Am Ende des Rabenwegs stehe ich, verlassen und von Gräsern und Gestrüpp überwuchert, die sich durch meine Spalten und Risse bewegen. Seit Jahrzehnten sind meine Fenster blind und das Glas ist zerstört. Selbst Vögel meiden mein Dach, weil es löchrig ist. Seit ich das letzte Mal Leben in meinen Mauern gespürt habe, sind zwei Jahrhunderte vergangen. Einst war mein Haus voller Leben und Lachen, jetzt ist es ein leiser Zeuge der Vergänglichkeit und der Zeit.
Trotzdem merke ich heute Nacht eine Veränderung. Es gibt etwas in der Luft, das vibriert. Ich höre, wie Menschen näher kommen. Zuerst dachte ich, es könnte eines dieser Kinder sein, die gelegentlich meine Fenster mit Steinen bewerfen oder mich mit Graffiti beschmieren. Aber nein, diese Schritte sind unterschiedlich. Bedächtig, fast höflich. Mit einem ächzenden Geräusch öffnet sich die Tür, und ich spüre, wie Menschen in mich eintreten. Ihre Herzen pochen vor Aufregung, ihre Atemzüge sind schnell. Es ist zweifellos ein Abenteurer, der mit Taschenlampen und Karten ausgestattet ist. Als sie durch meine leeren Zimmer gehen, in denen der Staub der Jahrhunderte liegt, höre ich sie flüstern. Ich war für einen Moment hin- und hergerissen. Soll ich diesen Einbrechern mit knarrenden Fußböden und fallenden Mauerteilen meine Missbilligung zeigen? Oder soll ich sie, selbst wenn es nur vorübergehend ist, als Zeichen meiner Einsamkeit und meines Wunsches nach Gesellschaft begrüßen? In mir tobt ein Kampf, der zwischen Recht und Leidenschaft hin und her pendelt. Es ist unrecht und steht unter Strafe in mich einzubrechen. Ich bin ein geschützter Raum und ich gehöre einem Menschen, auch wenn mein Mensch schon viele Jahre nicht mehr zu Besuch war. Er hat mich schon lange verlassen und doch sind die Besitzverhältnisse klar definiert. Auf der anderen Seite schmerzt meine Einsamkeit mich tief. Ich möchte wieder von Menschen belebt werden. Ihren Atem spüren, ihre Neugierde und ihre Lust auf neues. Ich möchte angefasst werden und ihre Sinnlichkeit spüren, wenn sie meine Korridore entlanglaufen.
So wähle ich gegen jede Vernunft die Leidenschaft. Ich zeige ihnen alle meine versteckten Winkel und Geheimnisse. Hier eine versteckte Kammer, dort ein verborgener Gang. Meine Räume füllen sich mit ihren Stimmen, und für einen kurzen Moment fühle ich mich wieder lebendig. Sie respektieren meine Struktur, machen Fotos und Notizen, als wollten sie meine Geschichte für die Nachwelt festhalten. Endlich verlassen sie mich, aber nicht ohne ein Gefühl der Dankbarkeit in meinen Mauern zu hinterlassen. Während ich in die Dunkelheit zurückkehre, spüre ich, dass diese Nacht ein willkommener Lichtblick in meiner sonst so einsamen Existenz war. Ich weiß, dass ich bald wieder allein sein werde, aber das ist in Ordnung. Denn ich habe für eine kurze Zeit erlebt, was es bedeutet, wieder gesehen und geschätzt zu werden. Und so stehe ich da, am Ende des Rabenwegs, immer noch verlassen, aber mit der Erkenntnis, dass ich nicht vergessen bin. Und in dieser Erkenntnis finde ich Trost.
Villa von Rabental
Ich bin die Villa am Ende des Rabenweges. Die Einheimischen haben mir viele unschmeichelhafte Namen gegeben, wie ‚Villa des Scheiterns‘ oder ‚Versagerpalast‘. Ich bevorzuge den Namen, den mein Erbauer mir gab, ‚Villa von Rabental‘.
Früher hatte ich regelmäßig Besuch. Es kamen Spinner, die mich auf paranormale Aktivität untersuchen wollten, Heranwachsende für ihre Mutproben und Scharen von Fotografen, die meine verfallende Pracht dokumentierten. Einige Paare machten sogar ganze Serien von Nacktaufnahmen. Die Unmengen vom Staub ergrauter Marmorstatuen boten den Pomp, die gewaltigen Spinnweben drn verruchten Schauder.
Doch seit einigen Jahren war ich einsam - bis heute. Ich hörte die Schritte mehrerer Personen, die den gewundenen Rabenweg herauf stapften. Als sie mich nach der letzten Biegung sehen konnten, begann eine Frauenstimme, zu schimpfen.
„Sag mal, hast du Lack gesoffen? Für die vergammelte Ruine einer unspektakulären Villa schleppst du mich mit Tonnen Fotoausrüstung kilometerweit eine Schlaglochpiste hoch? Hast du noch nicht mitbekommen, dass Lost Places heute spektakulär sein müssen, wie überwucherte Fabrikruinen, oder gruselig, wie die Irrenanstalt?“
Unspektakulär? Vergammelt? Tritt du unter meinen Torbogen und ich werfe den ersten Stein!
Eine Männerstimme entgegnete besänftigend: „Lass uns doch erst reingehen, du wirst überrascht sein!“
Murrend willigte die Frau ein. Leider gingen sie zu schnell, als dass ich den Stein hätte werfen können. Die Frau zog scharf die Luft ein: „Was für ein verschwenderischer Prunk.“
„Ja“, entgegnete der Mann, „und deine Tragödie gibt es gratis dazu: Der Erbauer, Freiherr von Rabental, ging wegen des Prunk pleite, bevor er das erste Möbelstück in die Villa stellen konnte. Seine Frau ertrug die Schmach nicht und erhängte sich an dem grottenhässlichen Engel über dem Eingang. Alle weiteren Eigentümer der Villa waren vom Pech verfolgt.“
Hässlicher Engel? Warte nur, bis du an der richtigen Stelle stehst.
Die Beiden streiften durch mich hindurch und machten zahlreiche Fotos. Dann, als sie staunend unter dem gewaltigen Kronleuchter standen, kam meine Gelegenheit, ihre ungebührlichen Äußerungen zu bestrafen. Ein leichtes Schütteln reichte, um die marode Aufhängung bersten zu lassen. Doch leider wurde der Mann durch den Knall alarmiert. Mit einem Hechtsprung beförderte er die Frau und sich in Sicherheit.
Nachdem die zwei sich gesammelt hatten, machten sie sich auf den Weg zum Ausgang.
Der Mann blickte zurück und sagte nachdenklich: „Wusstest du, dass wir die letzten Bilder von dieser Ruinegemacht haben? Die Stadt hat kürzlich den Denkmalschutz aufgehoben. Morgen kommen die Bagger. Ein Jammer!“
Schade, du hast Unrecht. Die letzten Bilder von mir werden die Polizeifotos eurer Leichen mit mir als Hintergrund sein!
Ich rüttelte mich noch einmal und der Engel über dem Eingang stürzte auf das Paar herab und begrub es unter sich.
Am nächsten Tag entdeckten die Bauarbeiter die Leichen. So erhielt ich noch eine letzte Schlagzeile.
Serafina
„Ah yes, I remember it well.“
Ich mag dieses Duett zwischen Maurice Chevalier und Hermione Gingold. Wenn es notwendig wird, so von Zeit zu Zeit, dann summe ich es vor mich hin. Zweistimmig natürlich.
Wie? Was hast du gefragt? Ob sie das auch hören?
Junge, Junge. Wie du dastehst - steif wie ein Ladestock. Was denkst du? Klar hören sie’s. Ist gerade laut genug.
Was wollt ihr eigentlich hier? Habt ihr das Schild nicht gesehen oder seid ihr des Lesens unkundig? Achso. Ihr habt es einfach ignoriert. Warum sind eigentlich so viele Menschen gleichzeitig neugierig und bohnenstrohdumm …
Es zieht. Ich werde die Haustür schließen.
Ich muss gestehen, es amüsiert mich immer wieder, wenn meine ungebeten Gäste wie die Hasen springen. Bedauerlicherweise springen diese in die falsche Richtung.
Ah - jetzt habt ihr einen Lichtschalter gefunden. Klick. Klick! Klick?
Tja … Ihr werdet euch wohl weiter auf eure neumodernen Taschenlampen verlassen müssen. Und die Theorie, dass hier irgendwo ein CD Player oder ein anderes Gerät läuft, die kannst du getrost vergessen, du langer Schlacks. Kümmere dich lieber um dein Mädchen. Ist sie überhaupt dein Mädchen oder gehört sie zu dem anderen mit den Storchenbeinen? Oder zu dem mit dem blonden Mopp auf dem Kopf? Egal, das geht mich ja nichts an. Hübsch ist sie. Dunkle Haare, blaue Augen. Ein wenig blass um die Nase, seitdem die Tür ins Schloss geknallt ist. Sie erinnert mich entfernt an die kleine Dame auf dem Portrait im Salon, links neben dem Kamin …
Und sagt eurer anderen Freundin, es ist toll, dass sie den Sicherungskasten gefunden hat, aber der FI-Schalter ist wirklich nutzlos.
Wieso ihr überhaupt glauben könnt, dass in einem offensichtlich seit Jahrzehnten verlassenen Gebäude noch irgendein Stromanschluß aktiv ist, das leuchtet mir nicht ein.
Ich persönlich vermisse nichts - als ich noch ganz jung war, da leuchteten Kerzen und Öllampen in den Räumen, die Eichendielen waren mit feinem weissen Sand bestreut und an den Feiertagen gab es Hausmusik … meinethalben hätte nie auf Elektrizität umgestellt werden müssen. Aber wer wäre schon auf die Idee gekommen, mich zu fragen? Und was hätte ich schon dagegen unternehmen können?
Entschuldigt bitte, ich träum da vor mich hin. Dabei müsste ich mich doch um euch kümmern. Leider bin ich bis auf Summen und Türenschließen machtlos. Bei den meisten reicht das, um sie zu ihrem eigenen Besten wieder zu vertreiben. Nicht bei allen und bei euch ganz offensichtlich leider auch nicht. Dabei ist gleich Mitternacht.
Halt, was macht ihr denn? Die schwärmen aus wie die Landsknechte. Nicht gut. Jeder auf eigene Faust. Gar nicht gut.
Wie bitte, der alte Küchenherd ist voll krass? Voll was?? He, pass auf. Man tappt doch nicht einfach auf eine Herdplatte!
Das war der Wintergarten. Und dies das Blumenzimmer - früher fand man das in jeder Villa, die etwas auf sich hielt. Hier wurden, meist von der Hausherrin, Blumen als Schmuck in Vasen arrangiert - für die Gesellschaftsräume und auch für die Eingangshalle. Emilia, bitte leg die Schere weg. Danke. Es ist wirklich sehr unhöflich, jemandem eine Schere in den Rücken zu stoßen.
Bleib vom Salon weg, Mädchen, der Boden ist morsch - auch Eiche hält nicht ewig.
Und du? Willst du, dass dir in der Besenkammer die alten Regale auf den Kopf donnern?
Das war knapp - wollt Ihr das nicht lieber sein lassen? Das sind doch nur harmlose Halbwüchsige …
Nicht kreischen! Das ist doch nur ein ausgestopfter Braunbär … jetzt fängt der auch noch an - also wirklich - ein Benehmen ist das!
Wenn man eine Gegend nicht kennt, dann geht man nicht getrennt. Das war ein Lieblingsspruch vom alten Gustav. Darum hat er ja auch seine ganzen Dschungelabenteuer überlebt und konnte friedlich in seinem Bett sterben.
Im Gegensatz zu euch, wenn ihr so weiter macht. Bis jetzt sind es nur ein paar blaue Flecken, aber …
Ogottogott! Nicht da rauf!
Puhh. Das ist grad nochmal gut gegangen.
Ja - alte Treppen sind gelegentlich morsch. Just, wenn ihr euch aus Gründen der Statik trennen solltet, just dann klebt ihr aneinander wie Karamellbonbons. Ihr seid nur zu fünft, dafür dämlich für dreißig.
Wollt ihr nicht doch lieber verschwinden … ?
Jetzt hocken sie da im Kreis und flüstern wie die Verschwörer. Nie das Sprichwort gehört, dass die Wände Ohren haben?
Es geht tatsächlich um Baby Serafina?
Ihr habt davon gehört? Wer in unserer Straße hat nicht davon gehört. Deshalb seid ihr hier? Der blonde Mopp will unbedingt sehen, wo … ihr seid verrückt!
Lasst das bleiben! Bitte! Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Eine zu traurige Geschichte. Ein kleines Kind geht verloren. Trotz wochenlanger Suche bleibt es unauffindbar. Der Vater beschuldigt die Mutter und schlägt sie im Jähzorn. Sie fällt unglücklich hintüber und bricht sich das Genick. Daraufhin geht er zum Brunnen und ertränkt sich. Zwei Jahre später wird das, was vom Kind übrig ist, in einem alten Abwasserschacht im Keller gefunden. Und jeder Versuch, die Reste zu bergen, scheitern an den Eltern.
Bleibt lieber hier! Ich fühl mich grad wieder mal so hilflos. Wartet! Ihr solltet wirklich nicht da hinunter …
…
Serafina? Ihr bekommt Besuch …
Schon wieder eine Hand voll Poseure, die irgendetwas beweisen müssen.
Diesmal kommen sie aus dem dunklen Obstgarten: flüsternd, kichernd, sich gegenseitig schubsend. Sie tun so, als schlichen sie, sind zögerlich und enervierend gleichzeitig.
Gut, wohlan! Zumindest ist Vollmond, das schätzen diese Rabauken.
Ich denke, ein bisschen Knarren mit Holz und klappern mit den Fensterläden auf der zugewandten Hausseite, sollte genügen.
Drei sind schon mal weg. Ich mag es, wenn sie blindlinks sind…
Es bleiben zwei.
Den einen bringen Fassadenrieseln und herabfallende Backsteine dazu, sich zu trollen. Der letzte, scheint aus anderem Holz zu sein. Auf ihn lasse ich Steinchen prasseln und sorge für vielflatteriges Fledermausgeraschel. Er verharrt dennoch im Staubregen, legt seine Hand an mein Mauerwerk und flüstert:
„Lass das! Es ist genug. Ich bin da.“
Ich erschauere. Diese Worte höre ich nicht zum ersten Mal.
Freund oder Feind?
