Seitenwind Woche 1: Gäste im Geisterhaus

Ein Wunder.

Es war nicht der Blitz, der mich aus meinem schlummernden Dasein riss, indem er die Jahre meiner Existenz in einem grellen Licht offenbarte. Mit der einst knallig roten Backsteinfassade, die nun von Rissen durchzogen und teilweise von wildem Efeu verdeckt war. Meine kaputten Fenster, die behelfsmäßig mit Brettern vernagelt worden waren. Moos auf meinem Boden, und Fledermäuse in meinem Dach. Ich war es gewöhnt - hieß Regen, wie auch Sonne stets Willkommen und gab mich dem unnachgiebigen Prozess des Vergessens hin. Die Natur holte sich zurück, was ihr vor sehr langer Zeit genommen worden war. Aber nicht gnadenlos, wie ein Wesen, das auf Rache sinnt. Es war die liebevolle Stimme einer Mutter, die ihr fieberndes Kind in den Schlaf sang. Unter diesen Bedingungen hatte ich friedlich schlummern können. Bei Wind und Wetter, Pflanzen und Tieren. Und darum war es auch nicht der Sturm, der mich unbarmherzig geweckt hatte. Es war ein Mensch. Um genau zu sein, waren es die von Panik gesteuerten Bewegungen einer jungen Frau, die in mir Schutz suchte. Und zusammen mit ihrem angstvollen Keuchen, rüttelte sie auch in mir die Erinnerung wieder wach. An den Anlass, warum ich hier, inmitten des Waldes, langsam verfiel und kaum noch etwas, an das prächtige Anwesen erinnerte, das ich bis zu jenem schicksalhaften Ereignis gewesen war.

Ich lenkte den Wind durch die Löcher und Schlitze meines zerschundenen Körpers und gab einen gequälten Laut von mir, der zu der damaligen Tragödie passte. Wie sehr hatte ich sie alle geliebt. Meine Familie.

Ich fühlte die hastigen Schritte, die durch den alten verstaubten Teppichboden gedämpft wurden und hörte, wie die Frau gegen meine Möbel stieß. Ich schmeckte das Salz ihrer Tränen auf meiner Haut - zusammen mit etwas, das ich nie wieder schmecken wollte: Blut.

Sie war verletzt.

Nein. Dieses Mal nicht. Dieses Mal würde ich mich nicht an die unausgesprochenen Regeln halten und nur zusehen. Damals hatte ich zugelassen, dass sie alle starben. Kaltblütig ermordet in ihren Betten. Hilflos. Wehrlos. Das würde sich nicht wiederholen.

Doch ihr Verfolger war bereits eingetreten. Ich hatte es nicht sofort bemerkt, da ihre Panik seine Freude überdeckte.

„Oh Sally“, flötete er ihr zu, als würden sie verstecken spielen. Ein Spiel, das ich oft zusammen mit den Kindern gespielt hatte. Aber ohne ihre Unschuld, ihr unbeschwertes Lachen, das freudige Umherhuschen, machte es mir keinen Spaß. Ich hörte seinen sadistischen Unterton und wusste, dass es hier um Leben und Tod ging. Sallys Tod.

Darum öffnete ich ihr eine kleine Tür, die zu einem versteckten Raum führte. Nervös beobachtete ich, wie Sally meinen Hinweis übersah. Hilflos rüttelte sie an den Türen, die ich ganz bewusst verschlossen hielt. Von ihr unbemerkt, riss ich mir ein Stück meiner Fassade heraus, damit das Licht des nächsten Blitzes ihr das Versteck offenbarte. Sie ging zurück und fand es. Das Knarren der Wandtür, als sie diese vorsichtig schloss, ging in dem Flügelschlagen der Fledermäuse unter, die ich auf ihren Verfolger hetzte. Gleichzeitig rollte ich den Teppich auf und sorgte dafür, dass der Boden unter seinen Füßen morscher wurde als er ohnehin schon war. Der Mann fluchte, taumelte zurück und ritzte sich an dem Nagel, den ich aus der Wand hatte stehen lassen, die Haut auf. Wieder schmeckte ich Blut. Aber dieses Mal wollte ich mehr davon. Sally würde überleben und wenn das meinen eigenen Untergang bedeuten sollte. Doch ihn würde ich mit mir reißen. Denn, das war meine Aufgabe. Es war die Liebe einer gesamten Familie, die mir damals geschenkt worden war. Eine Liebe, die Wunder bewirken konnte. Und das war das, was Sally brauchte: Ein Wunder.

Der Seelenfresser

Das Herbstlaub tanzt über die mit Schlaglöchern durchzogene Straße. Die letzten Sonnenstrahlen bringen die orangenen Farbtupfer noch einmal zum Erstrahlen, bevor die Nacht das verbliebene bisschen Farbe aus der Welt tilgt.

Ich beobachte, wie auch dieses Jahr mit dem herannahenden Winter, die Schaulustigen in meine Gegend einkehren. Eine Gruppe Jugendlicher läuft zielstrebig auf meine morsche Veranda zu. Sie habe große Taschen dabei und ich bin gespannt welche technischen Geräte diesmal darin verstaut sein werden. In den letzten zwei Jahrhunderten habe ich viele ihrer Spielzeuge gesehen.

Mit weit geöffneten Türen heiße ich sie willkommen. Neugierig schauen sie sich in meinem Inneren um. Betrachten die verstaubten Fotos längst vergessener Liebenden, stellen sich das verhallende Getrappel von Kinderschuhen auf dem maroden Holzboden vor und atmen in schnellen Zügen, die von Schimmel verseuchte Luft ein. Sie kennen die Gesichter nicht, die einst hier gelebt haben. Ich schon. Ich habe sie beherbergt, begleitet, behütet und beobachtet, bevor sie für immer meiner bemitleidenswerten Sammlung hinzugefügt wurden.

Meine Dielen ächzen und ein Schauer durchfährt mich. Ich werde ihnen geben wofür sie gekommen sind. Der Drahtbügel ist gespannt und das Stück Käse liegt bereit. Kommt ihr kleinen Mäuschen!

Meine verwinkelten Gänge und abgeschiedenen Zimmer werden sie in den Wahnsinn treiben und jeden Moment davon werde ich auskosten. Ein paar Krähen schreien Warnungen von meinem Dach herunter und die Ratten huschen unter den Dielen wild umher. Mit einem lauten Knall lasse ich meine Türen und Fenster zuschnappen. Die Gruppe dreht sich erschrocken um, bevor sie in schallendes Gelächter ausbricht. Sie schreiben es dem tosenden Wind zu, diese armen Seelen. Bald wird der Moment sie ereilen, in dem sie sich gewünscht hätten, niemals den Weg in meinen Bauch gefunden zu haben.

Dort

Im Staub liegt die Hoffnung. Wie ist das gemeint? Stehen diese Worte für ein Sinnbild mit Perspektiven, die einen Raum formen und ein Haus gestalten? Dieses kann Schutz gewähren, eine Heimstätte sein – oder einsperren und ein Gefängnis werden. Ist ein solches Bauwerk eine Verdinglichung aus Wunsch und Wirklichkeit? Ein Dasein mit endlosen Seiten, fast wie ein Leben?

Ja, es ist.

Es gibt dieses eine Bauwerk der vielen Formen, das immer wieder vergessen wird, weil es zu den endlosen Legenden gehört und nur in ihnen ein Fundament findet. Ein solches Haus kann überall erscheinen. Am Ende des Rabenswegs, gleich hinter dem Supermarkt, oder zwischen den Hügeln, irgendwo in Laos. Wo auch immer, steht es für ein einziges Wort allein – sirenenhaft verlockend: Warum.

Menschen suchen danach, nach dem „Warum“, dem „Warum ich“, oder stellen die Frage nach dem „Warum nicht ich*“. Sie kommen, manchmal in Gruppen, um etwas zu finden; Abenteuer, Schätze, eine Daseinsberechtigung. Manche suchen das Vergessen oder Wissen, andere die endlose Liebe, im tiefen Brunnen des Selbsthasses.

Am Ende jedoch sind sie alle gleich, denn die Stimme des Hauses, die soviel zu erzählen hat, wird nur selten verstanden; doch ist es eben diese, welche das Gebäude lebendig macht – augenlos, überall und ohne Worte. Es lebt und spricht über die Zunge der Zeit; durch Staub, denn Staub ist Leben. Die Sprache des Staubes überzieht alle Orte, alle Gemäuer und sämtliche Räume. Sie macht die Körper derer gleich, die das lockende Anwesen betreten. Eingesogen durch den Atem ihrer eigenen Leben, lässt das Haus die Sehnsüchte der Menschen erfüllt aufschreien und dann für immer schweigen.

Im Staub liegt die Hoffnung – begraben und verweilend.
Legt euch nieder und werdet was ihr wollt.

Feuer

So lange stehe ich hier auf dieser kargen Lichtung, umgeben von uralten Bäumen.
Sie recken ihre nackten Äste in den grauen Herbsthimmel. Der Wind pfeift durch meine kaputten Fensterscheiben und weht buntes Laub hinein. Sobald es meinen Dielenboden berührt, ergraut es.
Nichts, das längere Zeit in meinen vier Wänden hauste, überlebte am Ende.
Dieser Fluch stammt aus vergangenen Jahrzehnten und es gibt wohl nur einen Weg ihn aufzulösen, nur blieb niemand lange genug am Leben, um mir, dem Haus, diesen Gefallen zu tun.
Mit einem Schlag schließe ich meine halb verrotteten Fensterläden. Ich will diese Welt nicht mehr sehen. Will mich unter einer Decke aus Laub und Erde verkriechen und endliche vergehen. Nur wird mir der Fluch diesen Gefallen niemals gewähren.
Tage vergehen, ich liege da und schweige. Die Hoffnung endlich erlöst worden zu sein, war doch nur ein fader Traum.

»Da ist es! Hab ich zu viel versprochen! Das Haus ist übelst gruselig!«
»Na, ja. Heruntergekommen trifft es wohl eher.«
»Lis, hör auf, uns den Spaß zu versauen. Du hättest ja nicht mitkommen müssen.«
»Ich sage nur, dass es bis jetzt ein einfaches Haus ist. Punkt. Und ich musste mitkommen. Du kannst nicht mit der Kamera umgehen und unsere Follower wollen Bilder von der Hütte des Todes.«

Was war das? Sind da Menschen zu mir gekommen? Und sie finden mich nicht gruselig? Das kann ich ändern. Dazu muss ich nur meine Augen öffnen.

»Verdammt!«
»Was soll das? Tom? Ist das auf deinen Mist gewachsen? Tom?«
»Lis, ich schwöre dir, ich habe hier keinen Knopf mit dem ich alle Fensterläden im Haus aufschlagen kann.«

Ich kann noch mehr ihr kleinen Menschen. Aber tretet erst einmal ein.

