**Lämmerleiden**
**Eine kleine Erinnerung an meine Kindheit**
Was soll ich bloß schreiben?
Ratlos schaue ich auf die leeren Seiten und krame in meinen Erinnerungen.
Natürlich, sicher, ich hätte mir irgendeine Geschichte ausdenken können, in der ich dann, schwups, von irgendwoher auch ein, zu diesem Thema passendes Essen einbauen hätte können. Aber so richtig will mir dieser Gedanke nicht gefallen, weil ich nun einmal Stur bin und mir in den Kopf gesetzt habe, das diese, meine noch ungeschriebene Geschichte, unbedingt der Wahrheit entsprechen müsse.
Sicher, da gab es die, von uns Kindern so heiß geliebten „Matschbrötchen“ (Brötchen mit Schokokuss), mit denen wir von Tante Grete, ihres Zeichen Inhaberin des kleinen und einzigen Laden unseres Dorfes, zuverlässig und in stets ausreichender Menge versorgt wurden. Oder ich könnte von meiner Oma berichten, die mir und meinen Geschwistern gerecht und immer reihum, unser Lieblingsessen zubereitete.
Na ja, aber für eine ganze Geschichte wird mir das nicht reichen, denke ich. Selbst dann nicht, wenn ich sie ein wenig ausschmücken würde und ein paar Halbwahrheiten und die eine oder andere Übertreibung unterrührte. Nein, sicher nicht. Mehr als ein paar Sätze würde ich so nicht
zusammenbekommen.
Mhm, Ratlosigkeit.
Aber dann, ganz plötzlich sind sie da, all die Lämmer meiner Kindheit und innerlich schlage ich mir selbst kräftig gegen die Stirn. Warum fallen einem diese Dinge nicht sofort ein und warum musste man so lange vergeblich in seiner Vergangenheit herumwühlen?
Es ist wie verhext!
Lämmer? Sehe ich die unausgesprochene Frage in deinem Gesicht.
Ja, Lämmer!
Und es waren viele, ungezählt viele!
Auch wenn, ja wenn es wohl andere waren als du, liebe Leserin, lieber Leser, nun vielleicht vermuten magst. Aber ich denke, ich lasse diese Lämmchen durchgehen, denn schließlich,
irgendwie muss ich diese leeren Seiten ja vollgeschrieben bekommen. Ich hoffe, auch du wirst
meine Lämmchen mit Wohlwollen betrachten und nicht allzu enttäuscht sein davon, das man sie
weder streicheln konnte (am besten gar nicht erst berühren), noch fröhliches Mähen aus ihren
Mäulern drang, denn die einzigen Laute, die man manchmal in ihrer nähe zu hören bekam, waren Klagelaute und diese kamen meistens von uns selbst.
Aber na ja, am besten ich fange ganz von vorne an, denn so liest es sich besser und viel leichter. Es muss ja schließlich irgendein Sinn dahinter stecken, warum man Geschichten mit dem ersten Satz beginnt und mit dem letzten zu Ende gehen lässt und alles andere, was zwischen diesen beiden Sätzen passiert, einfach in die Mitte packt.
Also der Reihe nach:
Damals, als ich noch ein kleiner Junge war, gab es keine Frau in unserem Dorf, die all die leckeren Kuchen und Kekse zu Hause selbst im Backofen buk, was einfach daran lag, dass zu meiner Zeit die Herde und Backöfen noch mit Holz oder Kohle angeheizt wurden. Ja, um das Mittagessen zuzubereiten oder den Sonntagsbraten knusprig braun werden zu lassen, dafür reichten die damaligen Herde und Backöfen wohl aus, aber Kuchen und Kekse, das war eine ganz andere Sache. Da musste man ganz besonders aufpassen und das Feuer im Herd ließ sich schlecht dazu überreden, ein wenig Rücksicht auf all diese Leckereien zu nehmen, machte sich vielleicht sogar einen Spaß daraus, einfach alles verkohlen zu lassen, so das all diese guten Dinge leicht selbst wie Kohlen ausschauen konnten und die dann, man kann es niemandem verübeln, keiner mehr essen wollte.