Mit ist soo langweilig. Das letzte Mal hatte ich ziemlich genau einem Jahr Besuch bekommen, der allerdings nicht lange geblieben ist. Sehr unhöflicher Besuch, der noch nicht einmal gegrüßt hatte.
So wie jedes Jahr um diese Zeit, wenn die Blätter bunt werden und von den Bäumen fallen. Mein Gebälk ächzt und meine Rückwand schmerzt höllisch, seitdem der Baum bei einem Sturm dagegen gefallen ist. Außerdem friere ich ständig, weil schon lange niemand mehr ein Feuer in einem der zahlreichen Kamine gemacht hat. Die meisten meiner Fensterscheiben sind mit der Zeit zu Bruch gegangen und es zieht höllisch, so dass meine Erkältung nicht mehr abklingen will.
Da ist die jährliche Gruppe. Zwei Frauen und zwei Männer nähern sich vorsichtig mit Taschenlampen in der Hand und blenden mich. Halten ihre Taschenlampen genau auf die Spiegelscherben. Sie flüstern. Ich kann Sie kaum verstehen. Das ist unhöflich.
Sie kommen näher.
Vor der Veranda teilen sie sich auf. Die zwei Frauen steigen die Stufen hinauf und bewundern meinen wunderschönen Türklopfer. Die beiden Männer stellen sich auf die Zehenspitzen und versuchen durch die kaputten Fenster hinein zu schauen. Machen die das auch bei ihren Nachbarn?
Ich räuspere mich so laut, dass meine Dielen knarren. Meine Stimme ist so eingerostet, dass ich keine brauchbaren Worte formen kann. Also öffne ich den Fremden einfach meine Tür.
Die Frauen kreischen, als sich die Eingangstür öffnet. Die Männer sind forscher und kommen direkt angelaufen und schauen neugierig in die Eiingangshalle.
Ich klappere, als Aufforderung weiter einzutreten, mit meinen Fensterläden. Auch in der Hoffnung das sie es irgendwie schaffen diese zu schließen. Außerdem huste ich in den Kamin aus dem eine schwarze Wolke hervor stiebt. Es rasselt und klappert und ein paar Knochen fallen aus dem Kaminschacht hinab.
Kreischend rennen meine Besucher weg und sind Sekunden später von meinem Grundstück verschwunden.
Wieder bleibe ich allein zurück. Was habe ich nur falsch gemacht? Ist es zuviel verlangt, darum zu bitten den Kamin anzuzünden?
Der letzte Tanz
Viele habe ich kommen und gehen sehen – Jahrzehnt für Jahrzehnt für Jahrzehnt. Was hat sich alles abgespielt in meinen Räumen: Einsamkeit, Freude, Leid, gefeierte Feste, Herzklopfen, enttäuschte Hoffnungen, geweinte und ungeweinte Tränen.
Die Zeit hat mir zugesetzt, schmerzende Risse in meinen Mauern, das Knarren der verzogenen Dielen und Fensterrahmen tut mir weh in den Ohren. Durch die Feuchtigkeit im Keller ist mir ständig kalt. Ich bin so lange allein und unbewohnt, dass ich müde geworden bin.
Und nun will mich wieder jemand aufwecken, in meinen Wunden kratzen und klopfen, meine Geheimnisse bloß legen. Da kommen sie den Weg entlang, an ihren Schritten kann ich wie immer hören, was sie von mir erwarten. Diese sind zögerlich, sie gruseln sich ein wenig, vielleicht haben sie Schauermärchen über mich erzählt bekommen. Die meisten davon sind gar nicht wahr, haben sich einfach immer weiter entwickelt, als sie von Mund zu Ohr und von Mund zu Ohr und von Mund zu Ohr weitergegeben worden sind.
Wenn ich sie schon nicht aufhalten kann, will ich sie auf meine Weise willkommen heißen. Die nächste Windboe, die in das zerbrochene Fenster weht, leite ich durch den Flur – und mit einem tiefen dunklen Knarren wird sie die Eingangstür öffnen. „Wie von Geisterhand“, werden sie sagen. Nun ja, ich bin euch und euren Geschichten etwas schuldig.
Jetzt setzt die kleine Gruppe die ersten Schritte auf die Aufgangstreppe und … danke dir, Wind, es geht los. Ich sehe die Veränderung in ihren Gesichtern: Unglaube, Sorge und leise Furcht wechseln einander ab. Zwei bleiben stehen, strecken die Hände nach den vorderen aus, um sie zurück zu halten. Auch sie zögern und bleiben zurück.
Nur eine junge Frau geht unbeirrt weiter und tritt mit neugierigem Blick durch die Tür. Sie mustert die verblichenen Tapeten an den Wänden, wo noch hellere Vierecke von Bildern und Möbeln erzählen, die hier einst gehangen und gestanden haben. Schließlich erreicht sie den großen Saal, in dem früher oft so viel Leben war. Sanft streicht sie mit ihren zarten Fingern den Türrahmen. Aahh, wie gut das tut. Schließlich tritt sie ein, geht ein paar Schritte weiter und ich kann sehen wie in ihrem Kopf Bilder und Klänge entstehen.
Und dann breitet sie ihre Arme aus und beginnt nach diesen Klängen zu tanzen, erst langsam und dann immer schwungvoller. Auch ich sehe die Bilder ihrer Vorstellung aus der Vergangenheit: die glücklichen Menschen, die hier gefeiert haben. Höre die Klänge der Musik, die mich seit Anbeginn begleitet haben.
Und endlich einmal wird mir wieder warm ums Herz, kann ich die Wunden vergessen, die mir die Zeit geschlagen hat. Ich höre das Knistern der Roben der festlich gekleideten Frauen und sehe das Flackern von hunderten leuchtenden Kerzen. Und, ja, ich rieche ihren Rauch. Die junge Frau hört plötzlich auf zu tanzen, schaut sich um, atmet tief ein und ihre Augen weiten sich. Jetzt dreht sie sich um und rennt auf den Ausgang zu. Oohh . . .
Das geile Haus
„Ist das eine geile Location“, rief ein Mann, „was sagst du?“ - „Ja, stimmt“, antwortete eine Frauenstimme, „und hier kommt wirklich niemand?“
Das hatte ich als altes Haus lange nicht gehabt. Besucher am Abend. Ein Pärchen. Was wollte das hier?
„Nein, du hast doch die Straße gesehen“, erwiderte der Mann, „und auf der Rückseite ist gleich der Wald.“ - „Hmhm.“, murmelte sie.
Die beiden standen auf meiner steinernen Eingangstreppe. Wow, die Frau trug offenbar Schuhe mit dünnen Absätzen. Das hörte ich sofort am Geräusch, nur spüren konnte ich durch Stein nur wenig. Er fummelte an der Tür herum, steckte mir einen Schlüssel rein.
„Woher hast du den?“, wollte die Lady wissen.
Das wollte ich auch gerade fragen – nur Häuser können nun mal nix fragen.
„Von einem Freund“, lachte der Mann, „du wirst sehen, eine geile Location für die Bilder.“
Was für Bilder? Die beiden machten mich neugierig. Sie traten in den Flur und durch die alten Holzdielen, die hier noch in Ordnung waren, konnte ich mehr fühlen. Uhhh, das Mädel trug richtige Stilettos, ich spürte den gewaltigen Druck ihrer Absätze auf einer Stelle. Eiche hielt diese Kräfte gut aus, ich war schließlich nicht mit billigem Laminat gebaut. Solche Schuhe hatte ich lange nicht gespürt. Sie waren aufregend, weil ich genau verfolgen konnte, wo eine Frau sich befand und wie sie ihr Gewicht verlagerte. Bei ihm spürte ich nur Plastik. Turnschuhe. Widerlich langweilig. Manchmal quietschten solche sogar beim Laufen.
„Hier guck“, rief er, „der große Salon. Hier sind die Dielen kaputt. Die Decke auch. Aber das Fenster … durch das scheint genau die Sonne rein. Super Lichtstimmung. Du da drüben.“
Ja ja, immer aufs Schlimme. Klar geht die Decke kaputt, wenn man das Dach nicht in Ordnung bringt. Und auch Eichendielen dürfen nicht andauernd nass sein und wenn ein Idiot mit dem Fuß drauf stampft, um sie zu testen, dann brechen sie irgendwann. So einfach ist das.
„Wow, sieht schon toll aus“, befand die Lady, „da blättert alles ab. Und kann ich da stehen?“
Jetzt stöckelte sie durch den Raum. Was für ein geiles Gefühl, mit den schicken Schuhen. Und nun … wow, durch Astloch 18 konnte ich sie sehen. Ihr linker High Heel stand genau so, dass ich ihr Bein hinauf gucken konnte. Nackte Haut, die im Dunkel unter ihrem Kleid oder Rock verschwand. Wie schön. Dass ich das och mal erleben durfte als altes Haus.
„Okay“, rief er, „dann los!“ Er ließ einen Gegenstand auf meine Dielen fallen, eine Tasche vermutlich. Dann stellte er etwas auf, das ich mir nicht erklären konnte. Drei kleine Gummidinger, um die er mit seinen Turnschuhen herumtänzelte. „Ich mache erst eine Totale von hier“, erklärte er, „du stehst da, die Hände nach oben gefesselt. Über den Balken da.“
What?! Gefesselt? Was trieben die beiden denn hier?
„Wenn bloß keiner kommt“, seufzte die Lady, „gleich mit Knebel?“
Dann zog sie sich plötzlich aus. Das Kleid war offenbar ein Mantel, den sie mir jetzt an einen Nagel hängte. Wow, sie war splitternackt, soweit ich das durch Astloch 18 und 22 erkennen konnte. Nicht ein Fitzelchen Unterwäsche. Heiß! Eine nackte Frau hatte ich das letzte Mal in meinem Schlafzimmer gesehen. Im Badezimmer war der Boden ja gefliest und die Fugen sauber verfugt. Da sah ich nix. Aber das hier … wow, das machte mich regelrecht geil.
Er fummelte an einem der Balken, wollte offenbar ein Seil darüber werfen. Hüpf bloß nicht so viel herum!
„Soll ich an den Füßen Manschetten umlegen“, wollte die Nackte wissen, „oder mit Seil?“
Ich spürte genau, dass sie sich vorbeugte, um etwas aus der Tasche zu nehmen.
„Nein, kein Seil“, bestimmte er, „der Kontrast ist besser in Schwarz. Und es passt zu den Heels.“
Er prüfte, ob der Strick über dem Balken auch hielt. Alter, das ist keine billige Kiefer. Ich bin ein vernünftiges Haus. Das sind uralte Eichenbalken, die halten was aus.
„Stell dich hier hin“, rief der Typ euphorisch, „das wird sensationell!“
Das Mäuschen stakste vorsichtig über Astloch 16 und 20 und stand dort ganz gut, fand ich. Er tänzelte um sie herum und ich spürte leichten Zug am Balken.
„Nicht so stramm!“, jammerte sie. „Es muss realistisch aussehen“, befand er, „für die Fotos.“
Sie stand jetzt auf ihren Ballen und nicht mehr auf den aufregenden Absätzen, das konnte ich durch die Dielen sehr gut fühlen. Nur sehen konnte ich nicht besonders gut, Astloch 24 war ja eingebrochen und Nummer 19 im Deckenbalken zeigte sie von schräg oben; immerhin. Die Situation machte mich ziemlich scharf. So etwas hatte es früher höchstens im Schlafzimmer gegeben und niemals im Salon. Obwohl, das stimmt nicht ganz, wenn ich an bestimmte Szenen in der Dienstmädchenkammer denke. Aber das ist fast einhundert Jahre her.
„Wow, das sieht scharf aus“, erklärte der Mann, „das Licht fällt genau in deine Haare. Und dein Hintern … hammergeil!“
Sie konnte offenbar nichts mehr sagen und ich spürte, wie sie in ihren Stöckelschuhen auf den Ballen herumtänzelte. Ich konnte mich nur anschließen, supergeil!
Er stand an den drei Gummifüßen und es klickte. Vor hundert Jahren hätte es geblitzt und gequalmt, aber so etwas brauchte man heute wohl nicht mehr.
„Dreh dich einen Millimeter nach links“, wies er sie an, „den Kopf minimal höher … stopp!“
Mann o Mann war das eine erotische Szene! Eine Nackte in meinem Salon, festgebunden, nach oben gereckt auf High Heels. Ich wurde immer geiler. Mir wurde es eng im Fundament und es knackte schon ein bisschen im Keller. Das hatte selten ein Mensch mitbekommen und wenn, hatte es geheißen ›das Holz arbeitet‹. Von wegen.
Die beiden vergnügten sich im Salon und ich altes Haus hatte meine Freude. Später stand sie auf einem Fuß, weil er den anderen offenbar festgebunden hatte. Das fand ich persönlich am besten.
Irgendwann war das Licht nicht mehr so, wie er es wollte, und ich hörte wieder sie reden. „Wow“, keuchte sie und rang nach Luft, „war das geil. Ich bin rattenscharf.“ - „Baby, das sind so geile Bilder“, erklärte er, „das Licht, deine Figur, wenn deine Beine so gestreckt sind …“
Dann knutschten sie. Davon hatte ich nichts. Leider war das Schlafzimmer nicht mehr in dem Zustand, dass die beiden in dem übereinander herfallen konnten. Und hier unten mochte man sich nirgendwo hinlegen, denn …
„Stell dich doch an den Tisch“, keuchte er, „dann kann ich dich gleich von hinten nehmen.“
Super Idee! Ja, bitte!
„Nein“, maulte sie, „es ist so schmutzig. Lass uns lieber schnell nach Hause fahren.“
Na klar ist alles schmutzig, wenn man 50 Jahre nix putzt! Bitte bleibt noch! Du trägst doch deine heißen Schuhe, im Stehen musst du nichts weiter berühren. Ich bin so eine geile Location!
Aber nein, sie nahm ihren Mantel vom Haken und er hatte die Tasche gepackt und hob sie hoch. Die Frau stakste so wunderbar über meine alten Dielen. Am liebsten hätte ich gerufen, sie solle bleiben und noch durch andere Räume von mir stöckeln. Aber wie schon erwähnt können Häuser nicht sprechen – das gibts nur im Märchen.
An der Tür blieb die Lady kurz stehen und drehte sich um. „Tschüss altes Haus“, rief sie kichernd, „danke für die geile Location!“
Gedanken eines verlassenen Hauses
Für eine Familie wäre ich das perfekte Haus, das lachen von Kindern liebe ich, auch wenn es turbulent ist. Jemanden der sich um mich kümmert und man aus mir sein zu Hause macht. Doch in den letzten Jahren spüre ich die Nässe mehr und die Kälte, gerade in den Wintermonaten merke ich, wie einsam ich bin. Ich kann meiner Bestimmung nicht folgen, da ich vergessen wurde.