»Das ist super creepy! Die Tür geht von selbst auf Tom!«
»Ich weiß. Wir sollten…«
»Und am besten aufteilen? Vergiss es! Wir bleiben zusammen. Ich filme ab jetzt alles und du komentierst und beschützt uns vor allem, was da drinnen lauert.«
»In Ordnung.«
»Kamera läuft!«
»Okay Leute. Den Anfang habt ihr leider verpasst, das Haus hat zu erst die Fensterläden geöffnet und jetzt die Tür. Es sieht so aus, als würde es uns hereinbitten. Wir haben jetzt schon die Hosen voll, aber wir gehen rein. Wir betreten jetzt die Veranda. Das Holz quietscht unter unseren Füßen und jetzt wage ich mich rein.«
»Tom! Siehst du, was der Staub unter deinen Schuhen macht?«
»Er wirbelt auf?«
»Vor allem sinkt er nicht mehr zu Boden. Als gäbe es hier drin andere Naturgesetze.«
»Ja, ich sehe es. Wir sind im Treppenhaus und ich gebe der Hütte des Todes jetzt schon eine Fünf von zehn Punkten auf der Gruselhausskala.«
»Tom?«
»Lis?«
»Ich fühle mich ganz merkwürdig. So als würde etwas an mir ziehen.«
»Wie meinst du das?«
»Oh mein Gott! Tom!«
»Lis! Die Kamera! Was zu Teufel? Lis! Wie kommst du da nach oben an die Decke?«
»Verdammt! Ich weiß es nicht! Hol mich hier runter! Etwas hält mich fest!«
»Warte! Ich bin gleich wieder da!«
»Tom! Nein! Geh nicht weg!«

Du heißt also Lis. Ich hatte auch einen Namen, aber der ist in Vergessenheit geraten. Du bist anders als die anderen Menschen, das habe ich sofort gespürt. Vielleicht kannst du mir helfen. Ich werde meine Energie durch dich fließen lassen, dadurch kannst du alles sehen, was ich gesehen habe. Von Anfang bis Ende.

Ich war einmal ein Mensch. Vor langer Zeit beschloss ich, hier ein Haus zu bauen. Dieses Haus. Natürlich habe ich nicht auf die Dorfbewohner gehört, die mir sagten, dass diese Bäume heilig seien. Sie standen angeblich seit Anbeginn der Zeit hier und beherbergten die Seelen der Toten. Ich war ein junger Mann und scherte mich um meine Angelegenheiten, mein Haus, meine Familie, meine Seele. Ich fällte viele der Bäume, schnitt sie zu Brettern, Balken und Dielen und zimmerte daraus dieses Haus.

Vielleicht verfluchten die Dorfbewohner mich, vielleicht taten dies auch die Seelen der Toten. Meine Familie starb wenig später in diesem Haus auf tragische Weise, genau wie ich selbst. Jedem der dieses Haus kaufte und darin einzog, erging es so. Ich blieb hier, musste Jahr für Jahr alles mitansehen. Ich beherrschte zwar diese vier Wände, kam aber nie heraus und konnte auch niemanden beschützen. Niemand hörte mir jemals zu. Niemand war je wie du. Aber du, kannst es beenden. Ich zeige es dir.

»Leute! Ich weiß nicht, wie Lis an die Decke gekommen ist. Aber seht euch das an! Sie hängt da oben, als lege sie auf dem Boden. Lauter leuchtende grüne Bahnen oder Wurzeln halten sie fest und gehen sogar in ihren Körper. Es sieht aus, als würde sie vom Haus mit Licht versorgt. Ich hab keine Ahnung, was hier abgeht. Aber diese Hütte hat die Richterskala so eben gesprengt.
Oh man! Das Leuchten wird schwächer. Und, und Lis schwebt in Zeitlupe zu Boden.
Lis? Wie geht es dir? Komm ich helfe dir auf.«
»Danke. Es, es geht mir gut.«
»Was ist mit dir passiert?«
»Er hat mich um Hilfe gebeten.«
»Wer?«
»Der Erbauer des Hauses.«
»Okay. Und wie sollen wir ihm helfen?«
»Das ist ganz einfach. Ich zeige es dir.«
»Wohin gehst du?«
»In die Küche.«
»Du weißt wo hier die Küche ist?«
»Natürlich. Und ich brauche diese zwei Dinge.«
»Was wird das? Lis, ich glaube, das solltest du nicht tun. Du siehst nicht gut aus.«
»Es gibt keinen anderen Weg. Ich schütte diese hochprozentige Flüssigkeit auf die Treppen und nehme dann diese Streichhölzer und brenne diese verfluchte Hütte nieder.«
»Lis! Nein!«
»Doch!«
»Verdammt Lis! Das brennt wie Zunder! Wir müssen raus hier!«
»Ja, raus aus diesem Haus. Endlich!«

Haus mit grünem Daumen

Ich bin das Horrorhaus am Ende des Rabenwegs und liege inmitten eines gepflegten Gartens, den ich mit lebensechten Büschen angelegt habe. Skateboardfahrer, Wanderer oder Reiter im vollen Galopp, um nur einige zu nennen. Ein Hobby von mir, jeder hat so seine Eigenarten.

Seltsamerweise fühlen die Menschen sich magisch von mir angezogen, klettern über die Mauer meines Anwesens oder versuchen, in meine mit Antiquitäten gefüllten Räume einzudringen. Undenkbar, dass einer von ihnen in mir wohnen könnte!

Heute Nacht ist es wieder so weit und die Nächsten unternehmen eine Attacke auf mich. Ich kann sie an ihren Taschenlampen erkennen, wie sie sich langsam durch die Nacht zu meinem Garten schleichen. Jetzt zittert das Licht leicht, steigt in die Höhe und wieder herunter, sie sind über die Mauer geklettert. Ich öffne einladend meine Eingangstür, die gleichzeitig mein Mund ist. Die Taschenlampen kommen näher. Ahnungslos betritt eine Gruppe Abenteuerlustige den Eingang.
So viele heute Nacht – wunderbar!

Ich schließe meinen Mund, jetzt gibt es kein Entkommen mehr. Wie schon gesagt, bin ich ein Horrorhaus! Guten Absichten sind mir fremd.

In hohen Bogen spucke ich sie aus und sie landen als neue Büsche in meinem Garten. Eine Gruppe Einbrecher in geduckter Haltung mit Taschenlampen in den Händen. Mein Garten ist halt mein Hobby und ständig kommen neue Pflanzen hinzu.
Dahinten sehe ich schon wieder eine Taschenlampe. Scheint eine aufregende Nacht zu werden!

Die alte Villa

Ich habe über die Jahrhunderte schon so einiges Unheil mit erleben müssen.
Seit dem schicksalhaften Tag, an dem die Hausherrin von einem der Diener ermordet wurde, ging es nur noch bergab.
Die Stadtwachen haben den Mörder schnell festgenommen und in den Kerker geworfen. Doch etwas ist zurückgeblieben. Etwas Finsteres und Böses, hat seitdem mein Innerstes durchdrungen und hier Fuß gefasst.
Erst hatte ich es nicht bemerkt, doch über die Jahre hat es sich an jedem noch so kleinen Unglück der Bewohner gelabt und ist gewachsen. Jetzt kann ich förmlich spüren, wie seine unsichtbaren Fühler über meine Innenwände gleiten und mich vergiften.
Aktuell sind meine Bewohner eine Gruppe von Dämonenbeschwörern. Sie haben ein paar ahnungslose Dorfbewohner zu mir gelockt und meine Wände mit deren Innereien besudelt. Das ist einfach nur widerlich.
Doch dem Wesen gefällt es.
Der Weihrauch, den die Bewohner nutzen, um ihre finsteren Rituale zu vollziehen, durchdringen mein altes Holz und machen mich benommen. Türen fallen zu und die Dielen knirschen. Die Bewohner glauben, das seien Zeichen dafür, dass ihre Rituale Funktionieren. Was für Narren.
Hilfe ist zum Glück bereits auf dem weg. In der ferne erkenne ich eine Gruppe Abenteurer, die auf mich zu kommen. Ihren Anführer kenne ich. Er hat schon mehrere Male ungebetene Gäste verjagt.
Einladend öffne ich meine große Eingangstür. Doch diese Geste scheint sie etwas zu erschrecken.
Vorsichtig betreten sie mein Inneres.
Der verdammte Rauch bringt mich zum Niesen. Die Tür schlägt mit einem lauten Knall ungewollt schnell zu.
Sie versuchen, die Tür wieder zu öffnen. Doch ich weigere mich.
„Befreit mich erst von diesen ungehobelten Bewohnern!“

Hilferufe

Seit nun mehr als 50 Jahren stehe ich hier herum. Seit fünf Dekaden nun flehe ich Sie an, sollten Sie sich hierher zu mir verirren. Doch seit dem Niedergang bin ich allein und Sie verstehen mich nicht. Seit Generationen nun warte ich auf meine Erlösung.

Ich bin in der Zwischenzeit zugewachsen und eingehüllt worden von dicken Efeuranken. Spitze Dornen von Kletterrosen schmiegen sich an mein äußeres Gemäuer, bohren sich langsam aber stetig in mich hinein. Wilder Wein ist in mein Inneres durchgebrochen und befällt meine Innenwände und droht sie mittlerweile langsam immer mehr auseinanderzureißen.

Gefühlt nun nach einer weiteren Ewigkeit erscheinen Sie mal wieder einmal auf meinem Grund. Sie verirren sich schließlich nicht zum ersten Mal hierher. Meine Hoffnung steigt von Neuem an. Werden Sie meine Rufe dieses Mal verstehen? Werden Sie dieses Mal meinen Hinweisen folgen? Werden Sie mir dieses Mal endlich gehör schenken, aufmerksam sein und mir – helfen?

Tief im inneren von mir, weit unten im Keller, steht die Truhe, die mich erlösen und retten könnte. Sie müssen sie nur finden und öffnen. Ich lasse mit ganzer Kraft meine Wände vibrieren, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich versuche, die Fesseln der Natur zu lösen und im besten Fall abzuwerfen. Alles raschelt, knarzt und knackt. Irgendwo hinter mir kracht es laut. Sie werden aufmerksam auf mich, schreien kurz laut auf. Ich lasse einige Fensterläden aus Holz gegeneinander krachen. Mit meinen noch verbliebenden Kräften bewirke ich, das Kohlenstaub aus dem alten Keller emporsteigt. Doch es ist schon wieder zu spät. Nun sehe ich, wie Sie erneut verschreckt die Flucht ergreifen.

