Inseln im Sturm
Der heiße Dampf des Waffeleisens schlägt mir ins Gesicht. Für einen kurzen Moment zucke ich rücklings zurück, doch dem damit gepaartem süßlichen Duft kann ich nicht lange fern bleiben. Grinsend und mit wässrigem Mund entferne ich die frische Waffel mit einer Gabel und lege sie auf den Stapel mit den restlichen ab. Mit der einen Hand balanciere ich Kaffeetasse und Ahornsirup, mit der anderen den randvollen Teller – bis ich mich laut aufatmend am Esstisch niederlasse.
Der Sirup zerläuft von der Mitte des Waffelturmes bis an die Ränder und rinnt wie ein Schwall aus dickflüssigen Wasserfällen hinab.
Der perfekte Moment und ich, schon beim ersten Bissen zergeht die fluffige Konsistenz auf meiner Zunge, ehe ich anfangen konnte zu kauen. Zumindest jetzt hier und in diesem Moment können alle Probleme ausgeklammert sein und bleiben. Die Waffeln können sie zwar nicht lösen, aber wenn schon inmitten des stürmischen Ozeans, dann doch mit kleinen Ruheinseln auf dem Weg. Rasch nehme ich den nächsten Bissen und schließe die Augen, während der Sirup sich in meinem Mund verteilt. Ich greife nach meiner Tasse und nehme einen kräftigen Schluck – oh Gott.
Vollkommen verloren in der Ekstase, brennt sich auf einmal ein Meer aus Lava auf meine Ruheinsel. Meine Zunge fühlt sich taub an, mein Griff wird schwächer – ich verliere den Halt.
Der Kaffee gleitet wie selbstverständlich aus meiner Hand. Innerhalb weniger Millisekunden verteilt sich die braune Flüssigkeit über meine Mahlzeit und verdrängt das träge Wasser mit der Kraft einer Naturgewalt. Nur gerade so bekomme ich die Tasse noch zum Stehen, ehe sie den Tisch hinunterkullert. Seufzend lasse ich meine Schultern sinken und betrachte den Teller vor mir. Die Uhr an der Küchenwand tickt bedrohlich. Vorsichtig nehme ich einen Bissen, dann noch einen. Stumm kichere ich vor mich hin. Ist es nicht gerade Lava, die den Ozean dazu bändigen kann, um Platz für Inseln freizugeben?
Erinnerungen an Umarmungen und Chaos
Weiß. Die Welt ist weiß. Und nass. Und kalt.
Ich strecke meine Hand nach den Flocken aus, die die Welt mit immer mehr weißer Farbe überdecken. Die kalte Luft zwickt mich in die Wangen und ich atme immer wieder kleine weiße Wölkchen aus. Ewig könnte ich hier stehen, aber meine Füße sind kalt und meine Lippen blau.
Ich wate die wenigen Schritte durch den kniehohen Schnee zurück zur Haustür und stürze dann samt Schnee ins Haus. Die Kälte wird schlagartig von Kaminwärme ersetzt und die reine Winterluft weicht schwerem Zimtaroma. Ich winde mich aus meinem Schneeanzug, den Winterstiefeln und den völlig durchnässten Handschuhen und lasse sie achtlos im Flur liegen.
Aus der Küche höre ich lautes Summen und Geklapper, gefolgt von leisen Beschwerden. Ich renne den Geräuschen nach und finde Mama am Herd stehend. Der Zimtgeruch vermischt sich mit dem herben Duft von schmelzender Zartbitterschokolade.
„Sind die Plätzchen schon fertig?“, frage ich und stelle mich auf die Zehenspitzen, um in den Topf auf dem Herd zu linsen, in dem sich ein lecker aussehender Pool an flüssiger Schokolade ansammelt.
„Die ersten Buttergebackenes, ja. Das Spritzgebäck muss noch mit Schokolade verziert werden.“
Sie greift nach einer blauen Schüssel, ohne das Rühren der Schokolade zu unterbrechen, und hält sie mir unter die Nase. Die sonnig gelben Plätzchen sind mit regenbogenfarbenen Schlieren durchzogen, manche haben sogar Augen und Mund, und leichte, zitronige Frische vernebelt meine Nase. Ich wähle ein Plätzchen, das aussieht wie ein kleines Schwein, und beiße hinein. Warme, buttrige Süße wandert durch meinen Mund und ich schließe für einen Moment entzückt die Augen. Erinnerungen an lustige Kinderspiele und klebrige Handflächen, ölig vom Kneten des Butterteiges, kommen mir in den Sinn. Das Aroma von Zitrone schließt den Geschmack ab und ich muss unwillkürlich an Mama denken, mit erhobenen Zeigefinger, aber liebevollem Blick, wenn sie mich rügt nicht so viele Plätzchen beim Backen zu naschen.
Mit noch vollem Mund deute ich auf den Backofen, in dem goldbraune Schätze warten:„Waf ift mit denen?“
Mama wirft mir einen strafenden Blick zu und ich schlucke schnell und wiederhole die Frage.
„Das werden Spekulatius. Nach Oma´s Geheimrezept.“ Sie zwinkert mir zu und ich kichere. Dann öffnet sie den Backofen und zieht das Blech ein wenig heraus. Heiße Luft strömt mir entgegen, die einen Geruch mit sich führt, den ich nicht erkenne, aber mich im selben Moment an die Mandeln aus Oma und Opa´s Garten erinnert.
„Mama, wonach riecht das?“
Sie hält kurz inne und schnuppert einmal prüfend. Dann hellt sich ihr Gesicht auf.
„Du meinst bestimmt die Bittermandel. Es riecht wie eine Nuss? Wie die Mandeln von Opa?“
Ich nicke wild und sie lächelt. „Kann ich eins essen?“, frage ich und möchte nach den Plätzchen greifen, doch Mama gibt mir einen leichten Klaps auf die Hand. „Nicht anfassen! Das Blech ist heiß.“ Ich verziehe schmollend den Mund und sehe zu wie Mama den Backofen wieder schließt. Dann greift sie ein fertiges Spekulatius Plätzchen von einem der bereits abkühlenden Bleche und schiebt es mir kurzerhand in den Mund. Ich quieke überrascht und nach ein paar Bissen entfaltet der Keks seinen vollen Geschmack. Diesmal schmeckt es nicht ganz so süß, sondern eher nussig und gegen Ende zieht sich meine Zunge wegen dem dezent bitteren Nachgeschmack sogar leicht zusammen. Es schmeckt nach den Umarmungen von Oma und den frischen Mandeln aus ihrem Garten, nach langen Backtagen und Vorträgen über die geheimen Zutaten der Familienrezepte.
Mama nimmt den Topf mit der jetzt vollständig geschmolzenen Schokolade vom Herd und stellt ihn mit Untersetzer auf den Esszimmertisch.
„Ich kümmere mich um die Spekulatius, du machst das Spritzgebäck hübsch“, sie hebt drohend den Zeigefinger, „Aber die Schokolade kommt auf die Plätzchen. Nicht auf deine Finger und dann über Umwege in deinen Mund.“ Ich nicke zustimmend, doch als Mama wegsieht stibitze ich einen der in Schokolade getauchten Kekse und beiße vorsichtig daran ab. Erst schmeckt die Schokolade vor, süß und schwer, und ist der Mantel durchbrochen schleichen sich Keksspuren in den Geschmack. Je mehr man isst, desto mehr vermischen sich die beiden Geschmäcker, bis der ganze Mund nach sündhaften Schokoladenplätzchen schmeckt. Sie erinnern mich an Stunden des Chaos, in denen meine Geschwister und ich halfen die Plätzchen zu verzieren, am Ende allerdings mehr Schokolade auf uns als auf den Plätzchen war und die endlosen Stunden des Saubermachens, die darauf folgten. Der vollmundige Schokoladengeschmack verweilt einen Moment in meinem Mund und langsam kehre ich in die Gegenwart zurück.
„Und? Wie schmecken sie?“ Ich hebe den Blick von dem angebissenen Plätzchen, um in das erwartungsvolle Gesicht von Mama zu blicken und verziehe die Lippen zu einem Lächeln.
„Nach Erinnerungen an Umarmungen und Chaos und weiße Weihnachten“, ich schiebe den Rest des Plätzchens in den Mund und ergänze, „Naf Mama´s Plätzfen: Fo perfekt wie fon immer.“
Und wir lachen beide inmitten der umher treibenden Erinnerungsschwaden, während vor dem Fenster die Schneeflocken wieder dichter werden und im Licht der Straßenlaterne ihren Tanz fortführen.
Ne, für Pixi etwas zu heftig und auch nicht die Zielgruppe;-))
Wunderschön geschrieben. Und nicht erklärt, denn der Liedtext allein zeigt schon, wann ungefähr das war.
Das matschige Käsebaguette oder - „mein Hauch von Luxus“
Das prasseln des Regens an die Fensterscheiben ist keine hilfreiche Untermalung der monotonen Stimme meines Mathematiklehrers. Während die einen eifrig mitschreiben, die anderen bereits fertig sind und in freudiger Erwartung der Lösung der Aufgabe entgegenfiebern, bin ich, wie so oft in den naturwissenschaftlichen Fächern mit dem Kopf bereits in der ersten großen Pause. Heute ist für mich ein besonderer Tag. Es kommt nicht häufig vor, dass ich, anstatt des aus dem Supermarkt gekauften Industriebrotes, mit der günstigen Salami darauf, etwas Essensgeld von meiner Mutter bekomme. Heute würde ich mir etwas in unserer Cafeteria gönnen.
Während mein Kopf bereits die Optionen durchgeht - von dem Schokocroissant, belegten Brötchen und auch der Auswahl an Süßigkeiten, bis hin zu den stets schnell ausverkauften Baguettes - merke ich kaum, dass mein Lehrer mal wieder überzieht. Erst ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich mich gleich sehr beeilen muss, da ich mich bereits für ein Baguette entschieden hatte.
Es sind diese kleinen Aufbackbaguettes. Sie sind mit Käse, etwas Salat, einem Stück Tomate und eventuell Salami oder Schinken belegt, aber am Besten ist die Remoulade. Wenn die Cafeteria-Dame dann noch einen guten Tag hat, wärmt sie es einem kurz in der Mikrowelle an, sodass der Käse zerläuft und das ganze Baguette warm und weich ist. Mein Magen knurrt und ich merkte, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Es gibt stets nur eine Hand voll dieser Baguettes und nur am Anfang der ersten großen Pause.
Mein Lehrer, die Ruhe in Person, schreibt in aller Gemütlichkeit die Hausaufgaben an die Tafel. Mein rechtes Bein beginnt bereits zu Wippen, während ich hastig die Aufgabe in mein Heft notiere, in der hässlichsten Schrift, die ich noch lesen kann.
Endlich entlässt er uns in die Pause. Ich springe auf. Der Blick meiner besten Freundin trifft meinen und sie ruft „Caffe?“ So nennen wir die Cafeteria, die im Grunde genommen nur aus einem einzigen Verkaufsfenster besteht und keinerlei Sitzmöglichkeiten bietet. Ich nicke.
