Seitenwind Woche 1: Brötchen mit Soße für 60 Pfennig

Hendl-Haxerl

Die Glasscheibe der Vitrine vor der Nase betrachtete das kleine Mädchen Ihre Auswahl an Möglichkeiten. Wie immer stand sie still wie ein Mäuschen und zupfte an den Strähnen ihres Haars. Sie schüttelte den Kopf.
»Möchtest du nichts davon?«
Zum dritten Mal in Folge zog sie sich den Gummibund der Hose hoch. Wieder schüttelte sie den Kopf. »Nein.«, schmollte sie.
Ein tiefes Seufzen von der Mutter. »Maus, du hast doch gesagt, du hast Hunger. Was willst du jetzt?«
»Ein Haxerl.«, sagte das kleine Mädchen.
»Ich hab dir schon im Auto gesagt, Haxerl gibt‘s nicht. Das ist dir zu viel.«
Ein Schimmern bildete sich in den Augen des Mädchens und sie schniefte das Wasser in ihrer Nase weg.
»Na komm, Anita, bestell ihr eines. Wir essen den Rest schon.«, meldete sich die Tante des Mädchens zu Wort.
Die Mutter streikte. »Nein, sie soll sich bestellen, was sie auch zusammen isst.« Sie hockte sich zu ihrer Tochter und strich ihr das Haar aus dem nassen Gesicht. »Ein kleines Schnitzerl?«
Das kleine Mädchen zuckte mit den Schultern.
»Nimm Aro und setzt dich zum Tisch.«, bat die Tante.
Kleine Schritte schlurften über den Holzboden, den Hund an der Leine, rutschte sie über die Holzbank in die Ecke. Mit den zarten Fingern streichelte sie die Schnauze, die neben ihr auf der Bank lag und kicherte, als die Schnurrhaare über ihre Haut kitzelten.
Das Treiben in der Stube zog vorüber, Teller liefen am Tisch vorbei, Wein floss aus kleinen Glaskrügen in Stielgläser. Der Duft nach Fett und Fleisch drang aus der Küche und paarte sich mit dem Zigarettenrauch vom Nebentisch. Wie es üblich war, in einem Heurigen am äußeren Rand von Wien.
Die Kellnerin stellte dem kleinen Mädchen einen Teller vor die Nase. »Ein Haxerl für die junge Dame.«
Bis über beide Ohren grinste das Mädchen, die Tränen kaum getrocknet, lachte sie schon wieder. »Danke.«, sagte sie artig, aber kaum zu hören. Den Tisch kaum auf Augenhöhe, zog sie den Teller näher und griff nach dem Haxerl. Der Geruch eines gebratenen Huhns, salzig und knusprig, doch das Fleisch, saftig und weich. Viel besser als der Rest des trockenen Vogels. Sie hob das Haxerl an und biss zu. Harte Knochen landete zwischen ihren Zähnen, doch vom Fleisch, keine Spur.
Das Mädchen starrte mit offenem Mund und geweiteten Augen zu Boden. Nicht sicher, was es werden sollte, lachte sie plötzlich los und heulte zugleich Rotz und Wasser. Von der Mutter in die Arme gezogen, weinte und lachte sie weiter zur selben Zeit.
»Ach, das darf doch nicht wahr sein. Jetzt hast du endlich dein Haxerl und dann ist es so weich, dass es vom Knochen fällt.«
Auch die Tante griff sich mit einem Lachen an die gerunzelte Stirn. Und der Hund, dem hat’s geschmeckt.
Heute ist es nur noch ein freudiges Lachen, wenn die junge Frau an diesen Tag zurückdenkt. Immer dann, wenn sie in ein Hendl-Haxerl beißt.

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Mir läuft das Wasser im Mund zusammen :smiling_face_with_three_hearts:

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Es brennt

Viele fürchten sie, haben Angst sie zu berühren. Die meiste Zeit trägt sie die Farbe Grün. Zu bestimmten Zeiten hängen kleine Kügelchen in Rispen herunter. Es gibt sie, groß oder klein. Sie ist männlich oder weiblich.

Oft steht sie in Gruppen, selten alleine. Sie kann bis zu einem Meter hoch werden.

Bei manchen kommt sie auf den Tisch. Als Gemüse, Suppe, Salat oder auch ins Müsli.

Ebenso wurde aus ihr Kleidung hergestellt. Aus den Fasern stellten die Kelten Stricke, Säcke und Hemdenstoffe her. Als die Baumwolle kam, verlor sie an Attraktivität. Meistens in schlechten Zeiten und wenn die Baumwolle rar wurde entdeckte die Menschheit sie wieder. Deswegen nannte man sie auch: „das Leinen der armen Leute“.

Als Medizin wird sie genützt. Im Tee, als Tinktur, getrocknet oder frisch.

Sie ist vielseitig verwendbar und trotzdem wird sie von vielen bekämpft.

Ihr habt es bestimmt schon erraten Jeder kennt sie. Die Brennnessel. Die Berührung mit ihr verursacht zuerst ein brennen und danach ein jucken. Es bilden sich auf der Hautoberfläche Pusteln.

Es wird erzählt, dass es im Mittelalter den Mönchen und Nonnen verboten war, Brennnesselsamen einzunehmen, da sie eine starke vitalisierende Wirkung haben.

Heute ist sie in der Beliebtheitsskala gestiegen. Viele Sterneköche bereiten sie als eine Delikatesse zu.

Elfchen

Wildkraut
Die Brennnessel
Keiner liebt sie
Ich mixe sie gerne
Smoothie

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Medizin des Grauens

Schnupfen. Gliederschmerzen. Der Kopf dröhnt wie ein Wäschetrockner.

Ich huste seit Tagen.

Vorhin hat meine Ma mich an den Küchentisch gesetzt und gezwungen zu inhalieren. Kochend heißes Wasser in eine Schüssel, Kamille rein, Gesicht drüber halten. Ein Handtuch verdeckt meinen Oberkörper. Ich bin schon nach wenigen Minuten klatschnass vor Schweiß und immer, wenn ich höre, dass meine Ma am Ofen steht, hebe ich das Handtuch an, um atmen zu können. Der heiße Dampf brennt in der entzündeten Nase.

Eine Qual.

Aber es kommt noch schlimmer und jetzt weiß ich, dass ich sterben werde. Als ich endlich vom Inhalieren erlöst werde, stellt meine Ma freudestrahlend einen Becher vor mich hin.

„Trink!“, sagt sie. „Das wird dir gut tun!“

Ich schließe die Augen, als könnte ich mit dem Anblick auch die Realität verweigern: heiße Milch mit Honig. Doch so erkältet ich bin, den Gestank erspart mir mein Geruchssinn nicht. Er steigt mir in die Nase. Ein bisschen süßlich, aber nicht auf die gute Art, egal, was Ma behauptet. Es ist keine Süße, bei der einem das Wasser im Mund zusammenläuft wie bei Pawlowschen Hunden. Sie kriecht in einer fettigen, schmierigen Weise in die Nasenscheidewände, schleicht sich auf Zunge und Gaumen, bevor man überhaupt den ersten Schluck getrunken hat.

Ma legt ihre Hand auf meine heiße Stirn, runzelt ihre eigene. „Trink“, wiederholt sie sanfter, aber ich weiß, es gibt kein Entkommen.

Als ich den Becher an die Lippen setze, knirsche ich mit den Zähnen. Ich muss jedes bisschen Mut aufbringen, das ich habe, um den Mund weit genug zu öffnen. Der widerliche Geruch von gekochter Milch stülpt meinen Magen um. Und dann berührt etwas meine Zunge, etwas Schleimiges, Verknotetes. Haut. Gott, ich hasse diese ekelhafte Haut auf heißer Milch.

Ich versuche, gleichzeitig die Luft anzuhalten und zu schlucken, aber …

Es. Geht. Nicht.

Bevor ich es verhindern kann, würge ich, spucke ich, übergebe mich beinahe und rotze diese abartige Haut wieder zurück in den Becher, stoße ihn um, sehe zu, wie die cremefarbige Brühe über die Tischplatte läuft, zu Boden tropft. Hektisch wische ich mir über Mund und Kinn, will nicht atmen, will nicht riechen, will schon gar nicht schmecken.

„Du meine Güte!“, stößt Ma hervor. „Die Kinder in Afrika wären froh, wenn sie …“

Den Rest blende ich aus, springe auf meine wackligen Beine und schlurfe wie ein Zombie zurück in mein Zimmer. Grippe ist die Hölle. Aber heiße Milch ist definitiv des Teufels. Ich beschließe auf der Stelle, nie wieder krank zu werden. Nie wieder!

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Ich danke Dir, Grüße zurück!

Oh ja, Pfannkuchen, die konnte Oma auch immer besonders gut backen

Curryreis – wir befinden uns im Jahr 1988

„Mutti, was gibt’s heute zu essen?“ – „Curryreis. Nachher, wenn Papa wieder da ist.“
Super, Curryreis!
Ich liebte dieses Essen, vielleicht, weil es zu den wenigen Dingen gehörte, die Mutti kochte (Neben Nudeln mit Ketchup und Schinkenwürfeln, aber darf man das zum Kochen zählen…?). Zumindest für mich war Curryreis Kochen, wohl weil die Zutaten alle einzeln aus den Dosen in den Topf wanderten. Erst der Reis – eine Tüte, in Salzwasser geworfen, und dann wurde sie kochend gehalten, bis der Reis fertig war. Oder bis Mutti mit dem Rest soweit war, das konnte schon ein Weilchen dauern. Aber egal – Tütenreis brennt nicht an, kann also nix passieren!
Zu dem Reis wanderten folgende Zutaten in den Topf: Erbsen und Möhren aus dem Glas, Spargelabschnitte, und, ganz wichtig: Dosenfleisch! Ohne Fleisch ist ein Essen keine Mahlzeit, befand mein Vater. Meistens kam also Corned Beef mit hinein. Und Zwiebeln – auch so eine Grundzutat für Eintöpfe und Gerichte aller Art.
Gewürzt wurde das Ganze dann mit, natürlich, Curry, und Salz. Zum Schluss wurde dann noch eine Dose Mandarinen draufgekippt, das Ganze kräftig durchgerührt und fertig. Immer angesetzt, mehr oder weniger, weil matschiger Reis mit Dosenzutaten natürlich sehr empfindlich ist und schnell anbrennt, wenn man nicht aufpasst.

Ich liebte es. Meine große Schwester weniger, sie teilte mir am Telefon neulich mit:
„Brrr…! Damit kannste mich jagen! Furchtbar!“

Vielleicht gibt es gute Gründe, dass wir beide heute sehr gut kochen können. Und dass dieses Rezept aus meiner Kindheit es nicht in meine eigene Rezeptsammlung geschafft hat. Selbst gekocht habe ich den Curryreis nie. Und das ist auch gut so – bevor die Erinnerung an den Zauber liebevollen Kochens von der Realität noch eingeholt wird.