Was wird nur aus mir werden? Wann werden Sie letzten Endes mutig genug sein? Ich werde warten. Bis Sie erneut wieder bei mir erscheinen und einer endlich den Mut aufbringt, mich zu betreten und zu befreien. Ich, das alte Geisterhaus, darf und will nicht zu Schutt und Staub verfallen. Doch der Wettkampf gegen die Zeit wird von Jahr zu Jahr schwieriger und unmöglicher zu gewinnen…

Beate

Auf meinem Flur stand Beate.
Wunderschön, weiß wie frisch gefallener Schnee, ein Schweif und die Mähne wie aus feinsten Seidenfäden. Und auf der Stirn das schönste Horn, dass jemals existiert hat.
Sie tauchte dort nur auf, wenn jemand durch die Tür kam.
Darum wohnte jetzt schon auch lange keiner mehr in meinen Zimmern, nur Beate.
Beate wohnte nicht wirklich in einem Zimmer, sie wohnte irgendwie dazwischen und tauchte im Flur auf, wenn sich noch jemand durch die Tür wagte.
Wie schon gesagt.
Was gar nicht mal so selten passierte.
Da kam mal ein Paar, sie schlüpften kichern, eng aneinander gekuschelt, durch die Haustür, hatte nur Blicke füreinander. Sonst hätten sie Beate bemerkt. Aber so war es zu spät.
Zuerst bohrte sich Beates Horn durch die Brust der Frau, Blut ergoss sich in Wellen über den schon rostroten Boden.
Dann hob Beate den Kopf und schleuderte die Frau hin und her und hin und her, Blut besprenkelte die Wände die Decke und den Mann.
Der Mann schiss sich die Hosen voll, braune Suppe zwischen dem ganzen Rot, zum Glück habe ich keinen Geruchssinn.
Dann zerriss es die Frau und zu dem Blut der Frau und der Scheiße des Mannes, kamen noch Fleischfetzen, Organe und die Scheiße der Frau hinzu, welch ein Spektakel.
Der Mann, begossen mit allem, was einen Menschen ausmacht, schaffte es, sich umzudrehen, aber die Tür erreichte er nicht mehr.
Ach Beate.
Zwei Tage später, kam eine ganze Familie.
Allerliebst, zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, zwei Erwachsene.
Sie traten durch die meine Tür, schauten sich um.
Der Junge rief noch:“ Schaut mal, ein Einhorn“

Der Wind fegt erbarmungslos durch die Äste der Birken, die den Wegesrand meines Gartens säumen, und entlocken meinen Fensterläden ein fröstelndes Klappern. Zwei Jahrhunderte lasten schwer auf meinen Dachziegeln und seit geraumer Zeit trage ich dein Geheimnis in mir.

Oh, Alfred! Was hast du nur getan…Die Menschen fürchten mich noch immer. Dabei war ich einst so schön. Man war Stolz auf mich. Ich wurde gehegt und gepflegt. Meine Zimmer strahlten, bis du kamst und mich in Dunkelheit gehüllt hast.

Nun bin ich das Mörderhaus. Du hast mir meinen Glanz genommen. Du elender Wicht!

Das Quietschen des alten Eisentors reißt mich aus meinen Gedanken. Ich höre ein leises Flüstern: „Ist es das?“ Eine Frau. Sie klingt jung und ein wenig ängstlich.

„Ja. Das ist Maison Obscurité“, antwortet eine tiefe Stimme. Sie erinnert mich an deine Stimme, Alfred.

Ihre Schritte kommen näher und schon bald tritt das Paar in mein Blickfeld. Die Frau umklammert den rechten Arm des Mannes und ihr Blick schweift hektisch von links nach rechts. Ich höre ihren aufgeregten Herzschlag. Panik macht sich langsam in ihrem Inneren breit.

Sie erklimmen die Stufen zu meiner aus Ebenholz gefertigten Eingangstür. Ich entzünde einige Kerzen im Flur, während der Mann die Hand ausstreckt, um die Tür zu öffnen. Sie schlägt mit zu viel Schwung auf. Der Knall hallt in meinem Gemäuer wider. Schmerz durchfährt mich.

Undankbare Menschen.

Als sie eingetreten sind, lasse ich meine Tür scheppernd hinter ihnen ins Schloss fallen. Der Frau entfährt ein schriller Schrei und auch der Mann zuckt ein wenig zusammen. Sollen sie zusehen, wie sie hier herauskommen.

Nach einiger Zeit kommen sie an der Tür deines Spielzimmers an. Alfred, hörst du? Sie werden dein Geheimnis lüften. Vielleicht wird der Schleier der Dunkelheit, der auf mir liegt, gelüftet.

Die Tür ist verschlossen und auch ich besitze nicht die Macht sie zu öffnen, aber der Mann wirft sich bereits mit seinem gesamten Gewicht dagegen. Sie gibt nach.

„Oh mein Gott!“, entfährt es der Frau. Sie schlägt die Hände über ihrem Mund zusammen „Maurice…“

„Was Adeline?“ Mühsam rappelt Maurice sich auf und umfasst Adelines Schultern. Er hat noch nicht gesehen, was sich in diesem Raum befindet. Sie haben dein Spielzimmer gefunden, Alfred. Sie werden dein Geheimnis lüften und vielleicht werde ich dann frei von deiner Dunkelheit sein

Sie streckt langsam ihren Finger aus. Ihr ganzer Körper zittert. Maurice‘ dreht langsam seinen Kopf in die Richtung, in die Adeline zeigt. Als sein Blick auf das Unheil fällt, weicht ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht.

Im Namen des Knusperhäuschens

Großmutter Knusperhaus hat es mir immer und immer wieder eingeschärft: Die Familienehre steht auf dem Spiel und muss jedes Jahr zu Halloween erneut verteidigt werden!
Wenn diese ach so unschuldig wirkenden Kinder wieder mit Taschen, Körben und Beuteln unterwegs sind und „Süßes oder Saures“ rufen, dann sollen sie Bitteres bekommen. Für die Plünderung des Knusperhäuschens seinerzeit und die Verbrennung der armen Hexe muss Rache geübt werden. Das ist meine Aufgabe, die ich in aller Ernsthaftigkeit und Grausamkeit erfüllen werde.

Es war so weit: Der letzte Oktoberabend war angebrochen und die besagten Kinder waren als kleine Gespenster verkleidet unterwegs, auf der gierigen Jagd nach Süßigkeiten. Als hätten diese verwöhnten Blagen nicht das ganze Jahr genug zum Naschen. Aber, wie heißt es so schön: Rache ist süß.
Ich hatte mich herausgeputzt. Vor meinem Eingang standen mit Grimassen verzierte Zentnerkürbisse mit dicken Kerzen darin.
Teelichter leuchteten in allen Fenstern. Bunte Lichterketten hingen von den Dachrinnen und Regenrohren herab, gemütlicher Rauch stieg aus dem Schornstein steil in den Abendhimmel.
In den Bäumen im Vorgarten hingen an Strippen bunte Drachen und Hexlein auf Besenstielen, die flatterten und schaukelten vor sich hin. Das Beste und Raffinierteste war allerdings ein appetitlicher Duft nach Plätzchen und Kuchen, der aus jeder Ritze meiner Holzwände nach draußen drang und die Menschenbrut unwiderstehlich anlockte. Sie kamen, klingelten und bullerten an meine Tür. Dazu riefen sie wieder penetrant ihr „Gib uns Süßes, sonst gibt es Saures! Mach auf!“
Und ich machte ihnen auf! Sie wunderten sich, dass sie niemanden sahen, aber ich rief ganz freundlich von drinnen:
„Kommt nur herein, ihr lieben Kleinen, ich bin hier in der Küche!“
Sie kamen auch ohne Zögern, kichernd und sich gegenseitig vorwärtsschubsend. Sofort ließ ich hinter ihnen die Tür ins Schloss fallen und den Riegel zuschnappen. Gefangen! Sie merkten es nicht einmal.
In der Küche hatte ich den Tisch gedeckt. Mit Tellern voller Süßigkeiten, Gebäck und Kuchen, mit Gläsern voller Limonade und Saft. Sie stürzten sich darauf, ohne sich umzusehen, als gäbe es kein Morgen.
Ich ermunterte sie mit meiner freundlichsten, leider etwas knarrenden Stimme, tüchtig zuzulangen, zu essen und zu trinken und sich so viel wie möglich für den Heimweg einzupacken. Sie taten sich wirklich keinen Zwang an. Immer wieder hexte ich neue Leckereien nach, wenn die Teller geleert waren. Die Kinder merkten nicht, wie sie langsam anschwollen, dicker und dicker wurden. Sie mampften und hatten ihre Münder so vollgestopft, dass sie nicht reden geschweige denn schreien konnten. Die ersten kleinen Fresssäcke fingen an, in der Luft zu schweben. Sie stießen an die Decke, torkelten und trudelten wie Lenkdrachen außer Kontrolle durch die Küche. Ich ließ alle meine Türen aufspringen, und sie schwebten die Treppe hinauf bis unter das Dach. Als sie alle oben waren, öffnete ich die Dachluke und ließ sie in den dunklen Himmel aufsteigen. Ich lachte, dass sich meine Balken bogen und einige lockere Dachziegel ins Rutschen kamen. Es war mir egal, wohin der Abendwind sie tragen würde und ob sie überhaupt jemals zu Vater und Mutter zurückkehren würden.

Tage später steckte in meinem Briefkasten eine Zeitung mit der Schlagzeile: „Sieben Kinder nach Süßigkeiten-Exzess in Klinik eingeliefert!“ Ich las den Artikel begierig. Die Kinder wussten nicht mehr, wo und wie viel sie in der Halloween-Nacht gegessen hatten und warum man sie 50 Kilometer von zu Hause schlafend in einem Waldstück gefunden hatte. Ihre Eltern hätten sie kaum wiedererkannt, sie hätten ausgesehen wie kleine Mastschweine. Die Ärzte vermuteten eine unbekannte Droge, die den Kindern verabreicht wurde.
Ich lachte böse. Das war für dieses Jahr ein ausreichendes Maß an Genugtuung gewesen. Diese Pilzzucht im Keller musste ich unbedingt pflegen und am Leben erhalten, bis zum nächsten Halloween.

14.10.2023
© Katrin Streeck

Ich bin ein Gruselhaus!