Mein Dach wirkt schwer und hat schon bessere Tage gesehen, das eine oder andere Fenster ist gebrochen und in den Dielen der Veranda kann ich den Holzwurm hören. Die Farbe meiner Fassade blättert Stück für Stück ab und der Efeu rammt mir seine Wurzeln in die Fugen der Steinwand.
Wenn man mich genau betrachten würde, könne man meinen Wert sehen. Leider haben die Menschen im Ort hier angst vor mir, sie sagen, dass es in mir spukt, dass unheimliche Dinge hier geschehen. Jugendliche nutzen mich für Mutproben und beschmieren meine Wände mit Graffitis, doch auch diese sehen schnell noch schlimmer aus, da die ersten Risse in meinen Mauern die Graffitis zerreißen.
Doch in letzter Zeit höre ich eine Stimme in mir. Vor einigen Tagen kamen 2 Männer mit einer Frau zu mir, es bleib dunkel, die Männer waren hektisch und ich spürte nur, dass sie die Frau regungslos im Keller ablegten und diesen dann verschlossen. Seitdem höre ich ihr Weinen. Einen tiefen Schmerz, ein paar tiefe Atemzüge. Irgendwann hörten die Bewegungen auf und die Atemzüge erloschen, doch das Weinen blieb. Eine Hoffnung, dass sie jemand finden wird, wenn man sie weinen hört.
Aber ich bin ein vergessenes Haus. Somit sind wir beide hier alleine und ihr weinen wird niemand hören.
Nachmieter gesucht!
Hoch oben, am kargen Schotterweg zum Weinberg, versuchte sich das Haus mit Hilfe des Abendwindes in den Schlaf zu schaukeln. Aber die unregelmäßigen Böen machten dies nicht eben einfacher. Darüber hinaus plagte es die erzwungene Anwesenheit seiner einzigen Bewohnerin. Das Haus bemühte sich vergebens, ihre tastenden Klauen zu ignorieren, die sich in die Riefen seines Leibes krallten. Wie lange ertrug es dieses verhasste Gefühl nun schon? Die vielen beglückenden Sommer mit seinem ersten Besitzer waren längst zu einer durchsichtigen Spur verblasst. Er war vollkommen unerwartet verstorben und halb vertrocknet aus seinem ehemaligen Zuhause gezerrt worden. Danach wechselten die Bewohner des Hauses fast täglich. Es waren ausnahmslos angenehme oder wenigstens interessante Begegnungen gewesen. Nun aber hockte seit Wochen diese behaarte Monstrosität in seinen Windungen.
Als dann ein prasselnder Regen einsetzte, ahnte das Haus, dass dies eine weitere verhängnisvolle Nacht werden würde. Voller Leid und Tod. Und schon hörte es sie kommen: unstete Beinchen, die sich trippelnd näherten, in der Hoffnung auf einen trockenen Unterschlupf. Auch das braunschwarze Ding in ihm hatte den nächtlichen Vagabunden bemerkt und spannte seinen chitingepanzerten Leib. Ihre Kieferklauen schabten aufgeregt über die bröckeligen Kalkwände des Turmhauses und erzeugten dabei ein böses Schaben – einem lockenden Wispern gleich. Stück für Stück schob sich die Scheußlichkeit Richtung Ausgang. Dann verharrte sie lauernd. Das Haus schrie dem ahnungslosen Besucher stumm entgegen: „Schnell, kehre um … so lange du noch kannst!“ Doch zu spät. Auf der Schwelle in das Turmhaus bekam sie den unglücklichen Besucher zu packen und umwickelte ihn mit ihren acht Beinen. Der stille Kampf war vorbei, noch bevor er begonnen hatte. Mit einem rhythmischen Pumpen ihres Hinterleibs saugte sie das Leben aus dem schillernden Körper heraus. Morgen würde sie den Kadaver fortschaffen, um den Vorgarten adrett und sauber zu halten. „Immerhin“, dachte das Haus.
Die einsame Kate
Heute erwache ich spät. Es wird schon wieder dunkel. Die untergehende Sonne taucht den Rabenweg in ein rotgoldenes Licht. Sanft streicheln die Zweige der drei Buchen über die morschen Schindeln meiner Bedachung. Habe ich wieder so lange geschlafen? Ich bin immer müde in letzter Zeit. Viele Jahre sind vergangen, seit meine letzten Bewohner mich - ihre Behausung - verlassen haben. Nur das Notwendigste haben sie mitgenommen.
Fluchtartig liefen sie hinaus und ließen mich und meine Kameraden zurück. Damals waren wir noch eine eingeschworene Gemeinschaft: der Stall, die Scheune, die kleine Schmiede, das Klohäuschen und ich, die Älteste - das Wohnhaus. Wie lachten wir damals über die Menschen, als sie panisch wegrannten - fast wie die Hasen. Dabei wollten wir doch nur ein bisschen Schabernack treiben. Auch Bauwerke wollen schließlich ein bisschen Spaß haben.
Seitdem stehen wir leer und sind nutzlos. Niemand mag mehr bei uns wohnen. Bei uns spukt es, heißt es. Da meiden uns die Menschen und nur ein paar Tiere, eine Mäusefamilie und ein uralter Igel sind uns geblieben. Aber es ist langweilig, immer nur Mäuse zu ärgern. Der Igel macht meistens Winterschlaf – auch im Sommer. So wurden wir immer träger und schläfriger. Trübsal breitete sich aus und wir wurden täglich wehmütiger. Das Klohäuschen ist als erstes abgetreten und irgendwann gar nicht mehr aufgewacht. Scheune und Stall ging es ähnlich, manchmal brabbeln sie leise vor sich hin. Eine Unterhaltung macht aber schon lange keinen Sinn mehr. Nur die Schmiede ist manchmal noch wach. Dann erinnern wir uns gemeinsam an die Zeit, als hier noch was los war.
Kindergeschrei vermisse ich sehr, aber auch die Gespräche am Abend oder die Stunden, wenn es hoch herging in den Betten. Immer gab es etwas zu sehen und zu erlauschen. Es roch jeden Tag angenehm aus der Küche, und die Schmiede hatte einen würzigen, erdigen Geruch. Im Winter wurde mir innen kuschelig warm und im Sommer freuten wir uns gemeinsam über die kühlen Abende im Schatten der Bäume. Wenn es stürmte, gefiel es den Leuten, dass sie ein Dach über den Kopf hatten, und falls bei mir etwas kaputt ging, wurde es geschwind repariert.
Jetzt verfallen wir allmählich. Niemand kümmert sich um uns und wir bereuen es, dass wir unseren Menschen so viel Angst eingejagt haben. Dabei war alles doch nur Spaß. Jeden Tag fiel uns ein neuer Streich ein und am Schluss haben wir wohl etwas übertrieben. Verzweifelt versuche ich, den Verfall aufzuhalten, aber das Wetter macht mir zu schaffen. Stürme schlagen Löcher in mein Dach. Die Feuchtigkeit in meinen Räumen führt zu Rheuma und üblen Erkältungen.
Doch was ist das? Beim Hintereingang rührt sich etwas, da kratzt mich jemand, da kitzelt es, etwas schleicht sich heran, etwas Großes. Ich zähle: eins, zwei, drei, vier Geschöpfe. Sie flüstern miteinander. Ich lausche, bin ganz still. Ruhe jetzt ihr Buchen, ich will doch verstehen, was da so heimlich gesprochen wird.
„Wollen wir wirklich da rein?“
Die hohe Stimme einer Frau.
„Ja, sicher, dafür sind wir doch hier.“
Eindeutig ein Mann, noch ein junger.
„Da soll es nicht geheuer zugehen. Die Leute meinen, es spukt.“
Wieder eine Frau, diesmal die Stimme jedoch anders und tiefer.
„Das wissen wir - los da ist die Tür und hier sind meine Dietriche, mal sehen, welcher hier passt!“
Diesmal ein Kerl mit dunkler Stimme. Er will sich einfach so an mich heranmachen - na warte!
Als ein dunkel gekleideter Mann nahe an meine Tür tritt und seine Dietriche zückt, durchzieht mich ein lautes hölzernes Beben. Knarrend öffnet sich die Hintertür von selbst. Ha, ha, wie die Ölgötzen stehen sie da. Keiner wagt, sich zu bewegen. Na, schon genug?
„Lustig, war gar nicht abgeschlossen“, meint der Schlossknacker, seine Stimme zittert ein wenig.
Zögerlich zwar, aber doch mit festem Schritt, kommen die Menschen näher. Eine Frau tritt als Erste durch die Tür. Sie hat eine Blendlaterne dabei. Au, das Licht blendet mich. Jetzt treten sie ein. Ich spüre ein ungewohntes Summen in meinen Eingeweiden. Auch die anderen holen Laternen hervor und gehen weiter hinein in das Haus. So viel Licht, ich kann jetzt gar nichts mehr sehen. Muss mich erst an die Helligkeit gewöhnen.
In mir rumort es, überall tastende Hände. Es ist unangenehm, aber auch wieder schön. Menschen, die in meinen Inneren herumgehen. Ein nicht unbekanntes aber schon lange nicht mehr erlebtes Gefühl. Es erinnert mich an früher.
„Seht mal, da ist ja noch vieles heil“, die Frau tut erstaunt.
„Als wäre es erst gestern verlassen worden, kaum Staub und keine Spinnweben.“
Na klar doch, ich kann Staub und Spinnen nicht leiden.
Die Menschen sehen sich weiter um. Es wird Zeit, denen einen kleinen Denkzettel zu verpassen. Ein großer Blonder geht in die Küche und schaut sich erstaunt um. Die gusseiserne Pfanne löst sich von ihrem Nagel und streift den Burschen am Hinterkopf. Er fällt um, wie ein Baum, bleibt aber bei Bewusstsein. Ich will ihn nicht töten, sondern nur erschrecken. Die Eindringlinge sollen Respekt vor mir haben. Vielleicht bleiben sie ja ein bisschen länger und dichten das Dach ab?
„Bolle, da hast Du aber noch mal Glück gehabt“, ruft eine kleine dunkelhaarige Frau. Sie kniet neben dem Verletzten, der verdutzt zu ihr hochschaut. „Geht schon wieder“, sagt er, „aber ich habe so ein komisches Gefühl. Das Haus mag uns vielleicht nicht.“
„Jetzt mach mal halblang, Bruder“, sagt der andere. „Das Haus ist bloß ein Haus. Die Nägel sind verrostet, da kann so was schon mal passieren.“
Da hat das Bürschchen recht. Bei mir liegt einiges im Argen. Ich darf nicht zu groß auftrumpfen, sonst laufen mir die auch gleich wieder davon. Aber was wollen sie? Sind es Diebe? Dann können sie mir gestohlen bleiben. Wieder ein paar unerfahrene Abenteurer, die hier ihr Selbstbewusstsein aufpolieren wollen? Die sind auch schnell wieder weg. Aber was macht denn die Göre da?
„Hey Runa, was meinst Du?“, fragt die Dunkle. Eine schöne, rothaarige Frau steht mitten in der Küche. Sie hat ihre Augen geschlossen und ist völlig in sich versunken. Plötzlich fängt es an, überall bei mir zu kribbeln. Verdammt, das ist eine Hexe! Hoffentlich keine von der üblen Sorte. Wenn die mich erkennt, bin ich geliefert.
Es bleibt eine Weile still. Soll ich einen Dachbalken opfern und das Miststück erschlagen? Da hebt sie die Hände, schaut zu mir hoch und öffnet ihre grünen Augen. Sie sieht mich fröhlich und freundschaftlich an.
„Das Haus hat eine Seele, aber es ist nicht bösartig, keine schwarze Magie“, flüstert sie. „Es könnte uns vernichten, aber auch beschützen. Wir können Freunde oder Feinde sein. Aber es ist nicht nur alt, sondern auch einsam, wir sollten es jetzt begrüßen.“
„Wie macht man das, ein Haus begrüßen, Runa?“, fragt da der Blonde. Er rappelt sich wieder auf.
„Das Haus kennt uns noch nicht und weiß nicht was wir wollen?“, erklärt Runa. „Da ist es nur verständlich, dass es erfahren will, wer wir sind.“
„Wir sind Leute aus Krostal. Der große Fluss hat unser Dorf überschwemmt und wir suchen ein neues Quartier für den Winter. Ich heiße Runa und bin Heilerin vom Orden der grünen Grotte. Ich will Gutes tun für dich und deine Kameraden“, erklärte die Rothaarige.
„Ich heiße Bolle, war Knecht und Schmiedegehilfe am Quelinger Hof in Risa, floh dort vor dem Krieg, kam in das Soldatenvolk und lernte stechen, schlagen und töten. Dann haute ich ab, schlug mich durch und kam nach Krostal, wo ich Isa fand.“
Er deutete auf die Dunkelhaarige. „Ich bin Isa de Groot, war Schmiedin in Grootevall. Floh vor der großen Pest. Kam nach Krostal und traf Bolle, den starken Kriegsknecht und will mit ihm schmieden. Ich hörte, hier wäre die Beste.“
Ich warf einen Schöpflöffel vor den letzten Eindringling. Gelenkig sprang er zurück – sehr gute Reflexe.
„Ich heiße Kup, war Holzfäller und Zimmermann, dann Spielmann und Gaukler. Dann habe ich einen Narren an dieser Runa gefressen, die mich verzaubert hat. Jetzt bin ich hier und möchte bei dir übernachten. Will morgen gern nach deinem Dach schauen, dir die morschen Balken ersetzen.“
„Liebes Haus“, fuhr die Hexe fort, „wir wollen gut zu dir sein, bitte hilf uns und sag mir deinen Namen.“
Kann ich denen denn trauen? Sie wissen so viel über mich. Meinen Namen? Kann ich den nennen? Die grünen Augen dieser Hexe halten mich in ihrem Bann. Ein schweres Buch fällt vom Regal, genau vor die Füße von Runa. Sie zuckt nicht einmal mit der Wimper. Kup ist ganz weiß im Gesicht, er schaut auf den Boden, wo auf einer Seite ein Wort steht. Blutrot steht es da: Kate.