Gemeinsam laufen wir los, eilen durch die Korridore unserer Schule und hören noch, wie ein Lehrer uns etwas zuruft von „Nicht rennen auf den Gängen!“ Also walken wir.
Meine beste Freundin ist etwas schneller als ich. Sie ist groß und ihre langen roten Haare wippen beim Gehen auf ihrem Rücken. Ich erspähe ihren Kopf einige Meter vor mir, drängele mich durch die Mengen und endlich erreichen wir die Cafeteria. Ein Gedränge von Schülern, die sich vor das kleine Verkaufsfenster schieben. Ich stelle mich an, versuche einen Weg durch die Meute zu finden, aber schaffe es nicht, mich gegen die Älteren Schüler durchzusetzen. Also warte ich geduldig. Suche Lücken und schlüpfe hinein, wenn ich schnell genug bin.
Endlich erreiche ich die Verkaufstheke. Die Dame der Cafeteria schaut mich erwartungsvoll an. „Haben Sie noch ein Baguette?“
Sie schüttelt den Kopf.
Meine Laune sinkt. Ich blicke in die Verkaufstheke und sehe noch ein paar Brötchen. Die Dame nimmt einen anderen Schüler dran, während ich versuche, mich zu entscheiden.
Ich wähle ein normales Käsebrötchen und beobachte einen älteren Schüler mit einem der Baguettes in den Händen. „Tja, da muss man schnell sein.“ In seinem Mundwinkel hängt Remoulade. Ich lache, nicke und kehre dem fremden Schüler den Rücken, denn ich spüre diesen Kloß in meinem Hals.
Reiß dich zusammen, es ist nur ein Baguette!
Aber ich weiß, dass es nicht nur ein Baguette ist. Es ist mein Stückchen Luxus, den ich mir gönnen wollte und es sollte das Highlight meiner Woche werden. Das Käsebrötchen in meiner Hand fühlt sich kalt und hart an und der Appetit vergeht mir, während ich aus der Cafeteria schlurfe. Ich spüre das Brennen in meinem Hals, fühle mich gleichzeitig wie eine naive Idiotin. Wer weint schon, wegen eines Baguettes? Was ist denn nur los mit mir?
„Na, warst du zu langsam?“
Meine beste Freundin taucht neben mir auf. In ihren Händen hält sie ein Käsebaguette. Mit einem gequälten Lächeln auf den Lippen schüttele ich den kopf und sie sieht mir nur einen winzigen Augenblick in die Augen. „Du kannst gleich den Rest von meinem haben.“
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter, während wir auf den Schulhof hinausschlendern. Es ist nur ein Baguette. Doch dieses Baguette rettet mir den Tag. Die Woche. Vielleicht sogar die gesamte Schulzeit.
Denn der Mensch, für den eben jenes matschige Käsebaguette genauso ein Wochenhighlight ist, wie für mich, bietet an, es mit mir zu teilen. Dankbar beiße ich zwei Mal ab. Genieße den Geschmack der würzigen Remoulade und merke, wie mein Körper nach mehr giert. Ich kaue so langsam wie ich kann, schlucke es herunter und drücke meiner Freundin den Rest wieder in die Hand. „Das hat für den Geschmack gereicht. Willst du gleich noch ein Bissen von meinem Käsebrötchen?“ „Gern.“ Wir Essen gemeinsam, während die Pause sich langsam dem Ende neigt und für einen kurzen Moment sind unsere Leben ein kleines bisschen weniger Scheiße.
Wir haben uns.
Liebe, vielleicht.
Ich bin eine leidenschaftliche Köchin geworden. Jetzt im Alter wo nur noch zwei Gesichter am Tisch sitzen, aber ich koche gern für ihn.
Heute koche ich nicht nach Rezept. Die Beschreibungen sind gern kompliziert. Viel zu oft stehen Zutaten darin, die ich nicht kenne, zum Beispiel: Pastinaken, Physalis, Hakkaido oder Couscous. Dann frage ich in den Geschäften, bei den Verkäuferinnen nach. Aber heute koche ich sein Lieblingsgericht, dafür brauche ich keine Anweisung mehr.
Es ist Sonntag, Gesten habe ich alles schnell im Supermarkt besorgt. Immer diese Hetze, um rasch wieder zuhause zu sein.
Momentan schläft er. Die ganze Nacht war er in Unruhe. Ich denke, der Schlaf holt sich jetzt seine Gerechtigkeit. Ich bin auch sehr müde, aber nun ist einfach die Zeit, um alles fertig zu kochen, bis er aufwacht.
Ich hol die Rouladen aus dem Kühlschrank. Packe sie aus und lege die Stücke ausgerollt auf das vorbereitete Holzbrett. Schneide Zwiebeln, Speck und Gurken klein. Würze das Fleisch, streiche auf der einen Seite Senf auf und verteile die klein geschnittenen Würfel darauf. Mit etwas Geschick, wenn man mit meinen knochigen Händen noch davon sprechen kann, rolle ich die Fleischlappen zusammen und befestige sie mit Zahnstochern.
Es ist gutes Rindfleisch, vom besten Metzger der Stadt. Eigentlich esse ich schon seit Jahren kein Fleisch mehr, aber für ihn koche ich es jeden Tag.
Die Pfanne ist heiß. Die Rolladen jetzt darin scharf anbraten. Ein paar Zwiebeln dazu, für eine kräftige Soße. Die Kartoffeln schälen, in der zwischen Zeit. Ich schneid sie etwas kleiner, nicht das sie zu seinem ärger nicht durch gekocht sind.
Früher musste das Essen kochen schnell gehen. Drei Kinder aus der Schule arbeiten, Hausarbeit da blieb nicht viel Zeit um ein Gericht, was aufwendig war, auf den Tisch zu stellen.
Irgend wie bin ich immer noch in Zeitdruck, obwohl er kein Zeitgefühl mehr hat.
Es hat keiner von uns Geburtstag und Hochzeitstag hatten wir noch nie.
Wie sagt man so schön, Essen ist der Sex im Alter“aus diesem Grund möcht ich, das es ihm schmeckt.
Das Fleisch ist angebraten. Die gute Flasche Wein, süß wie er es gerne mag, öffnen. Es sprudelt, wie ich einen Teil des Weins über die Rolladen gieße. Ich stell mir die Eieruhr auf eine Stunde, decke die Pfanne ab, stelle die Kartoffeln im Salzwasser an und spüle das Frühstücks Geschirr und die Arbeitsgeräte.
Er schläft, er schnarcht leise, der Fernseher läuft.
Ich dachte, erst den Esstisch zu decken, aber da wird er vielleicht misstrauisch. So stelle ich die Teller und unser Besteck auf die Küchentheke. Wo wir immer unsere Mahlzeiten einnehmen. Eine Kerze, vermag ich mir aber nicht verwehren, ebenso die schönen Weingläser.
Es kocht alles ruhig vor sich hin. Er schläft.
Ich gehe die Treppe nach oben ins Bad. Geduscht und gewaschen habe ich mich schon heute Morgen. Sonntags haben wir ja unseren Duschtag.
Die neue Unterwäsche, das schöne Kleid, wo ich ihm so gut gefalle, habe ich längst bereitgelegt.
Das Haus ist aufgeräumt und sauber. Ich bin zufrieden.
Das Gesicht im Spiegel ist alt. Wenn man aber etwas Make-up und Wimperntusche aufträgt, wir es schon gehen.
Die Einsamkeit ist erdrückend.
Die Eieruhr klingelt, die Stunde ist um.
Ich habe noch die Schlappen an, besser währen doch Schuhe.
Er ruft.
Natürlich hat ihn das Klingen geweckt, soweit habe ich mal wieder nicht gedacht.
Ich komme! Bin gleich bei dir! Langsam gehe ich die Treppe nach unten, jetzt nur nicht fallen, vor Aufregung.
Ich habe Hunger!
Du musst dich noch etwas gedulden mein Schatz. Es ist bald fertig. Ich habe Rolladen für dich gekocht.
Er schnauft.
Magst du noch den Pullover überziehen?
Er sieht ziemlich zerwühlt aus, auf der Wange hat sich das Kissen eingedrückt.
Nein!
Die Medizin sollten wir aber vorher noch nehmen.
Nein!
Ich stelle den Becher mit Flüssigkeit vor ihn. Überreden oder zwingen lässt er sich schon lange nicht mehr. Ich muss hoffen, dass er es unbewusst nimmt und trinkt. Ein Magenmittel damit das Essen im Bauch verbleibt.
Er brummt und schaut ins Fernsehn. Er scheint abgelenkt.
Die Soße mit der Mehlschwitze andicken, ein paar Tropfen aus der Flasche.
Warte.das Wort formt sich in meinen Gedanken, erst mal abschmecken, es sollte ja gut gewürzt sein. Jetzt, die kleine Flaschen, ein paar Tropfen. Oder doch mehr?
Ich habe Hunger!
Die Tabletten haben sich im Wein aufgelöst. Heute Nacht werden wir gut schlafen.
Ja Schatz komm das Essen ist fertig.
Im Augenwinkel sehe ich, dass der Becher leer getrunken wurde. Er setzt sich mir gegenüber auf seinen angestammten Platz. Das Essen richt gut und durchström, mit einer wohligen Wärme, die Wohnküche.
Ob er etwas schmeckt?
Seit Wochen erkennt er mich nicht mehr. Sein Leben besteht nur noch aus den lebenserhalten Dingen: wie essen, schlafen, Notdurft verrichten. Ist das noch Leben? In Gedanken sitze ich meiner Liebe gegenüber, stochere im Essen, es ist alles erledigt.
Ich will schlafen!
Er hat seinen Teller fast geleert, auch das Glas Wein ist ausgetrunken. Die Kartoffeln waren natürlich noch nicht ganz durch. Frühen hat er sie immer vor dem Abschütten noch mal überprüft, daran denkt er nicht mehr.
Ja mein Schatz, geh schon mal hoch ins Bett, ich komme gleich.
Ich folge ihm schwerfällig die Treppe nach oben. Im Schlafzimmer legt er sich ganz ohne Anstrengung auf seine Seite des Bettes. Hose, Hemd völlig angezogen zieht er die Decke über sich.
Ja, heute nicht mehr das Theater mit waschen, ausziehen, Toilette. Heute einfach nur schlafen,
Ich muss noch mal in die Küche, die Kerze ausblasen, mein Glas leeren. Das Handy, die Zeit ist eingestellt für die E-Mail an die Polizeistation. Es ist alles vorbereitet, kein Zurück, seit Wochen hast du dich auf diesen Tag vorbereitet Bettina.
Mir fällt es schwer den Weg zurück ins Schlafzimmer.
Ich kuschel mich an ihn.
Er atmet flach, er röchelt, er zuckt, er dreht sich zu mir um.
Seine Augen schauen mich an, wie als ob er versteht, ein klarer Moment, ein glitzern in den Augen, Liebe.
Seine Hand, sucht die meine, ich halte sie fest.
Ein tiefes Ausatmen. Er ist vor gegangen.