Da kommen sie im Dämmerlicht vom anderen Ende des Rabenwegs. Ich habe sie früher erwartet. Die Warnung meiner Altersgenossen war nicht zu überhören.
Vermutlich hat der Bus mit einer Stunde Verspätung vor der Haltestelle mit dem Wrack eines Wartehäuschens gehalten. Dann hat es Zeit gekostet, den Sinn der Schmierereien an den blinden Scheiben zu entziffern und Zigarettenkippen einzusammeln. Der löchrige Papierkorb wird seinen Spaß gehabt haben!
Sie nähern sich, tappen über das Kopfsteinpflaster mit dem braunen Teppich aus Kastanienlaub. Links ein Hüne in Jeans, Parka und Gummistiefeln. Er wirkt in der Uckermark wie ein verirrter Wattwanderer. Rechts eine Frau in Turnschuhen in einer Größe, die einen Basketballstar freut. Der Herbstwind bauscht ihr geblümtes Sackkleid auf. In der Mitte stöckelt die Dritte im Bunde. Sie verschränkt die Arme vor dem Körper, ihr Kleid stammt aus der Sommerkollektion eines Designers. Jetzt kann ich das Trio hören.
„Na, Lenchen, trägst du das richtige Schuhwerk?“
„Ach, Robbie, die Pumps passen doch farblich perfekt zu meinem Outfit“, sagt sie und rüttelt einen Absatz zwischen zwei Pflastersteinen frei. „Wo hast du uns hier hingeführt, Ricarda?“. Sie seufzt.
„Gerade hier sind wir richtig. Auch die Menschen in der Diaspora sind Ziel unserer Mission“, sagt Ricarda und erklimmt die vier Stufen zur Haustür.
Ich bin allein. Meine Bewohner genießen die Herbstferien im Süden, lassen mich bei abgestellter Heizung frieren. Die Türklinken zur Küche und dem Wohnzimmer sind eiskalt. Ich kühle schnell aus, auch wenn die Familie die zweihundert Jahre alten Mauern denkmalgerecht gedämmt hat.
Der Türklopfer kracht. Ricarda schlägt ihn auf meine Planken. Nicht um Einlass bittend, fordernd. Sie presst ihre Nase gegen das rautenförmige Fensterchen.
„Keiner da?“, ruft sie und hinterlässt auf dem Glas den Abdruck ihres Lippenstiftes.
„Kommt, wir gucken uns um“, sagt Robbie und schlurft zur rechten Hausseite. Gummistiefel schmatzen, Turnschuhe quietschen, Stöckelschuhe graben sich in den Rasen.
Sie umrunden das Haus innerhalb einer Minute, landen wieder vor dem Eingang.
„Das habe ich mir doch gedacht: Keine Wärmepumpe!“ Ricarda spitzt die blassroten Lippen und zieht die Stirn kraus. „So etwas nenne ich Gruselhaus!“ Sie lässt ihre Wut am Türklopfer aus.
„Lenchen, da steckt doch was im Briefkasten, zieh es mal raus.“ In Notsituationen ist Robbie bereit, das Postgeheimnis zu vernachlässigen. Lenchen auch. In diesen Zeiten sind Prioritäten zu setzen.
Das Trio steckt die Köpfe zusammen. Ricarda reißt das Papier an sich, faltet ein fünfseitiges Pamphlet auf, das meine Familie am Tag der Abreise erhielt und nach dem Öffnen fluchend zurück in den Briefschlitz steckte.
„Bescheid. Untere Baubehörde. Blablabla“, liest Ricarda laut. „Im Namen von Blablabla ist es Ihnen untersagt, eine Wärmepumpe blablabla, Abstandsgebot zum Nachbarn, Unterschreitung von 23,2 cm, Geräuschemission hmhmhm, wir verweisen auf das Urteil vom… Und so weiter und so weiter!“ Ricarda schnauft. Lenchen streicht sich mit fliegenden Händen das Kleid glatt. Unter ihren Achseln bilden sich Flecken. Robbies Dreitagebart knirscht unter seinen Fingernägeln wie ein Fischkutter am Anleger.
„Oh Gott, sei still! Das ist der Horror! Nichts wie weg hier!“ Robbies Stimme überschlägt sich. Seine Gummistiefel platschen über das Pflaster, Lenchen rennt hinter ihm her, in jeder Hand trägt sie einen Schuh.
„Wartet, lasst mich hier nicht allein!“ Ricardas Schrei gellt durch die Rabenstraße. Krümel rieseln von meinem Rauputz. Sie stopft die Papiere in den Briefkasten, der Deckel klappert, sie atmet schwer. Dann trommeln ihre Schritte und wecken einen Buntspecht. Er pfeift ihr nach. Der Herbstabend verschlingt die drei.
Ich bin erst einmal in Sicherheit.
„Wie lange noch, altes Haus?“, nuschelt der Wind unter meinem Reetdach.

Das Haus bin ich

Sechs Füße, die über den Boden der Eingangshalle schleichen. Einer mit breiten Schritten, der andere tritt fest auf und die Trippelschritte sind weiblicher Natur. Ich spüre Sie auf meinen alten Dielen, wie die Mäuse oder Käfer. Einer Spinne gleich, in Ihrem Netz, fühle ich alles in diesem Haus. Das Haus bin ich. Meine Ruhe ist gestört.
Sie sind in mich eingebrochen und haben die Eingangstür beschädigt. Der Wind weht kräftiger in mir denn zuvor. Ich höre Ihr flüstern, spüre Ihre Aufregung in jedem Atemzug. Hände betatschen das Geländer der Treppe, kühl und heiß.
Sie kommen herauf, sie riechen nach Angst.
Lange gab es hier keinen Besuch mehr im Rabenweg Nummer dreizehn.
Die letzte Herrin des Hauses verstarb vor zehn Jahren, hier oben im Schlafgemach. Das hat mich erweckt, ihre endgültigen röchelnden Atemzüge, bevor das Herz aufhörte zu schlagen. Seit dieser Nacht bin ich, das Haus. Tiere haben sich eingenistet, wie der Marder und die Eule unter dem Dach, die Ratten im Keller und die Mäuse in der Küche. Käfer, Fliegen und Spinnen sitzen in den Ritzen und Ecken. Von Jahr zu Jahrzehnt verrottet das Holz, welches niemand mehr streicht. Das was am besten währt, sind die Fliesen, welche gebrannt, existieren, wenn ich verfallen bin.
Die Dielen und die Treppe knarzen bei jedem Schritt meiner Besucher. Sie Streunern in den Räumen umher, sie kichern, wedeln mit ihren tragbaren Lichtern. Sie öffnen Schränke, Türen oder Fenster. Sie drehen an den Armaturen im Bad. Sie reden lauthals und der Geruch von Angst schwindet.
„Wer seit Ihr?“ Lasse ich es durch die Räume wispern.
Sie stocken, ich höre Ihre Herzen pochen.
„Wer wagt es, mich zu begehen, wer wagt es, mich zu begrapschen und meine Seelenruhe zu entweihen?“
Einer rennt, die anderen stehen steif vor Angst. Flüssigkeit besudelt die Dielen.
„Verschwindet!, dröhne ich und der Wind schlägt alle Türen hinter ihnen zu.
Sie kreischen. Stolpern über ihre eigenen Beine. Sie rennen ins Freie und davon.
Der aufgewirbelte Staub legt sich, die Mäuse kommen aus Ihren Verstecken und der Wind raunt durch die Zimmer. Ich atme ein, die Ziegel klirren, das Gebälk knarrt.
Ruhe.

Der Mörder und sein Haus

Wenn ich sprechen könnte, würde ich wohl viel zu erzählen haben. Aber ich kann es nicht. Selbst meine Wände nicht. Dabei könnte man ihnen womöglich ablesen, was sie mehrere Jahrhunderte lang mit ansehen mussten.
Noch bevor mein Dasein an diesen Ort verlegt worden war, stand ich woanders. Auf einem lieblichen Feld, umgeben von schönster Natur. Ein Herrenhaus in seiner schönsten Pracht. Und mein Besitzer ein erfolgreicher Kaufmann, der jäh von seinem Weg abkommen musste.
Seine Handel wurden kriminell, seine Taten gewalttätig und er selbst immer erfinderischer in seiner Brutalität.
Der örtliche Friedhof wuchs in wenigen Jahren um beachtliche Größe an und wurde dann mit der letzten Leiche geschlossen. Meinem Besitzer.
Zur Strafe sollte er selbst nach dem Tode von seinen gequälten Opfern verfolgt und gestört werden, sodass er niemals Frieden fände. Und ich wurde zerstört und hier neu wieder zusammen aufgebaut, als Schande für meinen alten Herrn.
Über die Opfer wurde geschwiegen.
Die Geschichte wurde vergessen.
Der Friedhof niemandem bekannt.
Dennoch scheinen Menschen wie angezogen von mir.
Dieses Haus, was nur noch ein Schatten seiner einstigen Pracht war und nichts außer die Schmerzen kennt, die ich unfreiwillig von den Opfern übernommen habe, als sie ihren letzten Atemzug taten.
Dennoch kommen sie hierher, streifen durch meine Flure, berühren meine Wände und zerstören oder stehlen.
Und ich gebe ihnen immer etwas mit. Ob schlaflose Nächte, Fetzen von Erinnerungen oder qualvolle Schmerzen. Und manchmal…
Ich sehe das ängstliche Gesicht der jungen Frau, die sich haltesuchend an ihren Partner klammert, während drei weitere Personen den Flur zur Treppe entlang laufen. Sie zittert und schüttelt den Kopf, bevor sie eilig das Haus verlässt. Eine Gestalt folgt ihr und hebt seinen Hut mir zum Abschied. Darunter klaffen die Wunden von ausgekratzten Augen und einem in der Mitte gespaltenem Gesicht. Ein Lächeln ist dennoch unverkennbar. Kalt und grausam, wie eh und je.
Manchmal… manchmal schicke ich auch meinem Herren mit.