So rührten, quirlten und mischten die Frauen dann den Teig zu Hause in der Küche an, drapierten alles auf Backbleche oder in Backformen und trabten dann mit all diesen Blechen, Formen und Behältnissen zum Bäcker, der sie dann in seinen riesigen Ofen schob, indem unter der Woche Brot gebacken wurde, bis all die feinen Backwaren, goldgelb und duftend, irgendwann wieder zum Vorschein kamen und so, fix und fertig, wieder nach Hause getragen werden konnten.
Diese Backtage fanden immer samstags statt und, sofern ich mich recht erinnere, einmal im Monat.
Du kannst dir nicht vorstellen, wie das duftete!
Fast alle Frauen des Dorfes kamen nämlich an diesen Samstagen gleichzeitig zum Bäcker und der Ofen verströmte so, viele Stunden lang, den köstlichsten Duft, der allmählich durch unsere Straßen zog und sich über unser ganzes Dorf legte. Es roch wie an Weihnachten, Geburtstag und Ostern zusammen - einfach unbeschreiblich!
Die Frauen, wenn sie auch sonst oft über all die viele Hausarbeit schimpften, liebten diese Tage, denn so konnten sie, während sie darauf warteten, dass ihre Zaubereien endlich fertig wurden, mit all den anderen Frauen den neusten Tratsch und Klatsch austauschen und den, das kannst du mir gerne glauben, gab es auch in unserem kleinen Dorf zu Hauff.
Tja und dann war da noch, dass unter den Frauen unseres Dorfes ein Wettstreit entbrannt war,
welche wohl den leckersten, duftensten und schönsten Kuchen zubereiten konnte. Nun ja, diesen Wettstreit gab es nicht wirklich und ganz offiziell, so das es auch niemals eine Siegerin gab, und doch wussten alle davon, dass die Frauen nicht einzig deshalb buken um die Kaffeetafeln an Sonn - und Feiertagen zu füllen, sondern auch und gerade, um ihre vermeintlichen Konkurrentinnen auszustechen. Keine dieser Frauen hätte dieses jemals zugegeben und trotzdem machten alle mit und natürlich, auch meine Mutter trat regelmäßig zu diesen Wettbewerben an und wurde, wenn man ihren Worten glauben durfte, die immer und einzige, wenn auch heimliche Gewinnerin, denn meine Mutter wurde für ihre Koch und Backkunst immer sehr gelobt, meistens von ihr selbst.
Es war kurz vor Ostern und wie meine Mutter nun dazu gekommen ist, dass weiß ich nicht, aber
irgendwann lagen auf unserem Küchentisch vier Backformen die, noch ganz neu und silbrig
glänzend, eine ungewöhnliche Form besaßen, denn alle vier stellten Lämmer da, die man als solche ganz deutlich erkennen konnte, denn alles an ihnen war am richtigen Platz, so wie es die Natur halt vorschrieb: Die Statur stimmte, Ohren, Augen, ein leicht spitz zulaufendes Maul, angedeutete Beine und Hufe und selbst das Fell hatte seine vorgeschriebenen leichten Wellen. Einfach Perfekt, wenn es sich denn nicht um Backformen, sondern um irgendwelche Figuren gehandelt hätte, die man irgendwohin drapierte, um den Staub der näheren und weiteren Umgebung zuverlässig anzuziehen. Aber es waren halt doch nur Backformen, mit deren Hilfe meine Mutter wohl annahm, den Backwettbewerb nicht nur als heimliche, sondern als einzige, wirkliche und von allen anderen Frauen bewunderte Siegerin und Göttin aller Backstuben für alle Ewigkeit, oder zumindest für die nächsten Jahre, unangefochten zu gewinnen.
Meine Mutter, um sich nicht die Blöße geben zu müssen, dass ihre Lämmchen schon in der
Backstube des Bäckers, vor aller Augen zusammenfallen würden, begann auch sogleich alle
möglichen Zutaten zusammenzusuchen, diese auf dem Küchentisch auszubreiten, Schüsseln,
Tiegel, Rührlöffel bereitzulegen, sich selbst eine Schürze umzubinden und die Experimente beginnen zu lassen.
Sie mischte, knetete, verwarf, mischte und knetete erneut und schob, sobald sie in der Annahme war, dass richtige Rezept gefunden zu haben, testweise alles in den Ofen unseres Herdes, der zwar wenig geeignet zum Backen war, dessen Unzulänglichkeiten aber der Wissenschaft und Forschung nicht im Wege stehen durfte.
