Diesmal ist alles anders
Wie weiche Wattebäusche liegen die feinen blassen Nebelschleier um mich her. Sie sehen so warm und gemütlich aus - doch geneigter Leser wird sich erinnern, dass schon so mancher Verwegener seine letzten Atemzüge in kalter nebliger Umarmung tat. Der Boden ist durch den tagelangen Regen der letzten Wochen weich und rutschig geworden und der Fussweg zu der großen Eichentüre mit den gusseisernen Beschlägen erinnert heute nicht an seine Schönheit. Nun steigt auch von ihm das weiße Wabern empor und die einzelne Laterne etwa drei Meter neben dem blattlosen Eichenbaum, der stolz seine nackten Arme in den dunkelgrauen Himmel streckt, beleuchtet mit ihrem blassen Schein die großen Pfützen und einzelne Blätter, die dunkel die Wegränder schmücken.
Die Nacht steht kurz bevor und die letzten Abendstunden werden berauscht durch die Raben, die auch heute wieder den Baum besuchen und mit ihren Erzählungen seine Wartezeit verkürzen. Ihr Krächzen ist so laut, dass ich trotz geschlossener Fensterläden jedes Wort verstehen kann. Ich seufze. Manchmal, so kommt mir in den Sinn, könnten sie auch eine andere Geschichte erzählen. Doch sie erzählen jeden Vollmondabend dieselbe Geschichte. Und ich vermute auch heute Abend wieder, so wie allmonatlich seit zweihunderunddreizehn Jahren und 15 Stunden, dass ihre Geschichte keine einfache Geschichte ist, sondern der Zauberspruch, der erklingen wird, bis der Himmel seine gesamte Farbe verloren hat. Weit hinten im Osten erscheint das erste kleine Leuchten des Mondes, ein feiner leuchtender Strich, dessen fahles Licht eine Nacht voller Mondblumen verspricht.
Stille möchte einkehren, die donnernde Stille, die allspätabendlich eintritt bevor die Verwandlung geschieht. Ich spüre das leis aufgeregte Zittern der Gesamtheit vor einer Vollmondnacht um mich her. Alles ist ganz aufmerksam, harrend der Dinge, die sich nun entwickeln werden.
Etwas ist anders heute, ich kann es in meinen Knochen und meinen Ziegeln spüren. Was ist es nur?
Ich lausche in die Stille und die feinen Nebelschleier hinaus, die sich immer weiter ausbreiten. Weit hinten, da, wo die gusseisernen Tore die Grundstücksgrenze beschließen hat die Stille ein Ende. Etwas lacht dort, es wird gesprochen. Ich kann die Sprache nicht verstehen, doch es ist laut. Und es riecht ungewohnt und aufdringlich. Ist das etwa der Geruch von Altem, Gebrauten? Der Geruch von Tod, überlagert von etwas Süßlichem?
Die Raben unterbrechen ihre Geschichte und lauschen wie ich zum gusseisernen Tor hin. Ich öffne die Fensterläden ein Stück, damit ich besser hören kann. Doch - das wäre wohl gar nicht nötig gewesen, denn die Geräusche und Gerüche kommen näher. Und näher.
Menschen tauchen auf. Ich seufze erneut. Menschen, die hier auftauchen, sind meistens neugierig, unanständig und riechen aufdringlich und werfen überall ihren Müll herum. Eigentlich würde ich mich gerne wegdrehen, aber die Raben haben ihre Geschichte nicht beendet und so bin ich bewegungsunfähig. Und sprachunfähig, was besonders unfair ist. Denn die Raben sind alles andere als sprachunfähig, allerdings sind sie im falschen Augenblick sehr sprachfaul. So wie jetzt. Sie grinsen in meine Richtung und dann in Richtung der Gruppe von Menschen, die da durch das Wabern des Nebels im heller werdenden Mondlicht die Schönheit der Mondblumen zertrampeln, ohne sie überhaupt wahrgenommen zu haben. Es sind fünf von ihnen und drei haben Flaschen in den Händen. Der Geruch, der aus diesen Flaschen steigt übertäubt die weißen Nebelfäden, die von ihren bewegten Füßen nach vorn und hinten zur Seite gestoßen werden und sich hinter ihnen verdichten. In den letzten zweihundertunddrei Jahren waren viele Male Menschen hier. Einige länger, andere kürzer. Und in den letzten dreiundvierzig Jahren waren nur noch selten Menschen da und das auch nur für sehr kurze Zeit. Meine Knochen pieksen mich, während ich den letzten Menschenbesuch kurz in mein Gedächtnis rufe. Ich seufze. Warum nur erzählen die Raben ihre Geschichten nicht zu Ende, wenn Menschen hier auftauchen?
