Der Imbiss
Schritt für Schritt führt mich mein Weg vorbei an den großen Wohnblöcken, die die Altstadt bedrohlich überragen, zwischen den Hecken hindurch, die Einfamilienhäuser links liegen lassend, den Fußballplatz rechts, über den etwas feuchten Rasen der Grünanlage, dann zur anderen Seite der Hauptstraße, auf der sich der Verkehr dröhnend und rauschend entlang wälzt - wobei ich zu meiner eigenen Sicherheit die Fußgängerampel nutze, deren Grünphase selbst für einen Windhund zu kurz ist -, dann weiter durch den verwilderten Park, dessen Bäume und Gestrüpp im trüben Tageslicht alles andere als beruhigend auf mich wirken, hinüber zu den Schrebergärten und auf dem Kiesweg durch sie hindurch, bis ich auf dem Brachland ankomme, auf dem schon seit Jahren eine Reihenhaussiedlung entstehen soll, dessen Boden aber durchzogen von Kaninchenbauten und übersät mit Müll eher an ein ehemaliges Schlachtfeld erinnert als an ein zukünftiges Wohnparadies, dahinter der Parkplatz auf der Rückseite des Einkaufszentrums.
Hier bleibe ich fröstelnd stehen und blicke mich um. Der hintere Parkplatz wird kaum genutzt, schiefe Kantensteine, Schmutz und Grasbüschel im Pflaster illustrieren die allgemeine Ignoranz gegenüber diesem ungeliebten Teil des Geländes. Links stehen zwei beschädigte Einkaufswagen, eng ineinander verkeilt wie ein Liebespaar in Ekstase. Ein kalter Wind trägt einige Plastiktüten an mir vorbei und kräuselt das Gefieder zweier Krähen, die sich um irgendetwas streiten, dass einmal gelebt haben mochte, aber dessen ursprüngliche Form nicht mehr erkennbar ist.
Rechts steht der Imbisswagen, von dem mir meine Freundin erst neulich bei der Feier auf der Dachterrasse hoch über der Stadt erzählt hatte. Die Erinnerung ist nur noch vage, was auch an der größeren Menge Wodka liegen könnte, die ich zu dieser Zeit schon getrunken hatte, aber ich erinnere mich noch genau an das Leuchten in ihren Augen, als sie mir davon erzählte, und an ihre Begeisterung und den ausgestreckten Arm, der über das Lichtermeer der nächtlichen Stadt hinweg auf eine Stelle wies, die außerhalb meiner Alltagswelt lag.
Eigentlich ist es kein Imbisswagen, sondern eher ein Food Truck aus längst vergangenen Zeiten, leicht verbeult mit einer weit nach vorn ausladenden Schnauze, die einen historischen Motor beherbergt, und steil aufragenden Fenstern am Fahrerhaus. Weit entfernt von einer Stromlinienform und mit verrosteten und bedrohlich wirkenden Rädern präsentiert sich der Wagen in einem leuchtenden Blau, das an einigen Stellen zu einem sehr trüben Grau, stellenweise gar zu einem schmutzigen, rostigen Braun mutiert war, als ob dies schon immer sein wahres Aussehen gewesen wäre, das man versucht hatte, mit dem Blau zu überdecken.
Was hatte meine Freundin noch mal gesagt?
„Das musst du probieren. Das ist wie früher, nicht so ein verwirrendes Zeug, wie das heutzutage überall angeboten wird. Hier kann man noch wirkliches Essen bekommen und man darf es auch so nennen, wie wir es früher getan haben – politisch korrekt ist alles, was Spaß macht. Und das Wichtigste: Es ist Essen für jedermann.“
Langsam gehe ich auf den Wagen zu, von dem der Wind Stimmengewirr herüberträgt. Ich erinnere mich, einmal gehört zu haben, dass es auf diesem Teil des Parkplatzes immer windig war und immer kühler als auf dem vorderen Teil. Selbst im heißesten Sommer, konnte man hier ins Frösteln geraten und jeder, der sich einmal hierher verirrte, sei es aus Unachtsamkeit oder um ungesehen eine verbotene Zigarette zu rauchen oder vielleicht ein Pülverchen zu kaufen, das man nicht in der Sonne zu sich nahm, hatte das Gefühl, dass dies eine viel trostlosere und traurigere Welt ist. Wurden die Reihenhäuser etwa deswegen nicht gebaut?
Eine Gruppe von Menschen umringt den Imbisswagen: Frauen, Männer, einige Kinder, die sie kreischend umkreisen – normale Menschen wie du und ich, einige mit verbitterten Mienen, andere mit einem Lächeln oder gar Lachen. Ich beobachte zwei Männer, die sehr angeregt diskutieren, während ein dritter bestätigend wild mit seinen Kopf nickt, so dass man befürchten muss, er würde sich im nächsten Moment von seinem Hals lösen. Eine Frau steht dabei, den Kopf gesenkt, der Rücken leicht gekrümmt, das Gesicht ernst und etwas traurig oder vielleicht nur müde.
