Schatzsuche
Als die beiden Abenteuerinnen die hölzerne, 200 Jahre alte Treppe hinaufsteigen, lasse ich die Dielenbretter bei jedem ihrer Schritte ächzen und knirschen. Normalerweise tue ich so etwas nicht, da ich das als unfein und als ein Mangel an guten Manieren ansehe, aber im Fall dieser beiden vorwitzigen Entdeckerinnen mache ich eine Ausnahme.
Ich nehme wahr, wie der Schein ihrer Taschenlampen über die Tapeten streifen, deren Muster und Farben schon lange verblasst sind. Ich nehme wahr, wie ihre Füsse vorsichtig über den staubbedeckten Dielenboden tapsen (den Staub werde ich leider nicht los, obwohl ich regelmässig alle meine Fenster öffne und kräftig durchlüfte).
Eine wilde Vorfreude überkommt mich, beim Gedanken an das Kommende.
Jetzt müssten sie es eigentlich jeden Moment entdecken.
Sie sind noch drei Schritte davon entfernt, zwei, einen…
«Margarete schau mal.», sagte die kleinere Entdeckerin und leuchtet auf den Schriftzug, der in roten Buchstaben an der Wand prangt.
«Was steht da?», fragt die Kleinere die Grösse, die bereits angestrengt auf die Lettern starrt.
Ich halte diesen Schriftzug ja für ein Meisterwerk, vor allem wenn man daran denkt, dass ich ja gar keine Hände besitze.
«Sei still.», antwortet die grössere Abenteuerin, «Das ist ziemlich schwierig zu lesen, äh ich meine zu übersetzen. Ausserdem hat, der der das geschrieben hat offenbar eine richtige Sauklaue.»
Das verletzt mich nun doch ein bisschen und dämpft den Spass, den ich bei dieser Angelegenheit empfinde, aber zum Glück nur kurz.
«Da steht: „Was dringt durch die Wand und ist dennoch kein Nagel?“», buchstabiert, äh ich meine übersetzt die grössere Abenteuerin mühsam.
Ratlos sieht sie die Kleinere an.
Diese runzelt die Stirn und fragt: «Und was machen wir nun damit? Sollen wir einen Nagel in die Wand einschlagen?»
Ich erschauere unwillkürlich, so dass alle in mir verbauten Bretter gepeinigt aufächzen. Ich kann zwar keinen Schmerz wie ein Wesen aus Fleisch und Blut empfinden, aber es ist mir dennoch unangenehm, wenn man mich beschädigt.
«Äh, nein ich glaube das müssen wir nicht.», sagt die Grössere der beiden denn auch schnell, «Ich glaube vielmehr, das ist ein Rätsel. Wenn wir es lösen wissen wir, was wir tun müssen.»
Leise kichere ich in mich hinein, so dass alle in mir verbauten Bretter ganz leicht vor Belustigung vibrieren. So leicht machte ich es den beiden dann natürlich auch wieder nicht.
«Hmm, ein Rätsel also.», sagt die Kleinere und legt ihre Stirn in nachdenkliche Falten.
Auch der Grösseren sieht man an, dass sie angestrengt nachdenkt.
«Etwas das durch die Wand dringt, aber kein Nagel ist.», sinniert die Kleinere, dann hellt sich ihr Gesicht plötzlich auf.
«Ich weiss es», ruft sie triumphierend, «Es ist eine Schraube. Denk doch daran Margarete, als Vati das Bild in seinem und Muttis Schlafzimmer aufhängen wollte. Zuerst hörten wir den Lärm der Bohrmaschine und dann brach die Schraube durch die Wand des Kinderzimmers.»
«Elisabeth, das ist sicher nicht die Lös…», setzt Margarete zu einer gereizten Erwiderung an und brach dann ab.
«Was hast du eben gesagt.», ruft sie aufgeregt.
«Äh, die Schraube brach durch die Wand des Kinderzimmers?», antwortet Elisabeth verwirrt.
