »Verzeihen Sie, aber was genau meinen Sie mit ‚Gäste haben‘? Gehört dieses Haus etwa Ihnen?«

»So könnte man das sagen, ja. Und ihr seid hier, weil…?«, wollte der Fremde nun wissen.

Da löste auch sie sich aus ihrer Starre: »Bitte verzeihen Sie, das wussten wir nicht. Wir dachten es wäre verlassen und wollten uns ein wenig umsehen und seine Geheimnisse erforschen. Wir gehen sofort wieder.«

»Aber nein, herzlich willkommen! Seid meine Gäste. Wenn ihr schon einmal hier seid, dann kann ich euch gerne das Haus zeigen. Hier her verirrt sich nur selten jemand. Ich freue mich über Besuch. Und dieses Haus mag zwar nicht seelenlos sein, hat allerdings trotzdem eine ganze Menge zu erzählen.«, wandte der Fremde ein.

»Ja wirklich?«, fragte ihre Freundin nach.

»Aber sicher. Vom Aufstieg eines Arbeiters über große Gefühle bis hin zu angeblichen Familiendramen und blutigen Revolutionen, meine Mauern haben schon viel gesehen. Kommt mit und ich führe euch einmal hindurch.«, entgegnete der Hausherr. Die vier sahen sich verdutzt an, überlegten einen Moment, entschieden sich dann jedoch, das Angebot anzunehmen und folgten ihm wieder nach unten.

Er erzählte Ihnen, wer das Haus erbaut hatte und welche Geschichte jedes der einzelnen Zimmer verbarg. Vor einigen blieb er stehen und erzählte etwas ausschweifender. Seine Erzählung war so lebendig, dass man den Eindruck bekam, er berichtete aus seinen Erinnerungen, auch wenn einige Details wirklich schockierend waren und ihnen einen wohligen Schauer über den Rücken jagten, wollten sie noch viel mehr hören. Durch die Erzählung des Fremden, kam er nicht umhin, im Vorbeigehen in jeden Raum zu spähen, um sicherzugehen, dass sie nicht doch ungebetenen Besuch hatten.

Nachdem sie einmal durch das ganze Haus gegangen und der große Zeiger auf der imposanten Standuhr im Flur schon mehrere Runden gerannt war, verabschiedeten sie sich und wandten sich zum Gehen.

»Vielen Dank nochmal. Wir hatten gar nicht erwartet, heute so viel über die Geschichte des Hauses in Erfahrung bringen zu können. Es war wirklich spannend«, bedankte ihre Freundin sich.

»Spannend und teilweise auch ein wenig gruselig.«, wandte sie ein.

»Ja, vielen Dank. es war sehr freundlich von Ihnen, uns herumzuführen, obwohl wir quasi bei Ihnen eingebrochen sind. Es ist wirklich beeindruckend, wieviel sie über ihr Haus wissen.«, ergänzte er.

Der Mann antwortete Ihnen: »Gern geschehen. Ich gebe meine Geschichten immer gerne an Interessierte weiter. Man muss nur die Augen aufmachen.«

Als sie zuhause ankamen, öffnete er die Videodatei. Nach wenigen Sekunden allerdings stellte er fest, dass er außerversehen eines der gespeicherten Lostplacesvideos angeklickt haben musste. Das Gebäude auf dem Video war vollkommen heruntergekommen, die Scheiben eingeschlagen und es war stockdunkel. Es sah aus, als hätte dieses Haus schon seit vielen Jahrzehnten keine Seele mehr gesehen. Er schloss das Fenster und schaute diesmal genau, dass er die richtige Datei auf der Kamera anklickte.

Das Video öffnete sich in einem neuen Fenster, doch wieder sahen sie die gleichen Aufnahmen. Er war sich hundertprozentig sicher, dass er das richtige Video angeklickt hatte. Daraufhin überprüfte er die Videoddetails und wurde aschfahl. Genau in dem Moment, in dem er das heutige Datum in den Videodaten las, hörten sie seine Stimme. Die Unterhaltung verlief ab dieser Stelle genauso, wie er sie vom Nachmittag noch im Gedächtnis hatte. Er schaute genauer hin, aber es blieb dabei. Das Gebäude über dessen Flur er und seine Freunde auf dem Bildschirm gerade liefen, hatte nichts mit dem gut erhaltenen Haus gemein, dass sie sich heute angesehen hatten.

