Ein kleiner Versuch zur aktuellen Seitenwindwoche1. Viel Spaß beim Lesen.
Familienessen
Der Tisch war akkurat gedeckt worden. Eine schneeweiße Decke über den großen Wohnzimmeresstisch gespannt. Jeder Teller stand exakt seinem Gegenstück gegenüber. Es waren die mit dem blaugoldenen Rand. Dieses besondere Geschirr wurde ausschließlich an Feiertagen hervorgeholt.
Daneben kleine goldene Kuchengabeln, die man zusammen mit dem Kaffeelöffel in eine eidottergelbe Serviettenschürze drapiert hatte. Nicht gekauft, sondern am heutigen Tag gefaltet aus den schweren Damaststoff, den Mutter zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatte. Das Geschirr stammte von dieser Zeit, die bald zehn Jahre her war. Womöglich etwas länger.
Genau wusste es ihre jüngste Tochter Sue nicht. Fragen waren nicht gern gehört. Überhaupt an solch einem Tag nicht. Ihre Mutter war zu beschäftigt mit der perfekten Herstellung des idealen Kaffeetisches. Es wirkte wie das strenge Regiment in einer Karserne. Niemand dürfte aus der Reihe tanzen. Immer wieder wurden Besteck und Geschirr überprüft, ob sie im gleichen Abstand zueinander lagen.
Als ob würde ein strenger Oberbefehlshaber ihnen einen Besuch abstatten.
Hinzu kam, dass in der ganzen kleinen Wohnung eine angespannte Atmosphäre herrschte. Ihre ältere Schwester Luise war die letzte Zeit von morgens bis Abends beschäftigt, ihrer Mutter zu helfen. Einer Hilfe, an die Sue kein Anteil hatte. Obwohl sie es zu Anfang versucht hatte.
Es war Luise, die früh am heutigen Morgen die Servietten gefaltet hatte. Es hatte Stunden gedauert. Nie waren sie den beiden perfekt genung. Währenddessen hatte ihre Mutter sich weiter um die Speisen gekümmert. Den Sauerbraten mit Bratensaft übergossen. Dazu eine Rotweinsoße angesetzt, die seit gestern vor sich her köchelte. Dazu begleitet von leises Fluchen, weil sie Angst davor hatte, das sie ihr nicht gelang.
Zunächst würde es Kaffee und Kuchen geben. Wie es sich gehörte, wenn Gäste sich ankündigten. Später am Abend den Braten mit selbstgemachten Serviettenknödeln und Rotkohl. Der war ihrer Mutter heute fast zweimal angebrannt. Ein Klassiker, den ihr Vater gerne hatte. Die gesamte Wohnung hatte nach tagelang eingelegten Fleisch gerochen. Selbstverständlich mit Rosinen.
Obwohl keiner in der Familie sie mochte.
Nicht einmal ihr Vater.
Jeder von ihnen pickte sie heimlich wieder aus der Soße heraus. Aber wenn man ihre Mutter ansprach, bestand sie darauf, dass es sich so gehörte. Somit blieben sie drin.
Ihrer Mutter war es gleich.
Sie würde von ihrem Mahl kaum etwas anrühren. Da sie ständig zwischen Küche und Wohnstube pendeln würde. Was immer eine gewisse Unruhe unter den Familiemitgliedern und Gästen verbreitete. Aber es dürfte sich am Ende des Abends niemand beschweren, dass er zu wenig Wein oder Cola ins Glas bekommen hätte.
Dass Frau Mayer von nebenan behauptete, ihre Nachbarin wäre geizig. Wie so oft, war es ihrer Mutter wichtig, nach außen den Schein zu erhalten. Obwohl jeder wusste, was in ihrer Familie passierte. Die vielen Streits waren nicht zu überhören. Bei den dünnen Wänden der Wohnsiedlung.
So wird es sein, wenn jemand Wichtiges zu Besuch kommt, überlegte sich ihre Tochter Sue. Sie verstand nicht, warum die beiden sich solche Mühe gaben.
Es war nur ihr Vater mit seiner neuen Freundin. Die Trennung ihrer Eltern war wenige Monate her und es würde das erste Zusammentreffen werden.
Hier war ebenso ein Nachforschen nicht gerne gehört. Zusammen mit ihnen würde ihr älterer Bruder mitkommen. Im Gegensatz zu den beiden Mädchen hatte er sich entschlossen, zum Vater zuziehen. Sue hatte ihn seit seinem Fortgang längere Zeit nicht gesehen. Heimlich freute sie sich. Versuchte ihre Freude, aber nicht offen zu zeigen. Er hatte mit seiner Entscheidung ihrer Mutter Schmerzen verursacht.
Seitdem seinem Entschluss war ihr Bruder ein Tabuthema zuhause. Wenn ihr über ihn was herausrutschte, trat sie ihre Schwester gegen das Schienbein oder lenkte das Thema auf etwas anderes. Dennoch der Blick ihrer Mutter, bei der unerwünschten Erwähnung des Namens entging ihr nicht. Es war eine seltsame Mischung aus Verlust, Trauer und Wut. Zuvor hatte Sue nicht gewusst, dass Menschen in der Lage waren für Geliebtes, alles gleichzeitig zu fühlen. Wenn sie diesen Blick hatte, kamen immer öfters die neuen kleinen Pillen hinzu. Davon wurde ihre Mutter müde und lag stundenlang antriebslos auf dem Sofa. Sie war, wie abwesend. Es machte Sue Angst.
Aber Fragen stellen war hier nicht erlaubt.