«Nein davor.», antwortet Margaret nun vor Aufregung auf den Fussballen wippend.
«Äh,», Elisabeth reibt sich die Stirn, als sie sich angestrengt zu erinnern versucht, was sie denn gesagt haben könnte, dass ihre Schwester derart in Aufruhr versetzt haben könnte, « Denk doch daran Margarete, als Vati das Bild in seinem und Muttis Schlafzimmer aufhängen wollte. Zuerst hörten wir den Lärm …»
«Lärm.», jauchzt Margarete, «Das war es.»
Sie dreht spontan eine Pirouette. Auf einem Bein. Ich finde das beeindruckend. Ich kann so etwas natürlich nicht. Ich habe keine Beine und mein Fundament lässt sich nicht drehen. Als ich es einmal versuchte bin ich beinahe zusammengestürzt.
Margarete hat ihre Pirouette beendet und schaut ihre Schwester mit funkelnden Augen an.
«Elisabeth.», sagt sie, «Was dringt durch die Wand und ist weder ein Nagel noch eine Schraube?»
Elisabeth schaut sie verwirrt an, aber nur kurz, dann breitet sich auf ihrem Gesicht ein Grinsen aus.
«Lärm.»
«Oder ein Geräusch.», Margarete reibt sich zufrieden die Hände, «Klopfen wir doch mal die Wand ab. Vielleicht dringt ja eines der Klopfgeräusche hindurch»
Die beiden Abenteuerinnen beginnen damit die Wand um den Schriftzug herum abzuklopfen.
Ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell darauf kommen. Den Schritt von der Lösung des Rätsels zu dem Gedanken, dass man, da ein Geräusch ja eine Wand durchdringen kann, aufgrund des Klangs eine Klopfens an der Wand feststellen kann, ob sich dahinter ein Hohlraum befindet, hatte ich eigentlich für grösser gehalten.
Die beiden brauchen nicht lange, bis sie bemerken, dass ihr Klopfen auf einer Fläche etwas unterhalb des Schriftzugs anders tönt, dumpfer als andernorts.
«Da ist also unsere Tür.» sagt Margarete zufrieden, «Jetzt müssen wir sie nur noch aufkriegen und wir sind einen grossen Schritt näher an unserem Schatz.»
Die beiden beginnen damit die Wand um die versteckte Tür herum abzuklopfen und nach einem versteckten Schalter oder etwas Ähnlichem zu suchen.
«Ha.», sagt Elisabeth plötzlich und zieht an einer kaputten, in die Wand eingearbeiteten Lampe. Die bewegt sich keinen Millimeter. Kein Wunder, schliesslich ist es auch kein Schalter sondern lediglich eine kaputte Lampe. Da ich jedoch der Meinung bin, dass die beiden nun lange genug gesucht haben, lasse ich den Verschluss der Tür dennoch mit einem lauten Klick aufschnappen.
Margarethe ist sofort zur Stelle und drückt die etwa 75 Zentimeter hohe Klappe auf.
«Gut gemacht Elisabeth.», sagt sie, begibt sich auf alle Vieren und kriecht in den niedrigen Gang, der hinter dieser kleinen Tür beginnt.
Elisabeth zögert kurz, aber dann folgt sie ihrer Schwester. Kaum, dass auch sie über die Schwelle gekrabbelt ist, lasse ich die Klappe hinter den beiden ins Schloss fallen.
Sie erschrecken sich kurz, doch kriechen dann mutig weiter.
Im Gang ist es stockfinster und wenn man auf allen Vieren kriecht, kann man nicht gut mit einer Taschenlampe umherleuchten. Stetig führt der Gang abwärts immer tiefer in meine Eingeweide hinein. Elisabeth muss immer wieder niesen von all dem Staub in dem engen Gang und es ist ein grosses Glück, dass sich die Beiden nicht vor Spinnen fürchteten, denn diese bevölkern den Gang in grosser Zahl.