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Dinner für drei
Eine Verbeugung für Nathalie Henneberg

Schwerin, Sandstraße, November 1991

Vor meinem – hm, ich nenne es mal - „Unfall“ konnte ich achtundneunzig Meter ohne Luftholen unter Wasser schwimmen, ohne bewusstlos zu werden; unverletzt einen Sturz mit voller Gefechtsausrüstung aus fünf Metern Höhe überleben und in einer Stunde fünf Liter Bier trinken, ohne auf dem Weg zurück in die Kaserne schmutzige Lieder zu grölen. Eine Nacht hatte mir genügt, ein Buch mit der Taschenlampe unter der Bettdecke zu lesen, ohne das es der Unteroffizier vom Dienst mitbekam, und der folgende Tag, um zu verstehen, was der Autor in seinem Land hatte nicht in Worte gießen dürfen. Für die Chaostheorie brauchte ich etwas länger.
Ich wusste, welche Prozesse bei der Detonation eines Kernsprengkopfs ablaufen, warum das Butterbrot beim Herabfallen immer auf der falschen Seite landet und dass kein auch noch so perfekter Plan bis zum Ende funktionierte, weil immer der Zufall mitspielte. Ich hatte gelernt, ihn zu fürchten, und vielleicht war das der Grund, warum ich lieber in den Lauf einer Kalaschnikow blickte als in die Augen einer Frau. Bei der Maschinenpistole wusste ich, was in ihr vorging, wenn der Abzug gedrückt wurde.

Wer mich zu Hause besuchen wollte, hatte einen gefährlichen Weg über acht Halbtreppen vor sich, jede mit zehn Stufen aus Eichenholz und da war nicht eine darunter, in der nicht Würmer eine Party nach der anderen feierten. Aber es wollte mich keiner besuchen. Der Eine, auf dessen Rückkehr ich schon längst aufgegeben hatte, zu warten, kam nicht. Meine Mutter hatte immer gesagt: Schmerzen tun nicht weh und dass ich gefälligst die Zähne zusammenbeißen sollte. Sie hatte es wissen müssen. Als ich vierzehn war, hatte sie sich zu einem Zahnarzt davongemacht.
Von meinem Vater wusste ich genau so viel, wie auf einen Bierdeckel aus meiner Sammlung passte, so selten kam er nach Hause. Er hatte in Norwegen den Sozialismus verteidigt, ohne Uniform, im Auftrag der Hauptabteilung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit und unter falschem Namen. Jetzt hatte es die DDR gerissen, doch Major jetzt a. D. Sven Oldenburg war immer noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Es ist mein letzter Auftrag, hatte er als handschriftliche Notiz zu den Unterlagen in der Stahlkassette hinzugefügt.

Das war achtzehn Monate her und mir blieb nichts anderes übrig, als anzunehmen, dass er jetzt die Freiheit statt des Sozialismus verteidigte, ganz sicher aber immer noch ohne Uniform. Immer noch schickte jemand regelmäßig Geld auf sein Konto, nur kam es nicht mehr von der Staatsbank der DDR, sondern von einer Bank auf den Caymaninseln. Es war immer ein maschinengeschriebener Brief, der Name des Empfängers mit Hand eingetragen, mit einer Handschrift, die nicht viel Unterschiede zu einem Druck aufwies und immer mit schwarzem Kugelschreiber: der Unterschrift von Oberst a. D. Bernard Müller. Es sah nicht so aus, als wäre die Einäscherung der DDR ein größeres ein Problem für ihn gewesen. Es war wie immer: Die kleinen Fische wirft man dem Zorn des Pöbels vor, aber die wirklich großen Haie suchen sich einfach einen anderen Teich zum Fressen.

Nachdenklich blickte ich auf die frische, angebissene Schrippe in meiner Hand. Ich liebe es, wenn ich lese, an irgendetwas zu knabbern. Sie war nicht nur Nahrung. Sie war Leben. Ihr Duft war wie ein Tunnel in eine Vergangenheit, in der ich sorgenlos jauchzend, die Hände an den Seiten ausgebreitet, als könnte ich jeden Moment abheben, durch Kornfelder gerannt war. Die Grannen der Ähren kitzelten wieder meine Handflächen, der trockene Duft des reifen Korns meine Nase und ich sah die Sonne, wie sie blutrot hinter dem flimmernden Dunst der Felder versank und erst, als sie ganz verschwunden war, nahm ich wieder die Rufe meines Vaters wahr, der sich die Kehle nach mir wund schrie, damit ich endlich zum Abendessen heimkam.
Ich griff nach dem roten Buch, das vor ein paar Tagen mit der Post gekommen war. Es hatte einen langen Weg hinter sich, immerhin kam es aus Australien und der Absender war so unleserlich geschrieben, dass ich ihn nicht hatte entziffern können. Womit ich auch die Frage nie würde beantworten können, wer auf dem fünften Kontinent es für notwendig erachtet hatte, anonymerweise meine Leidenschaft für Reiseliteratur befriedigen zu müssen. Es war das Tagebuch eines Thore Wejndahl, eines norwegischen Antarktisführers. Nicht nur das Leder des Einbands sah aus, als hätte es einiges mitgemacht. Innen waren Eselsohren, eingerissene Seiten, überschriebene Absätze und ich meinte fast fühlen zu können, unter welch widrigen Umständen er darin manchmal seine Einträge gemacht hatte.

Eine Tür quietschte. Es konnte nur die unten zur Straße sein. Ich griff nach meiner Krücke, hinkte durch den Flur und legte ein Ohr an die Wohnungstür, doch keine der morschen Holzstufen da unten knarrte. Es gab nur einen außer mir, der wusste, welche Stufen knarrten und deshalb vermeiden konnte, darauf zu treten. Einer, dessen ganzes Leben darauf aufgebaut war, lautlos zu sein, unerkannt und unhörbar.
Ich holte tief Luft und wechselte den Krückstock in die linke Hand, damit die Rechte frei war für den Händedruck, den ich so lange vermisst hatte. Dann öffnete ich die Tür.

Ihr Gesicht war herzförmig und schmal, mit hohen Wangenknochen und leicht schrägen Augen. Der lange rote Zopf über ihrer Schulter ließ sie auf den ersten Blick mädchenhaft aussehen, auf den zweiten Blick machte sie der kühle Ausdruck darin zu jemandem, der zu viel von etwas erlebt hat, was er nicht hat erleben wollen. Der knielange, kornblumenblaue Mantel stand ihr, die rot geäderten Augen nicht. Trotz der acht Halbtreppen und der Reisetasche in ihrer linken Hand atmete sie nicht viel schneller als ich.
Ohne ihre sandfarbenen halblangen Lederhandschuhe auszuziehen, streckte sie die Hand aus und sagte mit starkem Akzent: „Johanna Brolin aus Norwegen. Ich kannte deinen Vater. Darf ich hereinkommen?“
„Das Letzte ist nicht unbedingt eine Eintrittskarte. Gewöhnlich melden sich die Verflossenen meines Vaters nicht hier.“ Kennen war eine ziemliche Untertreibung, wenn mein Vater ihr sogar gesagt hatte, auf welche Stufen sie nicht treten durfte, fand ich.
Sie blinzelte, als hätte sie bei klarem Himmel einen Regentropfen ins Gesicht bekommen. „Dein Vater wird nicht mehr kommen. Es tut mir leid. Lässt du mich herein? Ich kann nirgendwo anders hin.“
Plötzlich brauchte ich meine Hand, um mich am Türrahmen abzustützen. Erst als sie hinter mir sagte: „Christian, bitte komm herein“, gab ich meinen Halt auf. Ich hinkte in die Küche und nahm ein Bier aus dem Kühlschrank.

Sie ging durch die Wohnung, ließ die Tasche irgendwo zu Boden fallen, dann schlug die Badtür, als hätte sie es eilig. Ich hörte es. Ich schaute hinaus in den Garten im Hinterhof. Verwildert stieß der Kirschbaum seine kahlen Äste in den grauen Himmel. Er müsste wieder geschnitten werden, dachte ich und wusste doch, dass ich ihn nie mehr anfassen würde.
Hinter der Wand aus Milchglas in meinem Kopf fühlte ich, wie Johanna mir das Bier aus der Hand nahm; hörte, wie sie es öffnete und auch den harten Ruck, mit dem sie es auf die Tischplatte stellte. Sie kramte in den Schubladen, als wäre sie hier zu Hause und kam mit einer Kerze zurück, zündete sie an, stellte sie auf eine Untertasse in der Mitte des Tisches und setzte sich so, dass ihr Gesicht im Schatten blieb.

Irgendwann, die Kerze war schon halb herunter gebrannt, war die Mauer in mir stark genug, dass ich das Schweigen brechen konnte, und ich war erstaunt, wie sachlich meine Stimme klang: „Wer, wo, wann, was. Lass nichts aus.“
Ein Laut kam aus der Dunkelheit hinter der Kerzenflamme von dort, wo sie saß. „Das hat dein …“
„Ja“, sagte ich, und: „Das hat er gesagt und es hieß: keine Ausflüchte. Genau wie: Ich höre dir zu. Dann hat er jedes Wort registriert, jede Schwankung in der Stimme und hat auch das verstanden, was ich … nicht …“ Die Bierflasche war ein Rettungsanker. Ihr Glas war dick und es war gut so. Ich atmete ein paar Mal durch und stellte die Flasche auf den Tisch. „Also … ich höre dir zu … Johanna.“

„Nein.“ Sie beugte sich vor und berührte meine Hand mit einer Fingerspitze. Ihre Stimme war ein Hauch: „Ich werde hier sitzen und schweigen, während du dich von ihm verabschiedest. Alles andere kann warten.“

Es muss langweilig sein für sie, so hier rumzusitzen, dachte ich mit einem letzten Fetzen klaren Verstandes, der Rest war ein finster brodelnder Malstrom von Gefühlen. Hätte es eine Hölle gegeben, wäre ich hinabgestiegen, hätte dem Teufel die Scheiße aus dem Leib geprügelt und ihm die Seele meines Vaters aus den gichtigen Krallen gerissen.

Was für ein Blödsinn! Eigentlich hatten wir uns nur noch gestritten seit dem Tag, an dem ich erfahren hatte, dass er sich auf einen Handel mit dem Ministerium für Staatssicherheit eingelassen hatte. Er hatte Marx studiert, Lenin, das Parteiprogramm und die Dienstanweisungen aus Berlin. Ich las Kant, Nietzsche, Heine, Novalis, Lem und Reiseberichte, vorzugsweise über Arktis und Antarktis. Mit jedem Wort darin hatte ich mehr verstanden, dass, als die Affen vor ein paar einhunderttausend Jahren aus den Bäumen geklettert waren, um Menschen zu werden, sie Knüppel in den Händen gehabt hatten und sie, obwohl sie es hätten längst besser wissen müssen, sie auch heute noch benutzten. Er hatte sich zu so einem Knüppel machen lassen. Dass ich nicht besser war als er, hatte ich erst nach der Katastrophe in den kalten Wassern der Ostsee begriffen. Nun konnte ich es ihm nicht einmal mehr sagen.