Ich hoffe, dass der Himmel nicht so groß ist und ich ihn finde.
Merle
Das Ufer plätscherte ans Wasser und brach sich in der steinumglänzten Sonne, die sich nach dem regennassen Schatten einer düstergrauwattierten Wolke sehnte. Der Wind stürzte gleich einer Gruppe lianenschwingender Affen von den Bäumen und wässerte das Gekräusel der ansonsten spiegelblanken Oberfläche des Meeres. Irgendwo pflügte ein grenzenloser Ozean durch das schreckliche Ungeheuer und in all dem Übel krümmte sich Merle vor Schmerz und erbrach ihr innerstes Innerstes.
Oder vielmehr: Sie wünschte sich, ihr innerstes Innerstes erbrechen zu können.
Doch es sollte nicht sein: So sehr sie auch würgte, es kam – nichts!
Resigniert setzte sie sich auf. So gut es eben ging, in ihrem Zustand. Ihr Mageninhalt völlig aufgewühlt, darin unterschied er sich nicht von ihrer Wahrnehmung. Ihre Welt stand Kopf. Nichts war, wie es gehörte.
Merle erinnerte undeutlich den wildzappelnden Fisch, den sie während des vor Wut auf-was-auch-immer schäumenden Orkans überbordgehenderweise geschluckt hatte. Nicht der Wal hatte Jonas geschluckt, nein, sie, Merle, hatte diesen Fisch geschluckt. Und der zappelte nun verzweifeltnichtsterbenwollend in ihrem verdauungssaftangereicherten Magen und wühlte fischschwanzpeitschend dessen buntgemischtbreigen Inhalt auf, wie es selbst der heftigste bohnengasunterstützte Eingeweidesturm nicht vermocht hätte. Sie spürte die salzsäurehaltigen Verdauungssaftwogen an den Magenwänden entlangrauschen, hörte sie glucksen und brechen, fühlte das Ätzen der speiseröhrenaufsteigenden Brandungsausläufer, und trotz allem gelang es ihr nicht, sich zu erbrechen. Höher, als bis in ihren Unterhals drang die Giftbrühe nicht empor. Obwohl sie es sich so sehr gewünscht hatte. Um den ungehobeltschwanzschlagendenverdauungssaftdurchwirbelnden Fisch endlich loszuwerden.
Denn sie wusste: Ihr Los war es, den Fisch wieder auszuspeien.
Und sie hoffte: Dass er nicht drei Tage und drei Nächte in ihrem Magen verharren musste, wie Jonas einst im Bauch des Wals.
Merle hockte also am Boden, in sichnichtübergebenkönnendes Selbstmitleid versunken, und beobachtete das ans Wasser plätschernde Ufer. Wenigstens das schien ihr normal.
In einem lichten Augenblick zwischen zwei Attacken in ihren Eingeweiden, indem sich ihre Gedankengänge halbwegs normalisierten, kam sie zu dem Schluss, dass der Fisch nur zwei Möglichkeiten hatte:
Oben raus. Oder unten.
Tot. Oder lebendig.
Wobei sie sich weder mit dem Gedanken anfreunden wollte, dass ein lebender noch ein verstorbener Fisch aus ihrem Mund ans Tageslicht befördert werden sollte.
Die dritte Möglichkeit schloss sie von vorneherein kategorisch aus. Nämlich, dass das unglückliche Tier sich durch ihre Eingeweide und den Körper einen Tunnel ins Freie fraß, um in sein angestammtes Revier zurückzugelangen. Diese Alternative überstieg ihr Vorstellungsvermögen, beziehungsweise wollte sie sich das nicht vorstellen. Aus verständlichen Gründen.
Also doch oben raus.
Oder unten.
Tot.
Oder lebendig.
Würgen.
Oder beschleunigen der Darmperistaltik.
Der Fisch seinerseits hatte sich noch nicht entschieden. Lediglich bei der Frage, ob tot oder lebendig, hatte er sich auf Letzteres festgelegt. Alles andere erschien ihm nicht zukunftsweisend. Was ihm jedoch vorerst nicht weiterhalf, ohne dass er auch die andere Entscheidung traf. Oben. Oder unten. Das Problem allerdings war die mangelnde Vertrautheit in die Umgebung, in die er bar seines aktiven Zutuns geschleudert worden war. Auf dem Weg zu seinem jetzigen Aufenthaltsort war alles so überstürzt vonstattengegangen, dass er kaum etwas wahrgenommen hatte. Er erinnerte sich noch an den würgenden Schlauch, der ihn partout nicht haben wollte (womit er noch einverstanden gewesen war – auch er hatte etwas anderes im Sinn).
Jedenfalls kam er nicht umhin, jetzt einen Entschluss zufassen. Zumal die ätzende Brühe, in der er nach wie vor ungelenk zappelte, der anhaltenden Gesundheit seiner Haut nicht gerade zuträglich schien. Er spürte jetzt schon, wie ihn die ersten Schuppen im Stich ließen.
Merle, die die Gedankengänge des Fisches nicht kannte, kam unabhängig von ihm zum selben Schluss. Er musste raus, egal wie. Und vor allem: schnell! Die Angelegenheit duldete keinen Aufschub.
Die beiden Finger, die sie zum wiederholten Male bis zum Anschlag in ihren Hals gesteckt hatte, um den erlösenden Brechreiz herbeizuführen, begannen bereits zu bluten. Denn das Einzige, das sie mit dieser Vorgehensweise erreichte, war den reflexhaften Klappmechanismus ihrer Kiefer ingangzusetzen. Anstatt den zweifelhaften, ihr allgemeines Wohlbefinden störenden Mageninhalt schleunigst ans Tageslicht zu befördern, gab ihr Gehirn wieder und wieder den Befehl, kraftvoll zuzubeißen. Als ob es sich in dieser Sache um eine Werbeveranstaltung für Zahnpasta gehandelt hätte!
Das nichtendenwollendemagenwandtrommelnde Gezappel des gastfreundschaftsträflichmissachtenden Fisches löste eine neuerliche Welle fühlbarsten Unwohlseins aus. Das Tier benahm sich nicht, wie ein moderner, weltoffener Gastgeber es selbstverständlich erwarten durfte. Zuhause wäre Merle unverzüglich zum Apothekenschrank geeilt und hätte sich (und natürlich dem Fisch) eine Überdosis Abführmittel verabreicht. Eine Flasche Rizinusöl, das war es, wonach sie sich sehnte –
was sie sich niemals zuvor hätte vorstellen können. Auf Ex hätte sie sie den gesamten, zukünftiges Wohlergehen versprechenden Inhalt hinuntergekippt und damit womöglich auch dem undankbaren Fisch einen Dienst erwiesen. Ihn wenige Stunden später seinem Element zurückgegeben. Doch genau das war das Problem: Sie befand sich an diesem verdammten Meer und nicht zu Hause in Reichweite ihres Apothekenschranks. Wobei sie dessen Unterstützung dort wohl nicht benötigt hätte, denn ohne diese elende Segeltour mit diesem sprücheklopfendenspätpuertierendenlandrattenartigennichtsnutzigen Skipper, der sich in seiner nichtendenwollender Selbstbeweihräucherung gefiel und der an diesem Tag wohl zum ersten Mal überhaupt in See gestochen war (und dabei das Inseestechen vermutlich zu wörtlich genommen hatte), wäre das alles nicht passiert. Kein Segeltörn auf diesem abgewrackten, mit einem löchrigen Betttuch zur Jacht umfunktionierten treterlosen Tretboot, kein Orkan (oder war es nur ein Sturm, eine unerwartete Windbö von der falschen Seite gar?), kein unkontrolliertes Überbordgehen und – vielleicht am wichtigsten – kein Fisch, der sich in unerhörter Manier bei bester Gesundheit in ihren Verdauungstrakt verirrte!
Dabei wusste Merle nicht einmal, was für einen Fisch sie da geschluckt hatte.
Nachdem dieser sich wieder eine Pause zu gönnen schien, entkrampfte Merle sich und schaute über die See, von der sie erst in diesem Moment verinnerlichte, dass sie gar kein Meer war. Was für eine Übertreibung, dachte sie, als ihr Blick schon nach wenigen dutzend Metern auf dem jenseitigen Ufer auflief! Dieser verdammte Baggersee! Und hinter einer Landzunge noch einer.
Merle überlegte, was für Fische in solch einem Tümpel wohl leben mochten.
Forellen? Diese majestätischen Jäger wären ihr sogar sympathisch gewesen. Irgendwie. Aber für einen Baggersee eher unwahrscheinlich.
Karpfen?
Instinktiv rümpfte sie bei dem Gedanken die Nase, in der sich sofort der schlammigmodrige Geruch nach vergammelten Algen einstellte. Poseidon kam ihr in den Sinn, der ausgediente Meeresgott, dessen Ausdünstungen sie sich genauso abscheulich vorstellte, wenn er übellaunig aus dem Wasser stieg, behängt mit Seetang und anderem stinkenden Meeresgetier.
Ein Hecht?
In einem Aquarium hinter einer dicken Panzerglasscheibe wäre ihr das recht gewesen. Jetzt aber wurde ihr ganz elend zumute, wenn sie nur daran dachte, dass sich ein solch räuberischaggressives Wesen in ihr befinden sollte. Mit einem Hecht verband sie die dritte Möglichkeit, an die sie nicht hatte denken wollen und deshalb von vorneherein ausgeschlossen hatte.
Oder etwa ein Aal?
Merle erschauerte am ganzen Körper. Auch diese Aussicht erschien ihr kaum besser. Wenn sie sich nur vorstellte, wie ein solch schlangenartiges Wesen an ihren Magen- (und später Darmwänden) entlangstrich! Womöglich gar ein Zitteraal? Merles Herz blieb bei dem Gedanken, dass sie ein Kraftwerk in sich trug, das sie jederzeit mit Stromschlägen und Kurzschlüssen lahmlegen konnte, beinahe stehen. Obwohl sie wusste, dass Zitteraale weder Aale waren noch in Europa heimisch. Aber wer weiß, dachte sie, ob nicht einer dieser vielen Verrückten, die sich alle möglichen exotischen Tiere hielten, ein für den Hausgebrauch zu groß gewordenes Exemplar ausgerechnet in diesem Tümpel ausgesetzt hatte.
Gequält schaute Merle über den See. Von Roy mitsamt dessen hochgejubelter Luxusyacht keine Spur. Na dann, murmelte sie. Soll er doch mit seinem obskuren Tretboot bis ans Ende seiner Tage auf dem Grund dieses schlammigen Baggersees umherschippern. Und während ihre Gedanken sich noch bei Roy aufhielten – Roy, was für ein aufgeplusterter Name! –, oder vielmehr sie versuchte, ihre Gedanken von ihm und seiner mädchenblendenden Prahlerei fernzuhalten, drängte sich das letzte Bild, dass sie von ihm aus der Zeit vor ihrem Überbordgehen in sich trug, in ihr Bewusstsein …
Und dann explodierte der Vulkan. In einem ungeheuren Krampf befreite sich ihr Magen ein für alle Mal von seinem unerwünschten Inhalt, schleuderte den anverdauten Nahrungsbrei wie flüssiges Magma über die unschuldigen Kiesel. Ein unerquicklich ätzender Geruch hing in der Luft und reizte Merles Eingeweide, sich erneut zusammenzuziehen. Doch ihr Magen hatte zuvor bereits gründliche Arbeit geleistet; es gab nichts, das er in einem weiteren Anlauf noch in die Stille der Natur hätte befördern können.