Nun ja, es dauerte.
Die ersten Teige quilten fast noch flüssig aus den Formen heraus. Die nächsten gingen nicht richtig auf oder fielen, sobald man eine der Formen öffnete, in sich zusammen. Die nächsten Versuche wurden nicht wirklich besser. Zwar wurde die konsistent annehmbar, aber der Teig weigerte sich vehement dagegen, sich ordentlich in der ihm zugedachten Form auszubreiten und alle Lücken, Kanten und Ecken pflichterfüllend auszufüllen. Heraus kamen dann seltsame Gebilde, die jedem Kunstatelier zur Ehre gereicht hätten.
Aber dann, nach vielen Stunden der Forschung und Entwicklung, ward es wirklich geschafft und so standen sie da, vier wunderschöne Lämmchen, perfekt, wie die Formen aus denen sie entsprungen waren. Noch nackt und ohne fröhlich umherblickende dunkle Augen, ordentlich in Reih und Glied, mitten auf dem Küchentisch unter den stolzen Augen meiner Mutter, die sofort Puderzucker und warmes Wasser mit einem Spritzer Zitronensaft zusammenrührte um ihre Nacktheit zu bedecken. Also die Nacktheit der Lämmchen, nicht ihre eigene, nicht das es da vielleicht zu Missverständnissen kommt.
Meine Mutter hatte nicht unbedacht gerade vier dieser Formen angeschafft, denn so konnte sie gleich vier Fliegen mit einer Klappe schlagen, um es mal, frei nach dem tapferen Schneiderlein, auszudrücken, denn ab da bekamen meine drei Geschwister und ich an jedem Osterfest, an jedem Geburtstag, manchmal selbst zu Weihnachten oder überhaupt so zwischendurch, eines dieser, dick mit Zuckerguss bestrichenen Lämmchen geschenkt, bei dessen Anblick uns Kindern immer etwas unwohl wurde und unsere Freude über dieses Geschenk dreist gelogen.
Irgendwann standen sie überall herum - in unseren Kinderzimmern, auf Tischen und Fensterbänken und einmal habe ich sogar eines im Badezimmer gefunden und heimlich im Wäschekorb versteckt. Vorsichtshalber ganz tief unten.
Das Rezept für den Teig kann ich dir hier an dieser Stelle, leider nicht übermittelt, denn meine
Mutter weilt schon nicht mehr unter uns und ich kann sie deshalb nicht danach fragen, um sie
darum zu bitten. Aber es sollte nicht schwer sein, dieses selbst herauszufinden, denn noch heute
sorgen dessen Zutaten dafür, dass Brücken nicht einstürzen, Tunnel nicht einfach in sich
zusammenfallen und selbst die schwersten Schwerlaster über den Asphalt unserer Straßen
dahinbrausen können.
Der einzige der einmal den Mut aufbrachte, eines dieser Lämmchen zu kosten, war mein Vater. Ich habe ihn damals sehr dafür bewundert.
Manche behaupten sogar heute noch, dass ich aus unserem Dorf irgendwann wegzog, nur weil mir diese Lämmchen über den Kopf wuchsen. Aber das muss ich hier an dieser Stelle mit aller
Entschiedenheit bestreiten, denn dabei handelt es sich wirklich nur um ein Gerücht!
Ob meine Mutter diesen Backwettstreit mit ihren Lämmchen wenigstens gewann, möchtest du
wissen?
Nun ja, ganz abwegig ist das nicht, aber wenn sie ihn gewann, dann nicht sehr oft und nicht für
lange Zeit, denn schon bald und noch bevor meine Kindheit zu ende war, wurde auch unser Dorf modern. Die einfachen Kohleherde verschwanden bald aus den Küchen der Häuser und wurden gegen neue, mit Gas oder Elektrizität betriebene ersetzt und die Frauen mussten nun nicht mehr
allmonatlich mit ihren Blechen, Backformen und Behältern zum Bäcker wandern, sondern konnten zu Hause bleiben und dort Backen. Viele von ihnen haben das sicherlich bedauert.
Auch tauchte irgendwann, mitten auf dem Dorfplatz die erste, damals noch gelbe Telefonzelle auf und meine Tante bekam als allererste und für ein paar Jahre auch einzige, ihren ganz eigenen
Anschluss und ihr ganz eigenes Telefon. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.