Irgendwann stand Johanna auf und kehrte kurz darauf mit einem verschlossenen Umschlag zurück. „Es ist die Sterbeurkunde von Jochen Detjen. Es war der Deckname deines Vaters. Der Schiffsarzt hat sie ausgestellt.“
Ich riss den Umschlag auf, warf einen flüchtigen Blick hinein und fragte mich, wie ich hier im Amt erklären sollte, dass dieses Dokument, das auf einen Jochen Detjen ausgestellt war, den Tod von Sven Oldenburg bezeugte? Ein bitteres Lachen stieg in mir auf.
Ich erinnerte mich an ihre Erschöpfung und ihre Worte in der Tür. Ich sagte: „Du kannst im Schlafzimmer übernachten, wenn du hierbleiben willst. Das Bettzeug ist frisch. Ich schlafe auf meiner Couch.“
Wenn sie in meinem Gesicht lesen konnte, musste sie wissen, dass sie besser nichts mehr sagte.
Sie konnte. „Danke“. Dann ging sie.
Ich war allein.


Am nächsten Morgen weckte mich der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee aus meiner alten Emailletasse. Fröhlich dampfte sie vor sich hin, brauner Kaffeeschaum stand bis zu ihrem Rand, gerade so, dass er nicht überlief; gerade so, wie ich es mochte. Heutzutage nennt man das: türkisch. Was völliger Schwachsinn ist. Es ist einfach nur Kaffee, wie er sein soll: kräftig, duftend und so belebend, dass die Neuronen aus allen Rohren feuern. Alles andere ist Schicki-Micki-Plörre.
Die Frage, wer sie da platziert hatte, stellte sich für mich nicht wirklich. Höchstens, wie sie es geschafft hatte, ohne das ich es bemerkt hatte. Bis jetzt war ich davon ausgegangen, dass niemand an mich herankam, ohne dass ich es mitbekam. Nun, irren ist männlich.
Ich trank den Kaffee aus, stand auf, zog eine Sporthose an, ließ mich nach vorne fallen und pumpte Liegestütze.
„Der Kaffee hat geschmeckt?“
Ein paar halbhohe schwarze Damenstiefel mit Schnürsenkeln und ein Paar wohlgeformte Beine in gleichfarbigen Nylonstrümpfen erschienen in meinem Sichtfeld. Ich drückte mich hoch und warf mein T-Shirt über. „Moin erstmal.“
„Ich will mir die Stadt ansehen. Du hast Lust?“
Hatte ich. Immer. Auf einen Sonntag im Bett. Die Decke über den Kopf und nichts hören und nichts sehen. „Auf meinem Schreibtisch liegt ein Buch, das ich noch durcharbeiten muss.“
„Raymond Chandler: Lady in the Lake?“
„Weiterbildung. Mein Englisch ist schlecht.“
„Eher die Ausrede.“
Ich knurrte etwas Undefinierbares und mit einem Schlag verflog die Winzigkeit an Normalität, die gerade eben zwischen uns hätte einziehen können. Sie hatte ein falsches Bild von mir. Ich hatte zwei Menschen getötet. Vielleicht war ich nicht schuld gewesen, weil ich mich nur verteidigt hatte, vielleicht war ich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, vielleicht war ich auch mit den falschen Leuten zusammen gewesen. Es änderte nichts. Ich hatte Menschen getötet und dass schloss mich für immer aus ihrer Gesellschaft aus. Wenigstens das hatte ich in jener Nacht am Grund der Ostsee vor Warnemünde, dreißig Meter unter ihrer Oberfläche, begriffen. „Was hattest du mit meinem Vater zu tun?“
„Wir waren zusammen in der Antarktis. Er hat mir viel über dich erzählt. Sehr viel. Ich hatte gehofft …“ Sie nestelte mit gesenktem Blick an den Druckknöpfen herum. Schließlich hob sie den Kopf „Das nicht alles davon wahr ist. Ich meinte … deine Vergangenheit.“
„Was gestern war, ist erledigt. Ich lebe heute und ich werde nichts aus meiner Vergangenheit wiederholen.“
„Und wenn man dir diese Wahl nicht lassen kann?“
„Würde ich grob werden.“
„Auch gegen eine Frau?“
„Warum bringen Frauen immer dann, wenn es hässlich wird, ihr Frausein ins Spiel? Die Lüge, die dich hereinlegt; der Schuss, der dich trifft; das Messer in deinem Rücken – macht es einen Unterschied, wenn es eine Frau war?“
„Sag du es mir. Du bist der Mann.“
„Ja, aber kein netter. Behalt das besser im Hinterkopf. Nur für den Fall, dass mein Vater ein paar Details vergessen hat.“ Ich hätte ein Idiot sein müssen, um nicht zu verstehen, dass sie in demselben trüben Teich fischte, wie mein Vater es getan hatte.
Sie band ein Kopftuch so um ihre Haare, dass sie komplett darunter verschwanden, schob sich die Sonnenbrille vor die Augen, als ließe sie das Visier einer Rüstung herunter und ging. Ich wusste, dass sie wiederkommen würde. Sie hatte ihre Tasche nicht mitgenommen. Ob ich mich darüber freuen oder es fürchten sollte, dessen war ich mir allerdings nicht sicher. Nur in einem war ich es: Die Wunden, die eine Frau schlägt, hinterlassen Narben, die ein Leben lang schmerzen und ob sie von der Geliebten oder der eigenen Mutter stammen, macht nicht den Unterschied.

Ich verzog mich in mein Arbeitszimmer. Die ganze linke Wand nahm ein riesiges, übervolles Holzregal ein, das ich selbst gebaut hatte. Auf meinem alten Eichenholzschreibtisch davor, einem Erbstück von meinen Urgroßeltern, war kaum noch ein freier Platz zu finden. Er war vollgestapelt mit Studienunterlagen und Zeitschriften. An der Wand gegenüber hing über meiner Schlafcouch die Fotokopie der Seekarte von Piri Reis. Ich hatte sie auf einen Holzrahmen gespannt und ein paar kleine Lampen dahinter angebracht. Sie verbarg ein Geheimnis und weigerte sich standhaft, es herauszurücken.
„Lust auf einen Schwatz?“, fragte ich sie und setzte mich auf die Couch. Wie immer tat sie, als hätte sie nichts gehört. Ich war es gewohnt. Sie ist schon ziemlich alt, gut fünfhundert Jahre und hört schwer. Aber sie hatte mir wenigsten auch nie widersprochen. Es hieß, dass der osmanische Seefahrer die Karte fünfzehnhundertdreizehn gezeichnet hatte. Er war 1554 in Kairo geköpft worden. Ein Teil der Karte zeigte die Küste der Antarktis mit einem deutlichen grünen Rand, doch zu Zeiten von Piri Reis war die Antarktis schon seit mehr als fünftausend Jahren unter kilometerhohem Eis begraben gewesen. Außerdem wies die Karte eine sphärische Verzerrung auf, die in etwa der eines Fotos von der Erdoberfläche entsprach, das aus mehreren einhundert Kilometern Höhe aufgenommen worden war. Von der Kugelgestalt der Erde wusste man aber frühestens seit Magellan 1519, dementsprechend hatten alle Karten bis dahin eine flache Erde dargestellt. Außerdem war die Antarktis erst im neunzehnten Jahrhundert entdeckt worden, Piri Reis hatte von der Existenz des sechsten Kontinents gar nichts wissen können und selbst wenn es Gerüchte darüber gegeben hätte – um ihre Küstenlinie ohne Eis gesehen zu haben, hätte er sechstausend Jahre alt sein müssen, denn da war sie für immer unter Schnee und Eis begraben worden. Niemand auf der Erde damals hätte das Wissen haben können, um eine solche Karte zu zeichnen. Doch sie existierte, das Original lag in Istanbul im Topkapi unter Glas und spottete seit fast fünfhundert Jahren jedem Erklärungsversuch.
Es passte alles viel zu gut: Die Karte war meine Leidenschaft, mein Vater war an dem Ort gestorben, den sie beschrieb und auch Johanna war dort gewesen. Nicht zu vergessen das Tagebuch des Thore Wejndahl.
Ich ging zum Fenster und blickte hinaus. Der Himmel weinte. Dicke Tropfen klatschten gegen das Fenster, breitgedrückt rannen sie am Glas herab und wuschen den Staub ab. Ein Teil von ihm würde bleiben und als hässlicher, kaum sichtbarer Rand das Glas verunzieren. Alles im Leben hinterließ Spuren und meistens konnte man das, was geschehen war, nur anhand dieser Spuren vermuten. Aber nur, wenn man zur rechten Zeit am rechten Ort war. Doch war ich das, weil ich die Spuren deuten konnte? Oder deutete ich sie falsch? Man passte Theorien der Wirklichkeit an und verborg nicht die Wirklichkeit, damit sie zur eigenen Theorie passte. Wenn ich das gewollt hätte, wäre ich in die Politik gegangen. Einer meiner Ausbilder hatte das weniger prosaisch auf den Punkt gebracht: Wenn eine kerngesunde Person rein zufällig einem vorher nicht diagnostizierten Herzleiden erliegt, ist das meistens kein Zufall, sondern das Ergebnis perfekter Planung und entschlossener Ausführung.
Jemand wollte offenbar an meinen Fäden ziehen und die Auswahl der Kandidaten, die dafür in Frage kamen, war recht übersichtlich.


