Seelenjäger
Manche Menschen tuscheln, wenn unser Name fällt. Flüstern Gerüchte in die Ohren derer, die gewillt sind eine gute Gruselgeschichte zu glauben, Gerüchte über uns; behaupten, dass niemand, der unsere Schwelle betritt, sie je wieder verlassen würde. Doch das stimmt nicht. Ein paar haben wir gehen lassen. Offensichtlich. Woher sonst stammen die Gerüchte?
„Wie im Film!“, meint der Dicke bei seinem dritten vergeblichen Versuch die Pforte wieder zu öffnen, die wir hinter ihnen ins Schloss haben fallen lassen und die - natürlich - nun verschlossen bleibt.
„Wohl eher ein Escape-Room“, kichert die junge Frau und schaut sich um, als hätten wir Hinweise auf die Wände gepinselt, wie die Tür wieder zu öffnen sei. Im Wesentlichen hatte sie recht. Wir sind ein Escape-Room. Nur meistens ohne ‚Escape‘!
„Die Hauptsache ist, dass wir zusammen bleiben“ zitiert der Dritte altklug den Spruch aus irgendeiner Geschichte, die er gelesen, oder – wie man es heute macht – gesehen hat. Er ist ein drahtiger Kerl und spricht in einem Tonfall, der wohl taff klingen soll. Doch wir können seine Angst riechen. Ein guter Geruch. Er wird der Erste sein.
Die kleine Gruppe schleicht voran, ziellos, leise, als fürchteten sie Geister und mit ihren Handylampen herumleuchtend, als könnten Lichter echte Geister vertreiben. Doch hier gibt es keine Geister. Hier sind nur wir. Wir waren schon immer hier.
Wie wir sie verabscheuen, diese jungen Leute, auf der Suche nach dem Nervenkitzel, irgendwelchen Horrorgeschichten nacheifernd, Mutproben absolvierend. Die drei entsprechen allen Klischees. Der dicke Schlaumeier, das taffe Dummchen und der coole Angsthase. Bäh! Es wird Zeit loszulegen. Bald ist Mitternacht. Dann muss es vollbracht sein.
Immerhin sind sie schlau genug, den Ausgang nicht im oberen Stockwerk zu suchen. Das spart Zeit. Wobei, irgendwie auch schade. Ich habe eine Leiche dort oben plaziert. Nur so, zur Deko. Die werden sie nun gar nicht sehen. Naja, wiegesagt: Das spart Zeit.
Intuitiv schlagen sie den Weg zur Küche ein, auf der zur Pforte entgegengesetzten Seite des Hauses, wo sich tatsächlich eine Tür in den Garten befindet. Dort, in der Küche, wartet unsere erste Falle.
Der Dicke schleicht vorne weg, gefolgt vom Dummchen und am Ende der Schlacksige, sich immer wieder umdrehend, als befürchte er, hinterrücks angegriffen zu werden. Er hätte lieber mal nach oben geschaut. Dann hätte er die alten auf dem Putz gezogenen Kabel bemerkt, an denen vor vielen Jahren einmal elektrische Lampen hingen und die nun frei herunterhängen.
Im exakt richtigen Moment, gebe ich die Nägel frei, die die Kabelschellenhalten - und die wiederum eines der Kabel. Das Kabel fällt herab, schwingt zum Kopf des Jungen und brennt sich in seinen Hals. Es vergeht eine Minute, in der er nichts tun kann, als zu zappeln, während sich Schaum vor seinem Mund bildet, er sich einnässt und vor sich hin schmort. Nein, funktionierende Sicherungen haben wir nicht mehr. Und wir lieben es! Den Strom abzuschalten ist unser Privileg. Aber nicht zu früh. Als es vorbei ist, sind wir um eine Seele reicher.
Kostbare Zeit vergeht. Das Dummchen heult immer noch, der Dicke hat sich mehrfach übergeben. Die sind den Geruch verschmorenden Fleisches wohl nicht gewohnt. Oder ist es der Anblick des verkrampften, mit Körpersäften getränkten und verschmorten Körpers, der sie stört? Was wissen wir denn schon? Los, weiter!
Kurz vor Mitternacht zerrt der Dicke die junge Frau Richtung Außentür. Aber die haben wir natürlich auch verschlossen. Also zurück.
„Nein, nein, nein … wir können ihn doch nicht … und nicht zurück, spinnst Du? Die Geschichten sind wahr!“, heult die junge Frau mit schluchzender Stimme. Gut erkannt. Vielleicht doch nicht so dumm.
„Wir müssen hier raus!“, erinnert sie der Dicke.
„Meinst Du, das weiß ich nicht? Aber nicht zurück … und nicht ohne …“, kreischt und schluchzt sie.
„Dem kannst Du nicht mehr helfen!“, ruft der Dicke, während er die junge Frau rüttelt, als wolle er sie aus einem Albtraum aufwecken.
„Ja und was hast Du jetzt vor, Du Schlaumeier?“
„Wir müssen durch den Keller.“
Ja, ‚Keller‘, das Wort ist Musik in unseren Ohren. Der Keller ist unser wahres Reich, er führt weit hinab, weiter, als man von außen denkt, aber ganz sicher nicht nach draußen. Kommt herunter, ihr zwei, kommt nur. Wir warten. Noch fünfzehn Minuten.
„Wollen wir nicht besser nach einem offenen Fenster suchen, oder oben aufs Vordach?“, versucht die junge Frau den Dicken zu überzeugen.