Merle, mit transpirationsgezeichneter Stirn vornübergebeugt auf den harten Steinen kniend, betrachtete ihr Werk wie ein Künstler, der einen allerletzten Pinselstrich an seine Schöpfung setzen will. Mit einer unscheinbaren Kleinigkeit das Gemälde in den Rang eines Geniestreichs hebt.
Etwas fehlte.
Ratlos kratzte Merle ihr Kinn, in der Hoffnung auf einen Geistesblitz.
Bis ihr eine eruptive Erkenntnis reflektierte, was sie in ihrem Meisterwerk vermisste: den verzweifeltschwanzflossenschlagendenbauchtrommelnden Fisch! Zumindest zappelte er nicht mehr. Nicht hier, auf ihrem Erbrochenen, das von den Rändern her bereits einzutrocknen begann, noch in ihrem gründlich ausgefegten Magen. Sie setzte sich auf und horchte aufmerksam in sich hinein. Nein, alles war ruhig. Es schien äußerst unwahrscheinlich, dass das Tier sich weiterhin in ihr aufhielt, weder tot noch lebendig. Oder umgekehrt. Ihr Magen, der sich derweil beruhigt hatte, vermittelte ihr das zuverlässige Gefühl, dass er mittlerweile schadtierfrei war. Leer. Vor allem: fischlos. Er musste sich hier draußen befinden, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Ob er sich längst von den Kieseln gemacht hatte, ohne sich umzudrehen und abschiedsgrußlos davongeschwommen war? Merle erhob sich und ging die wenigen Schritte zum Wasser. Alles war ruhig, die Oberfläche des Sees lag spiegelglatt zu ihren Füssen. Sie bückte sich und schöpfte mit ihren zu einem Gefäß geformten Händen Wasser, trug es zu ihrem Erbrochenen, ließ es behutsam darüber tropfen. Die schleimige mageninhaltverdickte Säure verdünnte sich und rann zwischen den Steinen hindurch in den See. Zurück blieben allein die etwas größeren, festen Bestandteile.
Und dann erblickte sie ihn: Den Fisch, der ihr das Leben derart vergällt hatte!
Am Rücken blau, die Unterseite weißlich schimmernd, lag er reglos in den unappetitlichen Überbleibseln ihres Frühstücks. Und, was ihr eiskalte Schauer die Wirbelsäule hinabtrieb: Die gefährlich wirkende Finne, die bedrohlich aus dem Wasser beziehungsweise den Resten ihres Erbrochenen herausragte:
Ein Hai!
Merle nahm allen Mut zusammen, beugte sich ihm weiter entgegen, um ihn besser identifizieren zu können. Es gab keinen Zweifel. Es war tatsächlich ein Hai!
Ein Fruchtgummihai.
Von Troll.
Wie wunderschön traurig und herzzerreissend schrecklich!
Ravioli zu Weihnachten
Wie allgemein bekannt, besteht ein italienisches Festmahl aus mehreren Gängen. Zwischen diesen hält man, mehr oder weniger lange Pausen.
Die Ouvertüre eines solchen kulinarischen Konzertes nennt sich Antipasto, der erste Gang. Es werden verschiedene Aufschnitte gereicht: Roher und gekochter Schinken, pikanter Salami, Salami mit Fenchelkerne, und weitere regionale Wurstspezialitäten. Dazu werden in Öl oder Essig eingemachte, und/oder geschmorte Gemüse gereicht. Auberginen, Zucchini, Zwiebel, Pilze… um nur einige zu nennen.
Der zweite Gang nennt sich auf Italienisch „primi piatti“. Traditionell sind es meist Pastagericht, aber auch Risotto, Polenta oder Suppen. Es folgt der dritte Gang, der in Italien „il secondo“ genannt wird, dies ist der eigentliche Hauptgang. Er besteht aus einem aufwendigen Fleisch- und/oder Fischgericht mit ebenso aufwendigen Beilagen.
Abgerundet wird das Festmahl mit dem vierten Gang. Eine üppige und vielfältige Käseplatte mit rohen und eingekochten Früchten wie Birnen, Feigen, Trauben und Baumnüssen, je nach Region und Saison.
Nun ist Zeit für die längste Pause. Sie wird, wie die vorgängigen, mit viel reden, lachen und Wein trinken überbrückt.
Der fünfte Gang. Wir rücken dem Ende näher, „il dolce“ wird serviert, das Dessert. Nein, nicht eine Süßspeise wird gereicht, oft sind es mehrere, von der aufwendigen Torte zum hausgemachten Pudding bis zur Eiscreme.
Es folgt der sechste Gang. Frisches Obst, in mundgerechte Stücke geschnitten oder als Fruchtsalat gereicht.
Geschafft: Abgeschlossen wird mit dem obligaten Espresso. Der Ristretto ist die bessere Wahl, kurz und dunkel. Dazu verdauungsförderndes Hochprozentiges und süsse Liköre, oft hausgemacht.
Am Rande eine kleine Anleitung dazu, wie Mann und Frau solch einen Bankett schadenlos übersteht:
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Die Vorbereitung ist die halbe Miete: Es ist klug zwei Tage vor dem grossen Event zu fasten.
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Mann/Frau halte sich beim Antipasto zurück. Das ist einfacher gesagt als getan, denn man hat ja reichlich Appetit, hat man doch während ein paar Tage zuvor wenig bis nichts zu sich genommen. Der Tick besteht darin, nur zu degustieren, egal wie üppig gereicht wird. Nein, das ist nicht unhöflich, das ist vorausschauend. Man möchte ja in der Lage sein, für die nachfolgengen Gerichte, aufrichtige Komplimente den Gastgebern aussprechen zu können, und am Schluss würdevoll und ohne Hilfe vom Tisch aufzustehen. Verzichten Sie auf Brot, präferieren Sie die Crissini. Nippen Sie am Wein, trinken Sie nicht Wasser wie ein Kamel, dies würde Ihre Verdauungssäfte verdünnen.
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Halten Sie sich, auch bei den folgenden Gängen an die oben genannte Empfehlung: Degustieren Sie. Bei einem Festmahl dürfen, ja sollten sogar Reste im Teller liegen bleiben. Wichtig ist nur, dass beim Abräumen ihre Überbleibsel in Teller mit Komplimenten kommentiert werden. Denken Sie daran, es geht Ihren Kommensale genau wie Ihnen.
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Profitieren Sie ausgiebig von den Pausen, auch wenn Sie Nichtraucherin sind. Wenn möglich bewegen Sie sich ein wenig. Seien Sie jedoch unbedingt rechtzeitig für den nächsten Gang zu Tisch.
Und nun zu den Ravioli. Wie im Titel angekündigt, waren und sind heute noch die Ravioli die Hauptprotagonisten unserer Weihnachtsessen. Dies, obwohl wie beschrieben, Pastagerichte „nur“ der erste Gang sind. Wenn Sie nachfolgendes Rezept nachkochen, werden Sie es verstehen. Aber zuvor meine Erinnerungen aus der Kindheit, denn dies ist ja das Thema hier.
Meine Familie stamm ursprünglich aus Sardinien. Meine Eltern migrierten Anfang 60er in die Schweiz, wo ich 1961 geboren wurde. Eines der wunderbarsten Gerichten der Sardischen Küche, sind ohne Zweifel die Ravioli alla ricotta e spinacci, zu Deutsch „Ravioli mit Ricotta und Spinat Füllung“. Jetzt werden Sie vielleicht denken, das gibt es doch in jedem Lebensmittelgeschäft in Vakuum verpackt für ein paar Franken/Euro zu kaufen. Ja stimmt. Aber, unsere Ravioli sind eine ganz andere Geschichte. Um diese zu geniessen, lohnt sich sogar eine Reise auf die wunderschöne Mittelmeerinsel. Das Rezept variiert regional, manche fügen der Füllung ein Messespitze Safran bei. Wir verzichten darauf, dafür mischen wir die geriebene Schale einer Zitrone und einige gerupfte Minzblätter in die Füllung. Aber dazu später mehr.
Meine Mutter, und jede die ihr beim Kochen helfen mochte, trug eine schneeweiße Küchenschürze. Die Haare mussten stramm zusammengebunden werden, ohne dies durfte man die Küche nicht betreten. Meine Mutter, trug zudem einen dreieckigen Kopftuch, denn sie im Nacken, unter dem Zipfel zuknotete, schneeweiß wie die Schürze. Die Zubereitungen für Weihnachten waren eine gesamt familiäre Angelegenheit. Wir die Mädchen, in der Zahl fünf, halfen in der Küche. Unser einziger Bruder, kümmerte sich zusammen mit unserem Vater um die stabile Aufstellung des grossen Weihnachtsbaums. Der musste wirklich stabil, ja stoisch dem Herumwirbeln unserer kleinen, quirligen Bande über all die Festtage standhalten. Um ihm einen sicheren und gebührenden Platz zu schaffen, wurde die gesamte Wohnzimmer Einrichtung umgestellt. Unter Anleitung meiner Mutter, schoben mein Vater und mein Bruder die guten Stücke im Zimmer herum, bis meine Mamma es gut hieß. Das grosse Kochen fing mit dem Weihnachtsgebäck an. Enorme Mengen wurden hergestellt. Zwei grosse Schubladen der Anrichte im Esszimmer wurden, für deren Aufbewahrung, ausgeräumt, und mit Schneeweiße Tücher ausgelegt. Das typische sardische Weihnachtsgebäck sind die „Papassini“. Der Teig ähnelt der der Mailendärli, ist jedoch mit Mandelsplitter, Orangeade und Rosinen angereichert. Der Teig wird ca. 1 cm dick ausgerollt und zu ca. 5-6 cm grossen Parallogramme zugeschnitten. Nach dem Backen, werden sie mit einer Kuvertüre aus zu Schnee geschlagenem Eiweiss mit Puderzucker bestrichen, und diese mit buntfarbigem Zuckerstreusel garniert. Die zweite traditionelle weihnachtliche Süssigkeit unsere Herkunft ist der „Croccante di Mandorle“. Ungeschälte, in grobe Stücke gehackte Mandeln werden in einer grossen Pfanne kurz getröstet. In einer zweiten grossen Pfanne wird der Zucker mit Orangensaft aufgekocht, bis es langsam unter ständigem Rühren, zu einem geschmeidigen dickflüssigen Sirup wird. Wenn der Zucker so weit ist, werden die gerösteten Mandel untergerührt, und unter weiterem Rühren gekocht bis es zu einer Masse wird. Nun wird das Ganze auf ein grosses umgedrehtes Blech gestrichen; ca. 2 cm dick. Das muss schnell gehen so lange die Masse noch heiss ist, und man sollte achtgeben sich dabei die Finger nicht zu verbrennen. Wenn der Croccante abgekühlt ist, wird er mit einem grossen Messer grob in Stücke geschnitten. Am besten funktionier dies, indem man die Schneidekante des Messers in seiner ganzen Läge aufsetzt, und dann mit der anderen Hand, flach und kräftig auf das Messer drückt.