Natürlich heiße ich nicht wirklich Kate. Kein verzaubertes Haus darf seinen richtigen Namen nennen. Aber im Überschwang der Gefühle fiel mir nichts Besseres ein. Ich denke, mit Kate kann ich leben. Die Leute nennen mich sowieso Kati, ist doch ganz o.k.
Am andern Tag machen sie erst einmal sauber. Kup kraxelt auf mein Dach und streichelt über mein Gebälk.
„Kriegst bald zwei neue Balken und hübsche Schindeln aus Eschenholz“, sagt er.
Ich freue mich. Die andern wecken die Schmiede auf, machen in Feuer in der Esse und hämmern auf einem alten Stück Eisen herum, dass die Funken nur so fliegen. Der Stall und die Scheune erwachen vom Lärm und sogar das Klohäuschen kommt langsam wieder ins Leben zurück. Es ist gut hier. Schluss mit Grusel. Aber ein bisschen Spaß will ich natürlich immer noch haben. Uups, die Treppe ist heute wieder so glatt.
Haus am Rabenweg
Ich atme die kühle Nachtluft in alle Ritzen und nehme sie in mich auf. Die staubigen Erinnerungen in meinem Innern wirbeln auf und laden zum Tanz. Die gesprungenen Scheiben ächzen und knirschen, das Mondlicht kämpft sich hier und da durch meine Furchen. Schaurig ratternd geht der Windstoß unter die vom Wetter gezeichneten mittlerweile grauen Holzläden, die schon lange niemand mehr bedient. Ach, die Nacht ist mein, am liebsten wäre mir ewige Dunkelheit, die mich umhüllt, denn ich habe lange genug mit den Geistern der Vergangenheit gelebt. Tag um Tag plagt sie ihre Existenz. Sie beanspruchen mich noch immer, das Haus am Ende des unsäglichen Rabenwegs. Doch meine Energie geht zu Ende. Man sagt, ich sei „einsturzgefährdet.“ Betreten verboten.
Ab und an kommen die Abenteuerlustigen doch noch mit ihren Lämpchen und Gerätschaften. Sie wollen was erleben, meinen sie. Doch hier gibt es kein Leben mehr, es ist ein Ort der Toten. Suchen sie nach Antworten oder wollen sie sich am Unglück der vergangenen Seelen bereichern?
Mein schweres gusseisernes Eingangstor zittert, die losen Steine wackeln und der Kies rollt unter den forschen Schritten der Ankommenden kreuz und quer. Mein Herz brennt, ich fühle, wie sie in mich eindringen. Sie haben kein Recht dazu. Das alles habe ich einst schon erlebt. Und sie tun es trotzdem. Immer wieder.
Unter Ächzen meiner alten Holztreppen, auf denen früher der edel gemusterte Teppich die Besucher zu beeindrucken vermochte, fallen sie ein und stolpern hinauf. Die Wahl der Eindringlinge fällt heute auf mein ehemaliges Schlafgemach mit seinen alten bestickten Vorhängen aus Samt. Sie halten das Aufnahmegerät vor sich her und wollen die Stimmen der vermaledeiten Seelen zu hören bekommen. Auf der Suche nach Aufregung. Alles zieht sich in mir zusammen, dass die Vitrinen mit dem Geschirr klappern bei jedem meiner Atemzüge. Da stehen sie, kichern und verlachen die Geschichten der armen Seelen.
Ein Donnergrollen zieht über mich hinweg. Es ist mein Groll. Es ist zu viel Staub, der aufgewirbelt wird. Zu viel ausgebuddeltes Erdreich. Zu viel abgerissene Tapete auf der Suche nach vergessenen Schätzen. Zu viel Lärm. Zu lautes Lachen. Zu viel hinterlassener Müll.
Ich könnte sie mit einem gehörigen Wumms unter den morschen Dachbalken begraben lassen. Wäre das wohl genug Aufregung für sie? Oder ihre einfältigen Köpfe von den eisernen Deckenlampen erschlagen lassen. Wäre das vielleicht, was sie sich vorstellen, in ihrer dümmlichen Existenz? Hier gibt es keine Zukunft, nur Vergangenheit.
Ich zittere. Ich bebe. Ich schimpfe. Ich schreie. Immer wieder das selbe Spiel. Mein edler Eingang missbraucht. Meine Tore und Fenster eingeschlagen.
Der alte Groll, der in mir wohnt, muss nun raus. Das Fass läuft über. Ich bin das Unwetter. Aber nun fühle ich mich voll Energie wie noch nie zuvor. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Bald wird es ganz ruhig ringsum werden. Erst wird es kurz laut, dann wird endlich die Ewigkeit über mich und meine Bewohner kommen. Dann werden alle Erinnerungen endgültig begraben sein. Zwei Familien mit ihren dreizehn Kindern, die vor 213 Jahren in mir bei einem Raubüberfall leid- und teils qualvoll den tragischen Tod fanden, werden nun endlich ihren Frieden finden. Dann werden wir hier endlich ruhen. Und die verdammten Einbrecher gleich mit.
**Das gefräßige Haus**
Der unerbittliche Sturm peitscht den Regen gegen meine Mauern, als ich in der Ferne einige Schatten erblicke. Als die Schatten näherkommen, erkenne ich es. Es sind wieder einmal Menschen, die sich zu mir verirrt haben um Schutz zu suchen. Wenn sie nur wüssten, dass hier bei mir alles andere als Schutz zu finden ist…
Bei mir angekommen, betätigt einer der Menschen meinen Türklopfer.
Wer so höflich anklopft, dem muss auch geöffnet werden. Ich entriegle mein Schloss und lasse die schwere Eichentür einen Spalt aufgleiten. „Kommt nur herein“, denke ich mir. „Es erwartet euch ein Festmahl.“
„Hallo?“, ruft einer der Menschen.
Keine Antwort.
„Scheint niemand hier zu sein.“
Die Menschen treten ein und schließen die Tür hinter sich. Was sie nicht wissen, in diesem Moment habe ich alle Türen im Haus verriegelt. Endlich! Die Spiele können beginnen. Das letzte Mal ist zu lange her. Und es sind gleich sechs Menschlein auf einmal die mir munden werden.
Aber ich muss mich noch in Geduld üben. Schließlich sollen ihre Ängste vollkommen werden, nur dann ist mein Genuss auf dem Höhepunkt. Ich lasse also die Menschengruppe mich erkunden, biete ihnen die Wärme eines Kaminfeuers, die Sicherheit meiner Wände und Nahrung an um sie in ein wohliges Gefühl der Geborgenheit einzuwickeln. Auch gebe ich ihnen Licht, um ihr Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit zu vervollkommnen, nur um es ihnen später umso härter wieder zu entreißen.
Einige Zeit vergeht und meine neuen Gäste scheinen sich sehr wohl zu fühlen. Sie reißen Witze und lachen miteinander und erzählen sich gegenseitig Geschichten über ihre Erlebnisse. Einer der Menschen zeigt sogar seinem Sitznachbarn ein Foto, vermutlich ein Familienbild.
Der Moment scheint mir nun richtig zu sein, endlich das Mahl anzurichten.
Plötzlich lässt es einen Schlag, als wäre etwas zu Boden gestürzt. Erschrocken wenden sich alle Menschen zur Decke. Als aber nichts weiter zu hören ist, fangen sie an zu lachen und meinen nur, dass dies vermutlich der Sturm verursacht hat. Daraufhin folgen drei unregelmäßige Klopfgeräusche und ein Kratzen, als würde jemand etwas schweres über Holzdielen schieben.
Nun sehen alle wieder an die Decke. Ihnen ist die Angst ins Gesicht geschrieben.
Die eine Fraue fängt an zu wimmern, wird aber von der anderen Frau beruhigt. Aber auch die Männer werden sichtlich unruhig.
Daraufhin meint einer der Männer er würde nachsehen, es wäre sicher nur etwas heruntergefallen, oder es wären lose Fensterläden.
Die eine Frau will ihn davon abhalten, doch er lässt sich nicht beirren und läuft die große Treppe hinauf. Im ersten Stock angekommen, wendet er sich nach rechts von wo das Geräusch gekommen sein musste und geht den Flur entlang, bis er vor einem offenen Schlafzimmer steht. Er betritt das Zimmer und sieht sofort wo das Problem liegt. Erleichtert ruft er den anderen zu: „Wie ich sagte, kein Grund zur Panik. Der Wind hat das Fenster aufgestoßen und es sind ein paar Blumenvasen zu Bruch gegangen.“
Als er gerade dabei ist das Fenster zu schließen, lasse ich die Tür zuknallen. Erschrocken fährt der Mann herum, wird aber gewahr dass es der Wind gewesen sein musste.
Er schließt das Fenster, geht wieder zur Tür und will das Zimmer gerade verlassen, als ein Blitz in der Nähe einschlägt. Dieses Timing hätte besser nicht sein können, denn ich beschließe nun das Licht in diesem Raum zu löschen.
Ich spürte die Angst der anderen leicht zunehmen als der Blitz einschlug und auch die des Mannes den ich gerade eingesperrt habe wächst zunehmend. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich und es schmeckt vorzüglich!
Der Mann rüttelt an der Türklinke, aber die Tür bewegt sich nicht im geringsten. Dieses Mal lasse ich beide Fenster des Schlafzimmers aufstoßen und die Fensterläden schlagen wie wild gegen meine Fassade. Mein Festschmauß wird immer panischer und hämmert gegen die Türe.
Meine Dielen knarzen und klopfen als würde jemand schweres sich auf ihnen bewegen und auf den Mann zugehen.
Der einst so rationale Mann, der mutige Held in der Not, wird von seiner eigenen Angst übermannt. Er rüttelt immer energischer an meiner Tür. Nun ist die Zeit für die Vorspeise gekommen.
Meine Türklinke greift nach ihm und hält seine Hand eisern umschlungen. Er weiß nun, dass er in eine Falle getreten war, aus der er nicht mehr herauskommen kann. Er schreit jämmerlich um Hilfe während meine Türe ihn sich einverleibt.
Ich atme tief ein und genieße den ersten Happen einer großartigen Speise.
Die Menschen im Wohnzimmer konnten nur das Poltern vernehmen. Die wundervollen Schreie des Mannes, der nun ein Teil von mir ist ging im tosen des Sturmes unter. Sie fixieren in immer größer werdender Anspannung die Decke, als könnten sie durch sie hindurch sehen, würden sie sich nur genug anstrengen.
„John, ist alles in Ordnung da oben?“, ruft einer der Männer. So hieß also meine Vorspeise.
„John!“, brüllt ein anderer Mann. „Das ist nicht witzig, Mann!“ Keine Antwort.
„Komm, sehen wir nach“, bedeutet der eine Mann, dem anderen.
„Ist das wirklich klug, da rauf zu gehen?“, fragt eine der Frauen.
„Es könnte sein, dass John gestürzt ist und unsere Hilfe braucht. Und wenn nicht, wenn er sich mit uns einen Spaß erlaubt hat, dann verpasse ich ihm eine!“
Wütend stapft der eine dem andern Mann voraus.
Im ersten Stock angekommen sehen sie im Flur nach links und nach rechts und scheinen zu überlegen welchen Weg sie nehmen sollten.
„Geh du nach links, ich gehe nach rechts.“
Der verärgerte Mann, nimmt die erste Tür die er sah und öffnet sie. Dahinter befindet sich ein Badezimmer in einem viktorianischen Stil eingerichtet, aber ansonsten nichts Auffälliges. Er schließt die Tür wieder und geht zur nächsten. Dies ist ein Toilettenraum. Auch hier ist, abgesehen von der auffällig alten Inneneinrichtung nichts zu sehen. Er will gerade die nächste Türe öffnen, als er hinter sich einen markerschütternden Schrei vernimmt.
Er wendet sich um und meint zu sich: „Nah warte John und Steven, wenn ich euch in die Finger bekomme…“
Schnellen Schrittes und sichtlich angesäuert stiefelt der Mann in Richtung des Schreies. Bei der vermeintlichen Tür angekommen, betätigt er die Klinke und tritt ein. Er schaut sich im Raum um, sieht aber nur einen Schrank ein Bett und einen Nachttisch, aber weder John, noch Steven.
Die Tür des Kleiderschranks steht offen. Der Mann bemerkt dies und geht hin um sie zu schließen.
Die Farbe weicht je aus seinem Gesicht als er im Schrank sieht was sich vor seinen Augen abspielt.
Steven wird in diesem Moment von mir verschlungen. Allerdings habe ich ihn noch nicht ganz absorbiert. Seine Augen und sein Mund weit aufgerissen. Sein Gesicht schmerzverzerrt und angsterfüllt.
Der Mann stolpert rückwärts und stößt gegen das Bett. Die Beine meines Bettes packen seine Knöchel. Er stößt einen Schrei aus und versucht sich mit aller Gewalt zu befreien. Immer wieder schlägt er auf das Bett ein und schreit dabei.
Da ich nun auf den Geschmack gekommen bin, möchte ich mit ihm ein bisschen spielen. Meine Bettlacken springen auf und packen seine Arme und halten sie gefangen, während er mit dem Tischdeckchen des Nachttisches geknebelt wird.
Als ich ihm auch noch mit einem Vorhang die Fähigkeit zu Sehen nehme, ist seine Angst absolut vollkommen. Daraufhin verleibe ich ihn mir langsam, Stück für Stück in meinem Fußboden ein. Jeden Augenblick davon koste ich völlig aus.
Wieder schlägt ein Blitz ein, aber dieses Mal in mich. Die Beleuchtung im ganzen Haus versagt. Lediglich das Kaminfeuer spendet meinem Essen noch ein wenig Licht. Die Angst der Übriggebliebenen nimmt an Stärke und Intensität zu und es fühlt sich gut an. Sie rennen panisch zum Lichtschalter. Sie betätigen ihn, aber es bleibt dunkel. Nun suchen sie hastig nach etwas dass ihnen Licht spenden kann, eine Taschenlampe, eine Kerze. Tastend und wie ein Blinder gehend im Speisezimmer angekommen findet der einzig übriggebliebene Mann den Kerzenleuchter auf dem Tisch, daneben liegend Streichhölzer. Der Mann nimmt hektisch ein Streichholz aus der Schachtel und will es anzünden. Es zerbricht. Immer ängstlicher werdend nimmt er ein zweites Streichholz heraus, ein drittes und ein viertes. Beim fünften Streichholz gelingt es ihm es zu entzünden. Er zündet alle Kerzen des Leuchters an. Als die letzte Kerze anfängt zu brennen, hört er die angsterfüllten Schreie der zwei Frauen, die im Wohnzimmer zurückgeblieben sind.