Nächtlicher Spaß

Draußen herrscht Ruhe und Einsamkeit. Um mich herum ist es dunkel, der Mond versteckt sich hinter den Wolken und die Raben schlafen längst. Aber in mir wird es jetzt erst laut. Hermine findet sicher wieder eine Ecke, die sie entstauben kann. Ihr habt ja keine Ahnung, wie schnell Spinnen ihre Netze weben. Hat man sie im Untergeschoss entfernt, tauchen sie woanders wieder auf. Paul liebt es, wenn alles sauber ist und wird sich freuen, wenn es hier glänzt. Ich mochte Paul sofort und wie sich herausstellte, beruhte es auf Gegenseitigkeit. Jetzt höre ich den kleinen Karli, wie er durch das Haus düst. Autsch, Mensch, Karli, knall doch mit meinen alten Türen nicht so doll! Karlis Lachen ist so ansteckend, dass meine Fensterläden klappern. Ich höre einen Schrei. Wer ist das? Seid mal alle still. Nur der Wind raschelt in den Blättern. Ich rieche Menschen. Wer trampelt da mit seinem Gewicht auf meinen Stufen herum? Karli, weg von der Treppe. Paul? Passt du bitte mal auf den kleinen Quälgeist auf? Jetzt kommen sie durch die Tür. Eins, zwei, drei, oha, eine ganze Gruppe. Acht seltsam gekleidete Menschen stehen im großen Foyer dicht gedrängt beieinander. Also eher nicht von der mutigen Sorte. Als ob ich denen was tun würde. Immerhin haben sie kein Piepsding dabei. Manchmal kommen Leute her, die ernsthaft glauben, dass sie mit dem Piepsen irgendwelche Geister enttarnen können. Mit denen haben wir immer viel Spaß. Aber die hier sehen wie richtige Abenteurer aus. Vielleicht ist die Gruppe nicht so einfältig und wir können uns die Nacht über miteinander beschäftigen. Unten im Dorf ranken wohl Schauergeschichten über uns. Menschen haben oft zu viel Phantasie und irgendwann kam die Dorfjugend hierher, um sich gegenseitig zu beweisen, wie mutig sie sind. Ich weiß noch, dass dem einen die Hose nass wurde und am Ende rannten sie alle nach Hause. Was haben wir gelacht.
Meine Holzdielen knarren vor Aufregung. Sie schauen sich die Bilder im langen Flur an. Vor einigen Jahren wollte ein Typ eine Gruselausstellung zu meiner Geschichte eröffnen und hängte Abbildungen der Menschen auf, die in mir lebten. Am Ende war es ihm hier zu gruselig. Ein leises Flüstern ist zu hören: „Schaut, das muss dieses Hausmädchen sein.“ Eine Frau antwortet: „War sie nicht unglücklich in den Hausherren verliebt und brachte sich um?“ Den Rest höre ich nicht mehr, denn meine Gedanken wandern ins Jahr 1843 zurück. Sie haben unrecht. Bis heute verfolgt mich mein schlechtes Gewissen, weil ich sie nicht retten konnte. Sie putzte die Fenster. Ich hatte es nicht geschafft, meine Fensterläden schnell genug zu schließen und konnte sie nicht mehr auffangen. Als sie sich entschied, bei mir zu bleiben, war das eine große Überraschung. Sie war die Erste, der ich ein Dauernutzungsrecht einräumte.
Oh, was machen diese Menschen jetzt? Nein, bitte nicht. Und ich dachte, die hätten mehr drauf. Vor Enttäuschung seufze ich laut und sie schreien auf. Ihr Buchstabenbrett fällt auf den Boden. Wieder nur solche Spinner. „Wollen wir mit dem Kind beginnen?“ – „Das die Treppen hinabstürzte?“ Echt? Karl starb an einer Blutvergiftung, weil er sich beim Spielen das Bein verletzte und es niemandem erzählt hatte. Jetzt laufen sie mit einem Glas in der Hand durch die ehemalige Bibliothek und fangen Luft ein. Ich muss gleich loslachen. Erwachsene Menschen, die nachts Luft in Gläser einfangen und dann hoffen, dass ein -huuu- Gruselgeist darin steckt, der mit ihnen redet. Da frage ich mich, wer hier die Treppen runtergefallen ist. Karli? Komm mal her, wir können gleich spielen. Zeig mir mal dein gruseligstes Gesicht. Ja, genau so. Du kannst die Spaßvögel da drinnen erschrecken. Auf drei. Eins… Zwei… Naja, auf dem Kreischometer war das eine 7. Das geht besser. Hermine, los, du auch noch. Jaaahaaahaahaa! Wir steigern uns Richtung 8. Paule, steig mit ein, die 10 schaffen wir heute noch! Nimm deinen Rollstuhl mit. Paul war schon alt und schwach, als er starb. Jetzt ist er wieder mopsfidel und sein fahrbarer Untersatz unser kleines Highlight für Besucher.
Meine drei Untermieter geben ihr Bestes. Sie fliegen umher, erscheinen mal links, mal mitten unter ihnen, dann blinken sie nur kurz auf. Das pure Chaos bricht aus. Das Brett liegt in einer Ecke, das Glas ist zersprungen. Die Menschen rennen sich gegenseitig um. Ich könnte vor lachen zusammenbrechen. Meine Dielen schmerzen schon und ich atmen fällt mir schwer. Endlich haben sie die Tür gefunden. Sie stolpern hinaus, schreien, fluchen, und werden die Schauergeschichten aufrecht erhalten. Gut so, denn wir vier haben uns hier zusammengetan, wollen unsere Ruhe und ab und zu ein wenig Spaß haben. Meine Fensterläden klappern immer noch in der wieder ruhigen Nacht.

Hallo liebe Leserin, lieber Leser!
Sorry, die Tastatur ging mit mir durch! Aus dem geplanten Stimmungsbild wurde eine ganze Gesichte. Eigentlich zu lange für Seitenwind. Passend zum Thema mit zwei verschiedenen Perspektiven. Und einem Experiment mit Präteritum und Präsens.
Wenn Du den Text nicht ganz lesen willst, verstehe ich das. Aber über einen Kommentar würde ich mich trotzdem freuen. Doch lasse Gnade walten, es ist mein erster Beitrag in einem Wettbewerb.

Das alte Geisterhaus von Rocky Docky

Ein leises Wispern. Ein Klirren und das Quietschen einer rostigen Türangel. Stille.
Ich schlafe tief und fest. Die ungewohnten Geräusche schaffen es nicht, mich zu wecken. Doch mein Geist wird unruhig, dreht sich hin und her, was die Dielen des Flures zum Knarzen bringt. Nein - ich will nicht aufwachen.
Ein heller Schrei, gefolgt von einem lauten Rumms durchbricht die Ruhe! Nun ist es vorbei mit dem Schlaf! Ich kann ihn nicht mehr länger halten, den Schleier des Vergessens. Ich werde wach.
Ein tiefes Gähnen durchschauert mich bis hinab in mein Fundament. Früher sagten die Menschen, das wären nur die betagten Rohrleitungen. Schließlich sei ich ein altes Haus. Sie ahnten ja nichts.
Ich strecke und recke mich, dass es nur so knackt in der hölzernen Treppe. Das Gebälk des Dachstuhls gibt einen Schlag von sich, als wäre der First gebrochen. Mein Geist öffnet die Augen.
Wie lange mag ich wohl geschlafen haben? Schade, es ist eine mondlose Nacht, der Himmel ist bedeckt mit dichtem Gewölk, kein Sternenlicht spendet Glanz. Sonst hätte ich am Wuchs der Bäume und des Efeus erkannt, wie viel Zeit seit meinem letzten Erwachen vergangen ist.
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Sebastian und Max hatten sich heimlich aus dem Bett geschlichen, um sich endlich auf ihr lange geplantes Abenteuer zu begeben. Die beiden Brüder stellten sich extra einen Wecker, um den pünktlichen Start des Unterfangens nicht zu verschlafen. Genau um null Uhr wollten sie dort sein, im alten Haus. Mitternacht, die Geisterstunde!
Sie seilten sich vorsichtig am Rankgitter der Kletterrose aus dem ersten Stock ab, bedacht darauf keinesfalls ihre Eltern zu wecken. Nicht aus zu denken, was los wäre, sollten sie von dieser nächtlichen Aktion etwas mitbekommen.

So schnell es ihre Ausdauer zu ließ, liefen sie den steilen Hügel hinauf. Schwer atmend standen sie schließlich am Ende des Rabenweges. Die Umrisse des Hauses waren in der Finsternis kaum zu erkennen. Ein kühler Wind strich über die hohen Bäume und ließ die Blätter rauschen. Die Kirchenglocke schlug zwölf mal. Es war Mitternacht.
«Wollen wir nicht lieber wieder heim gehen? Mir ist kalt!», klagte Max, der Jüngere der beiden Teenager.
«Stell dich nicht so an!», herrschte in Sebastian an. «Wir haben das doch schon so lange vor! Jetzt kneiffe bloß nicht! Los, vorwärts!» Mit diesen Worten marschierte er entschlossen auf den Hauseingang zu. Max folgte ihm zögernd. Er wollte nicht als Feigling gelten.
Die Tür war verschlossen, doch es reichte ein heftiger Rempler dagegen um das morsche Holz des Türstocks zum Nachgeben zu überreden. Das Schloß brach heraus und die Tür schwang mit einem lauten Quietschen und Knarzen auf. Sie zuckten vor Schreck zusammen.
«Jetzt komm schon!», sagte Sebastian. Er wusste selbst nicht genau, ob er damit sich anfeuern wollte oder seinen Bruder.

Erst im stockdunklen Flur erinnerten sie sich ihrer Handlampen. Sie kramten in ihren Hosentaschen und ein leiser Klick ließ helles Licht durch die modrig riechende, staubige Luft gleiten. Der Lichtstrahl fiel auf ein Gemälde an der Wand, das einen streng dreinblickenden Greis zeigte. Das grelle Leuchten verlieh ihm ein unheimliches Aussehen und Max erschrak. Mit einem spitzen Schrei wich er zurück. Dabei stieß er gegen die altersschwache Kommode, die schon seit Jahrzehnten keine Berührung mehr erfahren hatte. Der heftige Schubs war zu viel für das vermorschte Möbel und mit lautem Gepolter brach es auseinander.

Es wirkte, als würde das Haus auf diese Störung antworten. Ein gespenstisches Röhren, das sich anhörte, wie das Heulen tausender klauenbewehrter Ungeheuer erklang vom Keller bis zum Dachstuhl. Die Treppe knarzte, als würde unvermittelt ein schweres Gewicht auf ihr lasten. Dann krachte es unter dem Dach mit einem Getöse, als würde es einstürzen.