Das ganze Haus war durchzogen mit dem Duft gerösteter Mandeln, geriebener Organgenschallen und des Weihnachtsbaumes; die Stimme meiner Mutter, meines Vaters, meiner Geschwistern, der Klang der Blockflöte unserer ältesten Schwester die „Oh du Fröhliche“ übte, das Kichern meiner Schwestern welche von meinem Bruder geneckt wurden. Damals schneite es zu Weihnachten. Die Welt war wie in Watte gehüllt. Es war leicht glücklich zu sein.
Das Rezept: Ravioli sardi alla ricotta e spinaci
(Für 6 Personen)
Zutaten für die Füllung:
200g geriebener Parmesan
200g geriebener reifer sardischer Pecorino
400g Ricotta fresca
2 EL Mehl
100g fein gehackter, gut entwässerter Spinat
1/2 geriebene Schale einer Zitrone
1 gehäufter EL frische, fein gehackte Petersilie
8 Blatt frische, fein gehackte Minze
2 ganze Eier
1 prise Salz
Wenig weisser Pfeffer
Zutaten für den Teig:
300g Weissmehl
200g Hartweizen Mehl
250g lauwarmes Wasser
1 ganzes Ei
1 EL Olivenöl extra vergine, kaltgepresst
1 KL Salz
Zutaten für die Tomatensauce:
1 Kg geschälte, gehackte Konserven Tomaten
1 kleine Zwiebel sehr fein gehackt
8 Blatt frischen Basilico
2 EL Olivenöl extra vergine kaltgepresst
1 Prise Salz
Käse für über die fertigen Ravioli:
Eine Mischung aus
200g geriebener Parmesan
200g geriebener reifer sardischer Pecorino
Bitte nicht den Pecorino Romano nehmen. Er ist für unsere Raviolo zu salzig!
Anleitung:
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Den Teig vorbereiten:
● Geben sie beide Mehlsorten und den Salz in eine grosse Schüssel, durchmischen Sie mit den Händen alles gut. Formen Sie eine Mulde.
● Giesen Sie nun langsam einen Teil des Wassers und das Öl in die Mulde. Kneten Sie bis Sie eine homogene Masse erhalten. Sollte sie zu trocken sein, giessen Sie bedacht Wasser nach, sollte sie zu klebrig resultieren, streuen Sie bedacht Weissmehl nach.
● Stürzen Sie nun den Teig auf einen grossen, mit Mehl fein bestäubten Holzbrett, formen Sie eine Kugel.
● Packen Sie den Teig in eine Klarsichtfolie, und lassen Sie es bei Raumtemperatur ruhen. -
Die Tomatensauce vorbereiten:
● Geben Sie in einen genügend grossen Topf das Olivenöl, die sehr fein gehackte Zwiebel und die Tomaten. Rühren Sie alles unter.
● Geben Sie KEIN Wasser und NOCH KEINEN Salz hinzu. Wir bereiten einen „sugo veloce“ vor. Die gehackten Tomaten sollen NICHT zu einem Brei verkocht werden.
● Stellen Sie erst jetzt den Topf auf die Herdplatte. Das Öl soll nicht vorgeheizt werden, die Zwiebel nicht gedünstet. Der Sugo soll im Geschmack nicht das der Ravioli decken.
● Legen Sie einen Kochlöffel am Rand über den Topf und darauf den Deckel, so das ein Spalt offen bleibt damit der Dampf entweichen kann.
● Stellen Sie die Hitze auf 3. Es sollte, während Sie wie weiter unten beschrieben die Füllung zubereiten, leise und gemütlich köcheln. Rühren Sie ab und zu. Wenn nötig verringern Sie die Hitze auf Stufe 2.
● Die Sauce ist fertig, sobald die überschüssige Feuchtigkeit entwichen ist. Nehmen nun den Topf von der heissen Platte. Salzen und pfeffern sie mit bedacht. Zupfen Sie den Basilico mit den Fingern zu kleinen Stücke und legen Sie ihn auf die Sauce. Decken Sie den Topf zu und lassen Sie es ruhen. -
Die Füllung vorbereiten:
Während die Sauce köchelt, bereiten Sie die Füllung vor. Vergessen Sie aber nicht den Sugo.
● Geben Sie die gut ausgedrückte Ricotta und Spinat in eine grosse Schüssel. Sie sollten kein Wasser mehr enthalten. Am besten geht dies, über dem Lavabo, in dem Sie die Zutaten in einen Gazetuch legen und die Zipfel satt zusammen rollen.
● Geben Sie die fein gehackte Petersilie, die Minze und die geriebene Zitronenschale zur Ricotta und dem Spinat. Mischen Sie alles gut durch.
● Fügen Sie nun den gerieben Käse bei, und durchmischen Sie nochmals alles gut.
● Rühren Sie das ganze Ei unter die Masse.
● Probieren Sie die Füllung, salzen und pfeffern Sie nach Belieben. Seien Sie mit dem Salz nicht zu grosszügig, die Käsemischung enthält schon reichlich Salz.
● Decken Sie die Schüssel mit einem sauberen Küchentuch ab. -
Die Ravioli herstellen:
● Packen Sie den Teig aus, legen Sie ihn auf das mit Mehl bestäube Holzbrett. Schneiden Sie den Teig in mehrere Portionen, etwa doppelt so gross wie ein Tennisball. Decken Sie die Teigportionen mit einem sauberen Küchentuch ab.
● Stellen Sie einen Topf voll Wasser auf hohe Temperaturen auf dem Herd. Der Topf sollte möglichst breit sein. Decken Sie den Topf zu.
● Vergessen Sie nicht die Tomatensauce.
● Walzen Sie mit dem Nudelholz, oder der Pastamaschine, aus jeder Teigportion einen ca. 10 cm breiten langen Pastastreifen. Dieser sollte so fein sein wie die Pasta der Tagliatelle.
● Schneiden Sie, mit zur Hilfenahme einer runden Form, Kreise von ca. 10 cm Durchmesser aus.
● Entnehmen Sie zwei gehäufte Kaffeelöffeln der Füllung aus der Schüssel. Mit Hilfe eines zweiten Kaffeelöffels, rollen Sie die Mischung in die Mitte der Pastascheibe.
● Nun falten Sie die belegte Scheibe in zwei, zu einem Halbmond. Die Ravioli sollten so gefüllt sein, dass ringsherum ca. 1 bis 1.5 cm Teigrand bleibt.
● Drücken Sie die Ränder, mit den leicht feuchten Finger zu, und anschliessend mit einer Gabel. Achten Sie dabei, die Luft nach aussen zu drücken.
● Stechen Sie mit einer dicken Nähnadel, Löcher in die Mitte der Ravioli. Das ist unbedingt wichtig, da ansonsten die Ravioli beim Kochen aufplatzen! -
Kochen der Ravioli:
● Sobald das Wasser kocht, nehmen Sie den Topf vom Herd und geben so viel Salz dazu, dass das Wasser so salzig ist wie das Meerwasser.
● Stellen Sie die Temperatur des Herdes herunter, und stellen Sie denn Topf wieder auf die Herdplatte. Die Temperaturen sollte so sein, das das Wasser nicht mehr kocht, sondern nur noch leicht blubbert. Das ist sehr wichtig, da ansonsten die Ravioli beim Kochen kaputt gehen!
● Stellen Sie nun auch, den zugedeckten Topf mit der Tomatensauce zum aufwärmen wieder auf eine Herdplatte. Kochen Sie es jedoch nicht nochmals auf!
● Legen Sie nun, mit Zuhilfenahme einer grossen gelöcherten Kelle, einzeln und behutsam die Ravioli ins Wasser. Legen Sie nur so viele Ravioli ein, wie sie ohne übereinander zu liegen in Ihrem Topf Platz haben.
● Die Ravioli sind in 2-3 Minuten fertig gekocht. Heben Sie sie mit der gelochten Kelle aus dem Wasser, und lassen Sie dabei kurz abtropfen.
● Legen Sie jeweils 3 Ravioli direkt auf die Teller. Giesen Sie auf jedem Ravioli, einen Suppenlöffel Tomatensauce, und streuen Sie ein wenig der Käsemischung darüber.
● Stellen Sie auf dem Tisch, eine Schale mit geriebenem Käse und eine mit Sauce. So dass jeder sich nach belieben bedienen kann.
Ich empfehle dazu einen Rocca Rubia, Cargniano del Sulcis, Riseva 2019, Santadi
Buon appetito!
Zauberbrötchen
An diesem 23. Dezember war es wie jedes Jahr, soweit Lisa sich erinnern konnte. Nur dass sie heute zum ersten Mal die Zitronen selber reiben sollte, zusätzlich zu anderen wichtigen Aufgaben, die sie ab sofort übernehmen durfte. Sie war im letzten Kindergartenjahr, also musste sie mehr Verantwortung tragen, hiess es. Wie ernst es ihr damit war, zeigte sich dann gleich beim Frühstück, denn vor lauter Aufregung verschüttete sie die Milch und musste danach schnell zum Kaufladen hoch an der Strasse laufen, um noch zwei Liter zu kaufen. Sie kam schnell wieder, obwohl heute schon viel los war. Aber in der Schlange liessen sie die Älteren vorbei, als ob jemand ihnen schon geflüstert hatte , dass es keine Zeit zu verlieren gab.
Oma Reli wog nah am Fenster die Zutaten für «Cozonaci» und schmunzelte als sie sah, dass Agathe den Drahtkorb mit den zwei Flaschen trug. Lisa schritt bestimmt wie eine Anführerin, die Nase im Wind, die Brust raus, man hörte fast die Pauken und Trompeten, die sie begleiteten. Im Schlepptau kam die junge Frau des Müllers, die dann erzählte, wie warm es ihr ums Herz wurde, als sie das leise Stöhnen des Mädchens gehört hatte. Kaum war sie aus dem Laden, schon blickte sie kurz über die Schulter um zu sehen, ob ihr jemand folgte. Dann liess sie den Korb runter und schüttelte die Arme. «Uff, wie schwer!» kam es in einem langen Atemzug heraus. Sie ahnte, die Hilfe würde nicht lange auf sich warten, nickte zufrieden und packte beherzt den Korb wieder. Aber nur für einige Sekunden, denn wie erwartet, nahm ihr die füllige Frau, die ihr folgte gleich die Last ab. So wie die Müllerin, machten viele in der Nachbarschaft beim Spiel mit. Es war erheiternd und erstaunlich zugleich, dem kleinen Mädchen zuzuschauen, mit welcher Nonchalance es schaffte, Erwachsene um die Finger zu wickeln. «Ihr müsst Acht auf sie geben, sonst verkauft sie euch den Mond und fünf Sterne vom Himmel dazu» riefen die Älteren und brachten jedes Mal die Grossmutter zum Lachen. Sie hatte bisher gut auf sie aufgepasst und hoffte, ihr würde noch einige Zeit bleiben, denn ihre Aufgabe war noch am Anfang und die Kleine brauchte sie mehr als sich jemand vorstellen konnte.