„Ich wollte dich nicht verletzen vorhin. Lass uns ein wenig plaudern.“
Es war eine schöne Stimme. Deutliche, fast ein wenig überbetonte Vokale. Ein rauer Samthandschuh und er streichelte die Seele. Jeden Morgen so aus dem Schlaf geweckt zu werden … Ich brauchte einen Moment, bis ich wach wurde. Es dunkelte schon draußen und Johanna stand in der Tür meines Arbeitszimmers. Ich war offenbar eingeschlafen und sie hatte sie so leise geöffnet, dass ich es nicht mitbekommen hatte. Wieder einmal …
Ich richtete mich auf und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand. „Ich auch nicht. Plaudern tut man, wenn man seine Zeit gerne mit jemandem verbringt. Meinst du, dass das auf uns zutrifft?“
Ein paar Fältchen bildeten sich um ihre Augen, obwohl ihre Stimme eher amüsiert klang: „Was nicht ist, kann ja noch werden. Das sagt man doch bei euch, oder? Dass du dich nicht magst, habe ich schon verstanden, aber mit wem ich gerne meine Zeit verbringe, überlässt du bitte mir.“
„Bist du deswegen zurückgekommen?“
„Weil ich dich mag? Oh Gott, wovon träumst du nachts?“
„Von aufgedunsenen Wasserleichen. Willst du Details?“
„Nein. Ich will höchstens wissen, warum du so kalt und herzlos tust.“
„Weil …“, ich unterbrach mich. „Also gut. Sehen wir, ob uns Plaudern weiter bringt. Ich bin manchmal ein bisschen …“, mir fiel das passende Wort nicht ein.
„… sperrig?“, half sie mir.
„Hm …“, brummte ich.
„Das hört sich eher nach dem Mann an, von dem mir Sven erzählt hat.“
„Hat er? Ist nicht so seine Art.“
„Du kanntest deinen Vater nicht sehr gut, oder?“ Sie kreuzte die Arme unter ihren Brüsten.
Ich rutschte von der Wand nach vorne, fischte nach meinen Schlappen auf dem Boden, schlüpfte hinein und setze mich auf die Kante der Couch. „Reden wir hier über Major a.D. Sven Oldenburg? Den verdienten Spion der Stasi, der für die Verteidigung des nicht mehr existierenden Sozialismus heldenhaft sein Leben gegeben hat? Es war sein Beruf, nicht gekannt zu werden.“
„Nicht besonders originell.“
„Genau so wie dein nicht vorhandenes Anklopfen.“
„Das bist nicht du, der da spricht. Schon die ganze Zeit nicht. Es ist dein Schmerz.“
Unwillkürlich ging mein Blick zur Krücke, die neben der Couch lehnte. Mein Körper war okay. Es war mein Kopf, der sie brauchte. Ich knurrte wie ein Wolf mit Arthrose im Endstadium: „Kein Grund für dein Mitleid.“
Sie zuckte die Schultern. „Wenn du das sagst. Ich habe ein bisschen eingekauft. Dein Kühlschrank war nicht sehr voll. Dann fangen wir noch einmal von vorne an. So, als wäre ich nichts weiter als eine ganz normale Frau.“
Vielleicht war ich ja tatsächlich zu grob zu ihr. „Was solltest du sonst sein?“
„Gib mir noch eine halbe Stunde. Ich muss mich noch ein bisschen frisch machen.“ Sie lächelte und es war erstaunlich, was es aus ihrem Gesicht machte.

„Magst du den Wein öffnen?“, fragte sie, als ich in die Küche kam. Sie hatte für drei Personen gedeckt und es waren auch drei brennende, schlanke Kerzen in großen Kristallhaltern, die bis jetzt noch nicht zu meinem Hausstand gehört hatten, die meine Küche in ein warmes Licht tauchten. Nur sie.
Ein blütenweißes Tischtuch lag auf dem Tisch und darauf standen ein Teller mit frischem Lachs, ein Laib Weißbrot in einem Flechtkorb und eine Flasche Tokayer.
Sie hatte sich abgeschminkt und trug ihre Haare offen. Wie eine rote Flut wallten sie über ihre linke Schulter hinab bis zur Hüfte. Sie trug ein Paar elegante Pumps, einen halblangen schwarzen Rock und eine weiße Bluse, unter der sich deutlich ihre Brüste abzeichneten.
Möglich, dass ich einen Augenblick zu lange darauf starrte. Sie zuckte entschuldigend die Schultern. „Ich hatte nichts anderes, dass dazu passt.“
Dazu – es dauerte, bis ich es begriff. „Nein. Ich muss mich entschuldigen. Gib mir fünf Minuten.“
Ich brauchte nur viereinhalb, dann hatte ich mich rasiert, umgezogen und mein Lieblingsshirt gegen ein weißes Baumwollhemd getauscht. Die schwarzen Halbschuhe, die ich jetzt anhatte, hatte ich das letzte Mal in Kühlungsborn im Ausgang getragen und die dunkle Tuchhose hatte sich seit Jahren in meinem Schrank zu Tode gelangweilt.

Etwas leuchtete in ihren grünen Augen auf, als ich so in die Küche zurückkehrte. Ich entkorkte den Wein, verhielt mitten in der Bewegung, weil mir auffiel, dass ich meine Krücke im Bad vergessen hatte, schenkte in alle drei Gläser ein und nahm ihr gegenüber Platz, das leere Gedeck zwischen ihr und mir.
Fast synchron, als wären unsere Gedanken in diesem Moment verbunden, griffen wir nach unseren Gläsern.
„Auf Sven“, sagte Johanna.
„Auf meinen Vater.“
Der Klang unserer Gläser schwang durch die Küche, als hätten wir eine Glocke angestoßen. Wir aßen fast wortlos und immer wieder hob ich zwischendurch den Kopf und musste zum Platz meines Vaters blicken. Natürlich änderte sich nichts da. Der Fisch wurde ebenso wenig weniger, wie der Inhalt seines Weinglases abnahm. Er war nicht anwesend, er würde es nie mehr sein, und doch …
Ein feuchter Fleck breitete sich auf dem Tischtuch vor mir aus, noch einer kam hinzu, dann noch einer. Ich griff nach der Serviette, trocknete mir die Augen ab, sagte „Danke“ zu Johanna, die die ganze Zeit nur still dagesessen hatte, griff nach meinem Besteck und aß weiter, bis ich das letzte Stück Brot und den letzten Happen Lachs verzehrt hatte. Dann stand ich auf, löschte die Kerze am Platz meines Vaters, stellte unser Geschirr und das Besteck in die Spüle und das halbvolle Weinglas meines Vaters auf das Bord über dem Fenster.
Nach einem kurzen Schwall Wasser ins Gesicht nahm ich wieder Platz. „Danke.“
„Nichts zu danken“, antwortete sie.
„Warum bist du hier?“
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort und als sie kam, fiel sie ein klein wenig anders aus, als ich erwartet hatte.
„Es würde nichts ändern, wenn ich es dir sagte. Die Antworten, die du suchst, kann ich dir nicht geben. Nicht einmal die, warum ich so vertraut mit dir bin, als würde ich dich schon ein ganzes Leben lang kennen.“ Sie erhob sich. „Es tut mir wirklich leid, aber es geht nicht. Ich gehe jetzt besser ins Bett. Gute Nacht.“

Ich knurrte etwas nicht besonders Druckreifes, wusch das Geschirr ab, duschte mich und warf mich dann auf die Matratze. Ich hatte Knöpfe, auf die man drücken konnte, wenn man sie kannte … oder wenn man eine verdammt gute Ausbildung gehabt hatte. Wenn jemand sie benutzte …
Bevor mir ganz die Augen zufielen, stand ich noch einmal auf und prüfte, dass ich die Tür zu meinem Arbeitszimmer richtig geschlossen hatte. Der Griff knarrte zuverlässig, als ich ihn herunterdrückte. Lautlos würde mich heute Nacht nur noch ein Geist im Schlaf überraschen können.
Gefühl schlägt den Verstand, immer. Lass dich nie bei deinen Hoffnungen und Träumen packen! Sie machen dich angreifbar! Mein Unterbewusstsein riss mich aus dem Schlaf. Das hätte es nicht müssen. Um das zu wissen, musste man nur in einen Automatenspielsalon gehen, dazu hätte ich auch keine Ausbildung gebraucht. Allerdings … um zu erkennen, dass es gerade jemand versuchte, aber schon … also blieb dann nur die Frage, aus welchem Grund man einen Profi auf mich angesetzt hatte.


Der Geist kam mitten in der Nacht und wie üblich, hatte ich sein Erscheinen verpennt. Bis heute weiß ich nicht, wie sie das gemacht hat. Ich hob nur leicht meine Augenlider, gerade weit genug, um im Schummerlicht der Laternen von draußen zu erkennen, dass Johanna nur einen halben Meter von mir entfernt in dem Sessel neben meinem Arbeitstisch ein Buch las. Wie sie das bei dem Licht hinbekam, war mir ziemlich unklar.
Sie ließ das Buch in ihren Schoss sinken. „Guten Morgen“, hauchte sie so leise, als wäre ich nicht schon längst wach.
„Moin,“ gab ich zurück.
Sie trug noch die gleichen Sachen wie beim Abendessen. Aus meiner liegenden Position hätte ich ihr bis zum Bauchnabel schauen können. Von innen. Also kam jetzt Sex. Wenn der so werden würde wie das Feuerwerk, das sie seit gestern in meinem Kopf abzubrennen versuchte, konnte das … hm … interessant werden.
Mit einem leisen Lächeln, als könnte sie meine Gedanken erraten, knickte sie eine Ecke der Seite, auf der sie gerade gelesen hatte, ein und legte das Buch auf meinen Arbeitstisch, schlug die Beine übereinander und schloss brav die Hände in ihrem Schoß.
Ich fragte mich, wie sie es anfangen würde. Dass sie sich so einfach in mein Bett schmeißen würde, glaubte ich keine Sekunde. Jedenfalls nicht, bevor sie mit mir verhandelt hatte, was sie wirklich von mir wollte.
„Ich will mich nur verabschieden.“ Sie erhob sich. Einen Moment blieb sie so stehen, als dächte sie über etwas nach. Dann beugte sich nach vorne, nahm meinen Kopf in ihre Hände und küsste mich auf den Mund. Nur einen Sekundenbruchteil, dann hatte sie sich wieder aufgerichtet. „Auf Wiedersehen, Christian.“ Sie sagte es mit einer seltsamen Betonung, so als wäre es keine Verabschiedung, sondern genau das, was diese Worte tatsächlich bedeuten: Ein Wunsch. Und war schon an der Tür, bevor ich überhaupt begriffen hatte.
Am nächsten Morgen war sie verschwunden. Und dass, wo ich mir doch ganz fest vorgenommen hatte, ihr gleich nach dem Frühstück die Daumenschrauben anzulegen, damit sie endlich Tacheles redete. Aber wahrscheinlich hätte sie mich sowieso nur wieder mit einem Blick aus ihren grünen Augen um den Finger gewickelt und ich hätte mir die Dinger selbst angelegt.


