Die blaue Stunde
Endlich, da ist sie. Die blaue Stunde. Der Moment, an dem Wärme und Helligkeit des Tages der Kühle und Dunkelheit der Nacht weichen müssen.
Besonders jetzt im Herbst, wenn die Tage noch nicht kurz sind und die Sonne es schafft, mit einem letzten Aufbäumen wärmende Strahlen zu schicken, besonders dann spüre ich in der blauen Stunde die Ruhe der vergangenen Jahrhunderte, die mich mit jedem Jahrzehnt mehr und mehr erreicht. Und dann dieses Licht! Diese Stimmung fasziniert mich immer wieder, auch wenn mir zur Beobachtung nur die Dachluke bleibt, die das Pärchen vor einer Ewigkeit geöffnet hat.
Ich konzentriere mich auf die Fensterläden – wie schon einige tausend Male zuvor. Bisher ist es mir erst einmal gelungen, sie zu öffnen. Und auch da bin ich mir nicht sicher, ob ich es war oder nicht doch mein einziger Freund: Erion, der Wind.
Seine Stimme hilft mir, ab und zu die Einsamkeit zu vergessen. Je nachdem, wie Erion gelaunt ist, wispert er. Oder er flüstert. Hat er schlechte Laune, kommt es vor, dass er brüllt. Aber meistens ist es eine zarte und behutsame Geschichte, die er mir erzählt. Obwohl ich nicht verstehe, was er sagt, mag ich es, ihm zuzuhören. Wäre ich ein Mensch, würde ich sagen, dass mir dabei mehr als einmal die Augen zugefallen sind.
Kommt er allerdings als Seitenwind direkt auf die Fenster, dann wird aus der stillen Geschichte oft eine Story, die man am liebsten nicht angefangen hätte zu hören. Eine schlaflose Nacht ist nach einer Erion-Seitenwind-Geschichte fast immer sicher.
Na ja, jedenfalls bin ich kein Mensch und werde wohl auch niemals einer sein. Wer zum Teufel auf die hirnrissige Idee gekommen ist, mir als uraltem Haus so etwas wie eine Seele einzuhauchen, gehört bestraft. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schwierig es ist, Tag für Tag an derselben Stelle zu stehen und seit Jahrhunderten nichts weiter zu erleben als Vogelgezwitscher und Erions Stimme. Okay, da gibt es noch ein bisschen Abwechslung durch die Mäuse und Ratten, die ihren Dreck in meinen Zimmern verteilen. Mit denen lassen sich lustige Spielchen veranstalten, das kann ich euch sagen. Lustig für mich, weniger lustig für sie. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Die hebe ich mir auf für ein anderes Mal.
Es klappt einfach nicht. Irgendwie fehlt mir die Energie. Die Fensterläden bleiben geschlossen. Und auch Erion lässt sich heute nicht blicken – eher gesagt: hören. Das verspricht wieder eine dieser unzähligen langweiligen Nächte zu werden.
Halt! Kann das sein? Ein Geräusch an der Tür? Fast scheint es als…
„Ich habs!“, flüstert eine Stimme. „Gleich sind wir drin!“
Die Türe quietscht. Es fühlt sich an, als ob sie sich bewegt. Ein komisches Gefühl – es ist so lange her, dass ich es das letzte Mal gespürt habe. Eine Staubwolke bildet sich.
„Kommt. Hier war bestimmt ewige Zeit niemand mehr.“ Ein Schatten schiebt sich durch die halb geöffnete Tür. Als die Wolke ihn erreicht, muss er husten.
„Ich weiß nicht. Ist schon unheimlich. Vor allem bei den Dingen, die man sich über das Haus erzählt. Vielleicht lassen wir das besser, Jan.“
„Och nee, echt jetzt? Du warst doch ganz begeistert von meinem Vorschlag, du wirst doch jetzt nicht kneifen, oder? Was soll schon passieren? Das ist ein altes Haus, mehr nicht. Stimmts oder hab ich Recht?“
Das kleinere der beiden Mädchen überlegt. Ich spüre es deutlich. Die andere schleicht sich an sie heran und packt sie an den Schultern. Beide schreien auf.
Die Große vor Vergnügen, die Kleine vor Schreck.
„Haha, findest du das witzig? Spinnst du? Ich hätte mir beinahe in die Hose gemacht! Du blöde Kuh!“
»War doch nur ein Scherz! Jetzt stell dich mal nicht so an!«, sagt die Große.«Wir sind doch hier, um Spaß zu haben, oder? Auch wenn es ziemlich gruselig ist hier…«
Die Kleine grinst verlegen.
»Hast ja Recht. Ich bin halt ein Schisser… Aber macht ja nix. Lass uns einfach weitergehen.«
Der Typ nickt.
»Genau das wollte ich hören. Jetzt mal im Ernst. Was soll hier schon sein, Erzählungen hin und her. Ist immer noch einfach ein altes Haus, nicht mehr und nicht weniger.«
»Na ja, immerhin gab es da schon mal den Fall mit dem Pärchen, dass angeblich hier übernachtet hat und dann nie wieder gesehen wurde. Ich finde schon, dass das mehr als gruselig ist, oder?«
»Mensch, das ist ne Story, die soll 60 Jahre her sein – wer weiß, was davon wirklich stimmt. Das meiste ist bestimmt ausgedacht. Wie nennt man das noch? Urbane Legenden, glaube ich.«
»Urbane was?« Die Kleine blickt fragend.
»Ist doch egal, Stories halt, die man sich erzählt und die meistens nicht nachprüfbar sind.«
Aha.
Ich denke, es wird Zeit, mal wieder jemanden eines Besseren zu belehren. Ich bin keine urbane Legende. Und ich werde es euch beweisen. Bin mal gespannt, wie sehr euch das gefallen wird. Eins weiß ich: Mir wird es gefallen. Mir hat es schon damals gefallen, mit dem Pärchen an der Dachluke… Den beiden sicher nicht, aber das war auch nicht mein Ziel.
Plötzlich spüre ich Energie. Sie muss von den dreien kommen. So war es damals auch.
Ich schließe die Tür, was nicht ohne Geräusch funktioniert. Jedenfalls klappt es.
»Ey, was war das? Warst du das?«, fragt die Große.
»Was?«, antwortet die Kleine.
»Na die Tür. Hast du die Türe geschlossen? Irgendjemand hat sie zugeschlagen.«
»Ich wars nicht. Bestimmt der Wind. Oder Jan.«
»Welcher Wind denn? Es ist windstill. Jan, warst du das?«
Jan schüttelt den Kopf.
»Nee, ich nicht.«
Prima, das wird dann heute wohl mal kein langweiliger Abend.
Das wertet sie nochmal auf: die blaue Stunde. Den Moment, an dem Wärme und Helligkeit des Tages der Kühle und Dunkelheit der Nacht weichen müssen. Und noch viel mehr…