Jetzt ist die Zeit für den dritten Gang gekommen.
Der Mann rennt mit dem brennenden Leuchter in seiner Rechten zurück ins Wohnzimmer und findet die Frauen, kauernd in einer Ecke sitzend, vor.
„Das Feuer des Kamins ist auf einmal verloschen. Was geht hier nur vor?“, sagte die eine Frau mit zittriger Stimme.
„Ich weiß es nicht. Kommt, wir müssen die anderen suchen und dann verschwinden wir von hier“, meinte der Mann und versuchte die Frauen zu beruhigen.
Sie liefen im Gänsemarsch Richtung großer Treppe, voran der Mann mit dem Leuchter.
Vor der Treppe stehend ruft der Mann: „Peter, John, Steven! Wo seid ihr?“ Keine Antwort.
Sie setzen ihren Weg fort und steigen langsam die alte knarzende Treppe empor.
Oben angekommen stehen auch sie vor der Entscheidung welchen Weg sie einschlagen sollten. Sie entscheiden sich für den rechten Weg. Schritt für Schritt gehen sie den Flur entlang, während die Dielen verräterisch knarzen und ächzen unter ihrem Gewicht.
Als sie ungefähr die Hälfte des Flurs hinter sich gelassen haben, greife ich mit den Deckendielen nach der Frau in der Mitte und ziehe sie in die Höhe. Die Frau die den Anschluss bildet stößt einen kurzen erschrockenen Schrei aus als die Frau vor ihr einfach in die Decke gezogen wird und der Mann versucht sie an den Beinen wieder herunterzuziehen. Doch er kommt gegen meine Kraft nicht an. Ich ziehe die Frau gänzlich in die Decke.
Schaudernd und völlig fassungslos was da gerade passiert ist, stehen sie für einen Moment wie angewurzelt da, als sie plötzlich direkt über ihnen Klopfgeräusche vernehmen. Auch hören sie dumpfe leise Schreie: „Hilfe! Hilfe! Ich bin hier oben!“
„Das ist Clara. Sie lebt!“, meinte die andere Frau. „Aber wo ist die Treppe die nach oben führt?“
Der Mann etwas ratlos geht zu jeder Tür des und öffnet diese in Erwartung dahinter eine Treppe zu finden. Er findet das Badezimmer, den Toilettenraum, eine Abstellkammer, ein weiteres Badezimmer und das Schlafzimmer in dem ich einen der Ihren vorhin bereits verspeiste, aber keine Treppe.
„Komm! Wir schauen auf der anderen Seite nach“, bedeutet der Mann der Frau und wenden sich der, von der Treppe aus gesehen, linken Seite des Flures zu. Hinter den ersten beiden Türen ein Schlafzimmer, hinter der dritten ein Toilettenraum. Erst die vierte Tür offenbart eine Treppe die in das zweite Stockwerk zu führen scheint.
Hier scheint das Holz der Treppe noch furchteinflößender zu ächzen, so als leide es unter Schmerzen. Ich fühle die unbändige Angst, höre den beschleunigten Herzschlag und das Rauschen des Blutes meiner Opfer. Dies ist wie ein Aphrodisiakum, das mich in eine stimmungsvolle Trance versetzt.
Als sie im zweiten Stock ankommen schleichen sie weiter den Flur entlang, auch wenn der Holzboden ihre Anwesenheit verrät.
„Clara, bist du da?“, flüstert der Mann. Sie bleiben beide stehen.
„Clara!“, nun etwas lauter.
„Seamor, ich bin hier“, ruft Clara in normaler Lautstärke.
Schnelleren Schrittes der Tür entgegen aus der die vermeintliche Stimme dringt, setzen sie sich weiter in Bewegung. Seamor greift nach der Klinke und drückt sie langsam herunter. Vorsichtig öffnet er die Türe und späht hinein. Auf dem Boden liegend sieht er Clara liegen. Erleichtert drückt er den Leuchter der Frau in die Hand und geht Clara schnell entgegen.
„Clara. Geht es dir gut?“
In dem Moment als er bei ihr kniet und ihre Haare aus dem Gesicht wischt, wendet sie sich ihm zu und er stolpert entsetzt zurück.
Ich frage mich ganz ehrlich warum Menschen immer entsetzt zurückweichen und stolpern wenn ich ihnen mein wahres Ich zeige. Das machen fast alle und dieser Anblick ist einfach zu komisch. Aber die Gefühle die sie dabei haben sind beinahe die stärksten und daher auch besonders schmackhaft.
„Kommt ihr mich retten?“, frage ich die anderen durch Clara.
„Wa was ist mit dir passiert Clara? Du siehst aus als wärst du aus Holz“, fragte Seamor ungläubig und voller Angst.
„Ich bin nicht Clara! Ich bin Darkdevour Manor. Und ihr seid meine Mahlzeit!“
Daraufhin richtet sich Clara auf und gleitet mit dem Boden verbunden meinem Dessert entgegen mit unnatürlich weit aufgerissenem Mund, bereit zum verschlingen.
Die Furcht nun überhandnehmend rennen sie aus dem Zimmer und die Treppe hinab. Als sie gerade im ersten Stock aus der Tür treten, sehen sie linkerhand eine Gestalt mit der Wand verschmolzen, der sich mit den Händen an der Wand festkrallend vorwärts zieht, auf sie zukommen. Steven!
„Komm! Wir müssen hier raus. Wir können nichts mehr für sie tun“, meinte Seamor und zieht die Frau hinter sich her.
Vor ihnen erscheint plötzlich John aus dem Boden und Clara aus der Decke und bewegen sich auf sie zu. Seamor und die Frau rennen die große Treppe hinunter und steuern geradewegs auf die Eingangstür zu. Sie versuchen sie zu öffnen, aber sie klemmt. Seamor läuft schnell zu dem Kamin hinüber und pickt sich einen Schürhacken aus dem Ständer daneben. Wieder bei der Tür angekommen stemmt er den Schürhacken in die Tür und versucht sie mit aller kraft aufzuhebeln, aber es gelingt ihm nicht.
„Hilf mir“, meint Seamor zur Frau. Diese stellt den Leuchter auf einen nahegelegenen kleinen Tisch und setzt ebenfalls ihre Kraft beim Aufstemmen der Tür ein. Aber es hat keinen Erfolg. Die Tür bewegt sich überhaupt nicht. Der Schürhacken wird lediglich verbogen.
„Es ist zwecklos. Wir bekommen die Tür nicht auf“, meint Seamor.
„Ich habe vorhin einen Ausgang in der Küche gesehen. Vielleicht kommen wir da raus“, fiel der Frau ein.
„Los!“
Der Mann nimmt den Leuchter wieder an sich und beide laufen schnellen Schrittes in Richtung Küche.
Allerdings hat er zunehmend ein ungutes Gefühl.
„Etwas stimmt nicht.“
„Was meinst du?“, fragt die Frau unsicher.
„Sie hätten uns schon längst einholen müssen“, meint er beklemmt.
Als sie die Küche erreicht haben und die Tür erblickten, erscheint auch sofort Clara aus der Decke genau über der Tür und verharrt dort.
„Verdammt! Sie versperrt uns den Weg“, fluchte Seamor. Die Frau versucht gefasst zu bleiben.
Aus den Hängeschränken greifen unvermittelt zwei Arme heraus und ziehen den Körper von Steven zur Hälfte empor. Dieser zerrt sich wieder mühevoll meinem Dessert entgegen.
Aus der Decke und den Wänden kommen weitere Gestalten hervor. Inzwischen sind es mehr als ein Dutzend.
Den beiden verbliebenen Menschen wird klar, dass sie nicht die ersten sind, die von mir gefressen wurden.
Ihre Angst trieft vor Süße und ihre Panik steigt wie ein lieblicher Duft zu mir auf.
Ich gebe das Kommando und alle von mir Einverleibten stürmen auf das Pärchen zu. Diese flüchten wieder in den Empfangsraum. Von der großen Treppe kommen einige Einverleibte herunter. Einige von ihnen, die ältesten, sind nur noch Skelette. Einige andere verfaulen bereits seit langer Zeit.
Auch vom Wohnzimmer strömen sie herbei.
Sie sitzen in der Falle.
Seamor und die Frau sehen sich gehetzt um und die Frau erblickt eine Stahltür in einer Nische neben der Treppe.
Sie eilen hinüber. Die Tür ist nicht verschlossen. Die beiden huschen hinein und verriegeln die Tür hinter sich.
Sie vernehmen Klopf- und Kratzgeräusche. Doch die Einverleibten scheinen es nicht zu schaffen die Tür zu öffnen.
Seamor und die Frau sehen sich um und bemerken dass sie sich auf einer Treppe befinden die offenbar zum Keller führt. Die Wände, die Decke und der Boden bestehen aus Kalkstein und Ziegeln.
„Wir sind hier gefangen. Sie werden uns kriegen!“, sagt die Frau und hält sich an dem Mann fest.
„Bisher sind sie nur durch Holz gekommen. Vielleicht können sie durch Stahl und Stein nicht hindurchkommen. Ich glaube wir sind hier vorerst sicher.“
„Ja, aber wie kommen wir hier wieder raus?“
„Ich weiß es nicht. Aber vielleicht finden wir hier unten etwas dass uns hilft“, meinte Seamor.
Als sie im Keller ankommen finden sie drei Stahltüren vor. Zu ihrer Rechten, zu ihrer Linken und gerade vor ihnen.
Sie entscheiden sich für die Tür vor ihnen. Als sie sie öffnen, sehen sie einen leeren Raum. Sie wenden sich der linken Tür zu und dieser Raum ist ebenfalls leer. Es bleibt nur noch ein Raum übrig.
Seamor betätigt die Klinke und sie stehen in einem Raum in dem es wieder drei Türen gibt.
Dieses Mal nehmen sie zuerst die rechte Tür. Leer. Dann die Mittlere. Drei Türen. Die Linke. Auch ein Raum mit drei Türen.
„Das ist doch ein schlechter Witz!“, protestiert Seamor.
Sie gehen durch die linke Tür und finden einen Raum mit vier Türen vor sich.
„Das ist ein verdammtes Labyrinth!“
Sie öffnen jede Tür und dahinter befindet sich nur eine Wand.
„Komm, wir schauen mal bei dem mittleren Raum was wir da hinter den Türen finden.“
Gerade als sie sich wieder der Tür zuwenden durch die sie gekommen sind, fällt diese ins Schloss und das Verriegeln der Tür ist zu vernehmen.
„Das war’s! Wir sind verloren!“, meinte die Frau entsetzt und verstimmt zugleich. Das Herz des Mannes rast, während er wie ein gefangenes Tier nach einem Ausweg sucht.
Und tatsächlich, er sieht einen kleinen Lichtpunkt an der Wand. Er geht darauf zu und stochert darin herum. Weicher Mörtel. An dieser Stelle ist die Mauer extrem aufgeweicht. er schaut durch das Loch und sieht eine Lichtquelle.
„Dahinter befindet sich etwas“, sagte er aufgeregt.
Er bohrt weiter in der Wand bis er einen Ziegel zu fassen bekommt. Seamor zieht ihn aus der Wand.
„Seamor“, die Frau tippt den Mann an.
„Ja, ich hab’s gleich.“
„Seamor!“, nun ist ihre Stimme laut und drängend. Seamor dreht sich um und aus den Stahltüren und der Kalksteindecke pressen sich die Einverleibten hervor. Entsetzt beobachtet er diese für einen Augenblick, dann setzt er umso zielstrebiger seine Arbeit an der Mauer fort. Er zieht einen weiteren Ziegel aus der Wand, dann noch einen und noch einen. Schließlich ist die Wand so instabil, dass er darauf eintritt, bis große Teile davon umstürzen. Sie hasten durch die zerbrochene Wand und sehen das Grauen in all ihrer markerschütternden Pracht. Ihr Blut gefriert in ihren Adern und sie sind steif vor Todesangst.
Vor ihnen befindet sich ein gigantischer Raum voll von Leichen unterschiedlichen Verwesungsgrades. Und eine dicke zähflüssige dunkle Substanz überall verteilt, die vermutlich aus all den Überresten dieser Opfer stammt. Oder ist es der Magensaft dieses Hauses. Denken sich die zwei Menschen.
Die Leichen scheinen sich zu bewegen, sie steuern alle auf einen Punkt im Raum zu. Es wächst eine Kreatur aus unzähligen verrottenden Leichen und dieser schmierigen Substanz heran. Diese Kreatur nimmt Form an und besitzt nun etliche Tentakeln.
„Ich muss euch danken, Fremde. Ihr habt mir ein schmackhaftes Mahl bereitet wie ich es seit Ewigkeiten nicht mehr hatte. Ihr werdet nun mein Dessert, mein Aperitif sen, das gleichzeitig süß und herb im Abgang ist.“ sagte die Stimme der Kreatur bestehend aus hunderten Stimmen.
„Bringt mir den Mann zuerst! Das Beste hebe ich mir bis zum Schluss auf.“
Die Einverleibten vor und hinter ihnen ergreifen den Mann, der sich wehrt, tritt und schreit, aber keinen Erfolg damit hat. Sie bringen ihn zur Kreatur welche ihn sich einverleibt.
Die Kreatur wendet sich der Frau zu die das alles mit Entsetzen, aber gefasst mit angesehen hat.
„Nun zu dir! Ich habe dich beobachtet. Du bist nicht wie die anderen. Sie sind leicht zu ängstigen, aber deine Angst ist unter der Oberfläche. Sie schreit innerlich darum befreit zu werden.“
„Warum tust du diese schrecklichen Dinge? Warum hast du meine Freunde ermordet du Monster“, sie geht einen großen Schritt auf das Monster, das ich gebildet habe, zu und erhebt ihre Faust in Drohgebärden.
Erschrocken weiche ich zurück. Damit habe ich nicht gerechnet. Widerstand. Sie will mir trotzen, dass wird ihr nicht gelingen.
„Ich habe Hunger und ich liebe es Menschen zu verängstigen. Es ist befriedigend wenn sie in Panik geraten und um ihr Leben ringen. Du wirst jetzt in den Genuss kommen und ein teil von mir werden und es gibt nichts was du dagegen tun kannst.“
„Ich habe keine Angst mehr vor dir! Du bist nur eine Abscheulichkeit die vernichtet werden muss! Wenn du mich wirklich fressen willst, dann tu es, ich habe nichts mehr zu verlieren.“, protestiert die Frau und auf ihrem Gesicht liegt Ernsthaftigkeit.