Der Rest ist schnell erzählt. Ich brauchte eine Weile, bis ich die Puzzlesteine richtig zusammengesetzt hatte. Ich flog erst einmal nach Norwegen, in der Hoffnung, dass man die Leichen dorthin überführt hatte. Hatte man auch, aber die meines Vaters war, wie einige andere auch, nicht geborgen worden. Dafür aber die einer Frau, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit einer mir gut bekannten Rothaarigen hatte, soweit man das an Hand eines Fotos einer Wasserleiche noch feststellen kann.
Nach ein paar Wochen Laufarbeit in Oslo wusste ich, dass bei der Expedition einiges nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Das Schiff, das sie alle hatte nach Hause bringen sollen, war im antarktischen Ozean mit einem Eisberg kollidiert und gesunken. Johannes Hakonsen, der Organisator und Leiter, war der Einzige, der es in ein Rettungsboot geschafft hatte, dass dann nach zwölf Stunden von einem Schiff, dass dem Konzern gehörte, der die ganze Expedition finanziert hatte, gefunden wurde.
Er wollte nicht mit mir reden und auch die Polizei reagierte zunehmend genervt auf meine Versuche, sie auf den Fall aufmerksam zu machen. Aber ich kann ziemlich penetrant sein und irgendwann setzte Hakonsen ein paar Leute auf mich an, die in der Wahl ihrer Mittel nicht eben zimperlich waren.
Ich verdarb den Jungs die gute Laune – so eine Ausbildung bei den Kampfschwimmern hat so seine Vorteile - und saß danach ihrem Boss gegenüber. Er saß auch, allerdings gefesselt an einen Stuhl. Ich erklärte ihm so von Monster zu Monster, was ich von ihm wollte.
Er lachte mich glatt aus. „Sie sind ein Idiot,“ schnaubte er. „Sie hat sie besucht, oder?“ Er hatte sich vorgebeugt, soweit es seine Fesseln zuließen: „Ich möchte Sie jedoch darauf hinweisen, junger Mann, dass kein hinlänglicher wissenschaftlicher Beweis existiert, dass Intelligenz, weiche Haut, verführerische Stimme, funkelnde Augen, Schmerzempfinden und logisches Denkvermögen; ja selbst die Fähigkeit zu Mitgefühl und Liebe genügen, um der Definition ‚Mensch‘ gerecht zu werden. Nur, falls Sie nicht kapiert haben, wer - nein – was Sie da besucht hat. Hingegen ist es völlig ausreichend, von eben diesen Menschen geboren worden zu sein. Meine Eltern waren das und damit bin auch ich es Zeit meiner Existenz, selbst wenn keine der von mir vorgenannten Eigenschaften zutreffend sind oder ich es für notwendig erachte, sie im Laufe meines Lebens in ihr Gegenteil zu transformieren, weil sie ein Ballast sind, auf den ich gut verzichten kann, wenn ich vorwärtskommen will. Also weg damit! Fühlen wird völlig, zumindest für diese Einstufung, überbewertet. Ich bin Mensch! Ich bin es durch Geburt und das wird sich niemals ändern. Niemals! Nicht mal, wenn ich im Interesse der Wissenschaft zehntausend Menschen umbringen muss! Wie viel wollen Sie?“
Er war ein Arschloch. Die Leute mit der lautesten Stimme haben meistens nur die leiseste Ahnung. Ich brach ihm den rechten Oberarm. Die Geräusche, die er danach von sich gab, hörten sich ganz danach an, als wenn ihm Fühlen dann doch nicht zehn Meter am Hintern vorbeigehen würde. Wenigstens nicht, was seine Eigenes anging. Aber er war ein ziemlich harter Hund, ich musste das Gleiche auch noch mit seinem linken Arm tun, bevor er mir die ganze Geschichte erzählte und dass er selbst dafür gesorgt hatte, dass niemand der Expeditionsteilnehmer mehr erzählen konnte, auf was sie in der Antarktis gestoßen waren.

Was das war? Ich könnte es Ihnen sagen, natürlich, aber dann müsste ich Sie hinterher besuchen kommen und sie wollen doch nicht enden wie Hakonsen, oder? Klar, Sie sind ja die Ausnahme, die es immer geben soll, wenn es um Macht und Reichtum geht. Sie würden keinen Krieg in der Antarktis anzetteln, niemals, schließlich sind Sie ja ein Mensch. Menschen tun so etwas nicht.
Und der Mond ist aus grünem Käse.

Darum musste Hakonsen beseitigt werden und das war es, was mir Johanna nicht sagen konnte. Wahrscheinlich sollte ich besser in der Mehrzahl reden. Weil SIE die Menschen sind, die keine Menschen töten können, nicht einmal dann, wenn es um ihre eigene Existenz geht. Ich hoffe, ich habe ihren Auftrag richtig interpretiert. Allerdings würde ich, nur um mir ein Danke abzuholen, nicht bis in die Antarktis reisen. Der Grund warum ich es doch tue, ist wesentlich profaner und rein persönlich. Eine Flasche Tokajer habe ich auch dabei. Zu DDR-Zeiten wurde er einem an jeder Ecke für einen Apfel und ein Ei nachgeworfen, heute, im besten Deutschland aller Zeiten ist er nicht einmal mehr für Geld und gute Worte zu bekommen. Eigentlich stehe ich nicht so auf gegorenen Traubensaft, aber das Zeug ist schon etwas Besonderes, ein Gefühl, als ob dir ein Engel auf die Zunge pinkelt und genau daran und an dieses Abendmahl musste ich in den vergangenen Jahren immer denken, wenn ich die Flasche ansah. Und an das schelmische Lächeln, mit dem Johanna das Buch auf meinem Schreibtisch abgelegt hatte, zufälligerweise auch noch mit dem Eselsohr auf der Seite 102:

„Wir anderen, die Mondfischer, die den Fluss der Zeit aufwärts segeln, ziehen die Bilder und die Lebewesen in unsere Netze. Jemand hat das gesagt. Küsst mich, und Ihr werdet verstehen.“
Nathalie Henneberg: Mondfischer

Wertvolle Auslandserfahrung (Seitenwind Woche 1)

Wenn ich das Wort Brötchen lese, dann fällt mir ein, dass es in anderen Ländern auf der Erde keine Brötchen gibt. Ebenfalls sind Auswahl und Sorten endlos und einzigartig in Deutschland.

Das große Ausland war ja schon immer ein wenig anders. Wenn man dann aber mal selber da ist, dann merkt man erst richtig, wie seltsam man selber ist. Man ist nämlich mal selber der Ausländer, und das fühlt sich praktisch ganz anders an, als es in vielen Büchern theoretisch beschrieben ist.

Fangen wir mal mit den Unterschieden an. So etwas einfaches wie Wasser mit Kohlensäure konnte ich in diesem Ausland jahrelang nicht trinken. Wassersprudler die in Deutschland bekannt sind, gibt es da nicht einfach überall. Kaffee ist da natürlich auch so ein Spezialthema. Da ich bisher keinen Kaffee trinke, möchte ich meinen Senf hier nicht dazugeben.

Bei 60 Pfennig fällt mir nichts ein. Früher hat man öfter die Bitte gehört: Hast du mal 'ne Mark. Das sagt allerdings keiner mehr, denn das führt nur zu fragenden Blicken. Im Ausland kann man der modernen Bitte nach Kleingeld umgehen, indem man zerrissene Hosen trägt. Aber aufgepasst: In manchen Kleinstädten geht das als Mode durch und man bekommt unter Umständen viel Kleingeld, wenn die zerrissene Kleidung einen modischen Stil und neuen Trend vermuten lässt.

In manchen Gebieten des Auslands geht es sehr bunt zu, in anderen trägt man eher grau, es gibt Gegenden wo man ohne Kleidung sein darf oder soll, dann widerum Orte, wo man sehr viel Kleidung braucht, aus welchen Gründen auch immer. Ganz schön kompliziert.

Es gibt Regionen, da sprechen die Menschen so laut, dass das fast an schreien erinnert. Dann gibt es Orte, wo man nicht sprechen darf.

So, was ist aber nun ähnlich? Um hier zum Schluss zu kommen, kann ich bestätigen, dass das Ausland ganz anders wie Deutschland ist. Es hat schöne und nicht ganz so schöne Ecken. Es gibt freundliche und weniger freundliche Menschen. Es gibt tolles Essen, wenn man weiß, wo. Und das Interessanteste ist, dass die Menschen ebenfalls Betten zum Schlafen benutzen. Obwohl manche Menschen lieber auf dem Boden oder auf Nägeln schlafen. Auf Deutsch sagen wir da: Nur die Harten kommen in den Garten :wink:

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Bei mir - auch Grufti und ehemaliger Internatsschüler - weckt die Geschichte lebhafte Erinnerungen und euren tobenden Pater Direktor, mit goldgeränderter Brille und vor dem Bauch gefalteten Händen kann ich mühelos in die mir bekannten Gestalten hineindenken. - Für mich: Toll beschriebener Alltag im Internat von damals!

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Mein Vater entdeckte die Liebe zum Kochen und damit sein Talent zu Soßen.
Wenn Vaters Soßen meinen Gaumen passierten, schlossen sich automatisch meine Augen, um noch besser die Feinheiten des Soßengeschmacks mit meinen Geschmackssinnen zu erkunden. Ich entdeckte neue Sphären der Gaumenfreuden.
Vater Klaus war ein Magier, wenn er mit dem Holzlöffel die Soßen rührte. Er sagte immer " du darfst nie den Holzlöffel in der Soße lassen, weil das den Geschmack vedirbt".
In Urlauben suchte Vater grundsätzlich nach außergewöhnlichen Restaurants. Im Hinterland, abseits vom Tourismus, wurde er dann fündig und lud uns darin zum Essen ein. Sei es die Entdeckung eines zubereiteten Kaninchens, was Vaters Gaumen zu Jubelrufen verleitete, und in größte Freude darüber ausarten ließ, oder die Weinbergschnecken im spanischen Garten eines Restaurantsbesitzers. Natürlich stand dieser Leidenschaft große Entbehrungen und Hunger aus der Kindheit im zweiten Weltkrieg gegenüber, womöglich verstärkten diese Erlebnisse seine Lobeshymnen.
An Weihnachten kreierte Vater eine Speisekarte mit fünf Gängen , die am festlich gedeckten Tisch, folgten. Im Laufe seines Lebens, war für ihn ebenso die Qualität und die Herstellung der Nahrungsmittel von großer Bedeutung. Biologischer Anbau ist für ein Essen mit Sternchen eine Vorraussetzung. Man ist, was man ißt.

Liebe, vielleicht.