Endlich gelangt Margarethe an eine Wand, in die eine weitere kleine Tür eingearbeitet ist, die sie mit einer kleinen Türklinke öffnen kann.
Durch diese Tür gelangen die beiden, staubbedeckt und mit Spinnweben im Haar, in meine grösste Küche, die im Keller direkt unterhalb des grossen Speisesaals liegt.
Vieles ist aus dieser Küche ausgebaut worden, so dass nur noch ein gemauerter Herd und einige Einbauschränke darin verblieben sind. Und an der einen Seite des Raumes, gibt es einen Speiseaufzug. Mit diesem konnte man das Essen schnell und einfach von der Küche in den darüberliegenden Anrichteraum bringen, von wo aus es dann in den daran angrenzenden Speisesaal getragen und serviert wurde. Diese Zeiten sind freilich schon lange vorbei, aber der Aufzug funktioniert noch.
Die beiden Abenteurerinnen, werden jedoch sogleich von etwas anderem abgelenkt.
An der, dem Speiseaufzug gegenüberliegenden Raumseite, hören sie ein Rascheln, ein Scharren und ein Quieken.
Sie richten zögerlich ihre Taschenlampen darauf und erstarren.
Dort drängten sich etwa drei Dutzend hungrige Mäus…, äh ich meine drei Dutzend riesige, blutrünstige Ratten.
Die Tiere blinzeln einen Moment verwirrt ins Licht und stürmen dann los.
Die beiden Entdeckerinnen sind zwar schneller als ihre Verfolger, aber an die Wand, an die sie die Bestien treiben, hat es keine Tür. Es hat nur den Speiseaufzug.
Kurz entschlossen klettern die beiden hinein.
Kaum sitzen sie drin, setze ich den Aufzug in Bewegung. Dabei gebe ich gut darauf Acht, dass der Aufzug schön langsam und gleichmässig fährt, damit sich keine der beiden Schwestern verletzt.
Oben angekommen, steigen die beiden aus dem Speiseaufzug aus, leuchten kurz mit ihren Taschenlampen in dem kleinen Anrichteraum herum und verlassen ihn dann durch die Tür zum Speisesaal.
Der Speisesaal war einst ein prächtiger hoher Saal mit prunkvoller Ausstattung, in dem bis zu 50 Gäste bewirtet werden konnten. Ich empfand ihn immer als zu gross und zu überladen. Heute ist von der einstigen Pracht nicht mehr viel zu sehen. Nun ist es nur noch ein riesiger, düsterer Saal mit einem dreckigen Fussboden und hohen, noch dreckigeren Fenstern.
Die beiden Entdeckerinnen leuchten neugierig in dem riesigen Raum herum, auf der Suche nach einem weiteren Hinweis.
Sie müssen nicht allzu lange suchen, bis sie den blauen Schriftzug an der Wand entdecken.
„Dieser Ort ist ungemütlich,
drum ist hier kein Schatz, vermutlich.
Kommt dorthin wo ich kann sprechen
und ich geb ihn euch, dies ist ein Versprechen.“
Ich gebe zu, es ist ein lausiger Reim, aber er erfüllt seinen Zweck.
Margaretes Augen leuchten auf und nachdem sie den Satz Elisabeth vorgelesen hat, leuchten auch deren Augen.
Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, stürmen die beiden aus dem Speisesaal, durch den langen Gang, eine Treppe hinauf, um die Ecke und stossen die Tür zu der kleinen Bibliothek mit Kamin auf.
Die kleine Bibliothek ist das einzige Zimmer in mir, das noch immer vollständig möbliert ist. Allen die es ausräumen wollten, habe ich den Zugang verwehrt und die Türe verschlossen gehalten. So stehen in dem kleinen Raum immer noch gefüllte Bücherregale, in deren Mitte ein grosser, roter Polstersessel und ein kleines, rotes Sofa um einen kleinen, blank polierten Holztisch stehen. Die Sessel und das Sofa sind einem kleinen Kamin zugewandt, in dem ein kleines, lustiges Feuerchen flackert, das den Raum erhellt und mit Wärme erfüllt.