Ich bin etwas irritiert von ihrem Verhalten, aber ich vermute es ist nur eine Fassade. Wenn ich sie mir einverleibe, dann werde ich sie brechen.
„Ergreift sie!“ Meine Einverleibten packen sie und zerren sie zu mir herüber. Sie macht keine Anstalten sich zu wehren. Sie wird in mich hineingestoßen und ich beginne sie zu verdauen.
Doch plötzlich durchfährt mich ein gewaltiger Schmerz. Ich winde mich vor Pein. Meine Dielen knarzen und biegen sich vor Schmerz, meine Schränke stürzen um und fallen von der Wand und meine Fensterläden schlagen wie wild auf und zu. Ich schreie und heule vor unerträglichen Schmerzen.
„Wa… was hast du… mit mir gemacht?“, bringe ich schmerzerfüllt heraus.
„Ich sagte dir, dass ich keine Angst vor dir habe! Und offenbar bin ich für dich ungenießbar. Wenn ich also sterbe, dann stirbst du mit mir!“, dröhnt eine weibliche Stimme in meinem Bewusstsein.
„Wer bist… du?“
„Ich bin dein Scharfrichter!“, dröhnt die Stimme abermals, aber viel stärker als vorher.
Meine Schmerzen werden immer unerträglicher und ich spüre mein Ende kommen. Das darf nicht geschehen.
„Ich spüre das drei meiner Freunde noch am Leben sind. Wenn du uns nicht freigibst, dann werde ich dich töten!“, die Stimme in meinem Bewusstsein droht meines zu verdrängen.
Daraufhin presse ich mein Monster durch die Decke und quetsche mich an die Oberfläche und spucke die vier Menschen in meinem Vorgarten aus.
Extrem erschöpft und schmerzerfüllt ziehe ich mich in mein Haus zurück. Das erste Mal in meinem langen Leben bin ich der Angst persönlich begegnet. Der Angst um meine eigene Existenz. Dafür werden sie bezahlen! Ich werde sie ganz sicher nicht das letzte Mal gesehen haben.
Epilog
Er hob das Glas an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck von der goldbraunen Flüssigkeit. Dabei verzog Seamor das Gesicht.
„Ich kann es nicht glauben dass sie tot sind und das wir es beinahe auch gewesen wären“, meinte er und schaute in sein Glas.
„Wir müssen sie rächen! Das Haus, oder was auch immer es ist, muss zerstört werden!“, meinte Peter erbost. Clara nickte.
„Aber wie stellen wir das an?“, warf Clara ein.
„Ich habe einen Plan, vertraut mir!“, sagte die Frau entschlossen und mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Fortsetzung folgt…?
Verrat - Verlust - Verfall
Der Boden des zugewucherten Vorgartens bebte, als ich meine Stimme erhob.
„Was willst Du hier? Verschwinde. Sofort!“ Der Spaziergänger war aus Versehen in meinem Garten gelandet und starrte mit großen Augen und kreidebleich in mein Antlitz. Auf einmal rannte er so schnell es ging. Stolperte dabei über Äste und Wurzeln bevor er durch das Eisentor fliehen konnte. Typische Reaktion. Mein tiefes Lachen war weit zu hören. Es wurde durch das Klappern der Dachziegel und dem Rascheln in den Bäumen und Sträuchern unterstützt. Es hatte einen Grund, warum niemand näher als 100 Meter an mich heran rankam. Und so sollte es auch bleiben. 34 Jahre ist es jetzt her, dass ich allein gelassen wurde. Seitdem die Menschen, die mich gebaut haben von einen auf den anderen Tag einfach so verschwunden sind. 34 Jahre bin ich auf mich allein gestellt und ich will mit diesen treulosen Wesen nichts mehr zu tun haben. „Ich hasse euch alle“ schrie ich in das Abendrot hinein. Ein Schwarm Raben, stieg krächzend aus dem Baum vor der Terrasse auf. Am nächsten Morgen sah ich schon von weitem eine neue Gruppe Möchtegern Abenteurer. Es war ein endloser Teufelskreis. Ich wollte doch nur allein sein. Also verscheuchte ich die Menschen, die versuchten mir zu nahe zu kommen. Diese erzählten dann irgendwelche gruseligen Lügen über mich, was wiederum noch mehr Menschen anlockte. „Ich warne euch! Ihr solltet besser umdrehen oder ihr werdet so lange in meinem Garten eingesperrt, bis ihr Dünger seid!“. Der Efeu am Zaun vibrierte und die Blätter raschelten warnend wie eine Klapperschlange. Einer der Männer stoppte direkt und ging zügig, kopfschüttelnd zurück zum Auto. Die anderen kamen aber unaufhaltsam näher und betraten den Garten. Etwas fühlte sich merkwürdig an. Kannte ich die blonde Frau, die voran ging? Sie zog sofort die Aufmerksamkeit auf sich. „Habt keine Angst“ bahnte sie sich ihren Weg zu meiner Haustür „ich muss unbedingt in dieses Haus, hört nicht auf das, was es sagt. Immer weiter “. Ich wurde wütend. Das sollten Sie spüren! Meine Rankpflanzen schlangen sich um Beine und Arme des grauhaarigen. Er strampelte wild um sich aber hing machtlos in der Luft zwischen zwei Bäumen. Dem anderen schnitt ich den Weg mit einer wandelnden Hecke ab, als er zu der blonden Frau aufschließen wollte. Am Ende war er zu allen Seiten von grünen dornigen Wänden umgeben. „Lasst mich endlich in Ruhe!“ ein Teil meines Schornsteins stürzte ein und schlug nur knapp neben den beiden übriggebliebenen Frauen auf dem Weg ein. Die braunhaarige stolperte beim Ausweichen und blieb bewusstlos liegen. Ich war komplett außer Atem, meine Haustür ging schnell aber knatschend auf und zu. Aber die blonde Frau konnte ich nicht aufhalten. Auf direktem Weg kam sie in mein Foyer.
„Oh mein Gott. Es ist wunderschön, wie sich das Licht in den Fenstern bricht und diese Raumgestaltung.“
Ich war völlig überrascht. Machte mir hier grad ein Mensch Komplimente? Wer war diese Frau? Woher kenne ich Sie? Neugierig ging Sie die Treppe hinauf. Ich versuchte, sie in eine morsche Treppenstufe stürzen zu lassen oder eine alte Rüstung auf Sie zu schmeißen. Aber sie ging unbeschadet als wüsste sie, worauf sie achten müsse, einfach durch die Flure, bis sie plötzlich vor einem Zimmer stehenblieb. Ich zuckte zusammen, als ich den Schmerz spürte. Die anderen drei waren aus ihren Gefängnissen entkommen und hatten die Haustür eingetreten. Ich wurde aus meiner Träumerei gerissen. Wie dumm von mir. Ich hatte mich glatt ablenken lassen und bin so angreifbar gewesen.
„Guckt euch diese Bruchbude an“ der älteste der Abenteurer trat gegen eine Statue und brachte sie zu Fall.
„Ja, und wie das hier stinkt. Das ist der hässlichste Ort, an dem ich seit langem war!“ Die Frau rümpfte die Nase und sah sich angewidert um.
„Ich habe euch nicht eingeladen. Verschwindet endlich. Das ist die letzte Warnung“ Putz fiel von den Wänden, die immer stärker bebten.
Der jüngste aus der Runde zündete ein Feuerzeug an „Lass uns das Ding hier einfach abfackeln. Dann kann es niemanden mehr verletzen. Ich lass das nicht einfach so auf mir sitzen“.
Die Menschen hatten also wie immer kein gutes Wort für mich, „Wie ihr wollt, dann soll es so sein!“ Ich zog die Luft tief ein und ein starker Wind zog durch das Gebäude, bevor ich die gesammelte Luft wieder auspustete und der Wind die Richtung wechselte. Die Abenteurer wurden hin und her geworfen und konnten sich kaum festhalten. Der Kronleuchter im Foyer schwankte wie eine Kirchturmglocke hin und her. Die Luft war erfüllt mit Staub. Mittlerweile fielen auch schon größere Brocken Beton und der ein oder andere Holzträger von der Decke. Die Risse wurden immer größer. „Hört auf!“ sie Stand auf einmal im Foyer und hielt ein Buch in die Luft. „Ich kenne dich und ich weiß, dass du nicht so bist.“ Ich war trotz des nur kurzen Kampfes erschöpft. Ich war wirklich nicht gut in Schuss.
„Wer bist Du?“ Irgendwo in mir, platzte eine Wasserleitung.
„Ich bin Emilia Rabe. Mein Großvater hat dich gebaut und ich habe hier gewohnt, erinnerst du dich?“
„Pah, das kann ja jeder behaupten.“ Ein weiterer Riss im Beton „Außerdem wäre es besser, wenn Du nicht zu diesem Pack gehört, dass mich damals allein gelassen und verraten hat!“
„Das hier ist mein Tagebuch von damals. Hier stehen all die schönen Tage beschrieben, die wir hier mit dir hatten. Es gab keinen schöneren Ort für mich“
„Du bist Kleine Emmi?“ Der Kronleuchter hörte allmählich auf zu schwanken und quietschte nur noch leise. „Du bist ja mutig, nach all der Zeit hier wieder aufzukreuzen. Wo wart ihr all die Jahre? Wieso hat sich keiner um mich gekümmert? Ich war allein, Tag und Nacht, Jahr für Jahr. Niemand von deiner Familie hat sich gekümmert, als die Lügen angefangen haben. Niemand hat sich um mich gekümmert, als ich einfach nur das geworden bin, was alle in mir gesehen haben. WO WART IHR???“ das Treppengeländer fiel krachend auf den Boden des Erdgeschosses.
„Wir waren auf dem Weg in den Baumarkt. Wir wollten neue Dachziegeln für dich holen. Aber es gab einen Autounfall, bei dem meine Großeltern gestorben sind. Du weißt, dass ich keine anderen Verwandten mehr hatte. Also war ich nach dem Krankenhaus mal hier mal dort, bis ich zu einer neuen Familie kam. Ich habe oft an Dich gedacht. Ich war sogar ein paar Mal hier in Deiner Nähe und habe dich aus der Ferne beobachtet. Aber die Erinnerungen haben zu sehr geschmerzt.“ Ihr liefen Tränen über die Wangen. „Ich bin jetzt endlich gekommen, um dir zu sagen, dass ich Dich renovieren, dass ich Dir ein neues Leben schenken möchte. Ich möchte mit Dir zusammen wieder neu anfangen“.
„Kleine Emmi…“ Ich hustete Staub durch die Räume. Ein Teil des Südflügels stürzte ein. „Es tut mir ja so leid. Ich wusste von all dem nichts. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie man so abscheulich sein kann, dabei wolltet ihr mir nur etwas Gutes tun.“
„Ich weiß, ich hätte mich viel früher melden und mich um dich kümmern müssen. Es tut mir so leid. Kannst Du mir verzeihen altes Haus?“
Dann löste sich zuerst der Kronleuchter und fiel. Am Ende blieb nur Schutt und Asche von mir. Das Tagebuch lag zwischen Trümmern aufgeschlagen in leblosen Händen:
Freitag 13.05.1988
Liebes Tagebuch,
Opa und ich haben heute den Zaun repariert und gestrichen, damit das Haus immer das schönste in der Straße bleibt. Ich finde, es ist sogar das schönste Haus auf der ganzen weiten Welt. Ich möchte hier für immer bleiben.
Hotel 'm Salzberg
‚Kommt zu mir, kommt her zu mir.‘
Meine Stimme mischt sich mit dem Wind und wird ein Raunen.
‚Kommt in mein Reich, hier ist es warm und trocken.‘ Der Wind trägt meine Worte in den Wald. An einem regnerischen Tag wie heute reibe ich meine Balken aneinander und schicke zu den Worten den Geruch von Holz mit in den Wald. Eine kleine Drehungen des Rauch Abzug und der Geruch von Holz wird begleitet von ein wenig Ruß. Jetzt ist es perfekt, Holz und Ruß, die Zweibeiner fallen immer wieder darauf herein. Dann werde ich wieder ruhig und warte. In den 273 Jahren meiner Existenz habe ich gelernt zu warten. Ich lausche dem Klang meiner Stimme nach und warte.
Die Eichhörnchen flitzen über den Weg und versuchen die Wanderer zu warnen, ihr Vorhaben ist genauso sinnlos wie das vieler Generationen von Eichhörnchen vor ihnen. Ich sehe, wie sie hektisch durch den Wald laufen und ihr Verhalten verrät die Ankunft der Menschen.
Dann sehe ich sie. Zweibeiner, organische Lebensform, so weich, so zerbrechlich. Ich wispere ihnen ein Willkommen entgegen und mein Stimme ist so sanft und einladend wie die der letzten Wirtin, die vor fast 100 Jahren verstarb. Irgendwie vermisse ich sie manchmal, sie war die perfekte Ergänzung für mich. Seit sie nicht mehr da ist hilft mir nur noch die alte Linde. Sie nimmt einen Zweig an die Seite und das letzte Licht des Tages fällt auf meine Tür. Es reizt mich so sehr die Tür mit einem Knarren zu öffnen, doch leider sind die Zweibeiner nicht mehr so unerschrocken wie früher, sondern laufen weg. Also verharre ich still und warte, bis sie ihre dreckigen Füße auf meine Treppenstufe stellen.
Was ist denn das? Vor Schreck hab ich doch glatt vergessen, dass ich die Tür nicht öffnen wollte und sie weit aufgerissen. die Berührung war so weich, so anders.
Ich bohre meine Stempel tief in den Berg hinein und atme die Dunkelheit des Stollen. Der Berg ist ein Teil von mir und ich von ihm. Die Dunkelheit des Stollen beruhigt mich und ich verdränge die Erinnerungen an die sanfte Berührung. Die Zweibeiner haben meine Unaufmerksamkeit genutzt und sind in die Küche gegangen. Ich schließe die Tür hinter ihnen. Jetzt gehören sie mit.
Flammen im Kamin? In meinem Kamin! Wer hat Ihnen das Erlaubt? Ich will grad die Klappe am Kamin schließen, als wieder eine ganze weiche Hand mein altes Holz streichelt. Das Feuer prasselt und ich spüre Wärme in mir, die ich schon seit Jahren nicht mehr gefühlt habe. Das Gefühl der weichen Berührung störrt meine Gedanken. Ich habe vergessen, was ich wollte, was war es noch. Stimmt den Kamin schließlich. Ich dreh langsam an der Klappe, gleich gehören die Zweibeiner mir, Klappe zu und der Rauch nimmt ihnen die Luft zum atmen. Es ist so leicht sich ihrer zu entledigen. Doch das Feuer brennt weiter und wärmt den Kamin von innen. Ich öffne die Klappe wieder. Nur weil ich neuen Ruß brauche um die nächsten organischen Lebensformen an zu locken. Ich versuche mich selbst zu überzeugen, aber ein Teil von mir weiß, dass es nicht wahr ist. Ich bin verwirrt von der Art und Weise wie die Menschen mich anfassen. Fast so, wie der Wind an einem warmen Sommertag.