Ich bin eine leidenschaftliche Köchin geworden. Jetzt im Alter wo nur noch zwei Gesichter am Tisch sitzen, aber ich koche gern für ihn.
Heute koche ich nicht nach Rezept. Die Beschreibungen sind gern kompliziert. Viel zu oft stehen Zutaten darin, die ich nicht kenne, zum Beispiel: Pastinaken, Physalis, Hakkaido oder Couscous. Dann frage ich in den Geschäften, bei den Verkäuferinnen nach. Aber heute koche ich sein Lieblingsgericht, dafür brauche ich keine Anweisung mehr.
Es ist Sonntag, Gesten habe ich alles schnell im Supermarkt besorgt. Immer diese Hetze, um rasch wieder zuhause zu sein.
Momentan schläft er. Die ganze Nacht war er in Unruhe. Ich denke, der Schlaf holt sich jetzt seine Gerechtigkeit. Ich bin auch sehr müde, aber nun ist einfach die Zeit, um alles fertig zu kochen, bis er aufwacht.
Ich hol die Rouladen aus dem Kühlschrank. Packe sie aus und lege die Stücke ausgerollt auf das vorbereitete Holzbrett. Schneide Zwiebeln, Speck und Gurken klein. Würze das Fleisch, streiche auf der einen Seite Senf auf und verteile die klein geschnittenen Würfel darauf. Mit etwas Geschick, wenn man mit meinen knochigen Händen noch davon sprechen kann, rolle ich die Fleischlappen zusammen und befestige sie mit Zahnstochern.
Es ist gutes Rindfleisch, vom besten Metzger der Stadt. Eigentlich esse ich schon seit Jahren kein Fleisch mehr, aber für ihn koche ich es jeden Tag.
Die Pfanne ist heiß. Die Rolladen jetzt darin scharf anbraten. Ein paar Zwiebeln dazu, für eine kräftige Soße. Die Kartoffeln schälen, in der zwischen Zeit. Ich schneid sie etwas kleiner, nicht das sie zu seinem ärger nicht durch gekocht sind.
Früher musste das Essen kochen schnell gehen. Drei Kinder aus der Schule arbeiten, Hausarbeit da blieb nicht viel Zeit um ein Gericht, was aufwendig war, auf den Tisch zu stellen.
Irgend wie bin ich immer noch in Zeitdruck, obwohl er kein Zeitgefühl mehr hat.
Es hat keiner von uns Geburtstag und Hochzeitstag hatten wir noch nie.
Wie sagt man so schön, Essen ist der Sex im Alter“aus diesem Grund möcht ich, das es ihm schmeckt.
Das Fleisch ist angebraten. Die gute Flasche Wein, süß wie er es gerne mag, öffnen. Es sprudelt, wie ich einen Teil des Weins über die Rolladen gieße. Ich stell mir die Eieruhr auf eine Stunde, decke die Pfanne ab, stelle die Kartoffeln im Salzwasser an und spüle das Frühstücks Geschirr und die Arbeitsgeräte.
Er schläft, er schnarcht leise, der Fernseher läuft.
Ich dachte, erst den Esstisch zu decken, aber da wird er vielleicht misstrauisch. So stelle ich die Teller und unser Besteck auf die Küchentheke. Wo wir immer unsere Mahlzeiten einnehmen. Eine Kerze, vermag ich mir aber nicht verwehren, ebenso die schönen Weingläser.
Es kocht alles ruhig vor sich hin. Er schläft.
Ich gehe die Treppe nach oben ins Bad. Geduscht und gewaschen habe ich mich schon heute Morgen. Sonntags haben wir ja unseren Duschtag.
Die neue Unterwäsche, das schöne Kleid, wo ich ihm so gut gefalle, habe ich längst bereitgelegt.
Das Haus ist aufgeräumt und sauber. Ich bin zufrieden.
Das Gesicht im Spiegel ist alt. Wenn man aber etwas Make-up und Wimperntusche aufträgt, wir es schon gehen.
Die Einsamkeit ist erdrückend.
Die Eieruhr klingelt, die Stunde ist um.
Ich habe noch die Schlappen an, besser währen doch Schuhe.
Er ruft.
Natürlich hat ihn das Klingen geweckt, soweit habe ich mal wieder nicht gedacht.
Ich komme! Bin gleich bei dir! Langsam gehe ich die Treppe nach unten, jetzt nur nicht fallen, vor Aufregung.
Ich habe Hunger!
Du musst dich noch etwas gedulden mein Schatz. Es ist bald fertig. Ich habe Rolladen für dich gekocht.
Er schnauft.
Magst du noch den Pullover überziehen?
Er sieht ziemlich zerwühlt aus, auf der Wange hat sich das Kissen eingedrückt.
Nein!
Die Medizin sollten wir aber vorher noch nehmen.
Nein!
Ich stelle den Becher mit Flüssigkeit vor ihn. Überreden oder zwingen lässt er sich schon lange nicht mehr. Ich muss hoffen, dass er es unbewusst nimmt und trinkt. Ein Magenmittel damit das Essen im Bauch verbleibt.
Er brummt und schaut ins Fernsehn. Er scheint abgelenkt.
Die Soße mit der Mehlschwitze andicken, ein paar Tropfen aus der Flasche.
Warte.das Wort formt sich in meinen Gedanken, erst mal abschmecken, es sollte ja gut gewürzt sein. Jetzt, die kleine Flaschen, ein paar Tropfen. Oder doch mehr?
Ich habe Hunger!
Die Tabletten haben sich im Wein aufgelöst. Heute Nacht werden wir gut schlafen.
Ja Schatz komm das Essen ist fertig.
Im Augenwinkel sehe ich, dass der Becher leer getrunken wurde. Er setzt sich mir gegenüber auf seinen angestammten Platz. Das Essen richt gut und durchström, mit einer wohligen Wärme, die Wohnküche.
Ob er etwas schmeckt?
Seit Wochen erkennt er mich nicht mehr. Sein Leben besteht nur noch aus den lebenserhalten Dingen: wie essen, schlafen, Notdurft verrichten. Ist das noch Leben? In Gedanken sitze ich meiner Liebe gegenüber, stochere im Essen, es ist alles erledigt.
Ich will schlafen!
Er hat seinen Teller fast geleert, auch das Glas Wein ist ausgetrunken. Die Kartoffeln waren natürlich noch nicht ganz durch. Frühen hat er sie immer vor dem Abschütten noch mal überprüft, daran denkt er nicht mehr.
Ja mein Schatz, geh schon mal hoch ins Bett, ich komme gleich.
Ich folge ihm schwerfällig die Treppe nach oben. Im Schlafzimmer legt er sich ganz ohne Anstrengung auf seine Seite des Bettes. Hose, Hemd völlig angezogen zieht er die Decke über sich.
Ja, heute nicht mehr das Theater mit waschen, ausziehen, Toilette. Heute einfach nur schlafen,
Ich muss noch mal in die Küche, die Kerze ausblasen, mein Glas leeren. Das Handy, die Zeit ist eingestellt für die E-Mail an die Polizeistation. Es ist alles vorbereitet, kein Zurück, seit Wochen hast du dich auf diesen Tag vorbereitet Bettina.
Mir fällt es schwer den Weg zurück ins Schlafzimmer.
Ich kuschel mich an ihn.
Er atmet flach, er röchelt, er zuckt, er dreht sich zu mir um.
Seine Augen schauen mich an, wie als ob er versteht, ein klarer Moment, ein glitzern in den Augen, Liebe.
Seine Hand, sucht die meine, ich halte sie fest.
Ein tiefes Ausatmen. Er ist vor gegangen.

Ich hoffe, dass der Himmel nicht so groß ist und ich ihn finde.

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Die Relativität der Zeit

Während Newton dachte, dass Zeit eine absolute Größe ist, erkannte Einstein, dass Gravitation in der Lage ist, Raum zu krümmen, und folglich auch Zeit ebenso formbar ist, wie Raum.
Ich gebe zwei Teelöffen getrockneter Lavendelblüten – ein Produkt meines Gartens – in das gläserne Kännchen, stelle Akazienhonig sowie meine Lieblingstasse mit dem chillenden Bären bereit und warte auf das Piepen des Wasserkochers, welches mir das Erreichen der optimalen Temperatur verkünden wird.
Janina sitzt mit angezogenen Beinen auf dem Ohrensessel nahe dem Kamin, ein Buch in den Händen.
Sonntagmorgen, es gibt nichts Schöneres, als bei einer guten Tasse Tee oder einem interessanten Buch den Start in den Tag zu zelebrieren. Sich Zeit nehmen – gelebte Achtsamkeit. Wäre da nicht, ja wäre da nicht … .
Das penetrante Klingeln des Telefons lässt uns zusammenzucken. Jeden Sonntag punkt 10 Uhr in der früh, das gleiche klingelnde Telefon und der gleiche Schreck.
Mein Blick wandert zu Janina, welche den positiven Beginn ihres Namens Lügen straft, während sie ihren Kopf energisch von links nach rechts bewegt. Ein eindeutiges Nein. Trotz dieser wiederholt gezeigten Ablehnung habe ich gelernt, darauf zu verzichten, sie Neinina zu nennen.
Der Wasserkocher beginnt zu piepen, Janina schüttelt noch immer den Kopf – alles weist darauf hin, dass ich den Anruf ablehnen sollte.
Ich hebe ab, höre zu. »Wie wäre es mit 15 Uhr?«, frage ich.
Janinas Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen.
»Ja, sie kommt natürlich mit«, sage ich, wohlwissend, dass ich gerade auf einem Vulkan tanze.
Ihre Augen scheinen Funken zu sprühen.
»Nur eine Kleinigkeit.« Für Janina ist es keine Kleinigkeit, doch ich kann dem Anrufer nichts abschlagen.
Mord liegt in Janinas Blick.
Ich lege auf.
Die optimale Aufgusstemperatur für Lavendeltee liegt bei 100 °C. Die Magmatemperatur bei einem vor dem Ausbruch stehenden Vulkan beträgt 1250 °C. In der Fusionsanlage des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik werden Temperaturen von 100 Millionen Grad gemessen. Kurz vor der Entstehung eines schwarzen Lochs, liegen die Temperaturen bei 1,42 mal 10 hoch 32 °C – die heißeste Temperatur im Universum. Jedenfalls wenn man Janina außer acht lässt, die innerlich gerade bei 1,42 mal 10 hoch 47 °C kocht.
Im Umfeld eines schwarzen Lochs oder von Janina an Sonntagmorgenen scheint die Zeit stillzustehen. Auch für mich scheinen Äonen zu vergehen, bis sich die Zeit zur Abfahrt nähert.

Wir sitzen im Auto. 8 Minuten Fahrt bis zu unserem Ziel. Janina ist etwas abgekühlt. Wohl dank des 100°C warmen Lavendeltees, der ihren inneren Vulkan etwas besänftigte. »Wir bleiben maximal 30 Minuten und dann verschwinden wir«, biete ich an, als wir in die Einfahrt abbiegen.
»20 Minuten!« Ihre Stimme ist leise doch bestimmend.
»So kurz?« Ich erblicke den aufwallenden Zorn in ihren Augen. Die Temperatur in ihr steigt, die Zeit dehnt sich.