In der Zeit wurde die Hefe zu einer cremigen Masse, die die Wand des Bechers erklomm. Der unverwechselbare Geruch verteilte sich in den Raum. Die Küche, sauber und fein parfümiert freute sich bereits auf das kommende Fest wie eine Debütantin auf den Ball. Alles an seinem Platz, auch das hatte Lisa von der Grossmutter gelernt. «Wenn du etwas machst, mach es richtig». Reli packte den Sack Mehl und liess den weissen Schnee in die Holzschüssel rieseln. Agathe hatte Recht, mit dem neuen Stein, schafften sie, die Körner noch feiner zu mahlen und das Mehl noch weisser zu bekommen.
«Hast du deine Hände gewaschen? Komm und hilf mir bitte» rief Reli bestimmt. Sie hatte kurz davor die Eier getrennt und das Dotter sonnenblumengelb und glänzend war bereits in Tanzstimmung. «Während du das Eigelb mit dem Zucker rührst, kann ich mit dem Teig beginnen». Ab jetzt gab es kein zurück mehr. Man musste konzentriert und zügig arbeiten, es durfte keine Pause entstehen und die Luft musste für Stunden die Temperatur halten. Dieser spezielle Hefeteig war anspruchsvoll, verlangte Zuneigung und viel Aufmerksamkeit. Lisas rechte Arm schmerzte bereits vom Rühren, aber sie traute sich nicht die Geschwindigkeit zu reduzieren. «Wie lange noch?» fragte sie zaghaft, wohlwissend dass es noch zu früh war, aufzugeben. «Bis es anfängt, von der Decke zu tropfen» antwortete ihr Reli mit einem verschmitzten Lächeln. Lisa schaute kurz nach oben, alles war trocken und die Hand tat auch ein bisschen weh.
Ihre Gedanken schweiften in die Ferne. Sie fragte sich, ob ihre Mutter heute Abend schon zurück sein würde, oder erst am Morgen, wenn auch der Rest der Familie den Weg nach Hause fand. Was sie nicht wusste, war dass Relis Tochter diesen Tag mehr hasste als jeden anderen im Dezember, im ganzen Jahr. Das, was für das Kind freudige Erwartung war, musste schnell zu Ende gehen, damit es nicht noch mehr an Wut und Schmerz erinnerte.
Das Öl, die Butter, die Zitrone, die Orangen, Rum, Vanille fanden sich zu Weggefährten und der Teig fing bereits an, sich zu dehnen und zu strecken. Die fleissigen Hände kneteten und kneteten, Schweissperlen zeigten sich am Haaransatz. Von der Decke tropfte es immer noch nicht, dafür aber fanden vor dem Fenster die ersten Flocken den Weg zum Boden. Draussen kalt, drinnen warm und behaglich, die Uhr tickte, die Herzen waren im Einklang. Der Duft der aufgehenden «Cozonaci» betörte die Sinnen, die gerösteten Nüsse mit dem Zucker gesellten sich dazu. Die Arbeit neigte sich dem Ende zu, jetzt musste man warten, Geduld haben, Vertrauen zeigen. Nur so konnte der flauschige, lockere Teig sich entfalten, seine Aromen entwickeln. Lisa ahnte es bereits, Zeit vergehen lassen und auf das beste Ergebnis hoffen, warten, bis es von der Decke tropft, all das würde sie jetzt und später stark langweilen.
Reli schob die sechs Stollen in den Ofen. In jedem hatte sie 10 Pfennig versteckt. Und Lisa bekam wie jedes Jahr an diesem speziellen Tag ihr «Brötchen» aus dem wunderbaren Teig, mit Zimt-Zucker Glasur als «Sosse» dazu. Nichts auf der Welt schmeckte feiner, unwiderstehlicher. Und weil sie sich am Entstehen des gemeinsamen Werks beteiligen konnte, war «Zauberbrötchen für 60 Pfennig» das wahre, absolute kulinarische Wunder. Jahr für Jahr, in erster und zweiter und dritter Generation.
Pfannkuchentag
Federleicht sind meine Schritte, als ich von der Schule komme. Heute ist der beste Tag der Woche: Pfannkuchentag. Ich muss nur eine Straße überqueren und bin da. Ich klingle zweimal schnell hintereinander. Einmal lang. Einmal kurz. Damit sie weiß, dass ich es bin. Aus dem offenen Küchenfenster strömt mir bereits der vertraute Geruch entgegen. Damals weiß ich noch nicht, dass es Butterschmalz ist, der den Pfannkuchen meiner Oma ihren ganz eigenen Geschmack verleiht.
Als sie mir die Tür öffnet, fliege ich ihr in die Arme. Wir sind auf Augenhöhe. Nicht mehr lange, denke ich. Als Jüngste in der Familie kann ich es kaum erwarten, endlich nicht mehr die Kleinste zu sein. Während Oma weiter Pfannkuchen ausbackt, decke ich den Tisch.
„Kann ich noch etwas machen?“ Helfen hat einen großen Stellenwert in unserer Familie.
„Eigentlich nicht“, wehrt Oma ab. Sie packt einen Pfannkuchen zum Warmhalten in den Backofen.
„Nicht mal den Salat?“, frage ich.
Sie schmunzelt und nickt. Das ist seit Jahren meine Aufgabe.
Ich muss den Endiviensalat nur noch mischen. Dabei stibitze ich schnell ein Stück Gurkensalat mit dem leckeren cremigen Dressing, der daneben bereit steht. Oma schöpft neuen Teig und sieht es nicht. Oder vielleicht tut sie auch nur so.
Ich setze mich auf die Anrichte und sehe ihr zu. Neben ihr liegt ein Teller mit einem zerrupften Pfannkuchen.
„Der Erste wird immer nix“, erklärt sie mir wie jede Woche und nascht ein Stückchen.
Der dünne Teig in der Pfanne wirft Bläschen. Mit einer routinierten Bewegung aus dem Unterarm überprüft Oma, ob sie ihn wenden kann. Als er in der Pfanne hin und her rutscht, dreht sie ihn um.
Nebenbei rührt sie in einem kleinen Pfännchen Fett an.
„Für den Karottendotsch“, kommentiert sie. Strahlend nicke ich. Mein Lieblingsgemüsebrei - etwas, das ich nur aus meiner Familie kenne.
Es klingelt.
„Ich mach auf“, rufe ich.
Der Rest der Familie ist da. Alle versammeln sich um den Tisch, Vorfreude auf den Wangen. Denn wir alle lieben Omas Pfannkuchen. Bei niemandem schmecken sie so gut wie bei ihr.
In einem Gasbehälter kommt der große Stapel Pfannkuchen auf eine Warmhalteplatte. Wie immer wölbt er sich in der Mitte. Als wir noch klein waren, dachten wir, dass ein Kobold darunter saß und die Pfannkuchen aufblies. Erst später werde ich erfahren, dass Oma ein Küchentuch darunter legt, um unsere Fantasie nicht zu enttäuschen.
Glücklich beiße ich in meinen ersten Pfannkuchen und genieße die Rolle aus warmem Teig mit Zimt und Zucker.
Ich wache auf. Mit einem Ziehen in der Brust denke ich an diese wunderbaren Tage zurück. Und an den Geschmack, den ich meinen Lebtag nicht vergessen werde, obwohl er für immer verloren ist.
Sehr schön geschrieben, dass man gleich mehr erfahren will.
Targya, das ist traurig . Und sehr schön geschrieben! Weiter so!
Bittere Erinnerungen
Als sie den Schreibwarenladen betritt, fange ich an zu zittern. Ich bin so froh, dass sie mittlerweile erwachsen geworden ist, aber trotzdem bleibt eine Restangst zurück, manchmal verfällt sie wieder in alte Routinen. Manchmal ist sie schwach. Als sie mit Blöcken und Heften in der Hand an der Kasse steht, schweift ihr Blick zum Regal an der Seite. Eine alte Erinnerung packt mich und mit ihr zusammen das Grauen. Säure ätzt sich in meine Außenhülle. Zähe Brocken verkleben mir die Sicht und bleiben dort Stunden lang. Neben mir schreit die Zunge, sie trifft es noch viel stärker. Oft war sie den ganzen Abend wund. Und das Zahnfleisch erst.
„Erinnert ihr euch auch?“, flüstert es links neben mir.
„Ich dachte immer, sie will uns umbringen!“, antwortet mein rechter Nachbar leise. Die Angst in der Höhle ist förmlich greifbar. Da dreht sie sich endlich schmunzelnd weg und wir atmen gemeinsam auf.
Keine blauen Kugeln, die sich nach einer Minute in scharfkantige Messer verwandeln, keine Schlumpfreste, an denen die Zunge vergeblich rumpulen muss. Keine sauren Gurken, keine Gummischlangen. Wir sind sicher. Keine Folter für 5ct pro Stück. Heute ist alles teurer. Wir sind sicher. Sie lebt jetzt gesund und kommt hier selten vorbei, nicht täglich, wie damals in der Grundschule. Aber wirklich entspannen können wir erst, als sie den Laden verlassen hat.
Zuckerstulle
1989. Freitagabend. Endlich wieder daheim. Wie an jedem zweiten Wochenende verbringe ich zwei Tage und Nächte dort, wo ich einst hingehörte. Zuhause. Wie jeden zweiten Freitag bin ich am Abend jedoch allein. Allein in einer tristen Zwei-Zimmer-Wohnung. Mutter mit irgendjemandem in der Kneipe ums Eck.
Im Fernsehen läuft „Poltergeist“. Ein Horrorfilm. Wahrscheinlich nicht meins. Aber was soll‘s? Die nach Zigarettenqualm müffelnde Decke verdeckt meine Nase. Jederzeit bereit, auch über die Augen zu rutschen. Das kräuselnde graue Flimmern, das nach Sendeschluss zu sehen ist, zeugt nicht gerade Vertrauen. Es sorgt eher dafür, dass ich noch eine gewisse Zeit unter der Decke bleibe. Doch das Grummeln im Bauch übertönt die Angst. Hunger.
Ich kneife die Augen zusammen und schlendere aufmerksam in die Küche.
An das Quietschen der Kühlschranktür bin ich gewöhnt. Auch an den Geruch, der beim Öffnen in die Nase kriecht. Dass ich nicht alles essen kann, was ich sehe, ist ebenfalls nicht neu. Doch diesmal gibt es nichts. Nichts, was sich ein Elfjähriges mal eben zurecht machen könnte. Nichts, was das Grummeln im Bauch verdrängen könnte. Nur ranzige Margarine.