Die beiden Jungforscher zuckten zusammen und erstarrten. Sie horchten auf weitere Geräusche, doch es herrschte wieder Stille. Unheimliche Stille.
Sebastian schluckte, bevor er seinen Bruder aufforderte: «Laß uns weiter gehen!»
«Wa…, wa…, waren das Geister?», hauchte Max, starr vor Schreck.
«Quatsch!», besänftige ihn sein Bruder. «Das sind nur Spannungen im alten Haus, im Holz und den Mauern, die sich jetzt lösen, weil frische Luft herein kommt!» Glaubte er es selbst, oder wollte er Max nur Mut machen?
Zögerlich folgte ihm sein jüngerer Bruder, als Sebastian langsamen Schrittes weiter in das Haus vordrang.
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Was hat mich nur aufgeweckt? Was haben die Geräusche zu bedeuten, die ich aus dem Flur höre? Mein Geist blickt durch die Dunkelheit, sieht und fühlt: dort ist jemand! Menschen! Zwei Menschlein schleichen in mir herum!
Eine Welle von Gefühlen lässt mich eine Gänsehaut bekommen. Die Schindeln des Daches hüpfen und rütteln außer Rand und Band. Die alten Tapeten reissen ob dieser ungewohnten Emotionen. Freude und Glück durchströmen mich. Wie lange habe ich das schon nicht mehr gefühlt! Menschen sind in mir, wie früher, wie in alten, guten Zeiten! Menschen, meine Erschaffer, meine Bauherren. Wie liebe ich sie! Kommt herein, seid gegrüßt und willkommen!
Sie sind an der Tür zum Schlafzimmer. Macht sie auf, öffnet sie und tretet ein! Fühlt Euch behütet und beschützt, denn ich bin euer Haus, wenn ihr wollt!
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Sebastian rüttelte am Griff der Zimmertür herum. Er ließ sich nicht hinunter drücken. Der Junge legte das ganze Gewicht seines Körpers darauf – und tatsächlich, mit einem heftigen Ruck öffnete sich die Tür einen winzigen Spalt. Der scharfe Strahl der Taschenlampe, mit der er hinein leuchtete, huschte über verstaubte Möbel. Ein Bett war zu sehen, das mit Kissen aus Staub gemacht zu sein schien. Er versuchte, die Tür weiter auf zu schieben und benötigte erneut sein ganzes Gewicht um sich dagegen zu stemmen. Mit einem grauenhaften Quietschen ging sie plötzlich auf. Luft strömte vom Flur in das Schlafzimmer und wirbelte Staub auf. Max nieste, Sebastian rang nach Atem und hustete.
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Ja, komm herein in das Zimmer, in dem mein letzter guter Freund so viele Nächte verbracht hat, bevor er starb und mich alleine ließ. Kommt herein und seid mir neuen Freunde! Beendet die Einsamkeit, meine Sehnsucht nach Gesellschaft, füllt die Leere!
Dieser Staub, ohje wie konnte sich nur so viel davon ansammeln. Wartet, ich öffne den Kamin, dann kann er abziehen und ihr könnt wieder besser atmen.
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Sebastian stolperte in das Zimmer, gefolgt von Max, der sich gegen ihn gedrückt hatte. Die einströmende Luft in ihrem Rücken schob sie weiter in den Raum hinein und ließ sie straucheln. Ängstlich aneinandergeklammert blickten sie sich um. Die Luft war trüb vom Staub, der von der eindringenden Brise aufgewirbelt wurden. Die alten Möbel waren kaum zu erkennen und den Kamin, am anderen Ende des Raumes, sah man nur schemenhaft.
Plötzlich ertönte vom Dach her ein Getöse, als würde eine Herde Bisons über das Haus toben. Die Tapeten zeigten Risse und aus der Richtung des Kamins erklang ein Ton, als würde rostiges Eisen über noch rostigerem Eisen kratzen.
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So, der Kamin ist offen und der Staub kann abziehen. Aber ach, ohje, wie das kitzelt in meinem Schornstein, wie es juckt und kribbelt. Es kratzt und beißt. Es tut mir leid, so unendlich leid! Ich kann es nicht verhindern, ich kann es nicht zurückhalten, so sehr ich mich auch bemühe. Ich muss niesen!
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Dann ging alles ganz schnell. Aus dem Kamin heraus strömte ein gewaltiger Luftzug, wie ein Orkan. Ein Gemisch aus Staub und Ruß fegte wie ein Tornado durch das Schlafzimmer, wirbelte noch mehr Partikel auf und drückte gegen die Abenteurer. Ob sie wollten oder nicht, sie wurden aus dem Zimmer raus geblasen. Wie ein Taifun tobte die Luft aus dem Raum in die Diele und von dort durch die Eingangstür, hinaus ins Freie. Mitgerissen und geschoben von diesem Wirbelsturm kugelten die beiden auf- und übereinander den Flur entlang und schossen wie Kanonenkugeln aus dem Haus nach draußen.
Sie landeten im Matsch des Weges, beachteten aber weder Nässe noch Schmutz. Mit lautem Geschrei rafften sie sich auf und liefen, stolpernd, fallend und wieder auf stehend so schnell ihre Beine sie trugen den Hügel hinab. Weg von diesem Haus, in dem es spuckte, nur fort von all dem Unheimlichen dort!

Sie hörten nicht auf zu schreien, bis sie im Garten ihres Elternhauses standen. Erst hier verstummten sie. Nicht, weil der Schreck und die Furcht ihnen aus den Knochen gewichen wären, sondern einzig und allein um ihre Eltern nicht zu wecken. Sie kletterten zitternd am Rosengitter hoch zu ihrem Schlafzimmer. Sebastian schloss das Fenster hinter sich, zerrten die Vorhänge zu und beide krochen, mit all dem Schmutz und der Nässe an ihren Kleidern, gemeinsam unter eine Bettdecke und zogen sie sich über ihre Köpfe.
Nur langsam beruhigten sie sich. Und sie fühlten den Schutz und die Geborgenheit, die ihr Haus Ihnen bot.
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Es tut mir ja leid, so fürchterlich leid. Es war nicht zu verhindern, es kitzelte so schrecklich, als der Staub den Kamin hochstieg. Dieses Beißen und Kratzen, ihr könnt es euch nicht vorstellen. Und wenn ein Haus niesen muss - dann muss ein Haus niesen. Und wie ich geniest habe! All der Staub, der Ruß, der Moder aus vielen Jahrzehnten!
Es tut mir ja so leid, dass die beiden Menschlein hinaus geschleudert wurden. Ach, könnte ich sie doch zurückholen. Was für ein Jammer! Was für ein Weh! Kommt zurück, belebt und bewohnt mich wieder!
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Das Haus blieb lange wach, in der Hoffnung, die beiden Menschlein würden wieder zurückkommen. Doch sie kamen nicht. Nach vielen Jahren des Wartens fiel es in ein Dämmern und schließlich in einen tiefen Schlaf.

Den beiden Abenteurern blieb der Schreck ein Leben lang in Erinnerung. Sie erzählten am nächsten Tag ihren Mitschülern davon. Selbst ihren Enkeln würden sie später die Geschichte erzählen. Obwohl ihnen viele keinen Glauben schenkten, wurde die alte Mär vom Spukhaus mit neuem Leben erfüllt. Ganz gewiss wird es eines Tages neue Forscher und Abenteurer anlocken, die es wieder erwecken werden - das Geisterhaus von Rocky Docky - am Ende des Rabenweges.

Das Wiedersehen

ER ist zurück.
Gleichgesinnte folgen ihm.
Es sind derer drei.
Ihre Schritte verhallen, kaum hörbar.
Schweißgeruch hängt in den Räumen, durchdringt die alten, morschen Wände.
Ich atme ihn ein. Es schmeckt salzig, etwas süßlich. Mir nicht unbekannt.
Blicke tasten suchend umher.
Seine Hand streicht die Wände entlang.
Ich kann ihn fühlen, ihn riechen. Es tut gut.
Dekaden ist es her. Und jeder Tag der Erinnerung schmerzt.
Er ist mir jetzt ganz nah. Nah an meinem Herzen.
Ich weiß, er liebt mich.
Mein altes Gemäuer.
Mein altes Gebälk.
Sanft drückt er sein Ohr an meine Wand und lauscht dem Wispern meiner Stimme.
Ein Lächeln.
Er winkt den anderen.
Sie reichen sich die Hände. Knien ehrfurchtsvoll nieder.
Still lauschen sie meiner Geschichte …

Das Haus am Wald

In jeder kleinen Stadt gibt es diesen einen Ort, dieses eine Haus, über das man nicht laut spricht, über das man flüstert. Meist steht es einsam am Ende einer Allee oder am Stadtrand, umarmt von einem Nachthimmel, der die Farbe von reifen Blaubeeren hat. Fast immer ist dieses Haus unbewohnt. Aber immer ranken sich Geschichten darum. Ein Besitzer, der sich erhängt hat. Eine Familie, die plötzlich verschwunden ist. Geister, die nachts als Lichter durch die Räume geistern.
In Moorbrück war ich dieses Haus.

Der Regen hatte aufgehört und der kurze Sommersturm hatte die dunklen knurrenden Gewitterwolken mitgenommen und jagte sie jetzt in andere Gebiete quer durch das Land. Hinten am Horizont war die Gewitterfront wie mit dicken Pinselstrichen in schwarzer verlaufender Tusche gemalt. Gelegentlich flackerte der Blaubeerhimmel noch.
Bis auf ein paar Altglas- und Kleidercontainer war der Parkplatz am nördlichen Rande der Stadt fast leer. Pfützen hatten sich nach dem kurzen heftigen Schauer auf dem ungleichmäßigen Asphalt gesammelt, die das Blätterdach des Waldrandes matt widerspiegelten, wie der unscharfe Hintergrund eines alten unterbelichteten Fotos. Der Spätsommerabend roch schwer nach feuchtwarmen Laub, das die letzten Wochen viel Sonne und wenig Regen bekommen hatte. Der Geruch von Wald, Hitze, Regen und unendlichem Sommer.

Ein kleiner Toyota stand quer auf der Zufahrt zu dem Grundstück. Der Wald war mir so nah, dass einige seiner ausgestreckten Finger die Ränder der Schindeln meines Dachs streiften. Ich mochte den Wald nicht.
Die Gruppe aus dem Toyota wollte zu mir. Zwei Jungs und zwei Mädchen. Vielleicht Studenten. Das Autoradio war längst aus, die letzte Stunde hatten sie damit verbracht die Ramones zu hören und Wein zu trinken. Jetzt kamen sie langsam den kleinen Weg zu mir entlang, während sie den Lichtstrahl abwechselnd auf den gratigen Weg und die schwarzgrüne Finsternis des Waldes richteten. Sie würden wohl durch das Küchenfenster hineinklettern, denn die Haustür war noch immer durch eine Kette gesichert.
Dann würden sie ein wenig durch meine Räume schleichen, dicht aneinander gedrängt, das wohlige Schauern eines verbotenen Besuchs auf der Haut. Ich würde ihnen nichts tun. Vielleicht, wenn sie mutig waren, würden sie noch den Rest der Flasche Wein leeren, auf dem zerschlissenen Sofa sitzend oder in der Küche hockend vor dem Fenster durch das sie gekommen waren. Vielleicht würde ich ein-, zweimal mit den Deckenlichtern flackern und es genießen, wenn die Mädchen aufschrien.

Sie waren fast an der Treppe, als der Wald sie anknurrte. Es war ein tiefes, kehliges Knurren. Die Gruppe zuckte zusammen. Die Lichtstrahlen suchten in der Dunkelheit, aber konnten das Dickicht nicht durchdringen, sondern verhedderten sich in Ranken, Blättern und Zweigen. Der Wald wollte keine Zuschauer.
Sie drehten sich um und rannten den Weg zurück. Das nächste Knurren war lauter, ein finsteres Grollen, das einem in die Brust biss. Ein Mädchen ließ sein Handy fallen. Ein Junge rutschte auf dem schlammigen Boden aus und fiel hin. Er schrie kurz auf.
Dann brachen die Schatten aus der efeuberankten Finsternis.
Es wurde unaussprechlich.

In jeder kleinen Stadt gibt es diesen einen Ort, dieses eine Haus, über das man nicht laut spricht. Manchmal liegt es am Rande eines Waldes in dem etwas Dunkleres lauert als hinter den verwitterten Fensterläden.