„Es gibt kein Vordach. Alle Fenster sind mit Brettern vernagelt. Und unten gibt es einen Kohleschacht nach draußen.“ Der Dicke hatte sich das alles offenbar ganz genau angeschaut. Und er hat recht. Schlaues Kerlchen. Nur, was er nicht weiß, der Raum mit dem Kohleschacht von innen nicht erreichbar ist. Zugemauert. Von einem unserer Handlanger.
Immer noch heulend, immer noch zitternd, bewegen sich die beiden die Treppe hinab. Ihre funzeligen Handylampen versuchten unsere Wände zu ertasten. Unten angekommen erwartet sie ein nasskalter Raum, schmucklos, mit blätterndem Putz zwischen den beiden Türen, welche sie nacheinander öffnen. Dahinter weitere Räume. Wiederum mit je zwei Türen, immer eine links, immer eine rechts.
„Und nun?“, fragt die junge Frau, „wo ist der Kohleschacht?“
„Weiß ich doch auch nicht genau … da lang, würde ich sagen. Nach rechts!“, erwidert der Andere mit mehr Bestimmtheit, als angebracht ist und die beiden betreten den rechten Raum. Vorsichtig. In alle Richtungen und Ecken schauend. Nach Gefahr suchend. Aber da ist nichts. Nichts, als das, was ihre Fantasie hierher projiziert. Nur wir. Und wir schließen die Tür hinter ihnen.
Natürlich schrecken sie zusammen. Natürlich heult sie wieder. Aber nach einem kurzen Moment fassen sie sich. Sie prüft, ob die Tür sich wieder öffnen lässt. Zu ihrer beider Überraschung geht es diesmal, wenngleich wir die Tür direkt wieder schließen, sobald sie sich von ihr entfernen. Noch zehn Minuten.
Da scheinbar weiter nichts geschieht, als dass wir die Türen schließen, setzen die beiden alsbald ihren Weg fort.
„Wie viele Räume sind das hier?“, fragt die Frau mehr sich selbst, nachdem sie drei Räume durchschritten hatten, immer die rechte Tür nehmend.
„Stopp mal!“, zischt der Dicke.
„WAS?!“, entfährt es der Frau mit aufgerissenen Augen, halb flüsternd, halb schreiend.
„Das kann nicht sein!“
„Jetzt sag schon!“
„Wir müssten im Kreis gelaufen sein.“
„Ooooh … Du Arschloch … und deswegen erschreckst Du mich so?“, schnauzt ihn die Frau an. Ich dachte schon … also von vorne!
„Du verstehst nicht.“, erklärt der Dicke, „Wir MÜSSTEN im Kreis gelaufen sein. Sind wir aber nicht.“
„Hä? Das ist doch gut, oder?“
„Nein …“, und nun ist es der Dicke, in dessen Stimme zunehmende Angst liegt, „das ist gar nicht gut. Die Räume verändern sich.“
Schlauer Bursche. Das ging schneller, als bei den anderen. Wir mögen ihn. Schnell eilt er zurück, den Weg, den er vermeintlich gekommen ist, bis dahin, wo die Treppe war. Doch da ist keine Treppe. Besser gesagt, der Raum mit der Treppe ist nicht da. Er geht wieder in den Raum, wo er die Frau zurückgelassen hat. Doch auch die ist verschwunden. Mitsamt des Raums. Noch fünf Minuten.
Die Frau schaut sich nur kurz um und steht plötzlich allein da. Er ist weggelaufen; die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen. Sie bekommt Panik. Rennt kopflos hinterher. Ein Raum. Zwei, doch sie findet ihn nicht. So laut sie sich traut, ruft sie seinen Namen. „Stefan! Steeefaaan.“
Jetzt kennen wir also seinen Namen. Das ist gut. Mehr brauchen wir nicht. Die Frau brauchen wir auch nicht. Dummchen, oder nicht.
Sie öffnet noch eine Türe, ein dritter Raum … ein Raum ohne Boden. Bevor sie es erkennt, fällt sie. Sie fällt in einen Schacht, tief, tief … wird fallen bis in alle Ewigkeit, wird fallen, bis sie stirbt, vor Durst vermutlich. Sie schreit, aber der Schrei verhallt schnell. Ihr Schicksal ist besiegelt. Das zählt. Eine weitere Seele. Noch vier Minuten.
„Stefan, Stefan, STEFAN“. Wir raunen seinen Namen. Durch die Wände, durch die Luft, er ertönt im gesamten Labyrinth. Stefan hört uns. Hat auch ihren Schrei gehört. Er erstarrt. Weiß nicht, wohin. Weiß nicht, was er tun soll. Hat Angst. Das riecht gut. Stefan sackt zusammen. Stefan japst nach Luft, schluchzt, heult. Köstlich.
„Was hast Du mit mir vor? Wirst Du mich auch töten?“
Nein. Das werden wir nicht. Wir brauchen Stefan. Brauchen einen neuen Handlanger. Wenigstens für das nächste Jahr. Jemanden, der alle Vorbereitungen trifft für den Tag, an dem wieder eine Gruppe herkommt. Brauchen ihn, um die Gerüchte in der Stadt zu verbreiten, die jungen Leute herzulocken. Zuletzt wird er eine gute Leiche abgeben. In einem Jahr. Nur so, als Deko im Obergeschoss.
Die große Standuhr im Wohnbereich schlägt Mitternacht. Halloween endet. Zwei Seelen plus die des alten Handlangers. Drei also. Keine schlechte Ernte.