Luise erklärte es mit ihr mit „Frauendingen"und machte sich wichtig. Überhaupt hatte sie sich, seitdem ihr Vater gegangen war, verändert. Die Spiele von früher tat sie ab, mit es wäre „Babykram“. Sue verstehe es ja nicht, was derzeit passierte. Das ärgerte sie und dann versteckte sie heimlich Sachen ihrer Schwester. Oder zerstörte absichtlich Besitztümer.
Sue war versucht, irgendetwas davon in die Tat umzusetzen… Aber sie ahnte, dass es nicht nur ihre Schwester treffen würde. Sue wollte ihre Mutter nicht verärgern. Hinzu kam, dass sich heute fast alles wie normal anfühlte. Paradoxerweise. Da ja in der ganzen Wohnung herumgewirbelt wurde. Wie früher als große Feste vorbereitet wurden.
Die geschäftigen Zeit und rege Betriebsamkeit der letzten Wochen. Es fühlte sich an, wäre ihr Vater bloß einige wenige Tage fortgewesen, auf einer seiner Geschäftsreisen. Solchen wo er seine neue Freundin gefunden hatte.
Was genau zu der Trennung geführt hatte, wusste seine Tochter nicht. Aber eines Tages kehrte er nicht mehr zurück. Es erfolgte bloß ein Anruf. Kurze knappe Sätze. Zunächst blieb alles normal, ihre Mutter nahm es scheinbar gelassen hin. Doch nach dem Auflegen des Hörers verlor sie ihre Selbstbeherrschung. Siebrach vor dem Telefon zusammen. Luise fand sie völlig aufgelöst vor. Sie versuchte sie zu beruhigen. Brauchte sie sogar wie ein Kind ins Bett. All das mit den beobachteten Augen ihrer kleinen Schwester. Der nichts blieb, Al zusehen.Ab da war etwas anders zwischen den beiden und ihr. Es fehlten ihr die Worte zu sagen, was es war.
Wenige Stunden später kam der Notarzt und brachte ihre Mutter fort.
Drei ganze Tage danach stand das Auto ihres Vaters vor der Tür. Versuchte sein Bestes um für ihnen das Erlebte erträglicher zu gestalten. Doch er ließ keine Fragen zu.
Er blieb, bis zu dem Moment, wo ihre Mutter die Klinik wieder verlassen dürfte. In der Zeit davor, wo er da war, die neue Situation zu erklären. Aber damit machte er es nicht besser. Ihre ältere Schwester redete am Ende nicht mehr mit ihm. Dafür ihr Bruder mit ihm mehr.
Und mit ihr? Da machte er keinen großen Versuch. Er hielt sie mit ihren elf Jahren zu klein, um zu verstehen. Doch er irrte sich. Sie hörte und sah zu. Verstand manchmal mehr, als sie wollte.
Er ging erneut fort, ließ sie dort, während er den Bruder mit sich nahm.
Ihre Schwester schubste sie zur Seite, und löste sie aus ihrer Erinnerung heraus. Sue schien den ganzen Tag ständig im Weg zu stehen. Sie hatte versucht, sich nützlich zu machen. Aber keine der beiden hatte Geduld mit ihr. Sue fühlte sich, als könne sie nichts. Das leise Gefühl einer Versagerin schlich sich in ihr ein.
Sue suchte nach einen Platz, wo sie nicht im Weg stand. Fand vorerst keinen.
Es fehlten jetzt nur Kuchen, Plätzchen, Gebäcke auf dem Tisch. Dazu eine mehrstufige Torte. Wer das essen sollte, darüber hätte sich niemand Gedanken gemacht. Und warum das ganze Theater für jemanden, der sie alle eiskalt verlassen hatte?
Endlich klingelte es.
Hektik brach aus. Es fehlten zwei weitere Kuchen. Darunter der Lieblingskuchen ihres Vaters.
Käsekuchen.
Er war der einzige, der ihn ass.
Ihre große Schwester huschte in die Küche und balancierte die beiden Kuchen zum Wohnzimmer herüber.
Somit konnte ihre Mutter den Eindruck erwecken nonchalant die Haustür zu öffnen. Sie war es keinesfalls. Kurz atmete sie vorher ein und aus. Ihre Jüngste sah ihr dabei zu und vergaß aufzupassen, wo sich Luise befand. Sue machte sich Sorgen, ob ihre Mutter diesen Tag schaffen würde.
Ihre Schwester stieß gegen sie und beide Kuchen fielen zu Boden.
Erschrocken sah sich ihre Mutter um. Die nackte Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben. Dann sah sie wieder zur Tür. Aber statt des erwarteten Vaters, war es der Postbote und überreichte ihr einen Brief.
Die Haustür schloss sich.
Ihre Schwester beschwerte sich lautstark über ihre Jungere.
Dabei übersahen beide Kinder,was mit ihrer Mutter passierte.
Diese öffnete den Brief und las. Danach packte sie ihn sorgfältig in den Umschlag zurück. Begann hysterisch zu lachen. Dabei liefen ihr die Tränen herunter und verschmierten das Make-up, dass sie sich zwischen den Anstrengungen des Tages aufgelegt hatte.
Sie hörte nicht auf. Wenige Minuten später holte sie wieder der Notarzt ab.
Der Postbote hatte ihr ein Schreiben gebracht, wo eine Absage für den heutigen Vormittag gestanden hatte.
Ebenso die Scheidungspapiere.
Wenige Tage später stand noch alles akkurat auf dem schneeweißen Tischtuch, bloß die Speisen waren vergammelt.