Das gruseligste Geisterhaus

Der Vollmond scheint langweilig hell, als ich erwache. Mein alter Dachstuhl seufzt. Die Dielenbretter knarzen. Dreizehn Geister flüstern aufgeregt. Irgendwo quietscht ein ungeölter Sargdeckel.

„Rumtreiber, im Garten!“, krächzt der zahnlose Mönch mit dem angebrannten Ablassbrief. Oh! Welch feines Wort für meine morschen Wände! Meine Türen flattern aufgeregt. Die verbretterten Fensterläden klappern vor angespannter Vorfreude.

Rumtreiber! Sie sind wieder auf der Suche nach schrecklichen Geistern und noch viel schrecklicheren Geschichten! Ich sehe es an ihren winzig kleinen Gesichtern! Sie sind blass, aufgeregt und nicht sehr helle.

Die knorrigen Trauerweiden waren nicht gruselig genug? Der warme Lichtschein in meinen leeren Räumen zu verlockend? Hier ist doch niemand, denkt ihr gewiss! Und doch sieht es so bewohnt aus, das Haus am Ende der finsteren Straße! Das „Vertreten-Verboten-Schild“ war die Einladung?

Wunderbar. Willkommen, im gruseligsten aller gruseligen Geisterhäuser im ganzen Land. So furchteinflößend wie jedes andere Geisterhaus.

Quietschende Türen, knarzende Treppen, mordende Geister- für jeden Fernseh-geprägten Geschmack ist etwas Alltägliches dabei.

Kommt-tretet näher! Sogar die Gruft ist geöffnet! Die Särge sind etwas unordentlich gestapelt. Der letzte Besitzer war so unachtsam zu den Vorahnen- überhaupt nicht einfühlsam! Dafür muss er auch im Brunnen bleiben. Dennoch-ist sie nicht schön?

Fünf junge Menschen und ein Hund! Herrlich-ihr erfüllt jedes Klischee. Wir werden so viel Freude miteinander haben! Doch zu allererst verratet mir-wovor habt’ ihr am meisten Angst?!

Noch bevor die fünf, natürlich sehr mutigen, Freunde wussten, wie ihnen geschah, färbten sich ihre Smartphone-Bildschirme schwarz. Eine Nacht ohne diese fiependen Kästen? Welch, grauenhaft schöne Vorstellung!

Seelenjäger

Manche Menschen tuscheln, wenn unser Name fällt. Flüstern Gerüchte in die Ohren derer, die gewillt sind eine gute Gruselgeschichte zu glauben, Gerüchte über uns; behaupten, dass niemand, der unsere Schwelle betritt, sie je wieder verlassen würde. Doch das stimmt nicht. Ein paar haben wir gehen lassen. Offensichtlich. Woher sonst stammen die Gerüchte?

„Wie im Film!“, meint der Dicke bei seinem dritten vergeblichen Versuch die Pforte wieder zu öffnen, die wir hinter ihnen ins Schloss haben fallen lassen und die - natürlich - nun verschlossen bleibt.

„Wohl eher ein Escape-Room“, kichert die junge Frau und schaut sich um, als hätten wir Hinweise auf die Wände gepinselt, wie die Tür wieder zu öffnen sei. Im Wesentlichen hatte sie recht. Wir sind ein Escape-Room. Nur meistens ohne ‚Escape‘!

„Die Hauptsache ist, dass wir zusammen bleiben“ zitiert der Dritte altklug den Spruch aus irgendeiner Geschichte, die er gelesen, oder – wie man es heute macht – gesehen hat. Er ist ein drahtiger Kerl und spricht in einem Tonfall, der wohl taff klingen soll. Doch wir können seine Angst riechen. Ein guter Geruch. Er wird der Erste sein.

Die kleine Gruppe schleicht voran, ziellos, leise, als fürchteten sie Geister und mit ihren Handylampen herumleuchtend, als könnten Lichter echte Geister vertreiben. Doch hier gibt es keine Geister. Hier sind nur wir. Wir waren schon immer hier.

Wie wir sie verabscheuen, diese jungen Leute, auf der Suche nach dem Nervenkitzel, irgendwelchen Horrorgeschichten nacheifernd, Mutproben absolvierend. Die drei entsprechen allen Klischees. Der dicke Schlaumeier, das taffe Dummchen und der coole Angsthase. Bäh! Es wird Zeit loszulegen. Bald ist Mitternacht. Dann muss es vollbracht sein.

Immerhin sind sie schlau genug, den Ausgang nicht im oberen Stockwerk zu suchen. Das spart Zeit. Wobei, irgendwie auch schade. Ich habe eine Leiche dort oben plaziert. Nur so, zur Deko. Die werden sie nun gar nicht sehen. Naja, wiegesagt: Das spart Zeit.

Intuitiv schlagen sie den Weg zur Küche ein, auf der zur Pforte entgegengesetzten Seite des Hauses, wo sich tatsächlich eine Tür in den Garten befindet. Dort, in der Küche, wartet unsere erste Falle.

Der Dicke schleicht vorne weg, gefolgt vom Dummchen und am Ende der Schlacksige, sich immer wieder umdrehend, als befürchte er, hinterrücks angegriffen zu werden. Er hätte lieber mal nach oben geschaut. Dann hätte er die alten auf dem Putz gezogenen Kabel bemerkt, an denen vor vielen Jahren einmal elektrische Lampen hingen und die nun frei herunterhängen.

Im exakt richtigen Moment, gebe ich die Nägel frei, die die Kabelschellenhalten - und die wiederum eines der Kabel. Das Kabel fällt herab, schwingt zum Kopf des Jungen und brennt sich in seinen Hals. Es vergeht eine Minute, in der er nichts tun kann, als zu zappeln, während sich Schaum vor seinem Mund bildet, er sich einnässt und vor sich hin schmort. Nein, funktionierende Sicherungen haben wir nicht mehr. Und wir lieben es! Den Strom abzuschalten ist unser Privileg. Aber nicht zu früh. Als es vorbei ist, sind wir um eine Seele reicher.

Kostbare Zeit vergeht. Das Dummchen heult immer noch, der Dicke hat sich mehrfach übergeben. Die sind den Geruch verschmorenden Fleisches wohl nicht gewohnt. Oder ist es der Anblick des verkrampften, mit Körpersäften getränkten und verschmorten Körpers, der sie stört? Was wissen wir denn schon? Los, weiter!

Kurz vor Mitternacht zerrt der Dicke die junge Frau Richtung Außentür. Aber die haben wir natürlich auch verschlossen. Also zurück.

„Nein, nein, nein … wir können ihn doch nicht … und nicht zurück, spinnst Du? Die Geschichten sind wahr!“, heult die junge Frau mit schluchzender Stimme. Gut erkannt. Vielleicht doch nicht so dumm.

„Wir müssen hier raus!“, erinnert sie der Dicke.

„Meinst Du, das weiß ich nicht? Aber nicht zurück … und nicht ohne …“, kreischt und schluchzt sie.

„Dem kannst Du nicht mehr helfen!“, ruft der Dicke, während er die junge Frau rüttelt, als wolle er sie aus einem Albtraum aufwecken.

„Ja und was hast Du jetzt vor, Du Schlaumeier?“

„Wir müssen durch den Keller.“

Ja, ‚Keller‘, das Wort ist Musik in unseren Ohren. Der Keller ist unser wahres Reich, er führt weit hinab, weiter, als man von außen denkt, aber ganz sicher nicht nach draußen. Kommt herunter, ihr zwei, kommt nur. Wir warten. Noch fünfzehn Minuten.

„Wollen wir nicht besser nach einem offenen Fenster suchen, oder oben aufs Vordach?“, versucht die junge Frau den Dicken zu überzeugen.

„Es gibt kein Vordach. Alle Fenster sind mit Brettern vernagelt. Und unten gibt es einen Kohleschacht nach draußen.“ Der Dicke hatte sich das alles offenbar ganz genau angeschaut. Und er hat recht. Schlaues Kerlchen. Nur, was er nicht weiß, der Raum mit dem Kohleschacht von innen nicht erreichbar ist. Zugemauert. Von einem unserer Handlanger.

Immer noch heulend, immer noch zitternd, bewegen sich die beiden die Treppe hinab. Ihre funzeligen Handylampen versuchten unsere Wände zu ertasten. Unten angekommen erwartet sie ein nasskalter Raum, schmucklos, mit blätterndem Putz zwischen den beiden Türen, welche sie nacheinander öffnen. Dahinter weitere Räume. Wiederum mit je zwei Türen, immer eine links, immer eine rechts.

„Und nun?“, fragt die junge Frau, „wo ist der Kohleschacht?“

„Weiß ich doch auch nicht genau … da lang, würde ich sagen. Nach rechts!“, erwidert der Andere mit mehr Bestimmtheit, als angebracht ist und die beiden betreten den rechten Raum. Vorsichtig. In alle Richtungen und Ecken schauend. Nach Gefahr suchend. Aber da ist nichts. Nichts, als das, was ihre Fantasie hierher projiziert. Nur wir. Und wir schließen die Tür hinter ihnen.

Natürlich schrecken sie zusammen. Natürlich heult sie wieder. Aber nach einem kurzen Moment fassen sie sich. Sie prüft, ob die Tür sich wieder öffnen lässt. Zu ihrer beider Überraschung geht es diesmal, wenngleich wir die Tür direkt wieder schließen, sobald sie sich von ihr entfernen. Noch zehn Minuten.

Da scheinbar weiter nichts geschieht, als dass wir die Türen schließen, setzen die beiden alsbald ihren Weg fort.

„Wie viele Räume sind das hier?“, fragt die Frau mehr sich selbst, nachdem sie drei Räume durchschritten hatten, immer die rechte Tür nehmend.

„Stopp mal!“, zischt der Dicke.

„WAS?!“, entfährt es der Frau mit aufgerissenen Augen, halb flüsternd, halb schreiend.

„Das kann nicht sein!“

„Jetzt sag schon!“

„Wir müssten im Kreis gelaufen sein.“

„Ooooh … Du Arschloch … und deswegen erschreckst Du mich so?“, schnauzt ihn die Frau an. Ich dachte schon … also von vorne!

„Du verstehst nicht.“, erklärt der Dicke, „Wir MÜSSTEN im Kreis gelaufen sein. Sind wir aber nicht.“

„Hä? Das ist doch gut, oder?“

„Nein …“, und nun ist es der Dicke, in dessen Stimme zunehmende Angst liegt, „das ist gar nicht gut. Die Räume verändern sich.“

Schlauer Bursche. Das ging schneller, als bei den anderen. Wir mögen ihn. Schnell eilt er zurück, den Weg, den er vermeintlich gekommen ist, bis dahin, wo die Treppe war. Doch da ist keine Treppe. Besser gesagt, der Raum mit der Treppe ist nicht da. Er geht wieder in den Raum, wo er die Frau zurückgelassen hat. Doch auch die ist verschwunden. Mitsamt des Raums. Noch fünf Minuten.