Niemand nimmt von mir Notiz, als ich an den Wagen herantrete und die große mit weißer Kreide beschriebene Tafel mustere. Die Buchstaben winden sich in alter Schrift mit langgezogenen Bögen, die von aggressiv und bedrohlich wirkenden Haken unterbrochen werden, die ganze Tafel wirkt wie eine Sammlung von Hinweisen und Anordnungen aus alter Zeit: Brot mit Leberwurst, Bratwurst, Schinken, Ei, Spiegelei mit Speck, …, Kaffee, Tee, Bier vom Fass, Wein (rot/weiß) …
Die Liste ist lang, die Speisen und Getränke sind einfach – eben Essen für jedermann. Doch am interessantesten ist, dass nirgendwo ein Preis steht. Die werden das doch nicht verschenken? Ich sehe mich suchend um, kann aber nur Menschenkörper um mich herum sehen – sind das mehr geworden? Es scheinen sich weitere Leute um mich und den Wagen zu drängen, das Stimmengewirr wird immer lauter und unverständlicher.
Schließlich gebe ich es auf und frage den Erstbesten, der neben mir steht: „Entschuldigung, wissen Sie, was die Sachen kosten?“
Der Mann sieht mich an, als wäre ich gerade aus der Erde aufgetaucht oder vom Himmel gefallen, seine Augen zucken hin und her, als überlege er, was er von mir zu halten habe. Dann schüttelt er leicht den Kopf, verzieht den Mund, antwortet: „Lesen ist wohl nicht deine Stärke?“, und zeigt auf die großen Buchstaben, die sich unterhalb der Dachkante des Wagens entlangziehen.
ALLES NUR 60 PFENNIG.
Ich bin verwirrt und ziemlich sicher, dass das in ebenso großen Buchstaben auf meine Stirn geschrieben steht. Aber alle um mich herum sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass es niemandem auffällt. Doch dann bemerke ich, dass sie gar nicht mit sich selbst beschäftigt sind, sondern vielmehr auf eine kräftige, fordernde Stimme hören, die aus dem Wagen in die Menge hineinschallt, auf die sie reagieren, mit der sie wetteifern, sich gegenseitig aufputschen und bestätigen.
Vorsichtig dränge ich mich an den Menschen vorbei, neugierig auf das Angebot im Wagen, aber auch auf das, was der Mann hinter dem Tresen sagt. Ich kann kein Word verstehen, auch was die Leute sagen und rufen reduziert sich auf einzelne Floskeln. „Ja genau!“ – „So ist es!“ – „Endlich mal einer, der den Mund aufmacht!“ – „So kann es nicht weitergehen!“ – …
Plötzlich bin ich in der vordersten Reihe, stoße (oder werde ich gestoßen?) an das schmale Brett, dass vom Wagen heruntergeklappt und neben Plastikbesteck und einer Schachtel mit Servietten auch mit Essensresten und undefinierbaren Flecken dekoriert ist. Rechts und links neben mir stehen Menschen, die zum Teil gestikulieren, zum Teil rufen und zum Teil essen.
„Was darf es sein?“
Die Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken, ohne dass ich weiß, weshalb. Sie ist rau, tief und klingt irgendwie vorwurfsvoll, fast fühle ich mich schuldig hier zu sein und noch nichts bestellt zu haben. Unentschlossen blicke ich an der Auslage entlang, mustere die verschiedenen Angebote und werde immer nervöser. Was ist los mit mir? Um mich herum scheint es immer turbulenter zu werden. Hatte mich gerade jemand angesprochen? Wurde ich gerade aufgefordert, mich nun endlich zu entscheiden? Schließlich wollen andere ja auch noch drankommen. Wieso halte ich den Verkehr auf? Was bin ich denn für einer? Glaube ich denn, ich sei etwas Besseres, dass ich hier den einfachen Leuten die Zeit stehle?
„Na?“
Wieder die Stimme. Vorsichtig, fast ängstlich schaue ich auf: Ein schmales, fast asketisches Gesicht, eine lange gebogene Nase, stahlharte Augen und ein tiefdringender Blick, ein breiter Mund und große kräftige Zähne. Ich muss schlucken, ich muss mich räuspern, mein Mund ist trocken und plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt noch reden kann.
„Ich sehe schon“, sagt der Mann hinter dem Tresen, „ein Unentschlossener. Scheinbar bist du noch nicht überzeugt, glaubst noch der allgemeinen Meinung, dem so genannten Mainstream. Aber ich denke das kriegen wir schon hin. Wenn du einmal verstanden hast, wie die Dinge wirklich sind, was hier wirklich passiert – das Internet ist schließlich voll davon und mittlerweile gibt es zum Glück viele anständige und ehrliche Leute, die sich trauen, die Wahrheit zu sagen –, dann wirst du dich fragen, wieso du nicht eher hergekommen bist.“
Ich bin nun vollends verwirrt. Worum geht es hier? Um mich herum immer noch unverständliches Geplapper, über mir der schmale Mann mit der Adlernase und dem bohrenden Blick und vor mir ein umfangreiches Angebot an Essen für jedermann.