Er spulte ein Stück vor, zu der Stelle, an der sie das Licht vom Ende der Treppe aus gesehen hatten. Nichts. Vielleicht könnte man den Kerzenschein auf der Aufnahme nicht erkennen, dachte er. Er spulte noch ein Stück vor, übersprang den Part, in dem sie sich auf der 1. Etage umgesehen hatten, bis zu der Stelle, an der die Treppe zum 2.Obergeschoss ins Blickfeld kam. Gleich müsste der Mann herunterkommen. Jeden Augenblick müsste er auftauchen. Doch da war nichts. Es war ihm gar nicht so lang vorgekommen, als sie an der Treppe gewartet hatten. Und dann hörten sie ihn sagen: »Verzeihen Sie, aber was genau meinen Sie mit ‚Gäste erwarten‘? Gehört dieses Haus etwa Ihnen?«. Er schreckte auf. Durch seinen Gedankengang musste er überhört haben, wie der Fremde zu ihnen gestoßen war. Er spulte ein paar Sekunden zurück. Stille. Die ersten Töne, die auf der Aufnahme wieder zu hören waren, waren die Antwort an den Fremden, der, wie ihm jetzt auffiel, immer noch nicht im Bild zu sehen war. Es folgte erneut Stille. Dann hörte er sie sprechen. Sie entschuldigte sich bei irgendwem.

Er drehte sich zu seinen Freunden um, die ebenfalls schockiert auf den Bildschirm starrten. Auch auf dem Rest des Videos war keine weitere Person neben ihnen zu sehen. Die ganze Aufnahme wirkte merkwürdig. Es klang, als redeten sie mit sich selbst. Sie gaben Antworten auf Fragen, die im Video nie gestellt wurden. Dabei waren sich alle vier sicher, dass sie dort in dem hell erleuchteten Haus einen jungen Mann getroffen hatten. Wo war der Mann und warum sah das Haus auf dem Video so vollkommen anders aus, als sie es in Erinnerung hatten?