Die Frau schaut sich nur kurz um und steht plötzlich allein da. Er ist weggelaufen; die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen. Sie bekommt Panik. Rennt kopflos hinterher. Ein Raum. Zwei, doch sie findet ihn nicht. So laut sie sich traut, ruft sie seinen Namen. „Stefan! Steeefaaan.“

Jetzt kennen wir also seinen Namen. Das ist gut. Mehr brauchen wir nicht. Die Frau brauchen wir auch nicht. Dummchen, oder nicht.

Sie öffnet noch eine Türe, ein dritter Raum … ein Raum ohne Boden. Bevor sie es erkennt, fällt sie. Sie fällt in einen Schacht, tief, tief … wird fallen bis in alle Ewigkeit, wird fallen, bis sie stirbt, vor Durst vermutlich. Sie schreit, aber der Schrei verhallt schnell. Ihr Schicksal ist besiegelt. Das zählt. Eine weitere Seele. Noch vier Minuten.

„Stefan, Stefan, STEFAN“. Wir raunen seinen Namen. Durch die Wände, durch die Luft, er ertönt im gesamten Labyrinth. Stefan hört uns. Hat auch ihren Schrei gehört. Er erstarrt. Weiß nicht, wohin. Weiß nicht, was er tun soll. Hat Angst. Das riecht gut. Stefan sackt zusammen. Stefan japst nach Luft, schluchzt, heult. Köstlich.

„Was hast Du mit mir vor? Wirst Du mich auch töten?“

Nein. Das werden wir nicht. Wir brauchen Stefan. Brauchen einen neuen Handlanger. Wenigstens für das nächste Jahr. Jemanden, der alle Vorbereitungen trifft für den Tag, an dem wieder eine Gruppe herkommt. Brauchen ihn, um die Gerüchte in der Stadt zu verbreiten, die jungen Leute herzulocken. Zuletzt wird er eine gute Leiche abgeben. In einem Jahr. Nur so, als Deko im Obergeschoss.

Die große Standuhr im Wohnbereich schlägt Mitternacht. Halloween endet. Zwei Seelen plus die des alten Handlangers. Drei also. Keine schlechte Ernte.

***Anderer Herbst

"Golden erhebt er sich über den letzten Sommer. Es war mein Sommer. Wie jedes Jahr. Und bunt ist er. Die Blätter starker und zarter Bäume wiegen sich in den schönsten Farben. In zartem Wind, um alsbald leicht beschwingt gen Boden zu schweben.

Doch der Schein trügt am Ende meiner Rabenstraße. Ich ächtze unter der Last der wiederkehrenden Jahreszeiten.
Diese Blätter. Sie fallen einfach. Fallen plump schaukelnd ins Bodenlose. Gleichwohl auf mein verwittertes Dach. Ich bin alt. Und meine Seele? Mir ist kalt. Zu kalt. Wieder ein Moment, in dem ich mir zaghaft wünsche, meine letzten Besitzer wären nicht gestorben. Zu gern möchte ich wissen wem ich noch gehöre…
Ich habe… Angst. Irrsinnige Angst. Vor dem fortschreitenden Verfall. Vor der leeren Einsamkeit, die mein alterndes Gemüt erschaudert. Vor der Vergangenheit die mich Jahr für Jahr mühelos verfolgt. Einholt. Noch nutze ich sie, die einsamen Tage. Gebe Spinnen die Chance, sich mit ihren Netzen zu beweihräuchern, gebe allerlei Kleingetier auf dem Dachboden Zuflucht vor der Witterung. Doch was, wenn ich noch weitere Jahre hier so armselig herumstehe? Was soll nur aus mir werden?
Ich erinnere mich wieder und wieder an die letzte Familie, die mein Innerstes bewohnte. Leben war in mir. Doch ehrlich. Es war eine Hülle. Eine leere Hülle. Ihr Innerstes, es war so kalt… Ich zittere wohl. "


„Julia, hier entlang. Hier ist es!“ Eine kleine Gruppe Wanderer kam direkt mit Einbruch der Dämmerung auf das alte Gemäuer zu und eine männliche Stimme teilte freudvoll ihre Entdeckung mit. Es schien, als wäre ein Kind mit dabei. Deutlich kleiner als die beiden anderen. Jedoch ebenfalls mit einem Rucksack ausgerüstet, trottete es den beiden anderen hinterher.

„Die Fensterläden klappern. Es wirkt als ob das Haus zittert. Selbst wenn ich mir das einbilde, ein bisschen gruselig ist es schon. Ob die Geschichten stimmen, die im Dorf erzählt werden?“ Julia schaute fragend zu ihrem Mann und war gleichzeitig erleichtert, dass sie endlich das Haus am Ende der Rabenstraße gefunden hatten. Karl zuckte mit den Schultern. " Sind halt Geschichten " meinte er und schaute sich voller Unbehagen um. „Wollen wir hier wirklich über Nacht bleiben?“ Karl zog misstrauisch die Augenbrauen hoch.
„Ja. Ich muss herausfinden warum meine Mutter nach dem Tod ihrer Eltern hier nie herwollte.“ Erst durch das Erbe hatte sie von der Existenz des Hauses erfahren. Es musste einen Grund dafür geben. Und sie spürte deutlich, dass heute der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war, mehr über ihre Familie zu erfahren. Dankbar, dass ihre eigene Familie sie begleitete, betrat sie zuerst das staubige Innere. Im Taschenlampenschein tanzten feinste Schmutzpartikel zwischen den unterschiedlich großen Spinnenweben. Die Dielen knarzten, merkwürdigerweise an Stellen, auf die sie überhaupt keinen Fuß setzten. Die Fensterläden klapperten nun fast rhythmisch, obwohl überhaupt kein Wind wehte. " Es ist kalt hier und gruselig, ich will weg". Flüsterte Janne, Julias 10jährige Tochter, die bisher den Ausflug als Abenteuer betrachtete. Leider bekam sie es nun doch mehr mit der Angst zu tun als sie dachte.
Julia drehte sich zu ihr, nahm sie bei der Hand und schaute liebevoll in ihr Gesicht. " Ich weiss mein Schatz. Es ist beängstigend muss ich schon zugeben. Mir ist auch seltsam zumute. Nur bin ich auch froh, dass wir endlich hier sind. Es gibt etwas, das ich herausfinden muss, weisst du noch? Meinst du du kannst mir trotz deiner Angst dabei helfen? " Janne nickte zaghaft, überaus dankbar, dass ihre Mutter sie nicht an ihre Drängelei vom Vorabend erinnerte und drückte die Hand ihrer Mutter fester. Jetzt bereute sie schon, dass sie unbedingt mit wollte. Doch im Stich lassen wollte sie ihre Mutter nun auch wieder nicht und wappnete sich mit der letzten Portion Mut die sie noch irgendwo in sich fand.


Das Ächzen der Dielen liess nach. Das Klappern der Fensterläden hörte auf und es wurde ruhig im Haus.

„Etwas ist anders, als ich es von damals kenne.
Ich muss genau hinhören! Es ist… so anders…“.
Die Stimme des alten Hauses am Ender Rabenstraße schien zu verstummen.

" Hier, wir können den Kamin anmachen, dann kuscheln wir uns ans Feuer und erzählen dir Geschichten von deiner Familie, die hier einst lebte." Karl zeigte auf die Ecke vor dem Kamin.

Wieder klappte ein Fensterladen geräuschvoll und alle drei zuckten erschrocken zusammen.

„Als ob das Haus uns zuhört und überhaupt nicht einverstanden damit ist.“ flüsterte Janne, mit blassem Gesicht. Die Gedanken eines Kindes sind oftmals gar nicht so schlecht. Karl überlegte. „Ja kann schon sein. So ein altes Haus hat viel erlebt. Gehört. Gesehen. Man sagt auch, alte Häuser haben eine Seele. Und wer weiss, warum es all die Jahre leerstand.“
Janne Herz klopfte wild und sie hatte Mühe ihre Aufregung im Zaum zu halten


„Wenn sie wüßten, wie aufgeregt ich bin! Ich darf mich nicht bewegen.
Sollte es wirklich sein, dass die Nachkommen der einstigen Familie sich hierher getraut haben, trotz der vielen Schauermärchen?
Ich traue mir keine Regung zu. Vielleicht kann die Familie mich von meinem Fluch dieser verdammten Einsamkeit befreien?
… Angst. Ich habe solche Angst… konzentriere mich auf die bunten Blätter, die in der Dunkelheit ihren Weg Richtung Erde suchen. Sie tanzen ja! Ich bin verwirrt. Wünschte, ein Sturm würde aufziehen, damit niemand mehr mein Zittern bemerkt.“


Draussen heulte der Wind.
Karl schaute besonnen nach. „Da war nur etwas locker und bei alten Häusern klappert schon mal etwas. Außerdem scheint es etwas stürmisch zu werden“. Er schloß die Fensterläden, selbst erleichtert einen Grund gefunden zu haben,
winkte die beiden herüber und pustete den Staub vom Kaminsims. „Komm hilf mir mal eben das Holz vorzubereiten!“ rief er beherzt seiner Tochter zu. Johanna half wortlos. Und fühlte sich plötzlich wohl. Denn sie war sich sicher, ihr Vater würde sie immer und überall beschützen.


Auch die drei bemerkten eine Veränderung im Haus. Es wirkte nunmehr gemütlich inmitten all der muffigen Möbel, dem Staub und den Geweben emsiger Spinnen. Sie kuschelten sich mit einer Decke aus Julias Rucksack und mit warmem Tee aus der Thermoskanne ans Feuer.
" Wir werdem morgen schauen, ob wir etwas brauchbares finden, was mir weiterhilft. Hm, wenn ich nur wüsste wo wir anfangen? " Julia starrte nachdenklich in die Flammen. " Vielleicht damit? " Johanna zeigte auf ein Bild, welches im Schein der Flammen ihre Aufmerksamkeit erregte. Julias Großmutter war darauf zu sehen, ihre Hände schützend über den gewölbten Bauch haltend. Doch ihre Augen blicken trotz Schwangerschaft traurig.
Julia kramte ein vergilbtes Foto aus der Hosentasche ihrer etwas zu engen Jeans. Merkwürdig. Hier ist die ganze Familie zu sehen. Ihre Mutter zwischen beiden Eltern. In etwa im Alter von vier Jahren. Adrett. Hübsch mit dunklen Zöpfen. Der Blick ihrer Großmutter ist freundlich. Doch irgendwie aufgesetzt und leer.
Was mag damals passiert sein?
Julia nickte ihrer Tochter zu und kuschelte sich noch enger an ihre Familie.
Und das wohlige Knistern des Feuers versprach baldige Antworten…

Es war Herbst. Ein anderer Herbst.