Bevor mein Finger die Klingel berühren, wird die Haustür geöffnet. Eine Duftwolke aus Zitrone, Orange, Lavendel, Rosmarin, Bergamotte und Neroli wirft sich mir entgegen, gleich den Ausläufern eines Hurrikans.
Ich weiß, dass Janina den Geruch hasst und behauptet, dass er bei ihr Kopfschmerzen auslöst.
»Einfach weiteratmen«, flüstere ich ihr zu. »In spätestens 10 Minuten bist du geruchsblind.«
»Und in weiteren 10 Minuten sind wir dann raus hier«, haucht sie in mein Ohr.
Die Quelle der Ausdünstungen und Fangirl von 4711 winkt uns heran. »Dann kommt mal mit in die gute Stube.« Sie kneift mir in die Wange. »Jens, ich habe dein Lieblingsessen gebacken.«
Ich ahne Böses. Janina stöhnt auf.
Oma, 87 doch durch ihren exzessiven Verbrauch an Echt Kölnisch Wasser bestens konserviert, hat gebacken. Eine Kleinigkeit, wie ich am Telefon gewünscht hatte, gleichwohl befürchte ich, dass diese in Omamaßstäben bemessen ist.
Die sonntäglichen Mittagessen – von Janina vor zwei Jahren unterbunden – ließen uns stets vermuten, dass sie entweder daran zweifelte, dass wir während der Woche in der Lage waren uns mit ausreichend Nahrung zu versorgen oder dass sie davon ausging, wird würden noch eine Fußballmannschaft inklusive Fanbus mitbringen. Anders konnte man sich die Berge von Kartoffeln und Fleisch nicht erklären, die auf uns warteten. Insbesondere nicht unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Janina Vegetarierin ist. Was Oma stets mit einem »Mädchen, dann nimm dir einfach nur Kartoffeln. Die sind lecker, die habe ich in Speck angebraten« quittierte.
Im Wohnzimmer stehen zwei Teller bereit – einen für Janina und einen für mich, Oma würde uns wie immer nur zuschauen – sowie eine Schwarzwälder Kirschtorte, mein Lieblingsessen, doch definitiv keine Kleinigkeit.
»Oma, das ist zuviel«, murmel ich, während sie den Kuchen viertelt und mir genug Kalorien auf den Teller schaufelt, um den Tagesbedarf eines Rhinozerosses zu decken.
»Ich weiß doch, wie sehr du den liebst«, antwortet sie, ohne auf meinen Einwand zu achten.
»Ich habe schon was gegessen«, versucht sich Janina, ihrem vorherbestimmten Schicksal zu entziehen.
Oma lächelt, halbiert eines der verbliebenen drei Viertel und lädt ein Achtel Schwarzwälderkirschtorte auf Janinas Teller, bevor sie dazu kommt Nein zu sagen.

Masse erzeugt Gravitation. Gravitation beeinflusst Zeit.
Ein Lavendeltee benötigt 10 Minuten Ziehzeit, ein Viertel Schwarzwälderkirschtorte 15 Minuten Esszeit. Ein weiteres Achtel nochmals 20 Minuten - bedingt durch das Ankämpfen gegen das Völlegefühl im Magen – gleichwohl hätte ich dem Nachschlag nie entrinnen können. Die Fahrt nach Hause - eine halbe Schwarzwälderkirschtorte auf der Rückbank, laut Oma für den Fall, dass wir nachher noch etwas Hunger hätten – dauert 8 Minuten, erscheint mir jedoch mit einer kurz vor der Explosion stehenden Janina deutlich länger. Ob es an der Masse der Schwarzwälderkirschtorte in mir liegt, welche die Zeit beeinflusst oder an Janinas brodelnder Wut, die einem Schwarzen Loch gleicht, kann ich nicht sagen, doch ein ist gewiss – Zeit ist halt relativ, wenn man zu Oma essen geht.

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Essen war für mich immer ein freudiges Ereignis. Mutter kochte nur, was uns schmeckte. Jede Speise nahm ich dankbar und mit Freuden in mir auf. Die Speisekarte umfaßte vierzehn unterschiedliche warme Speisen, die in einer ebensolchen vierzehntägigen Routation endeten, um wieder von vorne zu beginnen.
Wenn der Duft aus den Kochtöpfen stieg wurde täglich aufs neue Freude in mir entfacht.
Daher kommt vielleicht auch der Begriff Gaumenfreude, weil diese den ganzen Menschen
durch und durch erfüllt und auf magische Weise immer wieder neu verzaubern kann.
Diese Gaumenfreuden zogen sich wie ein roter Faden durch meine Kindheit und es war ein Segen, wenn es immerzu gut schmeckte. Ich kann mich nicht erinnern, dass es mir mal nicht geschmeckt hätte. Eine ganz besondere Speise nannte sich „Brösele“, eine bayrische Kartoffelbeilage. Dazu wurden ein Tag vorher gekochte Pellkartoffeln durch die Kartoffelpresse gedrückt und mit Mehl von allen Seiten bestreut, mit einem Küchenhandtuch abgedeckt um am nächsten Tag in heißem Fett geröstet zu werden. Dazu gab es warme grobe Leberwurst und Blutwurst mit Sauerkraut. Ein Gedicht!
Meine kindlichen Gaumenfreuden wurden für die heutige Zeit, mit außergewöhnlichen Speisen verwöhnt. Dazu zählten „Saure Nierchen“ in einer sagenhaft sehmigen Soße mit selbstgemachten Kartoffelpürree oder auch der Sonntagsbraten mit Klößen und Blaukraut.
Essen ließen Alltagssorgen vergessen, die meine Mutter zur genüge hatte, aber nie meinen Appetit oder die Zubereitung der Mahlzeiten beeinflussten. Meine Schwester stocherte im Gegensatz zu mir mehr im Essen herum, als dass sie aß. Hingegen verzehrte sie literweise Milch, was vielleicht dazu führte, dass sie gar keinen Hunger verspürte.
Mutters Speisekarte wurde durch diverse Ferienaufenthalten bei Omas und Opas bereichert.
Grillabende bei Oma Gerda und Opa Georg lassen noch heute das Wasser in meinem Mund zusammenlaufen, denn es gab „Ripple“ . Schweinerippchen auf dem Holzkohlegrill ist eine wahre Delikatesse für jeden Fleischesser. Meine Schwester argwöhnte ein wenig, weil ich mit Inbrunst die Rippchen, bis auf den letzten Fleischfetzen abnagte und diese anschließend wie poliertes Silberbesteck auf meinem Teller lagen. " Du bist verfressen musste ich mir zuweilen vorwerfen lassen und irgendwie stimmte das auch, denn ich liebte Essen, allerdings ohne dick zu werden , denn ich war tagsüber immer an der frischen Luft und ständig in Bewegung. Barfuß liefen wir in den Sommerferien den ganzen Tag durch Omas Garten, so dass unsere Füße abends kohlrabenschwarz waren. Aus gesammelter Kamille wurde Tee in der imaginären Küchenecke gekocht. Zwischendurch naschte ich eine frische Karotte, schwubs aus der Erde gezogen, einmal abgerieben und , zack verspeist. Hier und da eine Johannisbeere, Himbeere oder leckere süße Mirabellen landeten in meinem Mund. Meine Schwester konnte über mich nur mit dem Kopf schütteln.
Zur Krönung gab es am Nachmittag die weltbesten Streuselteilchen aus der Bäckerei " Kasimir" . Betrat ich das Geschäft Kasimir war ich verzaubert von diesem Duft der warmen Backstube, die hinter dem Tresen zu sehen war. Selbst jetzt, geht mein Atem tief, alleine durch dies Erinnerung aus Kindheitstagen. Später auf der Gartenbank sitzend, mit dem Streuseltaler in der Hand, aß ich diesen Leckerbissen und die Ferien waren noch schöner.

Mit dem Kochen oder Backen ist das so ein Sache. Ich kriege beispielsweise keinen Kuchen hin. Vielleicht gerade mal eine Portion Spaghetti. Zur Not. Um nicht zu verhungern. Aber es geht hier nicht um Spaghetti. Eher schon um Kuchen. Um einen Apfelkuchen, um es genau zu nehmen. Und eben dieser Kuchen verströmte seinen verführerischen Duft aus der Küche hinaus ins Freie. Und das im Jahr 1966. Ich war damals neun Jahre alt und kannte erst seit drei Jahren Winnetou. Er gefiel mir besser als der Kuchen. Aber zurück zu jenem Nachmittag.
Den feinen Duft in der Nase zog es mich aus dem Freien ins Haus hinein. Doch das, was ich wollte, durfte ich noch nicht. Den Kuchen essen. Er sei nach wie vor viel zu warm, hiess es. Gar nicht gut für den Magen.
Na schön, nehm’ ich eben einen Apfel. Davon gab es einige in der Früchteschale. Aber das war keine gute Idee! Gar nicht gut! Die Begründung dazu findet sich weit in der Zeit zurück. Es wird als Zufall beschrieben, dass Cornelis Johannes Wilhelm Ottolander im Jahr 1856 den fruchtbaren Trieb eines Wildlings im niederländischen Boskoop entdeckte. Auf einmal war eine neue Apfelsorte da - der Boskop, wie man den Apfel heute zumeist nennt.
Er wird so gegen Ende September bis Mitte Oktober gepflückt und sollte erst etwa zwei Monate nach dem Pflücken gegessen werden, weil er erst dann so richtig genussreif ist. Also erst im Dezember. Nun griff ich aber bereits Mitte Oktober in die Apfelschale. Übrigens ist hier die Rede von einem idealen Apfel, um Kuchen zu backen. Auch ein herrlicher Apfelmus lässt sich damit herzaubern. Und das Schöne - er bleibt etwa bis Mitte März haltbar. Also biss ich in den Apfel.
Im selben Jahr gewann die damals 19jährige Wencke Myhre die deutschen Schlagerfestspiele mit dem Titel „Beiss nicht gleich in jeden Apfel, denn er könnte sauer sein“. Das Schlagermädchen aus Oslo sollte recht behalten. Diesen Biss bereue ich noch heute.

Kartoffelsalat

Bei Kerzenschein und besinnlicher Musik, sitzen wir alle zusammen an dem großen runden Tisch, an dem ich schon als Kind gegessen habe. Sein Alter, sieht man ihm nicht an, genauso wie meinem Vater, der mir gegenüber sitzt. Vielleicht hat er die ein oder andere Macke mehr als früher. Aber was macht das schon?
Zu Weihnachten kommt die ganze Familie zusammen. Selbst mein Bruder und meine Nichte nehmen die weite Anreise auf sich. Fröhliches Gekicher und Geplapper schweben durch den Raum. Meine Tochter liebt es, sie zu sehen, kommt es doch so selten vor. Mein Bruder und ich blicken auf, als die gelbe Wäscheschüssel hereingetragen wird. Nicht sehr festlich. Aber traditionell. Jeder am Tisch weiß, was sich darin befindet. Ich kann förmlich sehen, wie meinem Bruder das Wasser im Mund zusammenläuft. Meine Finger kribbeln und tasten nach dem Besteck. Wann geht es endlich los?
Mit einem riesigen Löffel, der viel zu groß ist, um in irgendjemandes Mund zu passen, füllt mein Vater den Kartoffelsalat auf. Die weiße Masse klatscht auf unsere Teller. Nicht sehr festlich. Aber traditionell. Noch bevor alle etwas zu Essen haben, greife ich nach meiner Gabel, schiebe sie in den klumpigen Haufen und hebe sie zu meinem Mund. Als das Joghurt-Mayonaisen-Gemisch meine Zunge berührt, schließe ich die Augen…