Doch heute ist etwas anders. Ganz anders. Und das kann ich in meinen Knochen spüren.
Ein Rabe beginnt nervös zu plappern. Er ist noch sehr jung und er sieht zerrupft und wild aus. Ich kneife meine oberen Augen zusammen. Habe ich ihn schonmal gesehen? Hat er blaue Augen? Just als ich ihn fast sehe wird er von einem anderen Raben angestoßen und fällt beinah vom Ast. Der Stoß war hart und bestimmt - und er muss ein paar seiner Federn lassen. Lautlos gleiten sie schwarzblauglitzernd durch die Luft - und schweben Richtung Erde. Der Baum folgt ihnen mit seinem Blick - so etwas hat es hier noch nie gegeben. Ein vorlauter Rabe, der plappernd Federn lässt, die außerordentlich langsam zur Erde schweben. Scheinbar ist das Schweben der Federn so laut, dass die plötzlich eingetretene Stille uns auf die Füße fällt. Ein spitzer Schrei durchdringt das grauweiße Wabern - warum schreien Menschen so oft? Die Nebelfäden werden dichter und dichter.
Die Raben sind im großen Baum unsichtbar und die Federn schweben scheinbar aus dem Nichts. Bis der zerrupfte Rabe wieder zu plappern beginnt. Die anderen Raben starren ihn aus ihren orangenen Augen leuchtend an, doch er hat seine Augen zugekniffen und plappert konzentriert drauflos. Er plappert so schnell, dass ich ihm kaum folgen kann. Ich kann fühlen, dass er die Geschichte zu Ende erzählt und ich sehe, wie er die Stöße und Rufe der anderen Raben einfach ignoriert. Die Menschen rufen etwas, der Rabe plappert und ich sehe seine blauen Flecken größer werden und seine Federn sind noch immer nicht auf dem Boden angekommen. Was ist das nur?
Endlich. Der Rabe hat aufgehört zu plappern und wird wieder unsichtbar. Es wird wieder still. Sehr still. Ist das jetzt die große Stille? Die, die diesen Abend kommen muss?
Sind die anderen Raben noch da? Ich sehe, wie der Baum sich leis im Wind schüttelt und die Nebelfäden sich an ihm nach oben schieben. Der Boden ist inzwischen nicht mehr sichtbar und der Mond schon ein Stück weiter ins Sichtfeld gerückt. Die Menschen haben sich offenbar entschieden weiter zu gehen und sie haben den Baum fast erreicht.
Die Federn haben den Boden noch immer nicht erreicht.
Ein leises Knurren tönt an meine Fensterläden. Es kommt aus der Richtung des Baums, der entschieden seine Arme nach oben in das Mondlicht streckt. Erste Mondblumen am Fusse des Baumes lassen ihr blasses Licht erstrahlen, dass sogar die Nebeldichte durchdringt.
Ich fange an zu beben. Es beginnt leise summend tief unter mir, überträgt sich auf meine Seiten und klettert langsam hoch bis in die Spitze des Daches. Schummrig ist mir zumute und ich fühle mich lebendig wie schon lange nicht mehr. Das Beben hat die Stille durchdrungen und alles um mich herum beginnt zu raunen, zu singen, zu klappern. Ich versuche mich an die Worte zu erinnern, die der Rabe mit großer Geschwindigkeit ausgestoßen hat. Was hat er verändert, was passiert?