„Vielleicht kann ich dir etwas empfehlen?“, sagt er. „Lass mich mal schauen … du bist doch bestimmt hungrig nach etwas Neuem, nach Veränderung. Der alte Kram stinkt dich an, wie man so schön sagt. Ich denke, du brauchst etwas Heißes, das dich zufrieden macht. Was könnte ich da nehmen …“
„Nein“, kommt es krächzend aus meiner Kehle. Irgendwie muss ich hier raus, das hat doch nichts mehr mit einem Imbiss zu tun.
Hat mich da jemand angerempelt? Ich schaue mich um, sehe mehrere Männer miteinander raufen, plötzlich ein Faustschlag, unterstützende Schreie, statt auseinanderzulaufen drängen die Menschen nur noch stärker zusammen. War es vorher nur ein Unbehagen und Verwirrung, so macht sich jetzt Angst in mir breit, verzweifelt will ich mich durch die Massen hindurch drängen, nur weg vom Wagen, weg von dem Mann, weg, einfach nur weg.
„He, Moment mal! Wo willst du denn hin? Du hast doch noch gar nichts bestellt!“
Die Stimme ist nun lauter und bösartiger.
„Ja, also …“, stammele ich und sehe zwinkernd umher. „Vielleicht …“
„Ja?“
„Vielleicht ein …“
„Ja? Ein was?“
„Vielleicht ein Brötchen mit Soße?“
Schweigen.
Dann ein Kichern, das sich schnell zu einem Lachen entwickelt und dann überspringt auf die Leute um mich herum.
„Ein Brötchen mit Soße?“, lacht der Mann hinter dem Tresen des blauen, braunfleckigen Imbisswagens und wirft dabei seinen Kopf in den Nacken, lässt seine weißen Zähne strahlen und (kann das sein?) entlässt eine kleine Träne aus dem Augenwinkel, die an seiner Wange herunterkullert, sich vom Gesicht löst und irgendwo, wo ich sie nicht sehen kann, auf den Boden fällt.
„Also gut. Ein Brötchen mit Soße. Kommt sofort.“
Ich spüre, wie ich am ganzen Leib zittere, es ist nicht nur die Kälte, nicht nur der Wind, nicht nur die Unruhe unter den Menschen um mich herum – es kommt irgendwie aus meinem tiefsten Innern, von irgendwo aus einer Welt, die in mir steckt, derer ich mir nicht bewusst bin, die aber trotzdem da ist und auf mich wirkt.
„Bitte sehr! Das macht 60 Pfennig.“
Eine kräftige, sehnige Hand reicht mir absolut ruhig das Brötchen auf einem Pappteller - kein Zittern, keine Unsicherheit und kein Erbarmen. Ich greife in meine Hosentasche nach dem Kleingeld, weiß aber, dass das Unfug ist, denn ich habe höchstens zwei oder drei Euro in kleinen Stücken dabei, doch mit Sicherheit keine Pfennige. Wer hat die denn noch?
Etwas Erleichterung macht sich in mir breit. Das könnte die Lösung sein. Wenn ich nicht bezahlen kann, dann muss ich das Brötchen auch nicht annehmen. Habe ich Angst vor einem Brötchen? Nein, wird mir klar, Angst habe ich davor, es von diesem Mann anzunehmen. Aber ich kann einfach nicht gehen, schon gar nicht jetzt, nachdem ich bestellt habe.
Meine Hand schließt sich fast von ganz allein um einige Münzen in meiner Tasche, ich spüre das warme Metall und ihr geringes Gewicht. Das muss meine Erregung sein, denn eigentlich sind die Münzen viel schwerer, das ist klar. Ich ziehe die Hand heraus, öffne die Finger und erstarre.
Zwei silberne Münzen blinken in meiner Hand, die eine etwas größer als die andere, eine Fünfzig und eine Zehn liegen als Hochrelief nebeneinander, sie fühlen sich so leicht an, dass ich fürchte, der Wind könnte sie wegwehen. Wie in Trance reiche ich sie hinüber, wobei meine Hand zittert, und lege sie in die geöffnete Klaue des Mannes. Ich nehme den Pappteller, murmele etwas vor mich hin, dass mir vorkommt wie Danke und drehe mich um.
„Herzlichen Dank. Und komm doch bald mal wieder“, tönt die Stimme hinter mir, jetzt zum Glück schon etwas weiter entfernt. Die Menschen um mich herum scheinen sich beruhigt zu haben, es öffnet sich ein Weg zwischen ihnen, den meine Füße automatisch finden. Meine Angst lässt etwas nach und vorsichtig den Pappteller mit dem Brötchen balancierend, um die Soße nicht zu verschütten, bahne ich mir meinen Weg zurück.
An der nächsten Ecke finde ich einen Mülleimer, der mein Essen dankbar annimmt, und ich bin erleichtert, dass ich es los bin. Aber trotzdem werde ich ein Gefühl nicht los, den ganzen Weg zurück nagt es in mir: Ich habe einen Fehler gemacht.