Auf der Arbeitsplatte liegt Brot. Hart. Alt. Ich sehe auch eine grüne Stelle. Ich schneide das Stück weg. Der Toaster macht den Rest. Während das Eisen zu glühen beginnt, schaue ich mich nach einem leckeren Belag um. Marmelade wäre toll. Nutella der Knaller. Im Heim gibt es nur mittwochs und sonntags Nutella. Mit Brötchen. Nur morgens. Abends Brot mit Wurst oder Käse. Ich hätte mich sehr über Süßes gefreut. Aber Käse würde es auch tun. Nichts von alledem ist da.
Im Vorrat, der eigentlich mehr einer begehbaren Hausbar gleicht, finde ich nur Zucker und Mehl.
Ich entscheide mich für Margarine und Zucker - auch wenn meine Augen weiterhin nach etwas Leckerem suchen.
Ich bestreiche das Brot fett mit Margarine, damit der Zucker auch richtig daran klebt. Danach schütte ich Zucker in die Mitte, um ihn dann mit dem Messer zu verteilen und in die Margarine zu drücken. Fertig.
2019. Verschlafen und hungrig stiefelt meine elfjährige Tochter zum Kühlschrank. Es ist schon fast Mittag. Die Ferien bringen den Schlafrhythmus völlig durcheinander. Gefrühstückt haben mein Mann und ich schon.
„Mutti, wir haben keine Hähnchenbrust mehr!?“
„Japp, dann nimm dir Lyoner, Salami oder Gauda“.
„Mag ich nicht!“
„Dann streich dir Marmelade oder Nusspli drauf“.
„Mag ich nicht!“
„Wir gehen später einkaufen und bringen dir Hähnchenbrust mit - aber jetzt musst du halt etwas anderes nehmen!“
„Boah, dann streu ich mir halt Zucker drauf!“
„Schmier Margarine drunter, sonst hält der Zucker nicht!“
Stille. Verwirrter Blick.
„Hääääh?“
„Tja!“
Sie nimmt Salami.
Die Jagd
Ich werde es tun. Es war einfach zu verlockend. Wie ein Raubtier stellte ich ihm nach. Leise waren meine Schritte in den Sneakern, welche ihre Glanzzeit längst hinter sich gelassen hatten. Von den nassen Straßen waren meine Socken bereits klamm und meine Füße kalt. Doch dies kümmerte mich in diesem Moment nicht. Tief in die Taschen meines schwarzen Mantels grub ich meine Hände. Ein altes Taschentuch schenkte meiner Rechten ein wenig wärme. Mit der Linken griff ich kühles Leder, dass sich langsam in meiner Hand erwärmt. Etwas Gutes hatte das wolkenverhangene Wetter immerhin: Ich konnte auf meine Sonnenbrille verzichten und lief nicht Gefahr, im Sonnenschein zu verbrennen. Ich schloss meine Augen und atmete tief ein. Durch die kalte, vom Regen klamme Luft floss ein warmer Strom direkt in meine Nase. Als zöge mich eine unsichtbare Macht an, so schwebte ich ihm förmlich nach – dem Duft, dem ich schon früher frönte. Eine alte Dame kreuzte meinen Weg. 4711 – die einen liebten es, ich verachtete es – vor allem, wenn es zwischen mir und meiner Mahlzeit hing. Für einen Moment verlor ich die Spur. Ich ließ mir meinen Frust nicht anmerken. Hätte der runzelige Lockenkopf meinen verachtenden Blick gesehen, so hätte man ihn direkt dem nächstgelegenen Bestattungsinstitut übermitteln können. Doch jedweder Streit würde mich nur aufhalten. Nach runzligen Alten war mir längst nicht zumute. Ich brauchte etwas Frischeres. Ich nahm den Duft wieder auf – gut für die Alte, ihr Gestank machte mich bald rasend vor Wut.
Nun musste es schon ganz nah sein.
Die würzig herzhafte Note meiner nächsten Speise kontrollierten meinen Geiste zunehmend. Immer schneller wurden meine Schritte, bis ich hinter einer Hausecke das Ziel erreichte. Ein kleiner Junge hielt die Hand seiner Mutter. Dem Ziel so nah, trampelte ich auf der Stelle. „Oder ich nehme ein Schnitzel, Mamma“, sagte er.
„Das ist ein Steak. Willst du nicht lieber ein Würstchen?“, erklärte sie.
„Nein, ich will ein Schnitzel!“
Mit einem Fuß stampfte er auf den Boden, als wolle er seine Mutter direkt in die Hölle befördern.
„Aber das ist ein Steak, das schmeckt dir doch gar nicht. Willst du nicht lieber ein Würstchen?“
„Nein!“ Der Junge verschränkte die Arme und begann zu bocken.
Soll sie ihm doch sein Schnitzel kaufen – er wird schon sehen, was er davon hat.
Nach einer gefühlten Ewigkeit geschah ein Wunder. Die Mutter hatte sich durchgesetzt und kaufte dem Kind ein Würstchen.
Nur noch bezahlen und dann war ich an der Reihe. „Haben sie zufällig 50 Cent für mich?“, fragte der Verkäufer.
„Das war jetzt nicht sein Ernst!“, schoss es mir durch den Kopf. Jetzt wurde die hinterste Ecke eines riesigen Portemonnaies nach kupfernen Münzen durchforstet. Schließlich musste sie den Würstchenverkäufer enttäuschen, was mich meinem Ziel näher brachte.
Endlich waren sie fertig und verschwand.
„Eine warme Linsensuppe mit Blutwurst, bitte“, waren meine Worte.
Der Mann grinste freundlich und schöpfte aus einem tiefen Bottich. Saftig platschte die Suppe in die Plastikschale. Er stellte sie auf den Tresen seines Wagens. „Das macht dann 4,50€.“ Ich hatte das Geld bereits in der Hand und legte es ihm passend in 3 Münzen auf den Tisch.
„Guten Appetit“, wünschte er mir. Gierig griffen meine Hände die Suppe. Der erste Löffel versetzte mich in Ekstase. Die Harmonie aus bissfesten Linsen, saftig weichem Fleische und gut durchgekochten Kartoffeln ließ mich frohlockend kauen. Der leicht säuerlich, herbe Geschmack schmeichelte meinem Gaumen und führte mich gedanklich zurück an den Esstisch meiner Großeltern. Schon als kleiner Junge liebte ich die Symbiose warmer Linsen und saftiger Blutwurst. Am besten war es, wenn die Wurst ordentlich weichgekocht war und auf der Zunge förmlich zerschmolz. Bislang war ich der Meinung, nur Oma konnte so gut kochen. Doch dieser Herr mit seinem Würstchenstand belehrte mich eines Besseren. Seine Suppe war perfekt – wie die von Oma.
Ich liebe Essen!
Das war schon immer so. Habe ich mal keinen Hunger oder auch nur Appetit, machen meine Menschen daran fest, dass ich wirklich krank bin. Solange ich essen kann, geht es mir gut. Am allerliebsten in Gesellschaft, und diese Vorliebe liegt wohl in meiner Kindheit begründet.
Ich komme aus einer großen Familie. Aus einer Patchworkfamilie, um genau zu sein, was zu Zeiten meiner Kindheit in den Siebzigerjahren noch recht ungewöhnlich war. Ich bin Kind Nummer fünf von sechsen, die alle gemeinsam in einem Haushalt aufgewachsen sind. Der einzige Zeitpunkt in der Woche, an dem wir wirklich alle zusammen in unserer winzigen Küche saßen und aßen, war der Sonntag.
Mutti kochte schon den ganzen Morgen beim Klang von Radio Luxembourg. Lief einer ihrer Lieblingsschlager, wurde das Radio lauter gedreht und Mutti wippte im Takt dazu, während sie in den Töpfen rührte.
Mein älterer Bruder Peter klebte förmlich vor dem Fernseher und schaute sich irgendeinen alten Schwarz-Weiß-Schinken an, der in der Zeit der alten Römer spielte. Damit konnte ich so gar nichts anfangen. Ich nahm damit Vorlieb, meinen gerade erst ein paar Monate alten jüngeren Bruder Chris in seiner Wippe auf dem Wohnzimmerfußboden zu belustigen, bis er irgendwann einschlief. Der Duft des Sonntagsbratens waberte durch die Wohnung. Eine Dunstabzugshause existierte damals noch nicht. Mir knurrte der Magen, und unser Schäferhund Kondor, der neben der Wippe lag, schaute mich neugierig an. So sehr ich jetzt auch gerne schon gegessen hätte, das Essen kam erst auf den Tisch, wenn Papa vom Frühschoppen zurück war.
Die Flurtüre ging auf, und Kondor rannte los, um sein Herrchen zu begrüßen. Ich sprang auf und rannte dem Hund hinterher. Mein Papa hängte seine Lederjacke am Garderobenhaken auf.
„Na, Moritz?“ Er lächelte mich an und strich mir über die kurzen Haare. Ich heiße nicht Moritz, ich bin nicht mal ein Junge, aber das war der Spitzname, den mein Vater mir als Kind gegeben hatte. Ich grinste und schmiegte mich an meinen Papa. Er roch nach Kneipe, aber das mochte ich.
Papa betrat die Küche und begrüßte meine lächelnde Mutter mit den üblichen drei Küsschen auf den Mund.
„Andrea, holst du bitte die anderen?“, sagte sie.
„Mach ich!“ Ich flitzte los ins Treppenhaus und brüllte lauthals: „Essen kommen!“ Das musste genügen. Ich flitzte in die Küche und setzte mich schnell auf meinen Lieblingsplatz am Fenster neben der Heizung, in Erwartung, gleich leckerste Kartoffeln mit Bratensoße zu bekommen.
Nach und nach trudelten meine Geschwister ein. Meine Schwester Petra und Regina waren letzte Nacht in der Disco unterwegs gewesen und sahen auch noch dementsprechend verpennt aus. Irgendwann tauchte auch meine Schwester Birgit auf, im Schlepptau unsere Cousine Elke, die bei ihr im Zimmer übernachtet hatte. Jede suchte sich irgendwo einen Platz an dem kleinen Tisch in der winzigen Küche. Der einzige, der noch fehlte, war Peter. Meine Mutter, die sich nie selbst mit an den Tisch setzte, lehnte sich aus der Küchentüre und rief über den Flur: „Peter, jetzt komm endlich!“
„Ja, gleich. Ich gucke nur noch den Film zu Ende. Ein paar Minuten noch!“, kam die Antwort.
Mutti goss noch die Kartoffeln ab und stellte die Töpfe dann nach und nach auf den Tisch mit der braun-gelb-gemusterten Tischdecke. Kartoffeln, Sauerbraten und Erbsen und Möhren. Lecker!
Mein Papa tat sich von allem als erster auf, alle anderen mussten warten. „Und, habt ihr in der Disco wieder die Jüngelchen verrückt gemacht?“
„Papa!“ Regina tat empört. Birgit kicherte und Petra wurde rot.