Klappernd und rasselnd schaue ich zum Baum, der seine Arme im Mondlicht schüttelt. Er genießt es, ganz offensichtlich, seine Äste strahlen im fahlen Mondglanz und der Nebel hat seinen Stamm fast völlig verdeckt. So entgeht den Menschen, dass sein Stamm von innen heraus zu glühen beginnt. Es wird heller und heller - bis es schließlich abebbt - und das Beben ebenfalls. In dem Moment erheben sich alle Raben und fliegen lautlos davon. Nein, ein Rabe sitzt noch auf seinem Platz - der zerrupfte Rabe, dessen herabschwebende Federn mit dem blauen Glitzern den Boden noch immer nicht berührt haben.
Die Menschen machen einen Bogen um den Baum. Sie steuern auf mich zu, auf meinen Eingang. Ich kann es fühlen - gleich, gleich kann ich mich erheben. Ich öffne meine Türen weit einladend für sie, auch alle Fenster, sogar die Gitterstäbe an den Kellerfenstern sind weit geöffnet. Noch etwas tritt mit den Menschen in die riesige Eichentür, ein heller Schatten, diffuses Licht aus dem Nebel gekommen. Doch ich kann es nicht verhindern, denn nun wird mein Inneres lebendig und ich unbändig. Ich schließe Fenster und Türen und Gitter und erhebe mich. Das, was gerade hineingekommen ist wird nun ein fester Teil von mir und gehört zu mir - so wie es schon immer war. Die Erde erbebt erneut, als ich meine Beine durchstrecke, meine Beine aus Wurzeln, Fasern und Steinen. Ich ächze, als ich sie langsam durchstrecke. Endlich, endlich kann ich meinen Weg zur Frau Mond beginnen. Ich drehe mich um, schaue die Mondin an, der nun vollständig sichtbar ist und beginne meinen langen Weg, dicht gefolgt von der Eiche, die zu mir gehört wie mein inneres zitterndes Atmen.
Der Rabe sitzt im Baum und lässt sich von ihm mit forttragen. Die Federn schweben nach wie vor Richtung Erde und die Bewegung des Baumes hält sie nicht im Mindesten von ihrer nach unten strebenden Zielrichtung ab.
Es zieht mich magisch in die Richtung der Mondin. Ich kann die Richtung nicht ändern, mein innerer Wille ist stärker als mein kleinerer Wille diesen Vollmond einfach mal woanders hinzugehen. Einmal woanders hin als in den letzten 213 Jahren, die letzten 2627 Mondphasen. Nur ein Mal. Aber es zieht mich auch dieses Mal wieder in die Richtung der Mondin, der riesig und hell den nächtlichen Himmel erleuchtet und ihr blasser Schein umgibt wie ein tröstlicher Mantel mein Sein. Etwas ist anders diesmal, ich kann es in meinen Knochen spüren und meine zittrigen Ziegel wollen beinah abspringen vor lauter Spannung.
Wiegend bewege ich mich voran. Ein Bein vor das andere, langsam, bedächtig, knarrend und in mir knurrend. Fokussiert auf das Fortschreiten, den Blick Richtung Mondin. So wie es sein muss. Seit 213 Jahren.
In mir ist es unruhig. Hin und her, auf und ab - laute Stimmen und schlimme Gerüche belasten mein Inneres. Es fällt mir immer schwerer mich auf mein Fortschreiten zu fokussieren. Die Menschen machen zuviel Lärm, während sie einen Raum nach dem anderen im Haus erkunden. Jedenfalls die Räume, deren Türen unverschlossen sind. Prinz Mabon, der große Hexer, der mit seiner holden Aglika einst dieses Haus erbaute hat viele Geheimnisse gewebt. Zu viele Geheimnisse. Und nicht alle von ihnen werden sich den Menschen preisgeben. Nur denen, die mit reinem Herzen da sind, nicht aus Neugier. Und diese 5 Menschen, die da in mir Unruhe machen, gehören offenbar nicht dazu. Sie rütteln an den verschlossenen Türen, die jedoch nur zurückrütteln. Sie betrachten die Gemälde, die seit so vielen Jahren hier hängen und stellen fest, dass es Originale sind, die in der Welt da draußen wohl Millionenwert hätten, sich jedoch nicht von den Wänden ablösen lassen. Sie wissen nicht, dass sie ein Teil davon sind, so wie sie selbst es jetzt auch sind. Es sei denn… ja, es sei denn sie entschlüsseln das Geheimnis der Freiheit.