Ravenwood Manor

Da kommen sie, die neuen, unglücklichen Seelen. Viele neugierige, konnte ich schon als meine Gäste willkommen heißen und noch lange scheint kein Ende in Sicht. Mein morbider Charme und die Aussicht auf Gefahr, Nervenkitzel ist die Formel, die sie mir alle bringt und ich werde nicht aufhören, denn ich bin verdammt. Aber kein Grund zur Sorge, ich bin es gerne.
„Halloooo?“ Kaum im Haus schon beginnt es. Ein junger Mann passiert meine Schwelle und immer, immer fragen sie, dieses eine Wort, in die Finsternis. Als wenn jemals jemand darauf geantwortet hat! Der Typ mit der komischen Struwelfrisur lässt meine Tür gleich mal in die Wand dahinter krachen, wobei ein ordentlicher Abdruck der Türklinge in der hölzernen Verkleidung zurückbleibt. „Na herzlichen Dank auch. Mal sehen, wie du dich fühlst, wenn ich deine Gliedmaßen zerschmettere.“ Ich habe die volle Kontrolle über alles hier in diesen Räumen, egal um was es sich handelt. Also gesagt getan, ich lasse die Tür mit vollem Schwung zurückfedern und erfreue mich an dem sofortigen Aufschrei, gefolgt von einem mächtigen knacken und dem Spritzen von Blut. Der Struwelfrisur hat es die Nase gebrochen und ich kann sehen, wie die Tränen in Massen aus seinen kleinen braunen Augen quellen. Herrlich. Eine anbrechende Nacht nach meinem Geschmack. Die anderen stehen mit dämlich glotzenden Gesichtern immer noch draußen vor der Tür. Ich hoffe, die Idioten trauen sich dennoch herein. Manchmal kann ich mich und meine Launen einfach nicht zügeln, aber solche Aktionen wie mit der Tür, nehme ich persönlich.
Doch ich habe Glück, nach dem Aufruhr wird Struwelfrisur mit reichlich Taschentüchern versorgt und betritt erneut mein Inneres, wenn diesmal auch mit etwas wackeligeren Beinen. Dicht hinter ihm folgen seine, wie ich denke Freunde: Ein Typ mit Brille, eine Frau mit roten Haaren und ein Typ mit langen dunklen Haaren. Achtlos laufen sie über meinen Teppich hinweg, einst ein wundervolles Stück aus einem fernen Land, teuer und edel, hat er die Intensität der Farbe im Laufe der Jahre eingebüßt. Die Menschen beginne damit, von mir Fotos zu machen. Immer wieder blitzt das Licht von ihren sogenannten Handykameras auf und sie werfen sich in albern anmutende Posen. Es dauert etwas, bis sie sich an meine gedrückte, düstere Atmosphäre gewöhnt haben und mutig genug sind, meine Ecken und Winkel weiter zu erkunden. Der Typ mit den langen dunklen Haaren wagt sich sogar allein in dem ersten Stock hinauf, streicht schon fast zärtlich mein Treppengeländer, während er die Stufen hinaufsteigt. Oben angekommen biegt er in das ehemalige Musikzimmer ein. Das Bösendorfer Klavier ist schon lange nicht mehr gespielt worden und so stimme ich die ersten Takte einer Melodie an und warte. Der Typ mit den langen dunklen Haaren kommt verwundert näher und der Duft seiner aufkeimenden Angst wird durch den Raum getragen. Ich liebe es, wenn Menschen ihre Essenz offenbaren und mir so der Mund wässrig gemacht wird. Zitternd mustert er den geöffneten Klaviarturdeckel und beugt sich ein Stück weiter, um die Saiten untersuchen zu können. Vermutlich ist er auf der Suche nach dem Ursprung der Musik, die immer noch durch den Raum schwebt. In dem Moment als er sich weit genug in das Klavier gebeugt hat, lasse ich den Deckel kraftvoll zuschnappen. Es folgt ein Ohrenbetäubens Knacken, als sein Rückgrat bricht. Der Körper sackt auf dunkel, hölzernen Boden zusammen. Aus seinem Mund läuft der erste schwall Blut über die Lippen und verteilt sich langsam über den Fußboden. Die Augen des Menschen sind geöffnet und werden starr, die Iris öffnet sich ein letztes Mal und verkündet so das Ende des Menschen.
Der erste Mord ist mir gelungen und gierig ziehe ich das Blut des Typen in die tiefe meiner Fasern.
Der Krach bleibt nicht unbemerkt und noch bevor ich mich richtig an meinem Opfer gelabt habe, höre ich die schnellen Schritte auf meiner Treppe. Die Anderen treffen schnell am Schauplatz des Geschehens ein. Es ist immer wieder faszinierend, wie unterschiedlich die Menschen auf das Ableben eines der Ihren reagieren. Bleich sind sie alle, aber nur der Typ mit der Brille fängt hysterisch an zu heulen.
In weiser Voraussicht fange ich an, mich abzuriegeln, denn was jetzt kommt kenne ich. Panisch versuchen Struwelfrisur, der verheulter Typ mit Brille und die Rothaarige so schnell wie möglich meine Treppe runterzurennen. Auf der Hälfte, sorge ich dafür, dass sich eine meiner Stufen einzieht. Struwelfrisur knickt mit dem rechten Fuß um, verliert dabei das Gleichgewicht und stürzt, haltlos die restlichen Stufen hinab. Der verdrehte Körper bleibt unten auf dem Boden regungslos liegen. Aus dem rechten Bein, auf Höhe des Knöchels ragt ein Teil des Knochens aus der fleischig, blutigen Wunde. Der Kopf liegt in unnatürliche Position. Die Beiden anderen registrieren nur kurz das Geschehene, bevor die Panik sie übermannt, und stürmen weiter meinem Eingang entgegen, nur um festzustellen, dass sich meine Tür natürlich nicht öffnen lässt. Ich mag alt und teils brüchig aussehen, aber das ist ja auch Sinn und Zweck der Sache. Ich habe jedes Fenster, jede Tür und jede Ritze in diesem Haus versperrt. Die Ausbuchtungen, in denen ehemals die Fenster mit den aufwendig geschmückten Läden saßen, sind nun ausgefüllt mit festem Steinwerk. Es gibt kein Hinaus!