Peter kam nun auch in die Küche. „Tag!“, sagte er artig und setzte sich auf den einzigen freien Stuhl rechts neben Papa. Er seufzte, da er wusste, was ihm da blühte. Niemand saß beim Mittagessen gern auf der rechten Seite neben Papa. Die Aktion folgte auch prompt. Kaum saß mein Bruder am Tisch, wischte mein Papa sein mit Kartoffel- und Soßenresten beschmiertes Messer auf Peters Handrücken ab. Wir Geschwister lachten, schadenfroh, dass von uns diesmal niemand Papas Streich abbekommen hatte. Peter grinste bloß und ließ sich von Mutti ein Papiertuch geben, um es wegzuwischen.
Mutti lud mir eine kindgerechte Portion auf den Teller. Ein kleines Stück Sauerbraten säbelte sie mir in mundgerechte Stücke zurecht. Mir lief das Wasser im Mund zusammen in Erwartung dessen, dass ich gleich meine Kartoffeln kneten und mit der lecker sauren Soße vermanschen würde.
Während des Essens war es bis auf das Klappern des Bestecks weitestgehend ruhig, jeder schlemmte genießerisch Muttis leckeres Essen. Ab und zu bekam Kondor, der unter dem Küchentisch lag, den ein oder anderen Happen ab.
Papa, der zuerst zu essen begonnen hatte, war auch zuerst fertig und strich sich über den Bauch, mit den Worten: „Das war wieder gut, Johanna!“, bevor er einen lauten Rülpser losließ.
„Papa! Das macht man nicht!“, sagte Regina, während alle anderen lachten und Peter es meinem Papa gleichtat.
„Iih, ihr seid so eklig!“, tief Regina aus und war schon fast dem Heulen nah, als Peter sagte: „Was ist, Regina, möchtest du vielleicht zum Nachtisch noch ein Tässchen Eiter?“
Ich quietschte vor Vergnügen, während ich mir einer Möhre in den Mund stopfte, die ich zuvor durch den Soßen-Kartoffel-Matsch gezogen hatte. Ich liebte es, wenn meine älteren Geschwister sich neckten. Und noch mehr, wenn mein Papa bei diesen Späßen mitmachte.
Genau auf den heutigen Tag begehen meine Eltern ihre Goldhochzeit.
Ich selbst bin dieses Jahr im Sommer fünfzig Jahre alt geworden und koche mittlerweile seit zwei Jahren jeden Sonntag für meinen Papa das Sonntagsessen, weil meine Mutter es nicht mehr schafft. Nicht in der gleichen Küche, aber immer noch im gleichen Haus.
Zwei kleine Öfen
Es gibt nichts Besseres als den herrlichen Duft von süßen Gewürzen und warmen Früchten, der sich langsam in der ganzen Wohnung ausbreitet. Draußen ist es windig und kalt, aber drinnen wird es wärmer und gemütlicher, während ich immer wieder aufgeregt ins Wohnzimmer gehe, wo ich wie gebannt voller Vorfreude und ungeduld auf die beiden Teelichtflammen starre.
Aber zum Anfang.
Oma Leni fragt mich an einem Winternachmittag kurz vor Weihnachten: „Sollen wir heute Bratäpfel machen?“
Ich bejahe begeistert. Von einem Bratapfel habe ich bis jetzt nur in einem Weihnachtsgedicht gehört, das mein Bruder letztes Jahr dem Nikolaus vorgetragen hat.
Nach und nach öffnet Oma Leni Schränke und Schubladen in der Küche und legt alles auf den Küchentisch, was wir benötigen: Zwei große Äpfel, Mandeln, eine Zitrone, Rosinen, Butter, Puderzucker, Zimt und sogar eine Flasche Rum.
Wir setzen uns an den dunklen Holztisch, gegenüber voneinander.
„Zuerst machen wir Marzipan“, sagt Oma Leni, während Sie eine hölzerne Handmühle aus einem Regal nimmt. Sie packt eine Handvoll Mandeln in die Schale und beginnt, die Kurbel zu drehen.
„Darf ich?“, frage ich, und Sie schiebt die Mühle lächelnd zu mir. Das quietschende Geräusch, das die Mühle beim Mahlen verursacht, tut mir etwas in den Ohren weh, aber das stört mich kaum. Langsam rieseln die Mandeln als Mehl in die winzige Schublade, die ich ab und zu leeren muss, und Zwischendurch fülle ich neue Mandeln nach.
„Fertig!“, sage ich Stolz, als alle Mandeln gemahlen sind. Oma Leni hat inzwischen die Äpfel ausgehöhlt und nascht eine Rosine.
„Sehr gut“, lobt sie mich und füllt das Mandelmehl mit Puderzucker und etwas Rum in einen tiefen Teller. „Jetzt musst du gut kneten!“
Sie reicht mir den Teller und ich beginne, die Zutaten mit meinen Fingern zu verrühren. Zuerst ist die Masse ziemlich grob und klebrig, doch nach einer Zeit macht es immer mehr Spaß – bald ist es fast wie Knete! Ich will gar nicht mehr aufhören, doch dann sagt Oma: „Das sieht toll aus!“, und nimmt mir den Teller weg. Jetzt gibt sie mir eine halbe Zitrone und erklärt mir, wie ich mit einer Zitronenpresse Saft machen kann.
Als auch der Saft fertig ist, kippt Oma Leni das Marzipan, den Saft, die Rosinen, die Butter und etwas Zimt zusammen und zerhackt noch schnell und geschickt mit einem großen Messer ein paar Mandeln, die sie zur Seite gelegt hatte, und fügt sie ebenfalls hinzu. Sie vermischt alles kurz mit einem Holzlöffel und gibt mir einen ausgehöhlten Apfel.
„Jetzt müssen wir die Äpfel befüllen.“
Ich schaue ihr dabei zu, wie sie in die Schüssel greift und mit den Fingern etwas von der Masse aufnimmt, und mache es ihr nach. Wir stopfen die Füllung in die großen Löcher, bis nichts mehr reinpasst.
In der Schüssel ist noch ein bisschen übrig geblieben.
„Tja“, sagt Oma Leni lächelnd, „das müssen wir wohl jetzt noch aufessen.“
Ich greife also nochmal in die Schüssel und probiere vorsichtig.
„Hmmm!“, mache ich, während ich auf dem süß-säuerlichen Lerckerbissen herumkaue. Leider ist schon bald nichts mehr da.
Oma Leni steht auf, geht ins Wohnzimmer und kommt mit zwei identischen Tongefäßen zurück, die sie auf den Tisch stellt. Ich nehme eins davon und betrachte es. Der untere Teil ist wie eine große Tasse, die ein Loch in der Seite hat. Da steht ein Teelicht drin, das Oma Leni noch nicht angezündet hat. Ich nehme den kuppelförmigen Deckel ab und sehe, dass er zusammen mit einem tiefen Unterteller, der die Tassenöffnung abdeckt, eine hohle Kugel ergibt. Oma öffnet auch ihre Kugel und legt in beide Gefäße einen Apfel.
„So, Deckel drauf!“ sagt sie. Dann zündet sie die Kerzen unter der Kugel an und bringt die Tongefäße ins Wohnzimmer. Ich laufe ihr aufgeregt hinterher.
Die Gefäße stehen jetzt auf einem niedrigen Regal, und ich knie erwartungsvoll davor und starre in die Flammen.
„Wann sind die fertig?“, frage ich.
„Wenn die Flammen erloschen sind.“
„Und wie lange dauert das?“
„Bis heute Abend.“
„Und wann ist heute Abend?“
„In vier Stunden schätze ich.“
Noch vier Stunden ? Ich kann meine Enttäuschung kaum verbergen und wende mich wieder den Flammen zu.
Sie lacht. „Du brauchst da jetzt nicht die ganze Zeit vorzusitzen, die Äpfel werden schon von alleine fertig.“
Widerwillig stehe ich auf. Dann vertreiben wir uns die Zeit. Oma Leni löst am Küchentisch Kreuzworträtsel und ich setze mich im Wohnzimmer an den riesigen, alten Schreibtisch, der Opa Walter gehört hatte, und bastle Weihnachtsdekoration aus Klopapierrollen, die Oma Leni immer für mich aufhebt. Danach male ein Bild für sie und irgendwann spielen wir in der Küche schwarzer Peter, während Musik von Rolf Zuckowski im Hintergrund läuft. Mittlerweile ist es draußen schon dunkel.
Immer wieder gehe ich zu den Tongefäßen im Wohnzimmer und schaue sie staunend an. Sie sind dunkelbraun bemalt, die Ränder an den Öffnungen und die Spitzen der Deckelgriffe sind dunkelblau. Die Löcher für die Kerzen haben die Form einer Flamme. Zwei kleine Öfen, denke ich.
Irgendwann verbreitet sich der Duft der süßen Gewürze, der heißen Äpfel und des Zitronensafts im ganzen Wohnzimmer, später zieht er sogar bis in die Küche. Mein Magen knurrt. Ungeduldig starre ich in die Flammen. Na los, geht endlich aus.
Was wäre wohl, wenn ich sie einfach auspusten würde, ganz heimlich? Würden die Äpfel dann trotzdem schmecken?
Aber natürlich puste ich sie nicht aus.
Als ich die kleinen Öfen das nächste Mal besuche, ist es endlich soweit! Gerade steigt ein dünner Rauchfaden hoch. „Oma!“, rufe ich aufgeregt, „ein Teelicht ist gerade ausgegangen!“.
„Super! Dann müssen wir nur noch auf das zweite warten.“, ruft Oma Leni aus der Küche.
Der Apfelduft vermischt sich mit dem Rauchgeruch des bereits erloschenen Teelichts. Das andere Teelicht brennt immer noch. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Doch plötzlich flackert die zweite Flamme, wird immer kleiner und erlischt schließlich auch. Nur noch der glühende Stängel und der aufsteigende Rauch sind übrig.
„Fertig, fertig!“, rufe ich und renne in die Küche. „Oma, die Äpfel sind fertig!“
„Ja, ja, ich weiß“, sagt sie lachend und holt die kleinen Öfen aus dem Wohnzimmer. Sie nimmt die Deckel ab, hebt die Äpfel mit zwei Löffeln aus den Kuppeln und legt sie auf kleine Tellerchen. Danach übergießt sie sie mit einer warmen Vanillesoße, die sie heimlich gekocht hat, und gibt mir meinen Teller. Ich bewundere den goldbraunen, herllich duftenden, leicht dampfenden Bratapfel und die gelbe, glänzende Vanillesoße, die langsam an ihm herunterläuft.
Oma Leni gibt mir einen Löffel. „Dann mal guten Appetit!“
Übrigens: Oma Leni heißt eigentlich anders und hat mir letztes Jahr die beiden „kleinen Öfen“ überlassen, als sie ins Altenheim gezogen ist. Jetzt kann ich selbst „richtige“ Bratäpfel machen
Stimmt. So geht es mir mit den Kartoffelklößen von meiner Mutter. Alle anderen schmecken einfach nicht!
Gefällt mir sehr gut, Omas Rezepte sind immer die Besten
Der letzte Absatz lässt einen natürlich innehalten…
Jetzt habe ich Lust auf Pfannkuchen.