Ich bleibe stehen. Es ist Zeit, ich weiß es. Ich öffne die Vordertür und sofort springt ein Mensch hinaus. Ich schließe die Tür sogleich wieder und drehe mich ein Stück weiter herum. An der zugeklappten Türe wird nun die Schrift erscheinen, die Aglika, auf der Suche nach Freiheit, einst dorthin zauberte. Meine Fasern erzittern, als die Buchstaben am Türinnern erscheinen. Sie leuchten hell auf und werden nun für einige Stunden sichtbar sein. So wie alle Hinweise, die damit zusammenhängen. Die vier verbleibenden Menschen haben nun vier Stunden Zeit etwas in ihrer Lage zu ändern, bevor sie in die Gesamtheit eingehen. Aglika meinte es stets gut mit Menschen. Sie war eine wundervolle Frau, die mich so gut pflegte wie sie konnte. Es standen immer frische Blumen im Haus und verbreiteten ihren wunderbaren Duft. Sie liebte ihre Kräuter im Garten und ihren weißen großen Hund, der ihr auf Schritt und Tritt folgte.
Da - der weiße helle Schatten aus dem Nebel taucht plötzlich neben der Eingangstür auf. Ich erzittere. Was ist das? Doch eigentlich weiß ich es. Es ist der große weiße Hund von Aglika und der zerrupfte Rabe hat etwas damit zu tun. Ist Aglika selbst endlich zurückgekehrt? Wird heute alles ein Ende finden? Ich schaue zum Baum, der seine Arme im Mondlicht ausstreckt. Der Rabe sitzt noch immer da, fast unsichtbar, still, wartend. Die blauschwarzglitzernde Feder hat den Boden noch immer nicht berührt.
Ich muss weiter. Ich überlasse die Feder dem Raben, das Mondlicht dem Baum und die Menschen dem hellen Nebelschatten und setze meinen Weg fort. Sollte es heute - aufgeregt zittern meine Ziegel - sollte es heute wirklich soweit sein? Dann will ich an ihrer Seite sein, an der Seite von Frau Mond. Als ich mein Bein hebe fallen einige Steine zur Erde. Ein dumpfer Schrei folgt - doch ich muss weiter. Ich höre das Flüstern des Prinzen Mabon. Die Unruhe in mir wird zur Stille, die Menschen rücken zusammen und flüstern ebenfalls. Ich fühle ihre Angst und ihr Unwohlsein. Ich fühle auch den großen weißen Nebelschatten vom großen weißen Hund, der Ruhe ausstrahlt und Vertrauen. Wird es reichen?
Ich wende mich ab, hin zu Frau Mond. Meine Geliebte, mein Trost. Ich versuche schneller voran zu kommen, denn ich möchte bei ihr sein. Eine große Sehnsucht durchzieht mein Gemäuer, so groß wie schon sehr sehr lange nicht mehr. Meine Dielen zittern, die Fensterläden klappern. Ich möchte endlich bei ihr sein.