… und bin wieder ein Kind. Ich liege auf der Lauer. Meine Polly Pocket Figuren habe ich nahe der Zimmertür aufgebaut, um unauffällig zu bleiben. Immer wieder spähe ich durch die halboffene Tür. Irgendwo muss er doch sein. Schon seit geraumer Zeit beobachte ich meinen Vater, um herauszufinden, wo er den Kartoffelsalat versteckt hat. Die Badezimmertür öffnet sich und er tritt in den Flur. Schnell schaue ich auf meine Spielsachen hinab.
„Na, suchst du was?“, fragt er mit einem wohlwissenden Grinsen und der Überzeugung in der Stimme, dass ich es niemals finden werde. Ohne meine Antwort abzuwarten, verschwindet er in der Stube. Ich warte einige Augenblicke, lausche auf die Geräusche des Fernsehers, dann stehe ich auf und schleiche aus dem Zimmer. Das Bad. Dort habe ich noch nicht gesucht. So unauffällig wie möglich, betrete ich den kleinen Raum und lasse meinen Blick schweifen. Hier gibt es kein Versteck. In den letzten Jahren, stand die glebe Schüssel auf dem Balkon. Doch dieses Mal nicht. Nicht, nachdem mein Bruder die halbe Schüssel schon vor dem Weihnachtsfest weggenascht hat.
Mit einem Seufzen gehe ich in den Flur zurück und schaue zur Küche. Vielleicht dort? Aber ich habe schon dreimal alles abgesucht. Ich nehme eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und drehe mich um. Ist mein Bruder gerade im Schlafzimmer verschwunden? Das muss ich überprüfen. Ich schleiche an der Wohnzimmertür vorbei und schlüpfe durch den Türspalt in das Schlafzimmer meiner Eltern. Tatsächlich! Mein Bruder steht auf einem Stuhl vor dem Kleiderschrank und hält einen Löffel in der Hand. Ertappt fährt er herum. Die Erleichterung macht sich sofort in seinem Blick breit, als er merkt, dass es nur ich bin. Mit Genugtuung schiebt er die gelbe Schüssel, die mit einem weiß-blau karierten Handtuch abgedeckt ist, wieder auf den Schrank zurück. Da komme ich niemals ran!
„Is‘ was?“, will er wissen und steigt von dem Stuhl herunter.
„Gibst du mir was ab?“
„Wieso sollte ich? Dann bleibt ja weniger für mich!“
Am liebsten hätte ich die Arme vor der Brust verschränkt, doch ich gebe mich cool. Meine Hand legt sich auf die Türklinke. Er muss an mir vorbei, um aus dem Raum zu kommen. Nicht, dass das ein großes Problem für ihn wäre, immerhin ist er vier Jahre älter.
„Ich könnte Papa sagen, dass du genascht hast“, erkläre ich so ruhig, wie möglich. Ich weiß, dass er es hasst, wenn ich petze. „Oder wir teilen die Beute.“
Mein Bruder muss nicht lange darüber nachdenken. Während er zurück auf den Stuhl klettert, werfe ich einen letzten Blick durch den Türspalt und schließe sie dann leise. Wir setzen uns auf die Bettkante, die gelbe Schüssel auf dem Schoß. Ich nehme den Löffel an mich, noch bevor mein Bruder auf die Idee kommen kann, sich selbst noch einmal an der weißen Masse zu bedienen. Das Joghurt-Mayonaisen-Gemisch zergeht auf meiner Zunge und ich schließe die Augen. Ich ertaste die festen Stücken und liebe die Spannung, vor dem Hineinbeißen nicht genau zu wissen, ob es ein Kartoffelstück, Gurke, Apfel oder Zweibel ist. Ich beiße zu…

Das saftige Apfelstück zerbricht mit leisem knirschen zwischen meinen Zähnen. Ich öffne die Augen wieder und sehe meine Tochter, die sich genussvoll eine viel zu volle Gabel in den Mund schiebt. Sie bekommt den Mund kaum zu und das Strahlen in ihren Augen, erinnert mich an früher.

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So ein ähnliches Erlebnis hatte mein Sohn auch im KiGa. Er musste Kartoffeln und Gemüse essen, obwohl er das überhaupt nicht mochte… Als ich ihn um 14 Uhr abholte, wunderte ich mich, warum er nicht auf meine Fragen antwortete, bis ich seine dicken Wangen gesehen hab. Als ich ihn bat, den Mund zu öffnen, war alles voll mit Kartoffel und Gemüse. Ganze 2 Std ist er mit dem Zeug im Mund rumgelaufen und Niemand hat es bemerkt… Er durfte es natürlich gleich ausspucken, bis heute rührt er kein Gemüse an. Kartoffeln isst er manchmal 1-2 Stück.

Woww, ein toller Text. Er hat mich in meine eigene Kindheit zurückgeholt. Ich war (und bin) auch kein leidenschaftlicher Fleischesser, musste aber wenigstens nicht aufessen und irgendwann haben es auch meine Eltern und Großeltern begriffen, dass ich auch ohne Fleisch nicht „vom Fleisch falle“. :wink: Großes Kompliment!

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Sommer 1997. Endlich wieder am Balaton. Ich war damals 7 Jahre alt und wie jedes Jahr verbrachten Papa, Mama und ich den Sommerurlaub am Plattensee. Wir hatten nie viel Geld und meine Eltern mussten das ganze Jahr über sparen, um unserer Familie einen Sommerurlaub zu ermöglichen. Umso aufregender waren die Urlaubstage weit weg von der Heimat. Ich erinnere mich als wäre es gestern gewesen:

Es ist 8.00Uhr morgens. Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, während eine seichte Sommerbrise umherstreift und ein kurzer Lufthauch verrät, dass der Strand und der Balaton ganz in der Nähe sind. Unser Ferienhaus ist sehr schlicht, aber hat einen großen Garten und eine schöne Terrasse. Hinter dem Haus gibt es sogar einen Sandkasten und eine Schaukel.
Barfuß schlendere ich auf die Terrasse. Mein weißes Sommerkleid flattert leicht im Wind. Ich bin gerade aufgestanden und reibe mir schlaftrunken die Augen. Papa und Mama sind schon länger auf.
Wie jeden Morgen deckt Mama den Tisch fürs Frühstück. Papa kommt gerade vom Laden und hat frisch Brötchen geholt. Grinsend schlendert er die Einfahrt hinauf und legt die Brötchentüte auf den Tisch.
„Ich habe dir was mitgebracht“, verkündet er freudig und drückt mir ein Eis in die Hand.
„Muss den das sein?“, entgegnet Mama und verdreht schmunzelnd die Augen, „Es gibt doch gleich Frühstück“
„Ach was, es ist doch Urlaub, da kann man sich auch mal was gönnen“, entgegnet Papa grinsend und holt ein zweites Eis aus der Tüte. „Und deshalb habe ich mir auch gleich eins mitgebracht.“
Wir beide lachen, während Mama kopfschüttelnd im Haus verschwindet. Schweigend sitzen wir nebeneinander, genießen den herrlichen Morgen und unser schmackhaftes Eis. „Hach, so könnte es jeden Tag sein“, sinniert Papa.

Ein einfaches Eis. Für viele mag es vielleicht eine banale Situation sein, doch für mich ist diese Erinnerung so unendlich viel mehr wert. Ein kleiner Sprung in eine glückliche Kindheit, die mich kurz innehalten und schmunzeln lässt. Ein Kribbeln in meinem Bauch verrät mir, dass ich gern daran zurückdenke. Unbeschwerte Kindertage im Sommer und ein einfaches Eis am frühen Morgen. Ich weiß nicht einmal mehr, welche Sorte Eis es war, aber eines ist sicher: Für mich war es eines der leckersten, die ich je gegessen habe :heart:

BRATHÄHNCHEN
„Heute hab’ ich Lust auf Brathähnchen“, sagte mein Vater, als er in die Küche kam. Tatsächlich hatten wir bei uns im Pastorenhaus bisher noch nie ein Brathähnchen gegessen, obwohl meine Mutter eine anspruchsvolle Köchin war. Doch einen Ofen mit Grillfunktion, um ein Hähnchen goldbraun und knusprig zu braten, hatten wir damals noch nicht. Mutter sah unseren Vater nur mitleidig an und meinte: „Georgi, du weißt doch, dass wir keinen Grillofen haben“. Mein Vater grinste und sagte schlau: „Heute ist Markttag, ich werde uns ein fertiges Brathähnchen besorgen“. Und natürlich gab es auf dem Markt, auch schon damals, vor gefühlten hundert Jahren, einen Grillstand, auf dem die saftigen Hühnchen zubereitet wurden. Gesagt getan, mein Vater kam mit einer großen Papiertüte, die innen mit Alufolie ausgekleidet war und die das grillheiße Hähnchen enthielt zu uns nach Hause zurück. Mutter hatte inzwischen den Tisch gedeckt und eine große Schüssel mit frischem Salat gezaubert. Mein Vater packte zwei Grillhähnchen aus, ein betörender Geruch entströmte der Tüte, er leckte sich die Lippen. Mutter gab ihm lächelnd ein Tranchiermesser. Dann schnitt er die Hühnchen in einzelne Stücke, verteilte sie auf den Tellern und schaute erwartungsvoll in die Runde. Mutter räusperte sich und legte sich ihre Serviette auf den Schoß. Als sie eben Messer und Gabel in die Hand nahm, um uns Kindern zu zeigen, wie das Huhn zu essen wäre, schmunzelte Vater nur: „Ihr könnt Euch ja ganz vornehm das Hühnchen einverleiben - ich esse es jedenfalls mit den Händen“. Wir Kinder waren völlig perplex: das hatte es bei uns am Tisch noch nie gegeben: „mit den Händen essen“, das war in unserem Pastorenhause absolut verpönt und verboten! Doch hier schien sich eine Ausnahme zu eröffnen. Meine Mutter rümpfte die Nase und sah leicht angewidert aus. Doch dann geschah ein kleines Wunder: Vater nahm die Hähnchenbrust in beide Hände und und hieb die Zähne in das Fleisch. Daraufhin breitete sich ein großes zufriedenes Lächeln in seinem Gesicht aus, das Hühnerfett troff nur so aus den Mundwinkeln, seine Hände glänzten vor Fett und er schloss genießerisch die Augen und brummte zufrieden. Geschickt zog er die krosse Haut mit den Fingern vom Hähnchen und stopfte sie sich in den Mund, wieder schloss er seelig lächelnd die Augen. Es war ein Anblick für die Götter und allein beim Hinsehen, lief uns allen das Wasser im Mund zusammen. Vater schien wie in einem Traum zu sein, so glücklich lächelte er, während er unablässig kaute und schmatzte, unser Herr Pastor. Sein Gesicht glühte rot und fettig. Wir waren innerhalb einer Sekunde überzeugt, dass allein dies die richtige Art und Weise war, ein Brathühnchen zu essen. Mit Gejohle stürzten wir uns auf unsere Teller und sogar Mutter, die noch ein wenig misstrauisch schaute, nahm das fetttropfende Hühnchenteil kopfschüttelnd in die Hände. Es schmeckte besser als alles, was wir bis dahin an Braten gegessen hatten. Und so halte ich es bis heute: Brathähnchen esse ich mit beiden Händen!

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