Die Jagd nach der dunklen Wahrheit
Ich, das gottverlassene Manor am Ende der Ravenstreet 13, trage seit ewigen Zeiten die Last schicksalhafter Ereignisse auf meinen bröckelnden Backsteinen und knarrenden Holzdielen. Geschichten derer, die hier gelebt und gelitten haben, sind in den Wänden eingeschlossen, und der Lufthauch flüstert sie dem verwelkten Laub der Bäume zu. Alles vergeht, die Zeit verblasst, aber der Schatten der Vergangenheit bleibt.
An einem nebligen Abend, die letzten Strahlen der Sonne tauchten den Himmel urplötzlich in ein blutrotes Feuer, näherte sich eine Gruppe Abenteurer meinem verwitterten Eisentor. Sie waren angezogen von Klatschgeschichten über unerklärliche Phänomene, die sich hier ereignet haben sollen. Die Geschichten, die über mich, seit X-Generationen erzählt wurden, hatten ihre Neugierde wachgerufen.
Die Gruppe betrat das Anwesen mit einer Mischung aus Furcht und Aufregung. Ihre Schritte, die die alten Dielen knarzen ließen, und ihr aufgeregtes Geflüster, hinterließen Suren. Die Nacht senkte sich rasch über das Anwesen, und es lag eine schaurige Stille in der stickigen Luft. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen.
Als das Herrenhaus, das ich bin, halte ich die Macht, die Richtung dieser Geschichte zu lenken. In dieser finsteren Nacht entschied ich mich, ihre Neugierde mit abgründigen Spielchen zu bestrafen. Schattenbewegungen verfolgten und jagten sie durch die düsteren Flure, und seltsame Geräusche ließen ihre Herzen rasen. Der Schein ihrer Fackeln zeigte ihnen groteske Gemälde von blutigen Schlachten und Qualen, die in den Wänden gefangen waren.
Ex abrupto fanden sie sich in einem Raum wieder, in dem Blut an den Wänden zu kleben schien. Grauenerregende Schreie hallten durch die Dunkelheit, als die Dämonen der Vergangenheit sie angriffen. Die Abenteurer kämpften hartnäckig um ihr Leben, Blut floss in Strömen, und das Haus schien zu atmen, als es sich an ihrem Leid ergötzte.
Inmitten des Chaos entdeckten sie das Geheimnis, das an der Wand geschrieben stand. Ein uralter Ritualspruch, das die Geister besänftigen konnte. Sie wagten einen letzten verzweifelten Versuch, das Ritual auszuführen, und es funktionierte. Die Geister zogen sich zurück, und das Blut an den Wänden verschwand, als hätten die Schatten der Vergangenheit es nie versiegelt.
Die Nacht, die mit Dunkelheit und Blut begonnen hatte, wandelte sich zu einer grauenvollen Erfahrung, die die Abenteurer nie vergessen würden. Der Preis war hoch, doch Sie hatten Letztenendes die Dunkelheit besiegt. Das Anwesen, das so lange im Schatten seiner eigenen Geschichte gefangen gewesen war, konnte endlich zur Ruhe kommen. Und so schrieb ich ein weiteres Kapitel in meiner Geschichte - ein Kapitel, das von Finsternis und Blutvergießen gezeichnet war, aber in letzter Konsequenz auch von Erlösung und Befreiung. Erste Morgenstrahlen zwängten sich energisch durch alle Ritzen und erhellten die Räume, ich fühlte mich wie neu renoviert.
Das Haus am Ende der Straße
Eine bleierne Stille lag schon immer über meinem 200 Jahren alten Gemäuer. Meinen soliden Backsteinmauern; alt, aber nicht zerfallen. Meinen hölzernen Böden; zerkratzt, aber noch immer fest tragend. Meinen geraden Wänden; vergilbt, aber noch aufrecht.
Räume, gefüllt mit den Erinnerungen derjenigen Menschen, die in mir gelebt haben. Gute. Doch die bösen überwiegen. Die, die sich durch Unwissen in mein Gebälk geschlichen haben. Die, die meinen Putz mit Dunkelheit angefüllt haben.
Ich hatte schon viele Besucher. Die meisten von ihnen sind wieder gegangen. Doch nicht alle. Sie sind noch immer hier. Ich höre sie flüstern. In der Nacht. In der Dunkelheit.
Und nun sehe ich sie. Sie sind neu. Sie haben gerade das quietschende Gartentor aufgeschoben. Sie sind noch jung. Vielleicht zwanzig. Noch lachen sie, sind unbekümmert und aufgeregt.
Ich möchte ihnen zurufen, zu gehen. Nicht durch meine Eingangstür zu treten und hinter sich zu schließen. Sich in Sicherheit zu bringen. Denn Sicherheit werden sie hier nicht finden. Den Tod vielleicht. Oder etwas noch viel Schlimmeres.
Neumond
Der Wind fuhr heulend durch die zerschlagenen Scheiben meiner Fenster und wirbelte in meinem Inneren Jahrzehnte alten Staub auf. Nebel, der träge über die Wipfel der Bäume waberte kitzelte meinen schiefen Schornstein. Am Himmel fand sich kein Mond in dieser Nacht. Nur die Sterne versuchten gegen die Tiefe Dunkelheit anzufunkeln. Vergeblich. Um mich herum nichts als Finsternis. Eine tiefe Ruhe breitete sich in meinen morschen Gemäuern aus. Ich liebte diese mondlosen Nächte. Es war, als würde die Welt für diese eine Nacht schlafen gehen. Und dennoch konnte ich die Magie, die dieser Nacht innewohnte deutlich spüren.
Ich träumte von längst vergangenen Zeiten, als mein Inneres noch mit Leben gefüllt war. Als das Lachen der Kinder durch die Zimmer hallte. Es waren wundervolle, glückliche Zeiten.
Der Wind säuselte um meine Mauern, als wolle er mir in Erinnerung rufen, dass er der einzige war, der mir noch Gesellschaft leistete. Er und die Mäusefamilie, die es sich in meinen schützenden Mauern gemütlich gemacht hatte.
Der Wind schalt mich einen Narren, der den Rest seines kümmerlichen Daseins alleine verbringen würde, da man mich längst vergessen hatte. Nach allem, was geschehen war hatte man mich aus der Geschichte der Menschen getilgt. Niemals wieder sollte sich eine lebende Seele in meine Gemäuer begeben. Und seit fast 100 Jahren war niemand auch nur in meine Nähe gekommen!
Trauer durchflutete mich bis unter den Dachstuhl. Er hatte ja recht.
Doch was war das? Dieses tanzende Licht am Waldrand. Konnte es sein? Nein, niemals! Doch was war das? „Wind,“, rief ich aufgeregt „geh und schau, was dieses Licht bedeutet!“ Mit einem Aufheulen braust mein alter Freund davon. Ich konnte im schwachen Licht der Sterne sehen, wie er das verdorrte Laub vor sich her trieb.
Es dauerte nicht lange, da trug er Stimmen zu mir heran. Menschliche Stimmen! Menschen, es kamen Menschen zu mir! Vor lauter Aufregung begann ich, laut mit den Fensterläden und Türen zu klappern. Wohl zu laut, denn die flackernden Lichter blieben plötzlich stehen. „Ruhig!“, ermahnte ich mich. „Ganz ruhig. Du machst ihnen ja Angst.“ Nach einer Weile kamen die Lichter näher und die Stimmen wurden lauter. Ja, es waren eindeutig Menschen. Sie lachten und schwatzten. Welch ein wundervolles Geräusch nach all den stillen Jahren.
Ich wartete still und voller Ungeduld, bis die Menschen endlich vor meiner Schwelle standen. Was sie wohl hergeführt hat? Es waren vier recht junge Burschen. Einer groß und breit, ein langer dünner, einer war wohl genährt und einer war recht klein und hager. Alles in allem noch keine Männer.
„Los Tom, geh und zeig uns, wie mutig du bist!“, forderte der größte von ihnen und schubste den hageren Burschen in Richtung Eingangstür, die der Wind einst vor langer Zeit während eines Streits aus den Angeln gehoben hatte. Zögerlich kam der Junge näher. „Hab keine Angst vor mir!“, wollte ich ihm zurufen. Er blieb kurz vor der Türschwelle stehen und schaute sich zu seinen Freunden um. Diese fingen prompt an zu lachen und verhöhnten ihn. Er sei ein Feigling, eine Memme. Nicht wert, zu ihrer Gang zu gehören. Wut erfasste mich und ich schlug abermals mit den Fensterläden. Dieses Mal aus Empörung. Diese Bengel sollten den armen Jungen in Ruhe lassen! Alle vier schrien vor Schreck laut auf, was mir eine diebische Freude bereitete. Doch als sie davon liefen, tat es mir leid. Ich wollte nicht, dass sie gingen!
Einige Minuten verstrichen und die flackernden Lichter kehrten zurück. Ich hielt die Luft an, um keinen Mucks mehr zu machen und sie nicht abermals zu verschrecken.
Dieses Mal trat der schmächtige Junge vor und betrat mein Inneres. Ein wohliges Kribbeln durchfuhr mich. Leben! Endlich war wieder Leben in mir!
Sich den Weg mit seiner merkwürdigen Fackel leuchtend, sie sah aus wie ein flaches Kästchen und leuchtete ganz ohne Kabel, betrat er den Salon. „Ich bin drin!“, rief er mit zittriger Stimme hinaus. Die anderen Burschen lachten laut und folgten ihm nach. Ohne zu zögern liefen sie zu ihrem Freund in den Salon. „Was für eine Bruchbude!“, spottet der kleine, wohlgenährte Bursche. Das tat weh! Ja, ich hatte meine Glanzzeiten lange hinter mir, aber musste man gleich so grob werden? „Ja Mann, richtig abgewrackt!“, bestätigte der hagere Kerl und trat kräftig gegen eine meiner maroden Wände, dass der Putz nur so bröckelte. Autsch! Lautes Gelächter erscholl. Nicht fröhlich, wie das der Kinder, die einst hier lebten. Nein, dieses war niederträchtig wie das der Männer, die damals das Unheil über uns alle gebracht hatten.
Der Schrecken fuhr mir durch das Gemäuer. Konnte es sein?
„Lasst uns etwas Spaß haben!“, forderte der größte der vier seine Freunde auf und schlug mit einem Stock, den er zuvor vom Boden aufgehoben hatte, eine meiner verbliebenen Scheiben ein. Seine Freunde lachten und begannen sofort, es ihm gleich zu tun. Sie traten und hackten. Zerschlugen und zerschmetterten. Der Schmerz war unerträglich! Und mit dem Schmerz kam die Erinnerung. An all das hacken und brennen und schlagen und Wut kroch aus den Tiefen meines Fundamentes die Mauern hinauf und packte mich. Nein! Nein! Nicht noch einmal! Soetwas würde ich nicht noch einmal tatenlos geschehen lassen. Dieses Mal würden sie nicht ungestraft davon kommen. Nein! Dieses Mal nicht. Ein Zittern durfuhr mich. Der Boden bebte und die Läden klapperten. Doch die vor Zerstörungswut außer sich geratenen Burschen bemerkten es nicht. Sie hätten vielleicht fliehen können, wären sie nicht der Raserei verfallen gewesen. Sie hörten auch nicht, wie ich den Wind zu Hilfe rief. Sie bemerkten kaum, wie er an ihren Kleidern zerrte, wie er ihnen das Haar zerzauste. Sie schlugen, hackten und zerschmetterten weiter, wie im Wahn. Zogen von Raum zu Raum. Nichts war vor ihnen sicher! Der Schmerz wuchs ins unermessliche und mit ihm mein Zorn. Sollten Sie nur weiter machen und sich jedes Zimmer vornehmen. Sollten Sie nur tiefer in meine Eingeweide laufen. Stufe für Stufe, Raum für Raum. Ich schlug heftig mit den Läden und Türen und mein Freund der Wind pfiff durch alle Gänge. Lärm, so viel Lärm. ER würde es hören! Er, der schon so lange in mir schlummerte, dass ich ihn vergessen hatte. Er, der den Geschmack von Blut und den Schrecken liebte. Bald würde der Lärm in wecken und dieses Mal würde ich ihn nicht aufhalten! Sollte er doch kommen. Sollte er sie doch bestrafen.
Die Burschen setzten die Zerstörung meines Inneren fort. Ich ertrug den Schmerz. Als sie im 2. Stock ankamen und die verbotene Tür öffneten, gröhlend und laut lachend, wurden sie bereits erwartet. Zwei glühende Augen, hell wie der fahle Mond, der heute Nacht in tiefem Schlaf lag, sahen ihnen freudig entgegen. Als die Jungen sie erblickten, verging ihnen das hämische Lachen mit einem mal. „Seid ihr böse Jungs?“, fragte er mit kratziger Stimme. Zu lange hatte er schweigen müssen. Zu lange hatte er das Leben in diesem Haus vermisst. „Ja, ihr seid böse Jungs. Ich kann es riechen!“, flüsterte er in unheilvollem Ton. Gerade, als die Burschen der Gefahr, in der sie schwebten, gewahr wurden und fliehen wollten, schlug ich die Türe zu und der Wind stemmte sich dagegen, damit es kein entkommen gab. Da half kein rütteln und zerren. Sie würden ihrer Strafe nicht entkommen! Sie würden büßen für all den Schmerz!
Lautes schreien hallte durch meine Mauern und der Wind trug es in die mondlose Nacht.
Welch herrlicher Neumond.
Die Wellnessoase
Anfangs waren es nur Geräusche, die mich aufmerksam werden ließen, weil sie nicht in mein Umfeld passten. Das Rauschen des Windes in den Büschen und Bäumen, ja, das kannte ich. Auch die Rufe der Tiere im Wald oder auf meinem Dach. Und die Geräusche, wenn sie sich näherten, entfernten oder vorbeiliefen. Aber das, was ich jetzt hörte, war nichts von alle dem.
Ich lauschte.