Die erhöhte Schrittgeschwindigkeit meinerseits führt offenbar zur Übelkeit einiger Menschen in mir. Neben den unwohligen Gerüchen, die sie bei sich tragen kommen nun neue unwillige Gerüche und Geräusche dazu, die ich mir selbst lieber erspart hätte. Aber wer könnte schon auf die Aussicht auf Frau Mond langsam sein? Die Zeit vergeht, still und unbemerkt, so wie nur die Zeit das kann. Sie ist wie eine unsichtbare Last auf den Schultern des Universums und wer hinter ihr herläuft, der hat alles verloren. Die wenigsten Menschen wissen das und so werden aus Minuten schneller Stunden, als ein Mensch jemals greifen könnte. Ein Rätsel haben die Menschen tatsächlich gelöst - und der große helle Nebelschatten ist immer dabei. Ich bleibe stehen und werfe einen Blick hinein, in die große Halle mit den vielen bunten Gemälden, die die Wände halten. Es ist ein fröhlicher Raum mit vielen Lichtern und allen Farben, die eine menschliche Farbpalette bieten könnte. Aglika hat diesen Raum sehr geliebt und offenbar haben die Menschen beschlossen hier ihre Besprechungen abzuhalten. Vielleicht ist dieser Umstand dem hellen Schatten geschuldet, oder vielleicht hat auch einer der Menschen ein größeres Magieempfinden, als es die anderen bisher hatten. Dieser bunte Raum ist vor Mabons Hexerei fast komplett geschützt. Man kann es natürlich fühlen, aber die Menschen sind magischen Dingen gegenüber ja nach und nach immer mehr abgestumpft. Erst haben sie alles verbrannt, was nach Magie aussah und dann haben sie es einfach vergessen. Doch Magie lässt sich nicht einfach wegoptimierten. Fast alles kann überschrieben werden, optimiert werden. Doch echte Magie ist echte Magie. Ich betrachte die Menschen eingehend. Sie wirken verloren und ängstlich. Sie sind ganz unterschiedlich, hell und dunkel, haben sehr unterschiedliche Auren. Von tapfer über träge bis hin zu verzweifelt ist alles dabei. Da klopft es an das große Flügelfenster. Der zerrupfte Rabe sitzt davor. Ich werfe einen Blick zum Baum. Doch der Baum ist nicht da. Ist nicht da? Ich drehe mich herum und suche meinen Baum. Er ist nirgends zu sehen. Panisch laufe ich los, zurück zur letzten Pause, doch auch hier ist der Baum nicht. Ich laufe zurück und weiter und rufe, so laut ich kann nach meinem Baum. Doch er bleibt verschwunden. Frau Mond ist schon ein gutes Stück näher gerückt.
Die blauglitzernde Feder schwebt einsam dem Boden entgegen, weithin sichtbar, ohne den Baum.
Mein Dach hängt herab, immer wieder verliere ich eine Ziegel, die Fensterläden rappeln bei jedem Schritt von rechts nach links und die Knochen im Keller klappern. Die Trauer drückt mich fast in den Boden hinein, aus dem ich doch gerade erst auferstanden bin. Ich weiß nicht, was los ist und das war noch nie so. Ich wusste immer, was los ist. Bis der zerrupfte Rabe auftauchte. Der zerrupfte Rabe! Abrupt bleibe ich stehen. Der weiß sicher die Antwort!
Ich schaue in mich und dort sehe ich, dass die Menschen, scheinbar gemeinsam mit dem Raben, bereits das dritte Rätsel lösen konnten. Doch das interessiert mich im Moment nicht. Ich brauche Antworten! Ich rufe den Raben, zwei-, dreimal rufe ich ihn. Nach dem dritten Mal erhört er mich, doch ich bin absolut sicher, dass er mich schon beim ersten Ruf gehört hat.
Wo ist mein Baum? Wer bist du? Was bedeutet die Feder? Was ist los? Überstürzt purzeln die Fragen aus mir heraus. Der Rabe hört zu und putzt währenddessen sein schwarzblauglänzendes Federkleid. Dann blickt er mir direkt ins Herz. Mit seinen blauen, unfassbar durchdringenden Augen blickt er mir direkt ins Herz. Durch alle meine Schichten hindurch. Ich erbebe bei diesem Blick, doch ich habe keine Angst. Ich hatte noch nie Angst vor uns in der der Alleinsheit. Das weiß der Rabe natürlich. Und doch erklärt er, dass es nicht um Angst geht. Es geht um den Tod. Natürlich geht es um Den. Es geht immer um Den. Ich verdrehe genervt meine Fensterlädenangeln. Wie langweilig. Der Rabe schmunzelt. Ich weiß nicht genau, ob Raben das überhaupt können, aber wenn es ein Rabe kann, dann der zerrupfte Rabe, der hier auf dem alten goldenen Kronleuchter sitzt.
Der Rabe eröffnet mir dann, dass dies ein Rätsel sei. Ein Rätsel der Zeit. Für mich. Zur Abwechslung sozusagen. Denn, wenn alles so weiterliefe wie bisher in dieser Nebelnacht, würden die Wunder geschehen, an die Aglika glaubte und die Prinz Mabon hatte weghexen wollen. Die Raben waren sein Werk gewesen. Sie waren mittlerweile mehrere Hundert Jahre alt und dienten verschiedenen Hexern. Er aber, der zerrupfte Rabe, war von einem anderen Ort gekommen.