Hektisch wird nach den Handykameras gefummelt, um Licht ins Dunkel zu bringen. Der Rothaarigen gelingt es als Erste. Sie blickt sich um und erkennt den alten Teppich unter ihren Füßen. Blitzschnell wickelt sich der Leib des alten Persers, wie eine Würgeschlange um den zierlichen Körper der Rothaarigen. Der Umriss des Teppichs gibt den Kampf in seinem Inneren Preis, den Versuch des Menschen, sich zu befreien. Doch der Griff des Bodendekors bleibt unnachgiebig. Die Bewegungen erst heftig und kraftvoll verkommen zu schwachen letzten Zuckungen, ehe der Rothaarigen die Luft ausgeht und der Körper zu einer undefinierbaren, breiartigen Konsistenz zerdrückt wird. Weiteres Blut sickert tief in den Boden, immer weiter hinab…zu mir.
Der verheulte Typ mit Brille ist völlig starr vor Schock. Es wird Zeit, dass ich mich zu erkennen gebe. Das Holz des Bodens knackt bedrohlich, bevor die Dielen nachgeben, brechen und sich langsam auseinanderziehen. Sobald der Spalt groß genug ist, zwinge ich meinen Körper hindurch. Meine Nägel sind schmutzig, lang und am Ende splittrig. Das schabende Geräusch, das bei meinem Aufstieg entsteht, hallt beruhigend in meinen Ohren wider. Ich liebe diesen Moment des großen Finales! Scheinbar ist es mir auch gelungen, beeindruckend zu sein. Der Typ mit Brille blickt mich mit weit aufgerissenen Augen an und mustert meine hagere Gestalt mit einer Mischung aus Furcht und Verzweiflung. Panisch hebt sich sein Brustkorb auf und ab.
„Hast du einen Namen Mensch?“ frage ich. Unter leisem, fast unverständlichem Bibbern höre ich deutlich den Namen Finlay heraus. „Finlay! Was für ein charmanter Name. Herzlichen Glückwunsch, nur du bist noch übrig“, sage ich amüsiert. „Ich habe eine Überraschung für dich, ich werde dich gehen lassen. Du musst mir nur etwas versprechen. Du musst mir versprechen, dein Handy zu nehmen und alles in diesem Haus zu dokumentieren, darüber hinaus wirst du alles, was deine Freunde hier fotografiert, gefilmt und erlebt haben posten, auf jedem Medium, das dir bekannt ist. Erzähl der Welt deine Geschichte und was euch passiert ist.
„Wer oder was bist du?“ murmelt Finlay. „Mein Name ist Archibald Cattermole und ich war einst ein Mensch so wie du. Jetzt bin ich alles hier. Die Gestalt, die du siehst, die Steine, die dir den Weg in die Freiheit versperren, die Holzverzierungen und sogar das Mobiliar in diesem Haus. Ich bin das Haus!“
„Aber wie? Wie geht das? Wie kann ein Mensch ein Haus sein?“ fragte Finlay. „Ich bin kein Mensch, mehr, sondern eine Art Präsents. Was du siehst, ist eine Manifestation des Körpers, den ich einst besaß. Einst war ich der gefürchtetste Mann in ganz Ravenwood. Ich habe gelogen, betrogen und getötet, um große Macht und Reichtum zu erlangen, bis ich mir meinem Können zu sicher war. Es war meine Überheblichkeit, die meinen Untergang besiegelte. Die Dorfbewohner töteten mich an dem Ort, an dem ich mich immer am wohlsten fühlte, meinem Haus. Ich weiß nicht, wie, aber ich blieb nicht tot, ich kehrte wieder und wurde an diesen Ort gebunden. „Ich weiß, das ist ein schwacher Trost für dich aber, wenn du mir hilfst, lasse ich dich gehen.“
„Ich verspreche es“, sagt Finlay ohne großartig nachzudenken. Seine Stimme ist leise und klingt krächzend aber die Spur der Hoffnung auf Freiheit lässt sich klar heraushören. Klar, der kleine Brillenträger will leben und das wird er. Ich kann mein wissendes und freudiges Schmunzeln, welches mein Gesicht Fratzenhaft erscheinen lässt, nicht unterdrücken. Gleichzeitig öffne ich eine meiner Steinwände. Ich kann gar nicht so schnell reagieren, da hat Finlay sich schon durch den engen Spalt gequetscht und rennt, um Hilfe schreiend, die Straße herunter. „Es hat mich sehr gefreut deine Bekanntschaft zu machen, Finlay“ murmle ich leise in die Stille meines Innersten. Ich freue mich schon auf die Story und damit auf die nächsten Gäste, die das Haus sehen wollen, indem so viele ihr Leben lassen mussten. Auf die Meute Schaulustiger, die Ihre Gier nach dem perversen Kick ausleben wollen. Und das wollen sie immer. Ihr Blut nähert mich und schenkt mir die Kraft, mich in dieser Welt zu halten. Es schenkt mir das wovon viele Träumen, die Ewigkeit.