Endlich, nach einer Weile erkannte ich etwas. Gemurmel. Ja, es war Gemurmel, da war ich mir schnell sicher. Stimmen, von Menschen, nicht viele, vielleicht zwei oder drei. Ich konnte niemanden sehen. Sie mussten also noch hinter der Biegung des Weges sein, doch die Richtung stimmte.
Was immer die Leute hier wollten, ich versprach mir nichts Gutes von ihrem Besuch.
Um etwas zu verstehen, konzentrierte ich mich, aber die Stimmen waren noch zu weit weg. Je früher ich erfahren würde, was sie sagen, desto besser würde ich mich vorbereiten können. Aber noch war es nicht so weit. Ich spekulierte, dass sich das ändern würde, sobald sie in Sichtweite sind. Der Wind, es war eher ein seichtes Lüftchen, er stand dazu günstig. Dann, obwohl ich sie immer noch nicht sehen konnte, verstand ich doch schon ein Wort. Nur ein einzelnes Wort.
„Bruchbude.“
Mir war sogleich klar, dass sie über mich sprachen. Über wen oder was auch sonst? Außer mir gab es weit und breit nichts, was man abfällig als Bude hätte bezeichnen können. Doch mich gleich als Bruchbude zu bezeichnen, empfand ich als Beleidigung und grobe Frechheit.
„Alt bin ich, ja, marode auch, das leugne ich nicht, aber feststeht, dass ich immer noch ein Haus bin, das den Unwillen der Natur zu widerstehen weiß, und keine Bruchbude. Die Jahrhunderte haben an mir genagt, das ist nicht zu übersehen, aber es ist ganz sicher keine Schande.“
Um nicht gleich aus dem Putz zu fahren, ließ ich ein wenig Wind durchs Gebälk in meinem Obergeschoss ziehen. Gebracht hat es mir nichts.
„Pack“, dachte ich weiter, „kommt ruhig näher. Euch werde ich es schon zeigen.“
Wie schnell sich doch manche Leute jede Sympathie anderer verderben. Wie sollte ich sie jetzt noch freundlich empfangen können?
Ich hatte das Gefühl, vor Abscheu zu zittern, doch das würde ich mich nun wirklich nicht mehr trauen. Jetzt nicht mehr. Deshalb ließ ich es nicht zu, dass sich mein Gefühl auf meine Fundamente übertrug. Zu leicht könnte ein Balken seinen Halt verlieren und ein weiteres Loch in mein geschundenes Fachwerk reißen das niemand mehr stopft. Auf meine Balken und Streben musste ich achten und auf jede einzelne Stütze. Weil ich sie alle brauchte, um noch lange standhaft bleiben zu können.
Früher, da habe ich meine Wände und Böden öfter mal beben lassen oder mit dem Klappern der Fensterläden ein wenig Spuk verbreitet. Nur so zum Spaß. Weil ich mir vorstellte, es wären Leute da, denen der Schreck bis unter den Scheitel fährt. Nun ja, manchmal war tatsächlich welche da, die danach mit schlotternden Knien das Weite suchten und zuhause etwas von Geistern und Dämonen faselten. Vielleicht auch deshalb war in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren niemand mehr hier. So hatte ich zwar meine Ruhe, aber gerne wäre ich schon irgendwie nützlich gewesen. Halt als Haus, wie man es kennt, in dem jemand wohnt, in dem ein Mensch wohnt. Schließlich bin ich eine Erfindung der Menschen, doch in mir wohnt nichts anderes als der Verfall.
Bis heute war niemand mehr hier. Bis heute, doch jetzt näherten sich tatsächlich irgendwelche Leute. Nur was hatten sie vor? Die Dämmerung war schon weit vorgeschritten und sehen würden sie von meiner Pracht kaum noch etwas. Das ist keine Übertreibung. So etwas wie Pracht hatte ich tatsächlich mal besessen. Nur ist das schon lange her. Um sie noch ansatzweise erahnen zu können, bedurfte es schon einer ausreichenden Menge an Tageslicht. Sonnenschein wäre ideal, dann wäre es mir auch nicht so kalt. So ohne Ofen und Heizung.
Doch was sie zu sehen beabsichtigten, war mir dann doch erstmal egal. Ich musste herausfinden, was sie vorhatten. Das war mein Gebot des Augenblicks. Deshalb lauschte ich noch angestrengter als zuvor und versuchte, mehr Worte aufzuschnappen. Mit Erfolg. Bald schon verstand ich ganze Sätze. Nur was ich hörte, gefiel mir noch weniger als zuvor die Abwertung als „Bruchbude“.
„Wissen Sie denn schon, wann die Bagger anrücken werden?“
Die Leute waren jetzt in Sichtweite. Ich konnte sie sehen. Es waren nur zwei.
„Nicht so forsch, Müller, ich muss erstmal einen Blick auf die Hütte werfen, damit ich weiß, welche Bagger ich hier brauche.“
„War nur eine Frage, Herr Trump. Wenn hier in nur einem Jahr eine Wellnessoase für Wanderer entstehen soll, dann wird es Ihnen als Investor wohl unter den Nägeln brennen. Aber wie sie es angehen, ist natürlich allein Ihre Sache.“
„Wahrscheinlich so ein anlagegeiler Ami“, dachte ich, „die sterben wohl nie aus. Wie die Heuschrecken. Und der Andere schein so ein erbärmlicher Arschkriecher zu sein.“
Die beiden Männer hielten inne. Neugierig und angestrengt sahen sie zu mir herüber. Ihre Augen schienen nicht mehr die Jüngsten zu sein. Das war ziemlich offensichtlich. Der als Herr Trump angesprochene Investor antwortete, als er glaubte, genug erkannt zu haben.
„Sicher will ich das schnell angehen, Müller, Zeit verschwenden ist nicht mein Ding. Aber wenn ich mich hier so umsehe, dann brauchen wir vielleicht gar keine Bagger. Die Bude bricht doch schon zusammen, wenn sich jemand zu laut die Nase putzt.“
„Mit der Einschätzung liegen Sie gar nicht so falsch. Im Dorf sagen die Leute, das Haus sei schon ein paarmal zusammengebrochen.“
„Wie bitte? Die Hütte steht doch noch oder sehe ich etwa schon Gespenster?“
„Genau dies meinen die Leute. Sie sagen, dass es hier spukt. Wie sonst wäre es zu erklären, dass sich das alte Gemäuer immer wieder selbst errichtet?“
„Bullshit, Müller, krasser Bullshit. Wenn meine Bagger erstmal da waren, dann baut sich hier nichts mehr von selbst wieder auf, da können sie sicher sein. Das ist doch quatsch, was die Leute da reden. Und Sie, Müller, Sie sind so blöd und pusten auch noch ins gleiche Horn. Da liegt es doch auf der Hand, warum Sie die Hütte jahrelang nicht losgeworden sind. Vielleicht sollte ich mir den Euro, den ich dafür bezahlt habe, auch zurückholen. Bei so viel Blödsinn wäre es doch wohl fair, wenn ich mir noch ein paar dicke Subventionen reinhole.“
Am liebsten hätte ich in diesem Moment ein wenig gepoltert und Spuk verbreitet, oder besser noch, mit ein paar Dachpfannen nach ihnen geworfen. Dem arroganten Kerl hätte ich so gerne ein wenig Wind in den Frack geblasen. Aber ich beherrschte mich und beschloss, mit meinen Kräften sorgsam umzugehen.
„An den Erzählungen muss aber was dran sein“, konterte Müller etwas selbstsicherer. „Vor über dreißig Jahren ist ein Bewohner des Dorfes hier bei einem solchen Einsturz ums Leben gekommen. Das ist verbrieft. Er wurde von einem herabstürzenden Balken erschlagen. Andere sind gerade noch mit dem Schrecken oder ein paar blauen Flecken davongekommen. Sie waren Augenzeugen. Seither hat sich niemand mehr in die Nähe dieses Hauses gewagt. Und wie wir sehen, steht die Bude wieder.“
„Quatsch, Müller, einfach nur Quatsch. Kommen Sie, gehen wir weiter. Ich will mir die Hütte mal aus der Nähe ansehen. Und vor allen Dingen von innen. Vielleicht kann man mit den Balken noch Geld machen. Altholz ist derzeit gefragt. Macht sich gut in großen Hotels. Vor allen Dingen in meinen. Als Kontrast zu Stahl und Beton.“
Jetzt wusste ich Bescheid, was da auf mich zu rollte und was ich zu erwarten hatte. Der Kerl wollte mich abreißen, zerfleddern und als Altholz verscherbeln. Und das alles, um hier mit einem Touristentempel machen.
„Die Idee sprüht ja vor Langeweile“, kam es mir in den Sinn. „Der sollte mich besser mal fragen, ob ich da mitspiele. Glaubt der denn wirklich, er könnte mich einfach mal so zu Dekomaterial verarbeiten, das seine nackten Betonklötze aufpeppt?“
Mittlerweile waren die beiden Männer herangekommen. Sie fummelten an meiner Eingangstür herum und stemmten sich dagegen, um sie auf zu bekommen. Richtig gearbeitet hatten die beiden noch nie, das war offensichtlich. Sonst hätten sie sich bei ihren Verschen nicht so dämlich angestellt. Ich hatte die Tür schließlich nur ein ganz klein wenige klemmen lassen. Wegen ihrer Unfähigkeit übte ich dann aber Nachsicht und lockerte die Verspannung. Dankbar waren sie für meine Hilfe allerdings nicht. Stattdessen fluchten sie lauthals, weil die Tür nun so unerwartet aufflog.
Nachdem das geschafft war, traten sie in mich ein und klopften sich den Staub von ihren Jacken. Den hatte ich ihnen freundlicherweise dort platziert. Nur so zum Spaß. Dass meine Tür außen frei von Staub war, war ihnen nicht aufgefallen. Der an ihren Jacken konnte also gar nicht von dort stammen. Hätten sie es gemerkt, hätten sie vielleicht ein wenig mehr Vorsicht walten lassen.
Im nächsten Moment blitzten fast gleichzeitig zwei Taschenlampen auf, die mir ins Gebälk leuchteten. Dass sie mich damit blendeten, war ihnen völlig egal.
„Ah, das sieht ja gut aus“, meldete sich Investor Trump zu Wort, „alles uralte Eiche. Das gefällt mir. Aus den Balken mache ich ein Vermögen. Da schicke ich doch gleich mal morgenfrüh meine Leute hier rein. Ich liebe es, wenn meine Kasse klingelt. Geld kann man schließlich nie genug haben.“
Die Kasse von Herrn Trump klingelte dann, trotz der Vorfreude und wider Erwarten, aber doch nicht.
Ich konnte diesen Schwätzer einfach nicht länger ertragen und entschloss mich, ein klein wenig unvernünftig zu sein. Was meine Kräfte anging, meine ich. Nur ein klein wenig. So viel musste ich mir einfach erlauben. Das Ziel war nämlich alles andere als unvernünftig. Ich entschloss mich, der Welt einen Dienst zu erweisen.
Als ich zu zittern begann, löste sich sogleich ein Balken aus der Decke. Zufällig genau über der Stelle, an der sich die beiden Männer gerade befanden. Dabei hätte ich ihn doch gerne gelassen, wo er war. Den Balken, damit hier keine Verwechslung aufkommt. Außenstehende ahnen ja nicht, was es mich an Mühe kosten wird, so ein schweres Ding irgendwann wieder an seinen angestammten Platz zu bringen.
Der Vorfall liegt nun etwa sieben Jahre zurück. Sieben Jahre voller Einsamkeit. Seither hat mich erneut niemand mehr besucht. Der Verlust von Investor Trump scheint Wirkung hinterlassen zu haben und noch immer in den Köpfen der Menschen präsent zu sein.
Später habe ich dann gehört, dass er ein schönes Begräbnis hatte. Gehabt haben soll, muss es wohl richtigerweise heißen. Genau weiß ich es nämlich nicht. Ich war ja nicht dabei. Aber Herr Müller. Mit verbundenem Haupt und einem Arm in Gips soll er am Grab gestanden haben. Er hatte halt nochmal Glück gehabt. Eigentlich hätte ich auf ihn ja auch sauer sein müssen.
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Der Wind pfeift – nicht nur draußen, auch durch die Ritzen in meinen Fenstern. Dann heule ich wie ein alter Schlosshund. Meine Dachbalken knacken wie alte Kniegelenke und meine Türen knarren und schnarren. Besucher meiden mich, haben Angst vor mir … und kommen dennoch voller Neugier dicht an meine Haustürschwelle. Sie klopfen zögerlich, läuten unsicher an meiner Türglocke und zucken erschreckt zusammen, wenn es in meinem Inneren rumort und poltert. Trotz allem bleiben sie, verharren erstarrt und warten gespannt auf was da kommen mag: erst wenn dann meine Bewohner, Charlie und Alice, gekleidet in gruselige Kostüme, die Tür aufreißen und die Kinder mit Süßigkeiten für ihren Mut belohnen, löst sich die Anspannung in Lachen auf. Halloween ist für mich das Highlight des Jahres!
Innenleben
Menschen. Lange waren keine mehr hier gewesen. Erst geliebt, dann verflucht, auf dass sie nie wieder zurückkämen. Trotzdem waren sie jetzt hier. Sie waren hier und betrachteten mich, meine alte Fassade, das eingestürzte Dach, sie sahen das Efeu, dass sich durch den Putz gefressen hatte und meine Steine fest umklammerte, sie sahen das Leid, dass die Menschen mir angetan hatten, all die Jahre, in denen ich ihnen ein Heim bot und sie mich Tag um Tag dem Zerfall überließen.
Ihre Taschenlampen blendeten mich, doch wider Erwarten erschraken sie nicht bei meinem Anblick, traten nicht zurück. Im Gegenteil: Sie kamen immer näher, da berührte einer von ihnen schon meine Türklinke. Seine Wärme ließ mich erschauern. Menschen. Es war eine Wärme, die ich all die Jahre vermisst hatte, die mir weder Fledermäuse noch Raben hatten geben können. Menschen. Ich ließ ihn herein, ich ließ sie alle herein, auf dass sie auch mein Innerstes bewunderten, ihre Fußspuren hinterlassen auf meinem Staubteppich.
Ich spüre ihre Schritte, höre ihre Stimmen. Wie sehr hatte ich die Menschen doch vermisst, plötzlich ist wieder Leben in meinem Innern. Jetzt sind sie wieder hier. Ich spüre ihre Wärme. Keiner dieser Menschen wird mich je wieder verlassen.
Dafür werde ich sorgen.