Er zwinkert mir zum Abschied zu und fliegt dann wieder zu den Menschen, die verwirrt vor der Kellertür stehen und die Tür nicht aufschließen können. Ich bin auch verwirrt. Ich schüttel mich durch, so gut ich kann, damit ich wieder etwas klarer sehen kann. Dann geht es weiter. Schritt vor Schritt stapfe ich vor mich hin, mit klappernden Ziegel, damit ich besser das Rätsel lösen kann.
Da höre ich sie flüstern - Frau Mond. Sie flüstert mir zu. Sie flüstert immer, wenn ich ihr nah komme und nicht weiter weiß. Ich liebe ihr sanftes Flüstern. Sie flüstert über Odin, sie flüstert über alte Geschichten. Über Raben, die von den Göttern geschickt werden und die alles an seinen rechten Ort bringen. Sie flüstert mir zu, dass ich mich weiter rechts halten soll, dorthin, wo das große leere Feld steht. Dort wird sich heute Nacht etwas manifestieren, etwas, was bereits seit zweihundertdreizehn Jahre vertrocknet war.
Natürlich, Frau Mond hat ja von dort oben einen wunderbaren Blick über alles. Sie ist die Göttin der Zyklen und des erdigen Wissens. Dies ist wohl zum Teil des Rätsels Lösung. Doch warum schickt Odin seinen Raben jetzt? Doch vielleicht ist die Antwort auf diese Frage kein Teil der Lösung. An den Ort, an den ich gehen soll gibt es viele Bäume. Es ist ein Ort der sehr alten Bäume. Jeder kennt diesen Ort, die Macht hier ist so groß, wie sie nur bei sehr alten Bäumen sein kann. Und nun, im vollen Mondschein der Mondin strecken sie alle ihre Arme zu ihr und erfragen ihren Segen. Ich seufze tief auf. Ich wünschte so sehr mein Baum wäre jetzt hier. Es wäre eine solche Freude für ihn, er wäre so glücklich hier!
Ich bin so beschäftigt mit mir selbst, dass ich die Menschen in meinem Gemäuer ganz vergessen habe. Ich werfe einen kurzen Blick auf ihr Tun und sehe, dass sie es nicht schaffen werden. Wieder einmal. Die Zeit ist fast abgelaufen und sie verstehen die Hinweise des Raben nicht. Sie sind so sehr in ihrem Menschsein und ihrer Sprache gefangen. Ich möchte ihnen helfen. Ob es diesmal klappen wird? Diesmal ist alles anders, sogar die Kellerknochen liegen anders. Sie stehen auf dem Kopf.
Beim letzten Mal wurde ich gewarnt als ich half - und das ist alles insgesamt nicht gut gegangen. Der finstere Prinz hat es gewusst, wie auch immer das möglich war, er hat gewusst, dass ich helfen wollte und hat die Menschen in entzückende, dunkle Statuen verwandelt, die nun einen Teil von seinem Vorzimmer schmücken. Und dann hat er daraus ein weiteres Rätsel gemacht. Mabon - der dunkle Prinz, der Gottsohn Loki den Platz streitig machen wollte und immer noch will. Doch nun bin ich hier, habe den Wald mit der Weite daneben erreicht. Die Bäume mustern mich von der Seite her, als fürchten sie um ihren Segen. Doch Teilen verdoppelt stets und hier muss niemand um seine Kraft bangen. Frau Mond weiß bestimmt einen Rat, sie weiß immer einen Rat. Sie hat sicher eine Idee, was die Menschen tun müssen.
Ich schaue mich um, zu dem Platz, an dem mich über zwei Jahrhunderte mein Baum begleitet hat. Die Feder hat den Boden beinah erreicht. Nur noch ein kleiner Hauch, und sie würde ihn berühren. Ich ahne, dass damit alles vorbei ist. So - oder so.
Ich, das alte Haus am Ende der Rabengasse bin nun am Ende eines Seins angelangt. Diesmal ist alles anders. Ich kann es in meinen Knochen spüren.