Immo-Wächter

„Zwei Jahre und jetzt das.“ Sprach Sir Siegbert von Thesaurus Architektur mit knarzender Stimme. „Immer das gleiche mit Ihnen.“ Antwortete Micha und machte es sich auf dem staubigen mit Purpur überzogenem Polstersessel bequem. „Und was ist mit Dir Micha? Normalerweise bist du die Ruhe in Person und wir müssen dich fast schon dazu zwingen überhaupt etwas zu sagen.“ Erläuterte Eddy von Fernhausen der so tief im Samtbezogenen Stuhl mit abblätterndem Goldrand saß, dass er beinahe damit verschmolz.

"„Seid still ihr zwei Geister! Sie sind eingetreten“ Zischte es durchs Haus, dass der kleinen Gruppe von zwei Freunden ein kalter Schauer den Rücken runter lief. „Hast du das auch gehört?“ Fragte der 14-jährige, der sich selbst „Mr. Tea“ nannte seine Freundin. „Meist du das knarzen der Balken und das Heulen des Windes, der durch diese Uralte Villa saust. Oder das Gemurmel des Immo-Triumvirats der gerade beratschlagt wie sie uns für immer an dieses Anwesen binden? Ich tippe auf ersteres, du Angsthase!“ Antwortete die gleichaltrige Penny mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Darauf bewegten sich die beiden langsam weiter durch das Anwesen.

„Sind die auch auf der Suche nach dem Porträt deines ersten Herren Sir Siegbert?“ fragte Eddy
leise. „Ja leider.“ flüstere er. „Laut den Kollegen aus dem Silberweg wollen die zwei ebenfalls zum Kreis der Hüter gehören. Ein gewisser Micha hat auf dem Schulhof von einer Legende erzählt, nachdem man ein Immo-Hüter wird und solange lebt, wie sein Immo existiert.“

„Wir haben das riesige Bild über dem Kamin gefunden! Kannst du das Lesen Tea?“ fragte Sarah mit einem fast schon sichtbaren Fragezeichen über ihrem Kopf. „Sicher Penny, dass ist deutsch nur in einer alten Schriftart.“ In einem Atemzug in lauter Stimme liest Mr. Tea vor.

„Dr. Prof. Nick Cage, vom Tor des Immo musst du gehen. Zu sehen des nächsten Weges Recht, fliehe zur Glut am anderen Ort. Stehe und warte und Ruf es laut. Immo hier, Immo dort und ewig fort.“

Die zwei Kinder hörten nun die laute Stimme des alten Spuckhauses durch seine Dielen sprechen. „Ich bin Sir Siegbert, entworfen und gebaut von Thesaurus Architektur. Ihr habt den Weg selbst und freiwillig gewählt. Seid bereit…“