Die Augen der Entdeckerinnen ruhen jedoch auf der kleinen Truhe auf dem Holztisch und auf dem grossen goldenen Grammophon daneben, das einzige Gerät durch das ich mit Menschen sprechen kann.
«Hallo zusammen.», sage ich und meine Stimme dringt wie immer leicht scheppernd aus dem Grammophon, «Wie hat euch die Schatzjagd heute gefallen?»
«Sie war spitze.», antwortet Margarete und strahlt, «Den kleinen Geheimgang in die Küche habe ich noch gar nicht gekannt.»
Ein vorwurfsvolles Fiepen erklingt und die beiden Entdeckerinnen, die nun wo das Spiel aus ist, wieder zwei kleine Mädchen sind, wenden sich dem roten Sessel zu.
Auf diesem sitzen drei Dutzend riesige, blutrünstige Ratten, die nun wo das Spiel aus ist nur noch friedliche Mäuse sind, die aufgrund ihrer schauspielerischen Meisterleistung entsprechend gelobt und belohnt werden wollen.
«Ja natürlich.», sagt Elisabeth mit ihrer hohen Kinderstimme, «Ihr wart klasse. Ich habe für einen Moment richtig Angst gekriegt.»
Margarete hat inzwischen einen grossen Laib Weissbrot aus einer Tasche genommen, die sie die ganze Schatzjagd über mit sich herumgetragen hat und legt ihn den Mäusen hin, die sich dankbar darüber hermachen.
«Und ihr selbst wollt euch nicht belohnen?», lache ich leise und öffne dabei langsam den Deckel der kleinen Truhe auf dem Tisch. Darin befinden sich viele Dutzend Schokoladentaler.
Margarete und Elisabeth jubeln und nahmen sich jeder einen. Dann schliessen sie die Truhe wieder.
«Versteck sie doch mal woanders.», meint Margarete, «Dann wird das Spiel noch interessanter.»
«Mal schauen.», antworte ich, «Dies ist eigentlich das gemütlichste Zimmer, aber es gibt auch noch ein zwei andere interessante Plätze in mir und meine kleinen Mäusefreunde könnten das Grammophon vielleicht dorthin transportieren.»
Elisabeth zupft plötzlich aufgeregt an Margaretes Ärmel.
«Margarete was ist für Zeit?»
Margarete sieht auf ihre Armbanduhr und schlägt sich die Hand vor die Stirn.
«Höchste Zeit ist es.», sagt sie aufgeregt, «Tut uns leid aber wir müssen zurück bevor Vati und Mutti noch merken, dass wir weg sind. Wir kommen nächsten Samstag wieder.»
«Ich werde da sein.», sage ich mit einem Lachen.
«Du bist das beste Haus der Welt.», rufen die beiden Mädchen, bevor sie das Kaminzimmer verlassen.
Ich verfolge ihren Weg nach draussen.
Caprini, der Anführer der Mäuse setzt sich neben das Grammophon und knabbert zufrieden an einem Stück Brot. Dann sagt er, was er jedes Mal sagt, nachdem die Mädchen gegangen sind.
«Ist ja schon witzig, dass ein Haus mit deiner Vergangenheit zum Abenteuerspielplatz für zwei kleine, freundliche Mädchen wird.»
Ich antworte, was ich jedes Mal antworte, wenn er diese Bemerkung macht: «Nach all dem Blut, das auf meinen Dielen vergossen und auf meinen Tapeten verspritzt worden ist und nach all den Schreien und dem Weinen, dass in meinen Gängen und Fluren erschallt sind, tut es gut, wenn das Lachen kleiner, unschuldig spielender Mädchen durch meine Räume perlt.»